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XI. Sieg

In längst entschwundenen Tagen wohnte auf Sizilien der große Philosoph Empedokles. Er war der schönste und vollkommenste Mensch, so weise und so herrlich, daß man meinte, er müsse ein menschgewordener Gott sein.

Empedokles hatte eine Villa auf dem Ätna, und eines Abends gab er seinen Freunden dort ein Fest. Während des Festes sprach er zu ihnen solche Worte, daß die Freunde ihm zuriefen: »Du bist ein Gott, Empedokles, du bist ein Gott.«

In der darauffolgenden Nacht dachte Empedokles: »Nun hast du das Höchste erreicht, was ein Mensch auf Erden erreichen kann. Du mußt sterben, ehe Unglück und Schwäche dich ergreifen.«

Und er stieg hinauf auf den Gipfel des Ätna und stürzte sich in den brennenden Krater hinein. »Wenn niemand meine Leiche findet«, dachte er, »wird man sagen, ich sei lebendig unter die Götter aufgenommen worden.«

Aber am nächsten Morgen suchten seine Freunde ihn in der ganzen Villa und überall auf dem Berg. Sie kamen auch zum Krater hin, und da fanden sie am Rande des Kraters Empedokles' Schuhe. Und sie errieten, daß er den Tod im Krater gesucht hatte, damit er zu den Unsterblichen gezählt werde. Und dies wäre ihm auch geglückt, wenn nicht der Berg seine Schuhe ausgeworfen hätte.

Aber eben um dieser Sage willen ist der Name des Empedokles niemals vergessen worden, und gar mancher Reisende hat sich gefragt, wo wohl seine Villa gelegen haben könnte. Altertumsforscher und Schatzgräber haben nach ihr gesucht, denn die Villa des Herrlichen war natürlich voller Marmorstatuen, Bronzen und Mosaiken. Donna Micaelas Vater, Cavaliere Palmeri, hatte es sich in den Kopf gesetzt, das Rätsel über die Villa zu lösen. Jeden Morgen bestieg er sein Pony Domenico und ritt fort, um sie zu suchen. Er war ausgerüstet wie ein Forscher, die Steinhacke im Gürtel, den Spaten an der Seite und ein großes Bündel auf dem Rücken.

Jeden Abend, wenn Cavaliere Palmeri heimkehrte, erzählte er Micaela von Domenico. Während all dieser Jahre, in denen er auf dem Ätna umhergeritten sei, habe sich Domenico zu einem Altertumsforscher ausgebildet. Domenico biege vom Weg ab, sobald er eine Ruine erblicke. Er stampfe an den Stellen, denen er ansehe, daß man hier nachgraben sollte. Er schnaube verächtlich und wende den Kopf ab, wenn man ihm eine nachgemachte alte Münze zeige.

Donna Micaela hörte ihrem Vater mit großer Geduld und voll Interesse zu. Auch sie war überzeugt, daß dem Domenico, wenn diese Villa endlich gefunden würde, sicher die ganze Ehre der Entdeckung zuteil werden würde.

Aber Cavaliere Palmeri fragte seine Tochter niemals nach ihrem Unternehmen. Er zeigte nie eine Spur von Interesse für ihre Eisenbahn. Es war fast, als wisse er gar nichts davon, daß überhaupt eine gebaut wurde.

Ach, er zeigte ja niemals irgendein Interesse für das, was seine Tochter betraf!

Eines Tages, als die beiden eben beim Mittagessen saßen, begann Donna Micaela von der Eisenbahn zu sprechen.

Sie habe gesiegt, sagte sie, nun endlich habe sie gesiegt. Er solle nur hören, welche Neuigkeiten sie heute erfahren habe. Es solle nicht nur eine Dampfstraßenbahn zwischen Catania und Diamante werden, wie sie anfangs gedacht hatte, sondern eine Eisenbahn rings um den Ätna.

Durch Falcos Tod sei sie nicht allein von Falco selbst befreit worden, sondern das Volk glaube jetzt auch, daß der Mongibello und alle Heiligen auf ihrer Seite stünden. Und so sei eine Art Volksbewegung für die Eisenbahn entstanden. In allen Ätnastädten würden Beiträge dafür gezeichnet. Eine Aktiengesellschaft habe sich gebildet. Heute sei die Konzession eingetroffen. Morgen könne im Ernst mit dem Bahnbau begonnen werden.

Donna Micaela war ganz aufgeregt. Sie konnte nichts essen. Das Herz schwoll ihr vor Glück und Dankbarkeit. Sie konnte es nicht lassen, von der gewaltigen Begeisterung zu reden, die das Volk ergriffen hatte. Mit Tränen in den Augen sprach sie von dem Christusbild in San Pasquale.

Es war rührend zu sehen, wie ihr Gesicht voll Hoffnung strahlte. Es war, als habe sie außer dem Glück, von dem sie sprach, noch eine ganze Welt voll Glückseligkeit zu erwarten.

An diesem Abend erkannte sie, daß die Vorsehung alles wohl und glücklich für sie gelenkt hatte. Sie sah ein, daß Gaetanos Gefangennahme das Werk Gottes gewesen war, um ihn wieder zum Glauben zurückzuführen. Er sollte durch die Wunderwerke des kleinen Bildes befreit werden, und dann würde er wieder gläubig werden wie in den früheren Zeiten. Und dann durfte sie ihm angehören! Wie gut Gott doch war!

Und während sie von solcher Seligkeit erfüllt war, saß ihr Vater ihr steif und teilnahmslos gegenüber.

»Das ist ja sehr merkwürdig«, sagte er nur.

»Du wirst doch morgen beim Fest des ersten Spatenstichs dabei sein?«

»Ich weiß nicht – ich muß meinen Forschungen nachgehen.«

Donna Micaela zerbröckelte ziemlich erregt ein Stück Brot. Die Geduld ging ihr aus. Sie hatte ihn mit allen ihren Sorgen und mit allen Klagen verschont, aber an ihrer Freude mußte er teilnehmen! Er mußte!

Und plötzlich brachen die Fesseln der Ergebenheit und der Furcht, mit denen er sie seit seiner Gefangenschaft gebunden hielt.

»Da du so viel auf dem Ätna herumkommst«, sagte sie in sehr sanftem Ton, »bist du doch wohl auch nach Gela gekommen?«

Der Cavaliere schaute auf und schien in seiner Erinnerung zu suchen. »Gela – Gela?«

»Gela ist ein Städtchen von etwa hundert Häusern, das auf der Südseite dicht am Fuße des Monte Chiaro liegt«, fuhr Donna Micaela mit der unschuldigsten Miene fort. »Es liegt zwischen dem Simeto und der Bergwand eingeklemmt, und ein Arm des Simeto nimmt gewöhnlich den Weg durch die Straßen von Gela, so daß man nur selten trockenen Fußes durch das Städtchen kommen kann. Bei dem letzten Erdbeben stürzte das Dach der Kirche ein, und es ist seither nicht wiederhergestellt worden, weil die Leute in Gela bettelarm sind. Hast du wirklich nie von Gela reden hören?«

Cavaliere Palmeri antwortete mit unvergleichlichem Ernst: »Meine Forschungen haben mich bergauf geführt, ich habe nie gedacht, daß sich die Villa des großen Philosophen in Gela befinden könnte.«

»Aber Gela ist eine interessante Stadt«, sagte Donna Micaela beharrlich. »Sie haben dort keine besonderen Wirtschaftsgebäude. Die Schweine wohnen im Erdgeschoß, die Menschen eine Treppe hoch. Und es gibt auch unglaublich viele Schweine in Gela. Sie gedeihen dort besser als die Menschen, denn die Menschen sind beinahe immer krank. Es herrscht ständig Fieber dort, die Malaria hört fast gar nicht auf. Es ist sehr feucht, die Keller stehen immer unter Wasser, und jede Nacht ist der Ort von Sumpfnebeln eingehüllt. Es gibt in Gela keine Läden, keine Polizei, keinen Doktor, keine Apotheke. Sechshundert Menschen leben da ganz weltverloren und vereinsamt. Hast du wirklich nie etwas von Gela gehört?« Sie sah ihn an, als sei sie wirklich ganz erstaunt.

Cavaliere Palmeri schüttelte den Kopf. »Den Namen habe ich allerdings gehört ...«

Donna Micaela heftete forschend ihren Blick auf ihren Vater. Dann neigte sie sich schnell zu ihm hin und zog ein kleines gebogenes Messer aus seiner Brusttasche, ein Messer, wie es beim Beschneiden der Weinstöcke gebraucht wird.

»Armer Empedokles!« sagte sie plötzlich, und ihr ganzes Gesicht strahlte vor Schelmerei. »Wir meinen, wir seien zu den Göttern aufgestiegen, aber der Ätna wirft immer unsere Schuhe heraus.«

Cavaliere Palmeri sank zusammen, wie von einer Kugel getroffen.

»Micaela!« sagte er schwach abwehrend, wie jemand, der nicht weiß, wie er sich verteidigen soll.

Aber sie war augenblicklich wieder so ernst und befangen wie zuvor.

»Man hat mir erzählt«, sagte sie, »daß Gela vor einigen Jahren dem Untergang nahe gewesen sei. Die Leute dort sind nämlich lauter Weingärtner, und als die Reblaus kam und ihre Weinberge vernichtete, waren sie am Verhungern. Die Ackerbaugesellschaft sandte ihnen dann amerikanische Stecklinge, die nicht von der Philoxera angegriffen werden. Die Leute von Gela pflanzten sie auch, aber die Stecklinge wuchsen nicht an. Woher sollten die Leute in Gela wissen, wie man amerikanische Weinstöcke behandeln muß? Nun, dann kam jemand und lehrte sie es.«

»Micaela!« erklang es fast flehend.

Donna Micaela fand, daß ihr Vater schon wie ein geschlagener Mann aussah, aber sie fuhr doch fort, als ob sie es nicht bemerkte.

»Es kam jemand«, sagte sie mit starkem Nachdruck, »der sich neue Pflanzen schicken ließ. Und er pflanzte sie in ihre Weinberge. Die Leute lachten ihn aus und sagten, er sei verrückt. Aber siehe da, die Pflanzen wuchsen an und gediehen; sie gingen nicht ein. Und so hat dieser jemand Gela gerettet.«

»Mir kommt diese Geschichte gar nicht interessant vor, Micaela«, sagte Cavaliere Palmeri mit einem Versuch, sie zu unterbrechen.

»Sie ist ebenso unterhaltend wie die Altertumsforschung«, sagte Micaela ruhig. »Aber ich will dir etwas sagen. Eines Tages kam ich in dein Zimmer, um ein Buch über die Altertumsfunde zu holen. Da fand ich, daß auf deinem Bücherbrett lauter Schriften über die Philoxera und die Weinbereitung standen.«

Der Cavaliere wand sich auf seinem Stuhl wie ein getretener Wurm.

»Schweig, o schweig doch!« bat er leise.

Er war verlegener als damals, wo er des Diebstahls angeklagt worden war.

Aber nun blitzte wieder die ganze Schalkhaftigkeit in ihren Augen auf.

»Ich sah ab und zu die Briefe an, die du absandtest«, fuhr sie fort. »Ich wollte gerne wissen, mit welchen gelehrten Männern du im Briefwechsel stehst. Und da wunderte ich mich, daß die Briefe immer an Präsidenten und Direktoren der Ackerbaugesellschaft gerichtet waren.«

Cavaliere Palmeri war außerstande, ein Wort hervorzubringen. Donna Micaela schwelgte in unbeschreiblicher Freude, als sie sah, daß er ganz in ihrer Macht war.

Sie schaute ihm fest in die Augen. »Ich glaube nicht, daß Domenico bis jetzt gelernt hat, eine Ruine zu erkennen«, sagte sie mit Nachdruck. »Die schmutzigen Kinder in Gela aber spielen wohl jeden Tag mit ihm und füttern ihn mit Wasserkresse. Domenico scheint in Gela ein Gott zu sein um nicht zu reden von seinem ...«

Cavaliere Palmeri schien plötzlich auf einen Gedanken zu kommen.

»Deine Eisenbahn«, sagte er, »was erzählst du von deiner Eisenbahn? Vielleicht kann ich morgen doch mitgehen.«

Donna Micaela hörte nicht auf ihn. Sie zog ihre Börse heraus.

»Hier habe ich eine nachgemachte alte Münze«, sagte sie.

»Eine Demarata aus Nickel. Ich habe sie gekauft, um sie Domenico zu zeigen. Er wird sie doch wohl anschauen ...«

»Höre doch, Kind!«

Sie gab auf diese Versuche, sie zu begütigen, gar keine Antwort. Jetzt hatte sie die Oberhand. Jetzt gehörte mehr dazu, sie zu versöhnen.

»Einmal öffnete ich auch dein Bündel, um deine neuen Altertumsfunde zu betrachten. Das einzige, was ich darin fand, war ein alter Weinstock.«

Sie strahlte vor Heiterkeit.

»Kind, Kind!«

»Wie soll man so etwas nennen? Das ist doch wohl keine Altertumsforschung. Ist es vielleicht Wohltätigkeit ... ist es vielleicht Sühne ...«

Nun schlug Cavaliere Palmeri mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser und Teller klirrten. Das wurde ihm denn doch zu toll. Ein gemessener, feierlicher alter Herr konnte solche Späße nicht dulden.

»So wahr du meine Tochter bist, schweigst du jetzt.«

»Deine Tochter«, sagte sie und ihre Heiterkeit war mit einem Schlag verschwunden, »bin ich wirklich deine Tochter? Die Kinder in Gela dürfen wenigstens den Domenico liebkosen, ich aber ...«

»Was willst du, Micaela, was verlangst du?«

Sie sahen einander an, und ihre Augen füllten sich gleichzeitig mit Tränen.

»Ich habe niemanden als dich«, murmelte sie.

Cavaliere Palmeri breitete unwillkürlich die Arme aus. Sie erhob sich zögernd, sie wußte nicht, ob sie recht sah.

»Ich weiß schon, wie es gehen wird«, sagte er brummend, »nicht eine Minute mehr werde ich künftig für mich haben.«

»Um die Villa zu entdecken?«

»Komm und küsse mich, Micaela! Seit wir Catania verlassen haben, bist du heute abend zum erstenmal wieder liebreizend.«

Sie umschlang ihn mit einem so leidenschaftlichen Schrei, daß es ihn fast erschreckte.


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