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Ein entthronter König

»Mein war das Reich der Phantasie, jetzt bin ich ein entthronter König.«
Snoilsky.

 

Es schallte auf dem Straßenpflaster, Holzpantoffeln klapperten in unruhigem Takte. Die Gassenbuben eilten vorbei. Sie klapperten, sie pfiffen. Es ging im Eilmarsche vorwärts. Die Häuser bebten, und aus den engen Gäßchen kam das Echo so schnell hervor wie ein Kettenhund aus seiner Hütte.

Hinter den Fensterscheiben tauchten Gesichter auf. Was mochte geschehen sein? Was gab es nur? Der Lärm zog sich nach der Vorstadt hin. Dorthin eilten die Dienstmädchen, den Gassenbuben folgend. Sie schlugen die Hände zusammen und schrien: »O je, o je! Gibt es einen Mord, ist irgendwo Feuer?« Niemand antwortete. Das Klappern ertönte ganz in der Ferne.

Nach den Mägden kamen die weisen Matronen der Stadt herbeigeeilt. Sie fragten: »Was ist denn los? Wer stört die Vormittagsstille? Gibt es eine Trauung? Findet eine Beerdigung statt? Ist Feuer? Was tut der Turmwächter? Soll die Stadt abbrennen, ehe er zu läuten anfängt?«

Der ganze Haufe machte vor dem kleinen Schusterhause in der Vorstadt Halt, jenem Häuschen, dessen Fenster und Türen Wein umrankte und das nach der Straße hin einen meterbreiten Vorgarten hatte. Mit einer Laube von Stroh, Buschwerk für eine Ratte und Steigen für ein Kätzchen. Alles aufs beste eingerichtet! Erbsen und Bohnen, Rosen und Lavendel, ein Maul voll Gras, drei Stachelbeerbüsche und ein Apfelbaum.

Die am nächsten stehenden Gassenbuben guckten und ratschlagten. Die blanken Fensterscheiben, die unten von schwarzem Glase waren, ließen den Blick nicht weiter als bis zu den weißen Zwirngardinen vordringen. Einer der Knaben hielt sich am Weine fest und drückte das Gesicht gegen die Scheibe. »Was siehst du?« flüsterten die andern. »Was siehst du?« Die Schusterwerkstatt und die Schusterbank, Wichsekruken und Lederbunde, Leisten und Zwecken, Ringe und Riemen. »Siehst du keinen Menschen?« Doch, er sieht den Gesellen, der an einem Stiefelabsatze arbeitet. »Weiter keinen, weiter keinen?« Große schwarze Fliegen laufen über die Scheibe und trüben ihm den Blick. »Siehst du sonst niemand als den Gesellen?« Weiter keinen. Der Schemel des Meisters steht leer. Er sah ein-, zwei-, dreimal nach, der Schemel des Meisters stand leer.

Die Menge stand still, tauschte Vermutungen aus und wunderte sich. Es war also doch wahr. Der alte Meister war durchgebrannt. Keiner wollte es recht glauben. Man wartete auf Bestätigungszeichen. Die Katze erschien auf dem steilen Dache. Sie streckte ihre Krallen heraus und glitt nach der Dachrinne hinunter. Ja, der Hausherr war fort, die Katze hatte freie Jagd. Die vollständig hilflosen Sperlinge flatterten und schrien.

Ein weißes Küken guckte um die Hausecke. Es war beinahe ausgewachsen. Der Kamm leuchtete so rot wie das Laub des wilden Weins. Es guckte spähend umher, krähte und rief. Die Hühner kamen, eine Reihe weißer Hühner in vollem Galopp, sich wiegend, flatternd und die gelben Füße wie Trommelschlägel bewegend. Die Hühner liefen zwischen die Erbsensträucher. Es gab Zank. Neid entstand. Ein Huhn floh mit einer vollen Erbsenhülse. Zwei Hähne hackten es in den Nacken. Die Katze gab das Visitieren der Sperlingsnester auf, um zuzusehen. Die Hühner liefen in einer langen, wiegenden Reihe fort. Die Menge dachte: »Es wird schon wahr sein, daß der Schuster durchgebrannt ist. Man sieht es der Katze und den Hühnern an, daß der Hausherr fort ist.«

Die unebene, vom Herbstregen schlüpfrige Vorstadtstraße hallte von Stimmen wider. Die Torwege standen offen, die Fensterflügel drehten sich. Die Köpfe wurden in vielsagendem Geflüster zusammengesteckt. »Er ist durchgebrannt.« Menschen flüsterten, Spatzen zwitscherten, Holzpantoffel klapperten: »Er ist durchgebrannt. Der alte Schuster ist durchgebrannt. Der Besitzer des Häuschens, der Gatte der jungen Frau, der Vater des hübschen Kindes ist durchgebrannt. Wer versteht dies? Wer versteht dies?«

So lautet ein Lied: »Alter Mann im Hause, junger Liebhaber im Walde; Frau entflieht, Kinder weinen; Heim ohne Hausmutter.« Das Lied ist alt. Es ist oft gesungen worden. Alle verstehen es.

Dies war ein neues Lied. Der Alte war gegangen. Auf dem Werkstattische lag seine Erklärung, daß er nie wiederzukommen gedenke. Daneben hatte auch ein Brief gelegen. Die junge Frau hatte ihn gelesen, aber weiter keiner.

Die junge Frau befand sich in der Küche. Sie tat nichts. Die Nachbarin ging hin und her, ordnete geschäftig das Geschirr, stellte Kaffeetassen hin, schnitt Hausenblase zum Klären des Kaffees zurecht, weinte zwischendurch ein bißchen und trocknete sich die Tränen mit dem Schüsseltuche ab.

Die weisen Frauen des Stadtviertels saßen steif an den Wänden umher. Sie wußten, was sich in einem Trauerhause schickt. Sie hielten das Schweigen, hielten die Trauer aufrecht. Sie machten sich einen freien Tag, um der Verlassenen in ihrem Kummer beizustehen. Grobe Arbeitshände ruhten im Schoße, verwitterte Gesichtshaut legte sich in tiefe Falten, dünne Lippen wurden über zahnlosen Kinnbacken zusammengekniffen.

Die hellblonde Hausfrau saß mit ihrem lieblichen Taubengesichte unter den Bronzefarbigen. Sie weinte nicht, aber sie zitterte. Ihr war so bange, daß die Furcht sie beinahe tötete. Sie biß die Zähne zusammen, damit niemand ihr Klappern höre. Wenn Schritte ertönten, wenn jemand anklopfte oder wenn sie angeredet wurde, fuhr sie zusammen.

Sie hatte den Brief ihres Mannes in der Tasche. Sie dachte bald an diesen, bald an jenen Satz daraus. Dort stand: »Ich ertrage es nicht länger, Euch beide zusammenzusehen.« Und an einer anderen Stelle: »Ich habe jetzt Gewißheit erlangt, daß Du mit Erikson fortlaufen willst.« Und wieder: »Das sollst Du nicht tun, denn die bösen Reden der Leute würden Dich unglücklich machen. Ich werde fortgehen, damit Du Dich scheiden lassen und, wie es sich gehört, wieder heiraten kannst. Erikson ist ein tüchtiger Arbeiter und kann Dich gut versorgen.« Und weiter unten: »Über mich laß die Leute sagen, was sie wollen. Mir ist es recht, wenn sie nur Dir nichts Böses zutrauen, denn Du könntest es nicht ertragen.«

Sie verstand dies nicht. Sie hatte nicht die Absicht gehabt, ihn zu betrügen. Wenn sie sich auch gern mit dem jungen Gesellen unterhielt, schädigte das ihren Mann? Liebe ist eine Krankheit, aber keine tödliche. Sie hatte dies das Leben hindurch geduldig tragen wollen. Wie hatte ihr Mann nur ihre geheimsten Gedanken erraten?

Wie der Gedanke an ihn sie quälte! Er mußte sie voll Seelenangst beobachtet haben. Er hatte über sein Alter geweint. Er war über die Kräfte und den Mut des jungen Mannes wütend gewesen. Er hatte bei jedem geflüsterten Worte, jedem Lächeln und jedem Händedrucke gezittert. In glühendem Wahnsinne, in zähneknirschender Eifersucht hatte er das, was noch nichts war, zu einer ganzen Entführungsgeschichte gemacht.

Sie dachte daran, wie alt er heute nacht, als er fortging, gewesen sein müsse. Sein Rücken war gebeugt, seine Hände bebten. Die Qual langer Nächte hatte ihn so gemacht. Er war gegangen, um dieses Leben aufregenden Zweifels nicht länger führen zu brauchen.

Sie erinnerte sich andrer Sätze aus dem Briefe: »Ich will Dich nicht der Schande aussetzen. Ich bin stets zu alt für Dich gewesen.« Und dann eines andern: »Du wirst stets geachtet und geehrt bleiben. Schweig' nur selber, so fällt alle Schande auf mich.«

Die Frau empfand immer größere Angst. War es möglich, daß Menschen sich so täuschen ließen? Ging es an, auch Gott so zu belügen? Warum saß sie hier, bedauert wie eine trauernde Mutter, geehrt wie eine Braut am Hochzeitstage? Warum war sie nicht die Heimlose, Freundlose und Verachtete? Wie kann dergleichen geschehen? Wie kann Gott sich so betrügen lassen?

Über dem großen Sekretär hing eine kleine Bücherborte. Zuoberst auf der Borte stand ein großes Buch mit Messingspangen. Das Buch enthielt die Geschichte eines Mannes und seines Weibes, die Gott und Menschen belogen. »Warum seid ihr denn eins geworden, zu versuchen den Geist des Herrn? Siehe, die Füße derer, die deinen Mann begraben haben, sind vor der Tür und werden dich hinaustragen.«

Das Buch anstarrend, horchte die Frau auf die Füße der jungen Männer. Sie zitterte bei jedem Klopfen, schauderte bei jedem Schritte. Sie war bereit, aufzustehen und zu bekennen, bereit, niederzufallen und zu sterben.

Der Kaffee war fertig. Mit leisen Schritten begaben sich die Frauen sittsam an den Tisch. Sie schenkten sich ein, nahmen ein Zuckerstück in den Mund und begannen, anstandsvoll schweigend, den brühheißen Kaffee zu schlürfen, die Handwerkerfrauen zuerst, die Aufwärterinnen zuletzt. Die Hausfrau aber sah nicht, was vor sich ging. Sie war vor Angst ganz außer sich. Sie hatte eine Halluzination. Sie saß draußen auf einem frischgepflügten Felde. Ringsumher saßen große Vögel mit starken Flügeln und spitzen Schnäbeln. Sie waren grau und hoben sich kaum gegen den grauen Boden ab, doch sie sah sie und wußte, daß sie von ihnen bewacht wurde. Sie hielten Gericht über sie. Auf einmal flogen sie auf und senkten sich auf ihr Haupt herab. Sie sah ihre scharfen Krallen, ihre spitzen Schnäbel und ihre die Luft peitschenden Flügel immer näher kommen. Sie mußte an einen tötenden Stahlregen denken. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und fühlte, daß sie sterben müsse. Doch als sie dicht, ganz dicht an sie herangekommen waren, mußte sie aufblicken. Da sah sie, daß die grauen Vögel nur alle diese alten Weiber gewesen waren.

Eine von ihnen begann zu reden. Sie wußte, was anständig war, was sich in einem Trauerhause schickte. Man hatte jetzt lange genug geschwiegen. Die Hausfrau aber fuhr in die Höhe, als habe sie ein Peitschenhieb getroffen. Was beabsichtigte die Frau zu sagen? »Du, Matthias Wiks Gattin, Anna Wik, gestehe! Du hast Gott und uns lange genug belogen. Wir sind deine Richter. Wir werden dir das Urteil sprechen und dich zerreißen.«

Nein, die Frau begann von den Männern im allgemeinen zu reden. Und die anderen stimmten ein, wie es gerade paßte. Das Lob der Männer wurde nicht gesungen. Alles Böse, was Männer je getan, wurde herausgesucht. Das war tröstender Balsam für eine verlassene Gattin.

Unrecht häufte sich auf Kränkung. Seltsame Geschöpfe diese Männer! Sie schlagen uns, sie vertrinken unser Geld. Sie verpfänden unsre Sachen. Warum in aller Welt hat unser Herrgott sie nur geschaffen?

Die Zungen glichen Drachenzungen, sie geiferten und spuckten Feuer und Fett. Alle gaben ihren Senf dazu. Eine Erzählung jagte die andre. Die Frau flüchtete vor ihrem berauschten Gatten aus dem Hause. Frauen arbeiteten sich für ihre Trunkenbolde von Männern ab. Frauen wurden andrer Weiber wegen verlassen. Die Zungen pfiffen wie Peitschenschnüre. Alles häusliche Elend wurde aufgedeckt. Man betete lange Litaneien. »Vor der Tyrannei der Männer bewahre uns, o gütiger Herre Gott!«

Armut und Krankheit, Sterben von Kindern, Frieren im Winter, Last mit den Alten, an allem ist der Mann schuld. Die Sklaven zischten wie Schlangen ihre Herren an. Sie richteten ihren Stachel gegen den, vor dessen Füßen sie krochen.

Die Frau des Entflohenen fühlte, wie es ihr in den Ohren stach und wehtat. Sie wagte, die Unverbesserlichen zu entschuldigen. »Mein Mann«, sagte sie, »ist gut.« Die Frauen brausten wutschnaubend auf. »Er ist durchgebrannt. Er ist auch nicht besser als die anderen. Er, der ein alter Kerl ist, hatte Frau und Kind nicht sitzen lassen dürfen. Kannst du ihn wirklich für besser halten als die andern?«

Die Frau bebte, sie hatte das Gefühl, durch ein stechendes Dornendickicht geschleppt zu werden. Ihr Mann zu den Sündern gezählt! Sie wurde glühend rot und wollte sprechen, schwieg aber. Sie war bange. Sie konnte es nicht. Doch warum schwieg Gott? Warum ließ Gott dergleichen geschehen?

Wenn sie nun den Brief hervorzöge und ihn laut vorläse? Dann würde der Giftstrom sich wenden. Der Geifer würde sie bespritzen. Todesangst befiel sie. Sie hatte keinen Mut. Halb wünschte sie, daß eine dreiste Hand in ihre Tasche führe und den Brief herausholte.

Sich selbst preiszugeben, war sie nicht imstande. Drinnen von der Werkstatt her hörte man einen Schusterhammer. Hörte denn niemand, wie siegesfroh er klopfte? Den ganzen Tag hatte sie das Klopfen gehört und sich darüber geärgert. Doch keine der Frauen verstand es. Allwissender Gott, hättest du keinen Diener, der Herzen durchschaut? Sie wollte ihr Urteil gern hinnehmen, wenn sie nur nicht gestehen brauchte. Sie wollte jemand sagen hören: »Wer hat dir eingegeben, Gott zu belügen?« Sie horchte auf die Fußtritte der jungen Männer, um tot niederzufallen.

 

Mehrere Jahre danach verheiratete sich eine geschiedene Frau mit einem Schuhmacher, der bei ihrem Manne Geselle gewesen war. Sie hatte es nicht gewollt, war aber dazu gebracht worden, wie der an der Angelschnur sitzende Hecht nach dem Bootrande hingezogen wird. Der Fischer läßt ihn spielen. Er läßt ihn hin- und herschießen. Er läßt ihn glauben, daß er noch frei sei. Doch sowie die Kraft des Fisches erschöpft ist und er nicht mehr kann, zieht er ihn mit einem leichten Ruck nach dem Boote hin, holt ihn aus dem Wasser und wirft ihn ins Boot, ehe der Hecht noch weiß, um was es sich handelt.

Die Frau des durchgebrannten Schusters hatte ihren Gesellen entlassen und allein leben wollen. Sie hatte ihrem Manne zeigen wollen, daß sie unschuldig war. Doch wo war der Mann? Ließ ihn ihre Treue nicht gleichgültig? Sie litt Not. Ihr Kind ging in Lumpen. Wie lange glaubte der Mann, daß sie warten könnte? Sie fühlte sich unglücklich, da sie keinen hatte, der ihr zur Seite stand.

Erikson hatte Erfolg. Er besaß einen Laden drinnen in der Stadt. Sein Schuhzeug stand auf Spiegelglasborten hinter breiten Fenstern. Seine Werkstatt wurde immer voller. Er mietete sich eine Wohnung und ließ die Möbel der guten Stube mit Tripsamt beziehen. Alles wartete nur auf sie. Als die Armut sie gar zu mürbe gemacht hatte, kam sie.

Anfangs war ihr sehr bange zumute. Doch es traf sie kein Unglück. Sie fühlte sich mit jedem Tage sicherer und glücklicher. Sie hatte die Achtung der Leute und wußte, daß sie sie nicht verdiente. Dies hielt ihr Gewissen wach, so daß sie eine gute Frau wurde.

Ihr erster Mann kehrte nach einigen Jahren wieder in sein Haus in der Vorstadt zurück. Es gehörte ja ihm, und er ließ sich von neuem dort nieder und wollte anfangen zu arbeiten. Aber es fanden sich keine Kunden, und ebensowenig wollten anständige Leute mit ihm verkehren. Er wurde verachtet, während seine Gattin in großem Ansehen stand. Und doch hatte er recht und sie unrecht gehandelt.

Der Mann bewahrte sein Geheimnis, aber es erstickte ihn beinahe. Er fühlte, wie er sank, weil alle ihn für einen schlechten Keil hielten. Keiner hielt ihn für zuverlässig, niemand wollte ihm Arbeit anvertrauen. Er nahm mit dem Verkehr, den er finden konnte, vorlieb und begann zu trinken.

Als er so heruntergekommen war, kam die Heilsarmee in die Stadt. Sie mietete einen großen Saal und begann ihre Tätigkeit. Schon vom ersten Abend an fand sich alles Gesindel zu den Vorstellungen ein, um Unfug zu treiben. Als dies ungefähr eine Woche so fortgegangen war, fiel es Matthias Wik ein, sich an dem Spaße zu beteiligen.

Dort war Gedränge auf der Straße, Stockung in der Tür. Dort gab es kräftige Ellenbogen und scharfe Zungen; Gassenbuben und Soldaten, Mägde und Scheuerfrauen: friedliche Polizei und stürmischer Pöbel. Die Armee war neu und modern. Die Tanzvergnügen verblichen, die Wirtshäuser verschmachteten. Feine Herren und Strolche, alles besuchte die Heilsarmee. Der Saal war niedrig. Ganz hinten befand sich ein leeres Podium. Ungestrichene Bänke, geliehene Stühle. Abgesplitterte Dielen, Feuchtigkeitsflecke an der Decke und übelriechende Lampen. Der mitten im Saale stehende eiserne Ofen strömte Hitze und Kohlendunst aus. Dem Podium zunächst saßen Frauen, anständig wie in der Kirche, feierlich wie bei einer Trauung und hinter ihnen Zweifelhaft aussehende Mannspersonen und Näherinnen. Ganz hinten saßen die jungen Burschen, ein Gassenbube hatte den andren auf dem Schoße. Und in der Tür prügelten sich die, welche nicht hineinkamen.

Das Podium war leer. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen und die Vorstellung noch nicht angefangen. Einer pfiff, der andre lachte. Bänke wurden entzweigestoßen. Der »Streitruf« flog wie ein Drache zwischen den Gruppen hin und her. Das Publikum amüsierte sich auf eigene Hand.

Die Seitentür öffnete sich. Kalte Luft strömte in den Saal. Das Feuer im Ofen loderte auf. Es wurde still. Aufmerksame Erwartung herrschte im Saale. Endlich erschienen sie, drei junge Mädchen mit Gitarren und breitrandigen Hüten, welche die Gesichter beinahe verdeckten. Sie fielen auf die Knie, sowie sie die Stufen des Podiums erstiegen hatten.

Eine von ihnen betete laut. Sie erhob den Kopf, schloß aber die Augen. Ihre Stimme war messerscharf. Während des Gebetes war es still. Gassenbuben und Strolche waren noch nicht in Zug gekommen. Sie warteten auf die Bekenntnisse und die anfeuernden Melodien.

Die jungen Mädchen »arbeiteten« angestrengt. Sie sangen und beteten, sangen und predigten. Sie sprachen lächelnd von ihrem Glücke. Vor sich hatten sie ein Parterre von Strolchen. Diese begannen, sich zu erheben und auf die Bänke zu steigen. Drohender Lärm wurde unter den Scharen hörbar. Die Mädchen auf dem Podium sahen hin und wieder schreckliche Gesichter durch die dunsttrübe Luft schimmern. Die Männer hatten nasse, schmutzige Kleider, die übel rochen. Alle zwei Minuten spien sie Tabaksjauche aus und fluchten bei jedem Worte. Und diese Mädchen, die mit ihnen kämpfen sollten, redeten von ihrem Glücke.

Wie war diese kleine Armee tapfer! Ach, ist es nicht schön, tapfer zu sein! Ist es nicht etwas Stolzes, Gott auf seiner Seite zu haben! Es nützte nichts, die Mädchen mit den großen Hüten auszulachen. Es war mehr als wahrscheinlich, daß sie die schwieligen Hände, die grausamen Gesichter und die fluchenden Lippen besiegen würden.

»Singt mit!« riefen die Soldaten der Heilsarmee. »Singt mit! Es ist gut, zu singen.« Sie stimmten eine bekannte Melodie an. Sie ließen die Gitarren ertönen und wiederholten denselben Vers mehrere Male. Sie brachten einige der Zunächstsitzenden zum Mitsingen. Nun aber erscholl von der Tür her ein leichtfertiger Gassenhauer. Töne kämpften gegen Töne, Worte mit Worten, Gitarren mit Pfeifen. Die starken, geschulten Stimmen der Mädchen stritten mit den heiseren, im Stimmenwechsel befindlichen der Knaben und den Brummbässen der Männer. Als der Gassenhauer im Unterliegen war, begann man unten an der Tür zu stampfen und zu pfeifen. Der Heilsgesang unterlag, einem verwundeten Krieger vergleichbar. Der Lärm war fürchterlich. Die Mädchen stürzten auf die Knie.

Sie lagen wie machtlos da. Die Augen waren geschlossen. Ihr Leib schwankte in stummem Schmerze hin und her. Der Lärm erstarb. Der Heilsarmeehauptmann begann sofort: »Herr, alle diese wirst du zu den deinen machen. Wir danken dir, Herr, daß du sie alle in dein Kriegsheer aufnehmen willst! Wir danken dir, Herr, daß wir sie dir zuführen dürfen!«

Die Volksmenge knirschte vor Wut, heulte und tobte. Alle diese Kehlen schienen gleichsam mit einem scharfen Messer gekitzelt zu werden. Es war, als fürchteten die Menschen besiegt zu werden, und als hätten sie vergessen, daß sie freiwillig gekommen waren.

Das Mädchen aber fuhr fort, und ihre scharfe, schneidende Stimme siegte. Sie mußten hören.

»Ihr lärmt und schreit. Die alte Schlange in euch windet sich und wütet. Doch dies ist gerade das Zeichen. Gesegnet sei das Brüllen der alten Schlange! Es zeigt, daß sie Qual erleidet und sich fürchtet! Lacht über uns! Schlagt uns die Fenster ein! Jagt uns vom Podium herunter! Morgen werdet ihr uns gehören. Wir werden die Erde besitzen. Wie wolltet ihr uns widerstehen? Wie wolltet ihr Gott widerstehen?«

Gleich darauf befahl der Hauptmann einem seiner Kameraden, vorzutreten und Zeugnis abzulegen. Das Mädchen trat lächelnd vor. Mutig und unerschrocken schleuderte sie den Höhnenden die Geschichte ihrer Sünde und ihrer Bekehrung entgegen. Wo lernte die Küchenmagd, bei all diesem Hohne zu lächeln? Einige von denen, welche gekommen waren, um zu spotten, erblaßten. Woher nahmen diese Mädchen ihren Mut und ihre Macht? Es stand jemand hinter ihnen.

Die dritte trat jetzt vor. Sie war ein bildhübsches Ding, reicher Eltern Kind, und hatte eine liebliche, helle Singstimme. Sie sprach nicht von sich. Ihr Bekenntnis war einer der gewöhnlichen Gesänge. Dies war gleichsam der Schatten eines Sieges. Die Versammlung lauschte selbstvergessen. Das blutjunge Ding war hübsch anzusehen und angenehm zu hören. Doch wie sie verstummte, wurde das Unwesen noch schrecklicher. Unten an der Tür bauten sie ein Podium von Bänken, stiegen hinauf und legten Zeugnis ab.

Es wurde immer greulicher im Saale. Der eiserne Ofen wurde glutrot, verzehrte Luft und spie Hitze aus. Die ehrbaren Frauen auf den vordersten Bänken sahen sich nach einer Gelegenheit zum Flüchten um, aber es gab keine Möglichkeit, hinauszugelangen. Die Heilssoldaten auf dem Podium schwitzten und waren halb ohnmächtig. Sie flehten und beteten um Kraft. Plötzlich fuhr ein frischer Hauch durch die Luft, ein Flüstern drang an ihr Ohr. Woher, das wußten sie nicht, aber sie merkten einen Umschlag. Gott war mit ihnen. Er kämpfte für sie.

Aufs neue in den Kampf! Der Hauptmann trat vor, die Bibel über den Kopf erhebend. »Haltet ein, haltet ein! Wir merken, daß Gott unter uns tätig ist. Eine Bekehrung ist nahe. Helft uns beten! Gott will uns eine Seele schenken!«

Still betend lagen sie auf den Knien. Im Saale beteten einige mit. Gespannte Erwartung zeigte sich bei allen. Konnte dies wahr sein? Trug sich hier, mitten unter ihnen, in der Seele eines Mitmenschen etwas Großes zu? Würden sie es sehen? Konnten diese Weiber wirklich etwas?

Für einen Augenblick war die Menge gewonnen. Jetzt war sie ebenso erpicht auf Wunder, wie vorher aufs Schmähen. Keiner wagte sich zu rühren. Alle keuchten vor Erwartung, aber nichts geschah. »O Gott, du verläßt uns, o Gott!«

Der hübsche Heilssoldat begann zu singen. Das Mädchen wählte die sanfteste der Melodien, das zarteste Kind der Sehnsucht: »Fern von den grünenden Tälern er weilt.«

Die Worte waren nur wenig verändert. Aus dem Liede des finnischen Hirtenmädchens hatte sich leicht ein Gesang über Jesu Sehnsucht nach der Seele machen lassen. »O du, meine Geliebte, kommst du nicht bald?«

So sanft lockend wie ein bittendes Kind glitt der Gesang ins Gemüt hinein, – wie eine Liebkosung, wie ein Segenswunsch.

Die Versammlung war still, sie versenkte sich in diese Töne. »Berge und Wälder sehnen sich, Himmel und Erde leben in Sehnsucht. Mensch, alles auf der Welt dürstet danach, daß du deine Seele dem Lichte öffnest. Dann verbreitet sich Herrlichkeit über die Welt, dann erheben sich die Tiere aus ihrer Erniedrigung. Das Seufzen der Kreatur hat ein Ende.

Oh, du meine Geliebte, kommst du nicht bald?

Es ist nicht wahr, daß du in hohen Königsälen geblieben bist. In dunklen Wirtshäusern, in elenden Hütten weilst du. Und du weigerst dich zu kommen. Mein heller Himmel lockt dich nicht.

Oh, du meine Geliebte, kommst du nicht bald?«

Drunten im Saale stimmten immer mehr Leute in den Refrain ein. Eine Stimme nach der andern sang mit. Sie wußten nicht genau, welche Worte sie sangen. Die Melodie genügte. Alles Sehnen konnte sich in diesen Tönen befreien. Sie wurden sogar unten an der Tür gesungen. Sie sprengte Herzen. Sie bezwang Willen. Sie klang nicht mehr wie eine jammernde Klage, sondern stark und gebieterisch.

»Oh, du meine Geliebte, kommst du nicht bald?«

Unten an der Tür, mitten im dichtesten Gedränge, stand Matthias Wik. Er sah sehr versoffen aus, über diesen Abend war er nicht berauscht. Während er dort stand, dachte er immerfort: »Wenn ich doch reden dürfte, wenn ich doch reden dürfte.«

Das war der wunderbarste Raum, den er je gesehen, und die wunderbarste Gelegenheit. Eine Stimme raunte ihm zu:

»Dies ist das Rohr, zu dem du flüstern darfst, dies sind die Wellen, die deine Stimme tragen werden.«

Die Singenden fuhren zusammen. Es war ihnen, als hörten ihre Ohren einen Löwen brüllen. Eine starke, schreckliche Stimme sprach entsetzliche Worte.

Sie verhöhnte Gott. Weshalb dienten die Menschen Gott? Er ließ alle seine Diener im Stiche. Er hatte seinen eigenen Sohn verlassen. Gott half keinem.

Die Stimme rauschte von Minute zu Minute gewaltiger dahin. Niemand hätte einer menschlichen Lunge solche Kraft zugetraut. Solche Wut hatte noch keiner aus einem zertretenen Herzen hervorbrechen gehört. Sie beugten ihr Haupt wie die Wandrer in der Wüste, wenn der Sturm über sie hinfährt.

Gewaltige, gewaltige Worte. Sie glichen donnernden Hammerschlägen gegen Gottes Thron. Gegen ihn, der Hiob peinigte, die Märtyrer leiden und seine Bekenner auf Scheiterhaufen verbrennen ließ. Wann wird der Ohnmächtige sein Reich gründen? Wann hört er auf, der Schlechtigkeit den Sieg zu lassen?

Anfangs hatten einige zu lachen versucht. Sie hatten dies für Scherz gehalten. Jetzt erkannten sie bebend, daß es Ernst war. Schon erhoben sich einige, um auf das Podium zu flüchten. Sie suchten Schutz bei der Heilsarmee vor demjenigen, welcher Gottes Zorn auf sie herabzog.

Die Stimme fragte sie in zischendem Tone, welchen Lohn sie für ihre Bemühungen, Gott zu dienen, erwarteten. Sie möchten sich nicht auf den Himmel spitzen. Gott sei geizig mit seinem Himmel. Ein Mann habe mehr Gutes getan, als zur Erlangung der Seligkeit nötig sei. Er habe größere Opfer gebracht, als Gott verlange. Nachher aber sei er zur Sünde verlockt worden. Das Leben sei lang. Die erworbene Gnade bezahle er schon in dieser Welt wieder aus. Er werde den Weg der Verdammten gehen.

Die Rede glich dem furchteinflößenden Nordsturme, der die Schiffe in den Hafen treibt. Während der Rede des Lästerers stürzten Weiber auf das Podium hinauf. Die Hände der Heilssoldaten wurden ergriffen und geküßt. Eine Belehrung folgte der andren. Die Soldaten konnten kaum alle in ihre Reihen aufnehmen. Knaben und Greise priesen Gott.

Der Redner sprach weiter. Die Worte berauschten ihn. Er sagte sich selbst: »Ich spreche, ich spreche, endlich spreche ich. Ich sage ihnen mein Geheimnis und sage es ihnen doch nicht.« Zum erstenmal, seit er das große Opfer gebracht hatte, fühlte er sich frei von Kummer.

 

Es war ein Sonntagnachmittag im Hochsommer. Die Stadt sah wie eine Steinwüste, wie eine Mondlandschaft aus. Man sah keine Katze, keinen Sperling, kaum eine Fliege an einer sonnigen Wand. Kein Schornstein rauchte. In den schwülen Straßen regte sich kein Lüftchen. Das Ganze war nur ein mit Steinen besäter Acker, aus dem Steinwände emporwuchsen.

Wo waren Hunde und Menschen? Wo waren die jungen Damen mit engen Röcken und weiten Ärmeln, langen Handschuhen und roten Sonnenschirmen? Wo waren Vaterlandsverteidiger und Modegecken, Heilsarmeesoldaten und Gassenbuben?

Wohin zogen an dem taufrischen Morgen all die bunten Lustfahrerscharen, all die Körbe, Harmonikas und Flaschen, welche das Dampfboot ausschiffte? Oder wo blieb die lange Antialkoholiker-Prozession? Die Fahnen wehten, die Trommeln donnerten, die Gassenbuben liefen stampfend und hurrarufend mit. Oder wo blieben die Kinderwagen, unter deren blauem Schirme die Kleinen schliefen, während Vater und Mutter sie andachtsvoll die Straße entlang schoben?

Sie alle wollten in den Wald hinaus. Sie klagten über die langen Straßen. Die Steinhäuser schienen ihnen nachzujagen. Endlich, endlich schimmerte es grün. Und unmittelbar vor der Stadt, wo der Weg sich über ebene, feuchte Felder schlängelte, wo die Lerchen am lautesten trillerten und der Klee honigsüß duftete, da lagen die ersten Zurückgebliebenen. Die Mütze im Nacken, das Gesicht im Grase. Den Körper im Sonnenscheine badend, die Seele durch Nichtstun und Ruhe erfrischend.

Auf dem Wege nach dem Walde aber mühten sich Eßkorbträger und Radler ab. Knaben kamen mit Botanisierspaten und blanken Tornistern. Mädchen tänzelten in Staubwolken einher. Himmel und Fahnen, Kinder und Trompeter. Handwerkerfamilien und Arbeiterfamilien. Die sich bäumenden Rosse eines Jagdwagens zappelten mit den Vorderbeinen über den Gruppen. Ein berauschter Geselle kletterte übermütig auf das Rad. Flinke Damenhände stießen ihn zurück, so daß er auf dem Rücken im Staube des Weges zappelte.

Drinnen im Walde spielte und sang, flötete und schnalzte eine Nachtigall. Die Birken trauerten, ihre Stämme waren schwarz. Die Buchen bauten hohe Tempel, Stockwerk auf Stockwerk von quergestreiftem Grün. Der Frosch zielte mit der Zunge. Mit jedem Schusse holte er sich eine Fliege. Der Igel trabte in den alten, raschelnden Buchenblättern umher. Die Eintagsfliegen huschten mit glitzernden Flügeln über morastige Stellen hin. Die Menschen setzten sich um die Eßkörbe herum. Goldkäfer krochen dicht bei ihnen im Grase. Die schnarrenden, springenden Grillen suchten ihnen den Sonntag fröhlich zu machen.

Plötzlich verschwand der Igel, er rollte sich erschreckt in seine Stacheln. Verstummend tauchten die Grillen im Grase unter. Die Nachtigall sang sich beinahe von Verstand. Es waren Gitarren, Gitarren. Die Heilsarmee zog unter den Buchen hin. Die Leute fuhren aus ihrer stumpfen Ruhe unter den Bäumen auf. Der Tanzplatz und der Krocketplatz leerten sich. Die Schaukel und das Karussell konnte sich eine Stunde ausruhen. Alles begab sich nach dem Lager der Heilsarmee. Die Bänke füllten sich, und auf jedem Hübelchen saßen Zuhörer.

Jetzt war die Armee schon stark und mächtig. Manch hübsches Gesicht umschloß der Heilshut. Manch starker Mann trug die rote Bluse. Ruhe und Ordnung herrschte unter den Haufen. Schimpfreden wagten sich nicht über die Lippen. Die Flüche grollten unschädlich hinter den Zähnen. Und der Schuster Matthias Wik, der gewaltige Gotteslästerer, stand jetzt als Fähnrich an den Stufen des Podiums. Auch er gehörte zu den Gläubigen. Das Tuch der roten Fahne streifte freundlich sein graues Haupt.

Die Heilssoldaten hatten den Alten nicht vergessen. Ihm verdankten sie ihren ersten Sieg. Sie hatten ihn in seiner Einsamkeit aufgesucht. Sie scheuerten seine Fußböden und flickten sein Zeug. Sie weigerten sich nicht, mit ihm zu verkehren. Und auf ihren Versammlungen durfte er reden.

Seit er sein Schweigen gebrochen hatte, war er glücklich. Er stand nicht mehr wie ein Feind Gottes da. In ihm war brausende Kraft. Er war glücklich, wenn er ihr Luft machen durfte. Wenn der Saal von seiner Löwenstimme dröhnte, war er glücklich.

Er redete stets von sich. Er erzählte stets seine eigene Geschichte. Das Schicksal des Verkannten schilderte er. Er sprach von Opfern bis aufs Blut, die ohne Belohnung und ohne Anerkennung gebracht worden. Er verkleidete, was er berichtete. Er erzählte sein Geheimnis und erzählte es doch nicht.

Aus ihm wurde ein Dichter. Er erhielt Kraft, Herzen zu gewinnen. Seinetwegen versammelten sich die Leute vor dem Podium der Heilsarmee. Er zog sie mit den süßphantastischen Bildern, die sein krankes Hirn erfüllten, dorthin. Er fesselte sie mit den Worten ergreifender Klage, die seine Herzensqual ihn gelehrt.

Vielleicht war sein Geist schon früher in dieser Welt des Todes und des Wechsels zu Gaste gewesen. Vielleicht war er da ein großer Dichter gewesen, der auf den Saiten des Heizens spielen gekonnt. Doch für schwere Sünden war er verurteilt worden, sein Erdenleben wieder zu beginnen und, unbekannt mit der Macht seines Geistes, von seiner Hände Arbeit zu leben. Jetzt aber hatte sein Leid den Kerker des Geistes erbrochen. Seine Seele war ein eben befreiter Gefangener. Lichtscheu und verwirrt, aber doch über ihre Freiheit jubelnd, zog sie über die früheren Schlachtfelder hin.

Der wilde, unkundige Sänger, die unter Staren aufgewachsene Schwarzdrossel, horchte mißtrauisch auf die Worte, die ihm auf die Lippen treten würden. Woher erhielt er die Macht, die Menge zu zwingen, seiner Rede begeistert zu lauschen? Woher erhielt er die Macht, stolze Menschen zum Niederknien und Händeringen zu zwingen? Er zitterte, wenn er zu sprechen begann. Dann aber kam ruhige Zuversicht über ihn. Aus der nie erschöpften Tiefe seines Leides stiegen unaufhörlich Wolken von schmerzbedrückten Worten empor.

Die Reden wurden nie gedruckt. Sie waren Jagdrufe, schmetternde Hornstöße, die weckten und anfeuerten, schreckten und hetzten. Nicht zu fangen, nicht wiederzugeben. Zuckende Blitze und rollender Donner. Sie erschütterten die Herzen in düsterer Angst. Doch vergänglich waren sie, nie ließen sie sich aufgreifen. Der Wasserfall läßt sich bis auf den letzten Tropfen ausmessen, das wirbelnde Spiel des Schaumes sich malen, doch nicht der spottende, wirbelnde, schnelle, anschwellende und gewaltige Strom dieser Reden.

An jenem Tage im Walde fragte er die Versammelten, ob sie wüßten, wie sie Gott dienen sollten. – Wie Uria seinem Könige diente.

Nun wurde der Mann auf dem Podium zum Uria. Jetzt ritt er mit dem Briefe seines Königs durch die Wüste. Er war allein dort. Die Öde erschreckte ihn. Seine Gedanken waren düster. Doch, wenn er an seine Gattin dachte, lächelte er. Bei der Erinnerung an sie wurde die Wüste zum Blumenbeete. Der Gedanke an sie ließ Quellen aus der Erde entspringen.

Sein Kamel stürzte. Trübe Ahnungen erfüllten seine Seele. »Das Unglück«, dachte er, »ist ein Geier, der die Wüste liebt.« Doch er kehrte nicht um, sondern eilte mit dem Briefe seines Königs vorwärts. Er trat auf Dornen. Er ging zwischen Kreuzottern und Skorpionen hindurch. Ihn dürstete und hungerte. Er sah eine Karawane wie eine dunkle Linie durch den Wüstensand ziehen. Er suchte sie nicht auf. Er wagte es nicht, sich mit Unbekannten einzulassen. Wer den Brief des Königs trägt, muß allein gehen. Am Abend erblickte er weiße Hirtenzelte. Er fühlte sich so dorthin gezogen wie nach dem freundlichen Häuschen seiner Gattin. Er glaubte weiße Schleier winken zu sehen. Er bog von den Zelten ab in die Einöde hinein. Wehe, wenn sie ihm den Brief seines Königs gestohlen hätten.

Schwankend geht er vorwärts, als er lauernde Räuber hinter sich herjagen sieht. Er denkt an den Brief des Königs. Er liest ihn, um ihn dann zu vernichten. Er liest ihn und sein Mut kehrt zurück. Erhebe dich, Krieger von Juda! Er vernichtet den Brief nicht. Er weicht den Räubern nicht. Er kämpft und siegt. Und dann weiter, weiter. Er trägt sein Todesurteil durch tausend Gefahren. – – –

So soll Gottes Willen gehorcht werden, bis aufs Blut, bis in den Tod. – –

Während Matthias Wik sprach, befand sich seine geschiedene Frau unter den Zuhörern. Sie war am Morgen in den Wald gegangen, munter und zufrieden am Arme ihres Mannes, höchst matronenhaft und durch und durch achtbar. Die Tochter und der Gesell trugen den Eßkorb. Die Magd ging mit dem jüngsten Kinde hinterdrein. Alle waren heiter, glücklich und ruhig gewesen.

Dann hatten sie sich in einem Dickicht gelagert. Sie hatten gegessen und getrunken, spendiert und sich traktieren lassen, gespielt und gelacht. Auch nicht einmal vergangener Zeiten gedacht! Das Gewissen schwieg wie ein sattes Kind. Früher hatte sie, wenn ihr erster Mann halb berauscht an ihrem Fenster vorbeigewankt war, einen Stich im Herzen gefühlt.

Dann hatte sie gehört, daß er das Idol der Heilsarmee geworden. Dies hatte sie vollständig beruhigt. Jetzt war sie gekommen, um ihn zu hören. Und sie verstand ihn. Er redete nicht von Uria. Er sprach von sich selbst. Er wand sich unter den Gedanken an sein eigenes Opfer. Er riß Stücke aus seinem eigenen Herzen und warf sie unter das Volk. Er kannte diesen Wüstenreiter, diesen Sieger über die Räuber. Und diese ungestillte Qual starrte ihr wie ein offenes Grab entgegen. –

Es wurde Nacht. Der Wald wurde menschenleer. Lebt wohl, ihr Blumen und grünen Bäume! Weiter Himmel, ein langes Lebewohl! Die Schlangen begannen zwischen den Grasbüscheln hinzugleiten. Die Kröten krochen auf den Wegen. Der Wald wurde häßlich. Alles sehnte sich heim nach der Steinwüste, nach der Mondlandschaft. Dort ist gut hausen für Menschen. Vielleicht werden dort leidende Herzen schnell versteinern.

 

Frau Anna Erikson lud ihre alten Freundinnen ein. Die Handwerkerfrauen und die Arbeitsfrauen der Vorstadt kamen zum Vormittagskaffee zu ihr. Es waren dieselben Frauen, die an jenem Fluchttage bei ihr gewesen waren. Eine neue war dabei, Maria Andersson, der Hauptmann der Heilsarmee.

Anna Erikson war jetzt viel zur Heilsarmee gegangen. Sie hatte ihren Mann gehört. Er erzählte stets von sich. Er verkleidete seine Geschichte. Sie erkannte sie stets. Er war Abraham. Er war Hiob. Er war Jeremias, den das Volk in einen Brunnen warf. Er war Elias, den die Kinder auf dem Wege verspotteten.

Dieser Schmerz erschien ihr bodenlos. Dieser Kummer schien sich ihr jede Stimme zu leihen, sich mit allem, was ihm in den Weg kam, zu maskieren. Sie verstand nicht, daß der Mann sich gesundredete, daß es vor Freude über die Dichtermacht in ihm spielte und lächelte.

Sie hatte ihre Tochter mit zur Armee geschleppt. Die Tochter hatte nicht gehen wollen. Sie war streng, sittsam und pflichtgetreu. Kein Jugendfeuer erhitzte ihr Blut. Sie war alt geboren.

Sie war mit der Scham über den Vater aufgewachsen. Sie hielt sich kerzengrade, als wollte sie sagen: »Seht eines verachteten Mannes Tochter! Seht, ob es Staub auf meinem Kleide gibt! Seht, wie mein Wandel fleckenlos ist!« Ihre Mutter war stolz auf sie. Doch dachte sie auch bisweilen seufzend: »Ach, wenn die Hände meiner Tochter weniger weiß wären, würde sie mich vielleicht wärmer lieblosen!«

Spöttisch lächelnd saß das Mädchen in der Armee. Sie verachtete das Theatralische. Als ihr Vater das Podium betrat, wollte sie gehen. Frau Anna Eriksons Hand ergriff die ihre fest wie eine Zange. Das Mädchen blieb sitzen. Der Wortstrom begann über sie hinzurauschen. Doch was zu ihr sprach, waren weniger die Worte als die Hand ihrer Mutter.

Die Hand schrie förmlich vor Schmerzen und zuckte wie im Krampfe. Dann wieder lag sie schlaff, wie tot, in der ihren. Fieberheiß griff sie wild um sich. Das Gesicht der Mutter verriet nichts. Nur die Hand litt und kämpfte.

Der alte Redner beschrieb das Märtyrertum des Schweigens. Jesu Freund lag krank. Die Schwestern ließen den Heiland benachrichtigen. Doch seine Zeit war noch nicht gekommen. Für Gottes Reich mußte Lazarus sterben.

Er ließ nun alle Zweifel, alle Verleumdungen über Christum herfahren. Er beschrieb sein Leiden. Sein eigenes Mitleid quälte ihn. Er machte die Todesqual mit Lazarus durch. Dennoch mußte er schweigen.

Nur ein Wort hätte er sagen brauchen, um die Achtung der Freunde wiederzugewinnen. Er schwieg. Er mußte die Klagen der Schwestern anhören. Er sagte ihnen die Wahrheit in Worten, die sie nicht verstanden. Die Feinde spotteten seiner.

Und so ging es, immer ergreifender werdend, weiter.

Anna Eriksons Hand lag noch in der ihrer Tochter. Die Hand beichtete und bekannte: »Der Mann dort ist selbst ein Märtyrer des Schweigens. Er wird fälschlich angeklagt. Mit einem Worte könnte er sich befreien.«

Das Mädchen begleitete die Mutter nach Hause. Sie gingen stumm nebeneinander her. Das Gesicht der Jungen war wie versteinert. Sie grübelte und rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was die Erinnerung ihr sagen konnte. Ihre Mutter betrachtete sie ängstlich forschend.

Was wußte sie?

Am Tage darauf gab Anna Erikson ihre Kaffeegesellschaft. Die Unterhaltung drehte sich munter um den Markt, der an diesem Tage stattfand, um Holzpantoffelpreise und um mausende Mägde. Die Weiber plauderten und lachten. Sie gossen sich den Kaffee in die Untertasse. Sie waren sanftmütig und unbekümmert. Frau Anna Erikson begriff nicht, wie es gekommen, daß sie sie einst gefürchtet und noch immer geglaubt, jene würden sie verurteilen.

Als sie sich die zweite Tasse eingeschenkt hatten, als sie zufrieden und gemütlich mit ihren randvoll geschenkten Kaffeetassen dasaßen und sich die Schälchen mit Kuchen hoch vollgepackt hatten, ergriff sie das Wort. Ihre Worte klangen ein bißchen feierlich, aber ihre Stimme war ruhig.

»In der Jugend ist man unvorsichtig. Ein Mädchen, das sich verheiratet, ohne ordentlich über das, was ihr bevorsteht, nachzudenken, kann in großes Unglück geraten. Wem ist es schlechter ergangen als mir?«

Das wußten sie alle. Sie waren ja bei ihr gewesen und hatten mit ihr getrauert.

»In der Jugend ist man unvernünftig. Man verschweigt aus Scham, was gesagt werden müßte. Aus Furcht vor dem, was die Leute dazu sagen werden, wagt man nicht zu sprechen. Wer nicht im rechten Augenblicke gesprochen, kann es sein Leben lang bereuen müssen.«

Alle glaubten, daß dies wahr sei.

Sie habe Matthias Wik gestern, wie schon oft gehört. Jetzt müsse sie ihnen allen etwas von ihm sagen. Es überfalle sie eine qualvolle Unruhe, wenn sie daran denke, was er ihretwegen gelitten habe. Dennoch finde sie, daß er, der alt gewesen, zu vernünftig hätte sein müssen, um sie, eine so junge Dirne, zur Frau zu nehmen.

»In meiner Jugend getraute ich mich nicht, es zu sagen. Doch er verließ mich aus Mitleid, weil er glaubte, ich wolle Erikson haben. Ich habe einen Brief von ihm darüber.«

Sie las ihnen den Brief vor. Eine Träne rollte ihr über die Wange, ganz wie es der Anstand verlangte.

»Er hatte sich in seiner Eifersucht nur getäuscht. Damals war es mit mir und Erikson nichts. Es dauerte noch vier Jahre, ehe wir uns heirateten. Ich will dies aber doch jetzt sagen, denn Wik ist zu gut, um so verkannt zu werden. Er verließ Frau und Kind nicht aus Leichtsinn, sondern in guter Absicht. Ich will, daß dies überall bekannt werde. Hauptmann Andersson wird vielleicht den Brief in der Armee vorlesen. Ich will, daß Wik wieder zu Ansehen gelangt. Ich weiß auch, daß ich zu lange geschwiegen habe, aber man gibt sich eines Trunkenboldes wegen nicht gern selbst preis. Jetzt liegt die Sache anders.«

Die Frauen saßen beinahe wie versteinert. Anna Eriksons Stimme zitterte ein wenig, als sie mit schwachem Lächeln sagte:

»Jetzt werden Sie mich am Ende nie wieder besuchen wollen?«

»Oh, doch, gewiß! Sie waren ja so jung, Frau Erikson! Sie konnten ja gar nichts dafür, Frau Erikson! Es war ja seine Schuld, daß er sich so etwas einbildete.«

Sie lächelte. Dies waren die spitzen Schnäbel, die sie hätten zerfleischen sollen. Die Wahrheit war nicht gefährlich und die Lüge auch nicht. Die Füße der jungen Männer warteten nicht vor ihrer Tür.

Wußte sie, daß ihre älteste Tochter am selben Morgen ihr Haus verlassen hatte, um zu ihrem Vater zu gehen, oder wußte sie es nicht?

 

Das von Matthias Wik für die Ehre seiner Gattin gebrachte Opfer wurde bekannt. Er wurde bewundert. Er wurde aber auch verlacht. Sein Brief wurde in der Armee vorgelesen. Einige weinten vor Rührung. Leute drückten ihm auf der Straße die Hand. Seine Tochter siedelte zu ihm über.

Die nächsten Abende nach diesem Tage schwieg er bei den Zusammenkünften. Er fühlte keinen inneren Drang, zu sprechen. Einmal bat man ihn, zu reden. Er bestieg das Podium, faltete die Hände und begann.

Als er ein paar Worte gesprochen, hielt er verwirrt ein. Er kannte seine eigene Stimme nicht wieder. Wo war die Löwenstimme geblieben? Wo der brausende Nordsturm? Und wo der Wortstrom? Er begriff es nicht, konnte es nicht begreifen.

Wankend trat er zurück. »Ich kann nicht,« murmelte er. »Gott gibt mir noch keine Kraft zu reden.« Er setzte sich auf die Bank nieder und stützte den Kopf in die Hände. Er konzentrierte all seine Denkkraft, um wenigstens erst ausfindig zu machen, über welches Thema er reden wollte. Hatte er in früheren Tagen je darüber nachgrübeln brauchen? Kannte er jetzt nachdenken? Die Gedanken verwirrten sich ihm.

Vielleicht würde es gehen, wenn er sich wieder erhöbe, sich dorthin stellte, wo er zu stehen pflegte und mit seinem gewöhnlichen Gebete anfinge. Er versuchte es. Sein Gesicht wurde aschgrau. Die Blicke richteten sich auf ihn. Kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seine Lippen fanden kein einziges Wort.

Er saß auf seinem Platze, weinte und stöhnte dumpf. Die Rednergabe war ihm genommen worden. Er versuchte zu reden, versuchte es erst still für sich. Wovon sollte er sprechen? Sein Kummer war ihm genommen worden. Er hatte den Menschen nichts zu sagen, was er ihnen nicht sagen durfte. Er hatte kein Geheimnis zu verhüllen. Er bedurfte der Dichtung nicht. Die Dichtung wich von ihm.

Todesangst ergriff ihn. Es war ein Kampf ums Leben. Er wollte das festhalten, was schon fort war. Er wollte seinen Kummer wieder haben, um wieder reden zu können. Sein Kummer hatte sich verflüchtigt. Er konnte ihn nicht wieder greifen.

Wie ein Trunkener schwankte er immer wieder aufs Podium. Er stammelte dort sinnlose Worte. Er leierte dort wie etwas Auswendiggelerntes her, was er andere sagen gehört hatte. Er suchte sich selber nachzuahmen. Er spähte nach Andacht in den Blicken, bebendem Schweigen und erregten Atemzügen umher. Er gewahrte nichts davon. Was seine Freude gewesen, war ihm genommen worden.

Er trat wieder in die Dunkelheit zurück. Er verfluchte es, daß er Frau und Tochter durch seine Rede bekehrt hatte. Er hatte das köstlichste Gut besessen und es verloren. Sein Schmerz war grenzenlos – doch von solchem Grame lebt das Genie nicht.

Er war ein Maler ohne Hände, ein Sänger, der seine Stimme verloren. Er hatte nur von seinem Kummer geredet.

Wovon sollte er jetzt sprechen?!

Er betete: »O Gott, da die Ehre stumm ist, das Verkanntsein aber spricht, laß mich wieder verkannt sein! Da das Glück stumm ist, der Gram aber redet, gib mir meinen Kummer wieder!«

Doch die Krone war ihm genommen worden. Elender als der Elendste saß er da, denn er war von den Höhen des Lebens herabgestürzt. Er war ein entthronter König.


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