Selma Lagerlöf
In Dalarne
Selma Lagerlöf

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Die wilde Jagd

Da waren viele, die meinten, daß Elias Elof Ersson keine Ruhe im Grabe haben dürfe, so schändlich wie er an Karin Ingmarstochter und dem jungen Ingmar Ingmarsson gehandelt hatte.

Den Hof, der ja Karin gehörte, hatte er so mit Hypotheken belastet hinterlassen, daß sie gezwungen gewesen wäre, ihn den Gläubigern zu überlassen, wenn nicht Halvor so reich gewesen wäre, daß er den Hof hätte kaufen und die Schulden bezahlen können. Ingmar Ingmarssons zwanzigtausend Kronen, die Elias zu verwalten gehabt hatte, waren vollständig verschwunden. Einige glaubten, daß Elias sie in der Erde vergraben hatte, andere meinten, er habe sie weggegeben; sicher ist, daß das Geld verschwunden und nirgends zu finden war.

Als Ingmar Ingmarsson erfahren hatte, daß er arm war, sprach er mit seiner Schwester darüber, was er jetzt anfangen sollte. Ingmar sagte zu Karin, am liebsten möchte er Schulmeister werden. Er bat sie, dafür zu sorgen, daß er auch ferner bei Storm wohnen könne, bis er alt genug war, um auf ein Seminar zu kommen. Da unten im Kirchdorf, sagte er, könne er vom Schulmeister und vom Pfarrer Bücher leihen, und außerdem könne er Storm in der Schule helfen, und die Kinder unterrichten. Das sei eine gute Übung.

Karin dachte lange darüber nach; schließlich sagte sie:

»Ja, du hast wohl keine Lust, hier zu Hause zu bleiben, wenn du nicht Herr auf dem Hofe sein kannst.«

Als Schulmeisters Gertrud erfuhr, daß Ingmar wieder zu ihnen kommen sollte, setzte sie ein verdrießliches Gesicht auf. Sie dachte, wenn sie einen Jungen im Hause haben sollten, so hätte es ebensogut der hübsche Bertel des Gemeindevorstehers sein können, oder Hök Matts Sohn Gabriel, der immer so munter war.

Gertrud mochte Bertel und Gabriel gern leiden, aber was Ingmar anbetraf, hatte sie sich nie so recht klar darüber werden können, was sie von ihm dachte. Sie hatte ihn gern, weil er so geduldig war und so gefällig, ihr bei den Schularbeiten zu helfen, und weil er ihr wie ein Sklave gehorchte. Aber auf der anderen Seite konnte sie ihn nicht leiden, weil er so schwerfällig und langsam und häßlich war, und nicht zu spielen verstand. Bald bewunderte sie ihn, weil er fleißig war und ihm das Lernen leicht wurde, bald verachtete sie ihn, weil er sich niemals verteidigte, wenn er angegriffen wurde.

Gertrud hatte immer den Kopf voll wunderlicher Phantasien und Träume, die sie Ingmar anzuvertrauen pflegte; und wenn er hin und wieder einmal einige Tage fort war, wurde sie unruhig und meinte, daß sie niemand habe, mit dem sie sprechen könne.

Gertrud hatte nie die geringste Rücksicht darauf genommen, daß Ingmar reich war und zu den besten Familien im Kirchsprengel gehörte, sondern hatte ihn immer so behandelt, als ob er etwas Geringeres sei als wie sie; aber als sie nun hörte, daß er arm geworden war, fing sie an zu weinen. Und als er ihr erzählte, daß er nicht daran denke, den Hof zurückzugewinnen, sondern Schulmeister zu werden, wurde sie zornig, daß sie sich nicht beherrschen konnte. Gott mochte wissen, was sie alles geträumt hatte, das er werden sollte!

Die Kinder beim Schulmeister erhielten eine sehr ernste Erziehung. Sie wurden streng zur Arbeit angehalten und hatten selten eine Zerstreuung. Hierin geschah jedoch eine Veränderung in dem Frühling, als Storm aufhörte, im Missionshause zu predigen. Da konnte Mutter Stina zuweilen zu ihrem Manne sagen: »Denk' an dich und mich; als wir siebzehn Jahre alt waren, tanzten wir manch eine Nacht von Sonnenuntergang bis zum Tagesanbruch.«

An einem Sonnabend abend, als Hök Gabriel Mattsson und des Schultheißen Gunhild zu Besuch gekommen waren, wurde sogar im Schulhause selbst getanzt.

Gertrud war ganz ausgelassen vor Entzücken darüber, tanzen zu dürfen, aber Ingmar wollte nicht mittun. Er nahm ein Buch, setzte sich auf das Sofa am Fenster und fing an zu lesen. Gertrud kam einmal über das andere Mal, um ihn zum Tanzen zu verlocken, aber Ingmar saß mürrisch und befangen da und sagte nichts. Mutter Stina sah ihn an und seufzte: »Man kann merken, daß er aus einem alten Geschlecht stammt,« dachte sie, »man sagt ja, daß solche Menschen nie so recht jung werden können.«

Die drei, die tanzten, waren so vergnügt, daß sie Lust bekamen, am nächsten Sonnabend abend in die Spielstube zu gehen. Schließlich sprachen sie mit den Schulmeistersleuten darüber.

»Ja, wenn ihr in die Spielstube zu dem starken Ingmar gehen wollt, dann könnt ihr es gern tun, meinetwegen,« sagte Mutter Stina. »Da, weiß ich, werdet ihr nur ordentliche Leute treffen.«

Storm stellte eine andere Bedingung: »Ich lasse Gertrud nicht zum Tanz gehen, wenn nicht Ingmar mitgeht und acht auf sie gibt.«

Alle drei eilten auf Ingmar zu; er sagte bestimmt nein, hielt die Augen auf das Buch gesenkt und fuhr fort zu lesen.

»Ach, es verlohnt sich nicht, ihn darum zu bitten,« sagte Gertrud hierauf in einem so wunderlichen Ton, daß er aufsah. Es war auffallend, wie schön Gertrud nach dem Tanz geworden war. Aber der Mund lächelte spöttisch, und die Augen blitzten, als sie sich jetzt von ihm abwandte. Es war deutlich zu sehen, wie tief sie ihn verachtete, der so häßlich und mürrisch dasaß und sich nicht darauf verstand, jung zu sein. Ingmar mußte sich beeilen, ja zu sagen – es half ihm alles nichts.

Ein paar Tage später saßen Gertrud und ihre Mutter eines Abends in der Küche und arbeiteten. Auf einmal bemerkte Gertrud, daß ihre Mutter anfing unruhig zu werden. Sie hielt den Spinrocken an und lauschte zwischen jedem Wort, das sie sagte. »Ich kann nicht begreifen, was es ist,« sagte sie. »Kannst du es nicht hören, Gertrud?« – »Ja,« antwortete Gertrud, »da ist jemand oben in der Schulstube.« – »Wer kann das nur um diese Zeit des Tages sein? Und höre nur, wie es raschelt und pusselt und von einer Ecke des Zimmers in die andere fährt.« – Ja, es raschelte und pusselte und fuhr umher in der großen, leeren Schulstube. Gertrud wie auch ihrer Mutter wurde ganz unheimlich zumute. »Es muß doch jemand da oben sein,« dachte Gertrud. – »Es kann niemand sein,« erwiderte Mutter Stina, »und ich will dir nur sagen, ich habe dasselbe Geräusch jeden Abend gehört, seit ihr da oben getanzt habt.«

Gertrud konnte der Mutter ansehen, daß sie glaubte, es spuke nach dem Tanz. Sie wußte, wenn Mutter so etwas glaubte, dann war es mit allem vorbei, was Tanz und Spielstube für sie hieß.

»Jetzt gehe ich hinauf und sehe nach, was es ist,« sagte Gertrud; aber Mutter Stina hielt sie am Kleide fest. »Ich weiß nicht, ob ich dich gehen lassen darf.« – »Ach ja, Mutter, es ist am besten, wenn wir uns klar darüber werden, was es ist.« – »Dann wollen wir aber beide zusammen gehen.«

Sie schlichen ganz leise die Treppe hinauf. Sie wagten nicht, die Tür zu öffnen, sondern Mutter Stina bückte sich und sah durch das Schlüsselloch.

Sie stand lange so; einen Augenblick klang es, als ob sie glucksend lache. »Was ist es, Mutter?« fragte Gertrud. – »Du kannst es ja selbst sehen, sei aber ganz leise.«

Gertrud bückte sich und sah hinein. Tische und Bänke, die sonst die ganze Stube einnahmen, waren zusammengerückt; eine dichte Staubwolke erfüllte den ganzen Raum, und mitten in dem Staub sauste Ingmar Ingmarsson umher, einen Stuhl im Arm.

»Ist Ingmar verrückt geworden!« rief Gertrud aus. – »Still,« sagte die Mutter und zog sie mit sich die Treppe hinunter. »Ich glaube, er ist dabei, sich selbst das Tanzen zu lehren. Er will es wohl lernen, damit er auch in die Spielstube gehen kann,« fuhr sie mit einem Lächeln fort.

Mutter Stina lachte, so daß sie bebte. »Ich bin ja beinahe umgekommen vor Angst,« sagte sie, »Gott sei Dank, daß er auch einmal jung sein kann.« Und als sie endlich ausgelacht hatte, sagte sie: »Nun sagst du kein Wort hiervon zu irgendeinem Menschen, Gertrud?«

Und dann kam der Sonnabend abend, und die vier jungen Leute standen auf der Treppe des Schulhauses, bereit zu gehen. Mutter Stina musterte sie, sie waren so fein, daß sie förmlich glänzten. Die jungen Burschen hatten gelbe, lederne Hosen an und grüne Beiderwandwesten mit roten Ärmeln. Gertrud und Gunhild hatten große, weiße Puffärmel, große, rosa Tücher bedeckten fast das ganze Mieder, die Kleider waren gestreift mit einem Saum von rotem Tuch, und die Schürzen waren groß und rosa wie die Tücher.

Während die vier durch den schönen Sommerabend den Weg dahingingen, waren sie anfangs ganz stumm. Gertrud sah Ingmar hin und wieder verstohlen an, und dachte daran, wie er sich abgemüht hatte, um tanzen zu lernen. Wie es nun sein mochte, ob es der Gedanke an Ingmar war oder die Aussicht, daß sie tanzen würde – sie fing an zu träumen und zu phantasieren; und da ließ sie die anderen ein wenig vorausgehen, um Ruhe dazu zu haben. Sie dichtete eine ganze kleine Geschichte zusammen, wie es zugegangen war, als die Bäume neue Blätter bekamen.

Es war wohl so zugegangen, daß die Laubbäume, die den ganzen Winter dagestanden und in Ruhe und Frieden geschlafen hatten, plötzlich anfingen zu träumen. Sie sahen die Felder mit grünem Gras und wogendem Korn bekleidet, an den Rosenbüschen prangten frisch erblühte Rosen, Bäche und Teiche waren von Wasserlilienblättern bedeckt, die feinen, glänzenden Stengel der Linäa verdeckten die Steine, und der Waldboden war gar nicht zu sehen vor Waldmeister und Anemonen. Und mitten zwischen allem, was bekleidet und bedeckt war, sahen sich die Bäume so nackt und kahl dastehen, daß sie anfingen, sich ihrer Nacktheit zu schämen, so wie man dies im Traume tut. In der Verwirrung meinten die Laubbäume, daß alle sich lustig über sie machten. Die Hummeln kamen summend daher und verhöhnten sie, die Elstern lachten, so daß es schallte, und die anderen Vögel sangen Spottlieder.

»Wo sollen wir doch nur etwas hernehmen, um uns zu bedecken?« dachten die Bäume ganz verzweifelt. Aber sie konnten nicht das allergeringste Blatt sehen, weder an einem Zweig noch an einem Ast, und ihre Verzweiflung wurde so groß, daß sie darüber erwachten.

Als sie sich ganz schlaftrunken umsahen, war ihr erster Gedanke, daß es nur ein Traum war. »Hier ist noch keine Spur von Sommer. Es war nur gut, daß wir die Zeit nicht verschlafen hatten.«

Aber als sie sich genauer umsahen, merkten sie, daß das Eis von den Seen verschwunden war. Grashalme und Anemonen fingen an, aus der Erde hervorzugucken, und der Saft gärte und brauste unter ihrer eigenen Rinde. »Frühling ist es jedenfalls, wenn es auch noch nicht Sommer ist,« sagten die Laubbäume; »es war nur gut, daß wir erwachten. Nun haben wir für dies Jahr genug geschlafen, wir müssen jetzt die Knospenhülsen abwerfen und unsere Kleider anziehen.«

Und dann hatten die Birken in aller Eile einige kleine klebrige Blätter herausgesteckt, während die Ahornbäume sich vorläufig mit nichts weiter als grünen Blüten bekleideten. Die Blätter der Erlen kamen so unfertig und runzelig hervorgesprossen, daß sie Mißgeburten glichen, während dahingegen die Weidenblätter sogleich glatt und wohlgebildet aus den Knospen glitten.

Ein Lächeln umspielte Gertruds Mund, während sie dahinging und an dies alles dachte, und sie wünschte nur, daß sie mit Ingmar Ingmarsson allein gewesen wäre, um es ihm gleich erzählen zu können.

Sie hatten einen langen Weg zu gehen, bis ganz hinauf zu dem Ingmarshof; es war mehr als eine Stunde zu wandern. Sie gingen an dem Flußufer entlang, und Gertrud blieb während der ganzen Zeit hinter den anderen zurück, um in Ruhe träumen zu können. Jetzt beschäftigten sich ihre Gedanken mit dem roten Schimmer des Sonnenunterganges, der bald an dem Fluß, bald an dem Ufer aufflammte. Das graue Erlengestrüpp und die lichtgrünen Birken wurden von dem Schimmer eingehüllt, standen einen Augenblick da und flammten rot auf und nahmen dann gleich wieder ihre natürliche Farbe an. Plötzlich blieb Ingmar stehen. Er brach mitten in dem ab, was er eben erzählte und konnte kein Wort mehr hervorbringen. »Was hast du?« fragte Gunhild. Und Ingmar stand ganz bleich da und starrte vor sich hin. Die anderen sahen nichts weiter als die große Ebene, die von Kornfeldern durchschnitten und von einem Höhenzug begrenzt war. Mitten auf der Ebene lag ein großer Bauernhof. In diesem Augenblick fiel der rote Sonnenuntergangsschimmer auf den Hof, alle Fenster blitzten, und die alten Dächer und Mauern leuchteten rosig auf.

Gertrud trat schnell herzu, warf einen hastigen Blick auf Ingmar und zog die andern mit sich fort. »Ihr müßt ihn nicht fragen, was er hat,« flüsterte sie, »das ist der Ingmarshof, er kann es nicht gut ertragen, ihn zu sehen. Er ist in den zwei Jahren, seit er arm geworden ist, nicht zu Hause gewesen.« ,

Der Weg, den sie einschlagen mußten, führte quer durch die Ebene an dem Hof vorüber, bis hinab zu des starken Ingmars Hütte am Waldessaume.

Ingmar holte die anderen schnell wieder ein: »Laßt uns lieber diesen Weg gehen!« Er führte sie auf den Fußsteig, der am Waldessaum entlang lief, weit um das Gehöft herum.

»Du kennst den starken Ingmar wohl?« sagte Hök Mattssons Gabriel zu Ingmar. – »Ja, wir sind gute Freunde gewesen, als ich noch ganz klein war.« – »Weißt du, ob es wahr ist, daß er hexen kann?« fragte nun Gunhild. – »Ach nein,« sagte Ingmar. Freilich ein wenig zögernd, als glaube er doch halbwegs daran.

»Du kannst uns gern etwas davon erzählen,« fuhr Gunhild fort. – »Der Schulmeister sagt, daß wir an so etwas nicht glauben sollen.« – »Der Schulmeister kann doch keinem Menschen verbieten, zu sehen, was er sieht, und zu glauben, was er weiß.«

Ingmar bekam nun große Lust zu erzählen, und alle Erinnerungen aus den Jahren der Kindheit drängten sich auf ihn ein, als er den alten Hof sah.

»Ich kann euch etwas erzählen, was ich selbst erlebt habe,« sagte er. »Es war in einem Winter, als Vater und der starke Ingmar an den Kohlenmeilern hoch oben im Walde arbeiteten. Als Weihnachten kam, erbot sich der starke Ingmar, allein bei den Meilern zurückzubleiben, damit Vater während der Festtage nach Hause gehen könne. Es wurde auch so beschlossen, und am heiligen Abend schickte mich Mutter mit dem Weihnachtsschmaus zu dem starken Ingmar in den Wald hinauf.

Ich ging früh fort und erreichte den Meilerplatz um die Mittagszeit. Gerade, als ich kam, hatten Vater und der starke Ingmar einen Meiler fertig gebrannt; sie hatten ihn auseinandergenommen, und alle die warmen Kohlen lagen auf der Erde, um abzukühlen. Es rauchte aus dem Kohlenhaufen, und wo die Kohlen dicht nebeneinanderlagen, waren sie kurz davor aufzuflammen, aber das durften sie nicht. Das war der gefährlichste Augenblick während der ganzen Arbeit. Vater sagte auch, sobald er mich erblickte: ›Ich fürchte, du wirst allein nach Hause gehen müssen, kleiner Ingmar. Ich kann dem starken Ingmar dies nicht allein überlassen.‹ Der starke Ingmar ging auf der anderen Seite des Kohlenhaufens, mitten in dem ärgsten Rauch. – ›Ach, du kannst gut nach Hause gehen, großer Ingmar; ich bin schon mit schwierigeren Dingen fertig geworden.‹

Nach einer Weile wurde der Rauch von den Kohlen ein wenig schwächer. ›Nun will ich doch einmal sehen, was für einen Weihnachtsschmaus Brita mir schickt,‹ sagte der starke Ingmar und nahm mir die Holzschachtel mit dem Essen ab. – ›Komm nur mit, dann kannst du sehen, wie fein dein Vater und ich hier wohnen,‹ sagte er. Da nahm er mich mit sich in die kleine Hütte, die er und der Vater gebaut hatten. Als Rückwand diente ein großer Stein, aber sonst waren die Wände aus Tannenzweigen und Schlehdornen geflochten. – ›Ja, ja, mein Junge,‹ sagte der starke Ingmar. ›Du hast wohl nicht geglaubt, daß dein Vater hier draußen im Walde ein so königliches Schloß hat. Hier sollst du einmal Wände sehen, die Regen und Kälte abhalten können,‹ sagte er und steckte den Arm durch die Tannenzweige.

Vater kam nun auch und lachte mit uns; sie waren beide schwarz von Ruß und rochen nach dem säuerlichen Holzkohlenrauch, nie aber habe ich Vater so munter und vergnügt gesehen. Keiner von beiden konnte da drinnen aufrecht stehen, und da war nichts weiter als ein Lager von Tannenzweigen, und ein paar große Steine, auf denen ein Feuer brannte, aber sie waren in bester Laune. Sie setzten sich nebeneinander auf die Tannenzweige und öffneten die Holzschachtel. – ›Ich weiß nicht, ob du etwas abbekommen kannst,‹ sagte der starke Ingmar, ›denn dies ist mein Weihnachtsessen.‹ – ›Du mußt dich wohl über mich erbarmen, denn es ist ja heilig Abend,‹ sagte der Vater. – ›Ja, es ist wohl unrecht, einen armen Köhler hungern zu lassen,‹ sagte der starke Ingmar.

So fuhren sie fort. Es war auch ein wenig Branntwein mit dabei, und ich wunderte mich darüber, daß sich Menschen an Essen und Trinken so freuen konnten. – ›Du mußt deiner Mutter erzählen,‹ sagte der starke Ingmar, ›daß dein Vater mir das Essen weggenommen hat; sie muß mir morgen etwas mehr schicken.‹ – ›Dies ist ein wahres Wort, das kann ich sehen,‹ sagte ich.

Im selben Augenblick zuckte ich zusammen; es knisterte am Feuer, es klang fast, als habe jemand eine Handvoll kleiner Steine auf die flache, steinerne Fliese geworfen, auf der das Feuer brannte. Vater beachtete es nicht, aber der starke Ingmar sagte sofort: ›Ach, steht es so?‹ fuhr aber fort zu essen. Da knisterte es von neuem, viel stärker. Ich sah nichts, aber es war, als würde eine ganze Handvoll Steine in das Feuer geworfen. – ›Ja, so, hat es so große Eile?‹ sagte der starke Ingmar und ging hinaus. – ›Die Kohlen haben Feuer gefangen,‹ rief er nach einer Weile, ›aber bleib du nur sitzen, großer Ingmar, ich werde ganz gut allein damit fertig.‹ – Vater und ich saßen ganz still; niemand von uns hatte Lust, etwas zu sagen.

Da kam der starke Ingmar wieder herein, und das Scherzen begann von neuem.

›Ein so vergnügtes Weihnachtsfest, glaube ich, habe ich seit vielen Jahren nicht gefeiert,‹ sagte er. – Gerade, als er das gesagt hatte, fing es wieder an, als prasselten Steine. – ›Ach so, ist es denn schon wieder so weit,‹ sagte er. Er ging wieder hinaus, und die Kohlen hatten wieder Feuer gefangen. Als er zurückkam, sagte Vater: ›Jetzt sehe ich, daß du eine so gute Hilfe hast, daß du allein hier oben mit den Meilern fertig werden kannst.‹ – ›Ja, gehe du nur ruhig nach Hause und feiere Weihnachten, großer Ingmar. Ich habe welche, die mir schon helfen werden.‹ – Und dann gingen wir nach Hause, Vater und ich, und alles ging gut, und nie, weder früher noch später, ist dem großen Ingmar je ein Kohlenmeiler in den Brand geraten.«

Gunhild dankte Ingmar für seine Geschichte, aber Gertrud ging so still einher, als sei sie bange geworden. Die Dunkelheit fing an, sich herabzusenken, und alles, was vorher rot gewesen war, ward nun blau und grau; nur drinnen im Walde sah man ein vereinzeltes blankes Blatt, das wie das Auge eines Kobolds leuchtete.

Aber Gertrud war ganz erstaunt über Ingmar, der so lange und ausführlich erzählt hatte. Sie sah ihn an, und es war ihr, als wenn er den Kopf ein wenig höher trage und mit festerem Schritte auftrete. Er ist gleichsam ein anderer geworden, seit er sich auf dem Boden seines väterlichen Hofes befindet, dachte sie. Gertrud begriff nicht, warum sie sich so dadurch beunruhigt fühlte, es gefiel ihr nicht. Aber sie nahm sich schnell zusammen und fing an, mit Ingmar zu scherzen und ihn zu fragen, ob er tanzen wolle.

Endlich erreichten sie das Haus. Es war eine kleine, einfache Hütte; da drinnen brannte Licht – die kleinen Fenster ließen wohl nicht genug Tageslicht hinein. Und aus der Hütte schallte Violinspiel und das Getrampel der Tanzenden heraus, aber trotzdem blieben die jungen Mädchen stehen und fragten: »Ist es hier, kann man hier tanzen?«

Sie meinten, es könne nicht Platz genug für ein einziges Paar da drinnen sein.

»Ach,« sagte Gabriel, »geht ihr nur hinein. Dies Haus ist nicht so klein, wie es aussieht.«

Die Tür stand offen, und draußen standen diejenigen von den jungen Paaren, die sich warm getanzt hatten. Die Mädchen hatten die Kopftücher abgenommen und fächelten sich damit. Die Burschen zogen die kurzen, schwarzen Jacken ab, um in den hellen, grünen Westen mit den roten Ärmeln zu tanzen.

Die Neuangekommenen drängten sich durch die Gruppen vor der Tür hindurch und kamen in die Stube hinein. Der erste, den sie sahen, war der starke Ingmar; er war ein kleiner, dicker Mann, mit einem großen Kopf und großem Bart. »Er sieht wirklich aus, als wenn er mit den Kobolden verwandt sei,« dachte Gertrud. Er stand oben auf dem Herd und spielte, wohl um den Tanzenden nicht im Wege zu sein.

Die Stube war größer als sie aussah. Aber armselig und verfallen war sie, die kahlen Balken waren wurmstichig, und die Decke war schwarz von Rauch. Da waren weder Gardinen vor den Fenstern noch eine Decke auf dem Tisch. Es war leicht zu sehen, daß der starke Ingmar ein einsamer Mann war. Seine Kinder waren von ihm fort nach Amerika gereist. Das einzige Vergnügen des alten Mannes in seiner Einsamkeit war es, an Sonnabend Abenden die Jugend mit seinem Violinspiel um sich zu versammeln.

In der Stube war es halbdunkel und beklommen, Paar auf Paar wirbelte sich herum. Gertrud konnte kaum atmen, und wollte schnell wieder hinaus, aber es war ganz unmöglich, durch die Mauer von Menschen zu dringen, die den Ausgang versperrten.

Der starke Ingmar spielte taktfest und sicher, aber als Ingmar Ingmarsson in die Tür kam, machte er mit dem Bogen einen Strich, so daß alle Saiten kreischten und die Tanzenden einhielten. »Nein, nein!« rief er, »es war nichts, tanzt ihr nur weiter!« Ingmar legte den Arm um Gertruds Taille, um hinaus zu tanzen. Gertrud war natürlich ganz erstaunt, daß er tanzen wollte. Aber dann blieben sie stehen, denn das eine Paar folgte dem andern so schnell nach, daß es nicht möglich war, in den Kreis hinein zu gelangen, wenn man nicht von Anfang an dadrin gewesen war.

Der alte, starke Ingmar unterbrach das Spiel von neuem, schlug mit dem Bogen auf den Rand des Herdes und rief mit gebieterischer Stimme: »Es soll Platz für des großen Ingmars Sohn sein, wenn der in meinem Hause tanzt!« Alle sahen Ingmar an, er wurde verlegen und kam nicht vom Fleck. Dann mußte Gertrud ihn ergreifen und ihn mit sich unter die Tanzenden ziehen.

Sobald der Tanz beendet war, kam der Häusler hin und begrüßte ihn. Als Ingmars Hand in der seinen lag, tat der Alte, als erschrecke er und ließ sie gleich wieder fallen. »Ei, ei,« sagte er, »man muß sich wohl in acht nehmen vor den feinen Schulmeisterhänden; so ein alter Tölpel wie ich könnte sie leicht zerquetschen.«

Er zog Ingmar und die, die mit ihm waren, an den Tisch und jagte ein paar alte Bauernweiber weg, die da saßen und sich damit belustigten, den Tanzenden zuzusehen. Darauf ging er an den Schrank und holte Butter und Brot und Dünnbier. »Ich biete sonst nichts an,« sagte er. »Ihr andern müßt euch mit Spiel und Tanz begnügen, aber Ingmar Ingmarsson soll doch einen Bissen Brot unter meinem Dach essen.«

Während die jungen Leute aßen, zog er einen kleinen, dreibeinigen Stuhl heran, setzte sich gerade vor Ingmar hin und starrte ihn an: »Sieh, du willst also Schulmeister werden,« sagte er. Ingmar saß mit niedergeschlagenen Augen da, seine Mundwinkel zuckten ein wenig, als habe er Lust zu lachen, aber er antwortete in betrübtem Ton: »Sie brauchen mich daheim ja nicht.« – »Brauchen sie dich da nicht?« sagte der Alte. »Wie kannst du es wissen, ob der Hof dich nicht nötig hat? Elias lebte zwei Jahre, wer weiß, wie lange Halvor lebt.« – »Halvor ist ein gesunder und kräftiger Mann,« sagte Ingmar. – »Du weißt ja recht gut, daß Halvor dir den Hof absteht, sobald du ihn kaufen kannst.« – »Er wird nicht so toll sein, den Ingmarshof zu verlassen, wenn er erst einmal Herr da gewesen ist.«

Während dieser Unterredung saß Ingmar da und krampfte die Hände um die Tischkante. Es war ein einfacher, föhrener Tisch, mit einer dicken Platte. Plötzlich ertönte ein Krach; Ingmar hatte ein Stück von der Platte abgebrochen.

Der starke Ingmar saß mit erhobener Hand da und redete: »Ja, er wird dir den Hof niemals abtreten, wenn du Schulmeister wirst.« – »Glaubst du das?« – »Glauben, glauben,« sagte der Alte, »man kann schon merken, wie du erzogen wirst. Bist du jemals hinter dem Pflug hergegangen?«

»Nein,« antwortete Ingmar. – »Hast du einen Meiler gehütet oder eine große Tanne gefällt?« – Ingmar saß noch immer ebenso geduldig da, aber die Tischplatte krachte unter seinen Fingern. Endlich wurde der Alte aufmerksam und schwieg plötzlich. »Nein, nein, seh' nur einer!« sagte er und sah auf die zersplitterte Tischplatte. »Ich muß dich wohl einmal mitnehmen.« Er nahm eins von den abgebrochenen Stücken auf und hielt es an die Stelle, wo es gesessen hatte. »So einer! Du kannst ja auf den Jahrmarkt ziehen und dich für Geld sehen lassen, du Schelm!« sagte er und schlug Ingmar auf die Schulter. »Ja, du paßt gut zu einem Schulmeister!«

In einem Nu war er wieder oben auf dem Herd und fing an zu spielen.

Es war jetzt eine ganz andere Kraft in seinem Spiel. Er stampfte den Takt mit seinem Fuß und brachte ein rasendes Tempo in den Tanz. »Das ist die Polka des jungen Ingmar, die wir spielen,« rief er, »juchhe, juchhe! Jetzt tanzt das ganze Haus für den jungen Ingmar!«

Gertrud und Gunhild waren beide schöne Mädchen, und sie waren sehr begehrt. Ingmar tanzte nicht viel, er stand meistens da und unterhielt sich mit einigen der älteren Burschen hinten in der Stube. Zwischen den Tänzen scharten sich eine Menge Leute um Ingmar, als sei es ihnen eine Freude, ihn nur zu sehen.

Gertrud fand, daß es schien, als habe Ingmar sie ganz vergessen, und das verdroß sie. »Jetzt merkt er, daß er des großen Ingmar Sohn ist und daß ich nur Schulmeisters Gertrud bin,« dachte sie.

Sie war selbst erstaunt darüber, daß sie sich das so zu Herzen nahm.

Zwischen den Tänzen gingen die jungen Leute in die Frühlingsnacht hinaus, die bitter kalt war. Es war nicht schwer, sich abzukühlen. Es war stockfinster, aber da niemand Lust hatte, nach Hause zu gehen, sagten alle, wir müssen noch ein wenig bleiben, der Mond wird ja bald aufgehen, vorher können wir doch nicht nach Hause finden.

Einmal kam Ingmar zu Gertrud hinaus, die draußen vor der Tür stand, aber der starke Ingmar kam ihm gleich nachgelaufen und zog ihn mit sich fort.

»Komm, ich will dir etwas zeigen,« sagte er.

Er nahm Ingmar bei der Hand und führte ihn durch ein Gebüsch hinter die Hütte. »Steh' jetzt still und sieh' hinab,« sagte er. Ingmar sah in eine Schlucht hinab, auf deren Boden etwas Weißes schimmerte.

»Das ist ja der Langfoß,« sagte er. – »Ja, darauf kannst du dich verlassen, daß es der Langfoß ist,« sagte der Häusler, »aber was meinst du, wozu man so einen Wasserfall benutzen kann?« – »Man könnte ihn wohl dazu benutzen, ein Sägewerk oder eine Mühle zu treiben,« sagte Ingmar. Der Alte fing an zu lachen. Er klopfte Ingmar auf die Schulter und puffte ihn in die Seite, so daß er ihn fast in den Gießbach hinuntergepufft hätte. »Aber wer soll hier das Sägewerk bauen, wer soll hier reich werden, wer soll den Ingmarshof zurückkaufen?« – »Ja, ich denke gerade darüber nach,« sagte Ingmar. Da begann der Häusler einen großen Plan zu entwickeln, den er ausgetiftelt hatte. Ingmar sollte Tims Halvor überreden, ein Sägewerk in dem Wasserfall zu errichten, und es dann von ihm pachten. Der Alte hatte seit mehreren Jahren über nichts anderes nachgedacht, als wie er etwas ausfindig machen könne, wodurch des großen Ingmars Sohn wieder zu Reichtum gelangen könne.

Ingmar stand still und sah in den Wasserfall hinab. »Nein, komm jetzt, wir wollen wieder hineingehen und tanzen,« sagte der starke Ingmar. Der junge Ingmar rührte sich nicht vom Fleck, und der alte Häusler wartete geduldig. »Ist er von der rechten Art,« dachte er, »dann antwortet er weder heute noch morgen. Die Alten müssen Geduld haben.«

Während sie so dastanden, hörten sie ein scharfes und bissiges Bellen, wie von einem Hund, der oben im Walde lief.

»Hörst du etwas, Ingmar?« fragte der Häusler. – »Ja, das ist wohl ein umherstreifender Hund,« sagte Ingmar.

Sie hörten sein Bellen näherkommen, es kam auf sie zu, als ob die Jagd gerade über sie hinweggehen sollte. Der Alte packte Ingmar fest beim Handgelenk. »Komm herein,« sagte er, »komm schnell herein, sage ich dir!« – »Was ist das?« fragte Ingmar. – »Komm herein,« erwiderte der Häusler. – »Schweig' still und komm herein.«

Während sie die wenigen Schritte nach dem Hause liefen, ertönte das heftige Bellen ganz dicht neben ihnen. »Was für ein Hund ist das?« fragte Ingmar einmal über das andere. – »Hinein mit dir, hinein mit dir, sage ich.« Der Häusler schob Ingmar auf die kleine Diele hinein, er selbst blieb auf der Türschwelle stehen und machte sich daran, die Eingangstür zu verschließen. »Ist noch jemand von euch da draußen?« rief er mit lauter Stimme, »dann kommt herein.« Und er blieb stehen und hielt die Tür ein wenig geöffnet, und sie kamen von allen Seiten gelaufen. – »Herein mit euch!« rief er, »herein mit euch!« Er stampfte vor Ungeduld.

Indessen wurden die, die drinnen im Hause waren, ängstlicher und ängstlicher, und alle wollten wissen, was da draußen los sei. Und endlich war der letzte drinnen, und der Häusler verschloß die Tür und schob den Riegel vor. »Seid ihr verrückt, da draußen herumzulaufen, während der Berghund sich hören läßt?« sagte er. Im selben Augenblick hörte man das Bellen des Hundes ganz nahe dem Hause. Mehrmals schallte ein lautes, unheimliches Bellen um das Haus herum. »Ist das ein richtiger Hund?« fragte einer von den Burschen. – »Du kannst ja hinausgehen und ihn rufen, wenn du Lust dazu hast, Nils Jansson.«

Alle schwiegen, um diesem Bellen zu lauschen, das unaufhörlich rund um das Haus herumlief. Sie fanden, daß es anfing, häßlich und unheimlich zu klingen, sie schauderten, und viele von ihnen wurden leichenblaß. Nein, das war kein gewöhnlicher Hund, das war nicht schwer zu hören. Es war sicher irgendein Höllenhund, der der Hölle entsprungen war.

Der kleine alte Häusler war der einzige, der sich bewegte; zuerst schloß er das Herdschoß und dann ging er hin und löschte die Lichter aus. »Nein, nein,« sagten die Frauen, »macht die Lichter nicht aus.« – »Laßt mich tun, was für uns alle am besten ist,« sagte der Alte. Einer von ihnen hielt ihn am Rock fest. – »Tut er uns was, dieser Berghund?« – »Er nicht,« sagte der Alte, »aber das, was hinterdrein kommt.« – »Was kommt hinterdrein?« – Der Alte stand still und lauschte. »Nun müssen wir alle ganz still sein,« sagte er.

Es ward sogleich so still in der Stube, daß man keinen Atemzug hörte. Noch einmal vernahm man das Bellen des Hundes rund um das Haus herum. Dann nahm es an Stärke ab und man konnte den Laut verfolgen, wie der Hund über das Langfoßmoor hinab und in die Berge jenseits des Tales hineinlief. Dann wurde es ganz still.

Plötzlich konnte einer sich nicht enthalten zu sagen: »Jetzt ist der Hund weg!« Ohne ein Wort zu sagen, streckte der starke Ingmar den Arm aus und schlug ihn auf den Mund. Dann ward es wieder still.

In weiter Ferne, ganz oben auf dem Wipfel des Klackberges, ertönte ein starkes Geräusch. Es war wie ein Windstoß, aber es konnte auch der Ton aus einem Horn sein. Von Zeit zu Zeit hörte man einen langgezogenen Laut, dann Lärm und Trampeln und Schnauben. Es kam mit großem Getöse vom Berge herabgefahren. Sie hörten es am Bergabhang, sie hörten es am Waldessaum, sie hörten es, als es über ihnen war. Es war wie ein Donner, der über die Oberfläche der Erde dahergerollt kommt, es war, als käme der ganze Berg gefahren und stürzte in das Tal hinab. Und als es ganz dicht neben ihnen war, da beugten alle ihren Kopf und krochen zusammen. »Es zerschmettert uns,« dachten sie, »es zerschmettert uns.«

Es war nicht so sehr Todesangst, was sie empfanden, als Entsetzen davor, daß es der Fürst der Hölle sein könne, der mit seinem ganzen Heer durch die Nacht raste. Was sie am meisten entsetzte, war, daß sie mitten in dem Lärm Geschrei und Klagerufe hörten. Es fauchte und heulte, es brüllte und lachte, es pfiff und jodelte. Als das, was sie eben noch als ein heftiges Gewitter empfunden hatten, jetzt ganz nahe bei ihnen war, hörten sie, daß es aus Jammern und Drohungen, aus Weinen und Raserei, aus gellender Hornmusik, aus knisterndem Feuer, aus dem Heulen der Geister, aus dem Hohngelächter des Teufels, aus dem Sausen großer Flügel zusammengesetzt war.

Sie fühlten, daß alle Schrecken des Abgrundes in dieser Nacht losgelassen waren und sich über sie stürzten.

Die Erde bebte unter ihnen, und das Haus schwankte einen Augenblick, als wolle es sie begraben.

Es war, als führen wilde Pferde über das Haus hin, ihr Kopf dröhnte gegen den Dachfirst, – als ob Geister heulend um die Wände herumsausten, und Fledermäuse und Eulen mit schwerem Flügelschlag gegen den Schornstein schlugen.

Während dies alles vor sich ging, legte jemand seinen Arm um Gertrud und zwang sie in die Knie nieder, und sie hörte Ingmar flüstern: »Laß uns auf die Knie fallen, Gertrud, und zu Gott beten.«

Einen Augenblick zuvor glaubte Gertrud, daß sie sterben müsse, eine so entsetzliche Angst hatte sie befallen. »Ich fürchte mich nicht davor zu sterben,« sagte sie, »aber das Entsetzliche ist, daß die Macht des Bösen über uns und uns nahe ist.«

Aber kaum fühlte Gertrud Ingmars Arm um ihre Taille, als ihr Herz wieder zu pochen begann, und ihr Körper nicht mehr steif und unbeweglich war. Sie schmiegte sich fest, fest an ihn. Wenn er sie nur hielt, war sie nicht bange. Es war wunderlich, denn er selbst war wohl auch bange, und trotzdem ging eine solche Sicherheit von ihm aus.

Dann endlich nahm der entsetzliche Lärm ab, und sie hörten ihn von dannen ziehen. Er zog denselben Weg wie der Hund, über das Langfoßmoor hinüber und hinauf in die Wälder unter der Olafsmütze.

Aber trotzdem blieb es still und ruhig in Ingmars Hause. Niemand rührte sich, niemand sagte ein Wort, es war, als sei niemand imstande, ein Glied zu rühren.

Fast hätte man glauben können, daß das Entsetzen alles Leben ausgelöscht habe, hin und wieder atmete jedoch einer tief auf, so daß man hören konnte, daß noch einer am Leben war.

Aber lange, lange rührte sich niemand. Einige standen an die Wand gelehnt, andere waren auf die Bänke gesunken, die meisten lagen am Boden in angsterfülltem Gebet. Alle waren unbeweglich, vom Schrecken gelähmt.

Stunde auf Stunde verging, und während dieser Zeit war da manch einer, der seine Seele erforschte und beschloß, daß er ein neues Leben führen wolle, Gott näher und weiter entfernt von seinen Feinden.

Denn ein jeder von den Anwesenden dachte: »Ich habe etwas getan, was bewirkt, daß dies über uns gekommen ist. Dies geschieht um meiner Sünden willen. Ich hörte ja, daß die, die vorüberzogen, mich riefen und mich verhöhnten und meinen Namen schrien.«

Was nun Gertrud betrifft, so war ihr einziger Gedanke der, jetzt weiß ich, daß ich nicht mehr ohne Ingmar leben kann. Ich muß mit ihm zusammen sein, um der Sicherheit willen, die von ihm ausgeht.

Nach und nach begann der Tag zu grauen, die schwache Morgendämmerung drang in die Stube ein und beleuchtete die vielen bleichen Gesichter. Ein Vogel begann zu zwitschern, die Kuh des starken Ingmar brüllte nach Futter, und seine Katze, die während der Nächte, wo getanzt wurde, nie im Hause war, kam an die Tür und miaute.

Aber niemand rührte sich, ehe die Sonne hinter den Bergen im Osten aufging. Da schlichen sie sich von dannen, einer nach dem anderen, ohne ein Wort zu sagen oder Abschied voneinander zu nehmen.

Als sie hinauskamen, waren sie bleich und konnten kaum atmen, es sah aus, als wären sie im Reiche der Toten zu Gast gewesen und hätten etwas von der Unheimlichkeit und der Ohnmacht des Todes mitgebracht.

Vor dem Hause wurden sie von der Häßlichkeit der Zerstörung empfangen. Eine große Tanne, die dicht neben der Tür stand, war mit den Wurzeln ausgerissen und lag umgestürzt da, Zweige und Gitterstäbe lagen auf der Erde zerstreut, ein paar Fledermäuse und Eulen waren gegen die Hauswand zerschmettert.

Bis hoch hinauf am Klackberg konnte man gleichsam einen breiten Weg sehen, wo alle Bäume umgestürzt waren.

Niemand wagte das lange anzusehen, sie eilten alle ins Dorf hinab.

Während sie gingen, ward es rings um sie her Morgen. Es war Sonntag und die Leute standen spät auf, aber hier und da war doch schon einer draußen, um das Vieh zu füttern. Ein alter Mann kam aus seiner Tür, die Sonntagskleider über dem Arm, und lüftete und bürstete sie. An einer anderen Stelle kamen Vater und Mutter und Kinder in vollem Putz aus dem Hause, sie wollten wohl auf Besuch in die Nachbarschaft.

Es war ein großer Trost, die Leute so ruhig und unwissend von dem Fürchterlichen zu sehen, das sich während der Nacht im Walde zugetragen hatte.

Endlich kamen sie an den Elf hinab, wo die Häuser dichter zusammenlagen, und ganz bis an das Kirchdorf hinunter. Sie freuten sich, als sie das Kirchdorf und alles das andere sahen. Es war ein großer Trost, daß alles hier unten so aussah wie sonst. Das Schild am Kaufmannsladen glänzte wie gewöhnlich. Das Horn am Posthaus saß an seinem Platz, und der Hund des Krugwirts schlief wie gewöhnlich vor seiner Hütte.

Es war auch ein Trost, einen kleinen Faulbaum zu sehen, der ausgeschlagen war, seit sie zuletzt vorübergingen, und die grünen Bänke vor dem Garten des Pfarrhofes, die noch spät gestern Abend hinausgesetzt sein mußten.

Dies alles war unbeschreiblich beruhigend; aber trotzdem wagte niemand etwas zu sagen, ehe sie zu Hause angelangt waren.

Als Gertrud auf der Treppe vor der Schule stand, sagte sie zu Ingmar:

»Jetzt habe ich zum letztenmal getanzt, Ingmar.«

»Ich auch,« antwortete Ingmar.

»Und du willst Pfarrer werden, nicht wahr, Ingmar? Oder wenn du nicht Pfarrer werden kannst, dann doch jedenfalls Schullehrer. Es gibt so viel von der Macht des Bösen, gegen das man ankämpfen muß.«

Ingmar sah Gertrud fest an. »Diese Stimmen, Gertrud,« fragte er, »was haben sie dir gesagt?«

»Sie haben mir gesagt, daß ich in das Netz der Sünden geraten bin, und daß die Teufel kommen würden, um mich zu holen, weil ich so gern tanze.«

»Nun will ich dir sagen, was ich hörte,« sagte Ingmar. »Mir war, als wenn mir alle die alten Ingmarssöhne drohten und mich verfluchten, weil ich etwas anderes sein wollte als Bauer, und etwas anderes bearbeiten wollte, als den Wald und das Ackerfeld.«

* * *


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