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III. Die Patenschwester

Auf der schönen Insel Sizilien, wo noch mehr alte Gebräuche erhalten sind als sonstwo im Süden, ist es allgemeine Sitte, daß jeder Mensch sich schon in seiner Kindheit einen Patenbruder oder eine Patenschwester wählt, die sein Kind über die Taufe halten sollen, wenn er einmal eines bekommt.

Aber dies ist durchaus nicht der einzige Nutzen, den Patengeschwister haben. Patengeschwister müssen einander liebhaben, sich gegenseitig helfen und eins das andere rächen. Seinem Patenbruder kann man ruhig seine Geheimnisse anvertrauen. Man kann ihm sein Geld und seine Liebste übergeben, ohne betrogen zu werden. Patengeschwister sind einander treu, so treu, als seien sie von einer Mutter geboren, weil ihr Bund vor San Giovanni Battista, dem gefürchtetsten aller Heiligen, geschlossen wird.

Es ist auch Sitte, daß arme Leute ihre halberwachsenen Kinder zu reichen Leuten führen und diese bitten, die Kinder die Patengeschwister ihrer eigenen Söhne und Töchter werden zu lassen. Welch ein fröhlicher Anblick ist es, wenn am Tage des heiligen Täufers alle diese kleinen festlich gekleideten Kinder durch die Städte wandern, um sich Patengeschwister zu suchen! Wenn es Eltern gelingt, ihrem Sohn einen reichen Patenbruder zu verschaffen, sind sie so glücklich darüber, wie wenn sie ihm ein Landgut als Erbe hinterlassen könnten.

Als Gaetano nach Diamante kam, ging in Donna Elisas Laden ein kleines Mädchen beständig aus und ein. Sie trug ein rotes Mäntelchen und eine spitzige Kapuze und hatte acht dicke schwarze Locken, die unter der Mütze hervorquollen. Das Mädchen hieß Giannita und war die Tochter der Gemüsehändlerin Olivia. Donna Elisa war ihre Patin, und deshalb überlegte sie hin und her, was sie für das Kind tun könnte.

Und siehe da, als der Johannistag kam, bestellte Donna Elisa einen Wagen und fuhr nach Catania hinunter, das volle vier Meilen von Diamante entfernt liegt. Sie hatte Giannita bei sich, und beide waren in ihren Festkleidern. Donna Elisa in schwarzer Seide mit Perlen und Giannita in einem weißen Tüllkleid mit Blumenborten daran. In der Hand hielt Giannita einen Korb mit Blumen, und oben darauf zwischen den Blumen lag ein Granatapfel.

Donna Elisa und Giannita hatten eine sehr gute Reise, und als sie endlich in dem weißen Catania ankamen, das auf dem schwarzen Lavagrund hellglänzend daliegt, fuhren sie vor dem schönsten Palast der Stadt vor.

Es war ein so hohes und großes Gebäude, daß die arme kleine Giannita erschrak, als sie hörte, daß sie dahinein gehen sollte. Aber Donna Elisa schritt mutig voran, und sie wurden vor Kavaliere Palmeri und seine Gattin geführt, denen das Haus gehörte.

Donna Elisa stellte sich der Signora Palmeri als ihre Jugendfreundin vor und bat sie dann, Giannita die Patenschwester ihres eigenen Töchterchens werden zu lassen.

Der Vorschlag fand den Beifall der Signora, und die junge Signorita wurde hereingerufen. Es war ein wunderbares kleines Geschöpf, zusammengesetzt aus rosa Seide, venetianischen Spitzen, großen schwarzen Augen und langem lockigem Haar. Das Körperchen war so schmal und dünn, daß man es fast gar nicht sah.

Giannita reichte der kleinen das Blumenkörbchen, und sie nahm es gnädig an. Sie betrachtete Giannita lange und nachdenklich, ging um sie herum, und als sie Giannitas lange schwarze Locken sah, war sie ganz entzückt. Sobald sie diese gesehen hatte, holte sie ein Messer, schnitt den Granatapfel mitten durch und gab Giannita die eine Hälfte davon. Während die beiden dann den Apfel aßen, hielten sie sich an der Hand und sagten miteinander den Vers:

»Schwester, Schwester, Schwesterlein,
Ich bin dein, und du bist mein,
Dein mein Heim, mein Trank und Speis,
Dein mein Glück und dein mein Preis,
Dein mein Platz im Paradeis.«

Dann küßten sie einander und nannten sich Patenschwestern.

»Nun darfst du mich niemals im Stich lassen, Patenschwester«, sagte die kleine Signorina; und beide Kinder waren sehr ernst und bewegt.

Sie wurden in aller Eile so gute Freundinnen, daß sie weinten, als sie sich trennen mußten.

Aber dann vergingen zwölf Jahre; die beiden Patenschwestern lebten jede in ihrer Welt und sahen, einander nie. In dieser ganzen Zeit war Giannita still daheim und kam nicht ein einziges Mal nach Catania.

Aber dann geschah wirklich etwas Merkwürdiges. Giannita saß eines Nachmittags in dem Ladenstübchen ihrer Mutter und stickte. Sie war eine sehr geschickte Stickerin, so daß sie oftmals mit Arbeit fast überhäuft war. Aber das Sticken greift die Augen an, und in Giannitas Stübchen war es sehr dunkel. Sie hatte daher die Tür zum Laden ein wenig geöffnet, damit etwas mehr Licht hereinfalle.

Gleich nachdem es vier Uhr geschlagen hatte, kam die alte Müllerswitwe Rosa Alfari am Laden vorüber. Donna Olivias Laden war sehr einladend, wenn man von der Straße aus hineinsah. Der Blick glitt durch die offene Halbtür zu den großen Körben mit frischem Gemüse und bunten Früchten, und ganz im Hintergrund sah man die Umrisse von Giannitas schönem Kopf. Donna Rosa Alfari blieb stehen und begann mit Donna Olivia zu reden, nur weil der Laden so einladend aussah.

Rosa Alfari hatte immer zu jammern und zu klagen; jetzt war sie wieder ärgerlich, weil sie in der nächsten Nacht allein nach Catania reisen mußte.

»Es ist ein Unglück, daß der Postwagen nicht vor zehn Uhr durch Diamante kommt«, sagte sie. »Ich schlafe gewiß unterwegs ein, und womöglich stiehlt man mir dann mein Geld. Und was soll ich anfangen, wenn ich nachts um zwei Uhr in Catania ankomme?«

Da rief plötzlich Giannita in den Laden herein:

»Wollt Ihr nicht mich nach Catania mitnehmen, Donna Alfari?«

Sie fragte halb im Scherz, ohne eine Antwort zu erwarten.

Aber Rosa Alfari griff die Worte eifrig auf.

»Gott, Kind, willst du mich begleiten, willst du das wirklich?« rief sie.

Giannita trat in den Laden, ganz rot vor Freude.

»Ob ich will«, sagte sie. »Ich bin seit zwölf Jahren nicht mehr in Catania gewesen.«

Rosa Alfari sah das Mädchen sehr erfreut an, denn Giannita war groß und kräftig, ihre Augen strahlten vor Lebenslust, und um ihre Lippen spielte ein sorgloses Lächeln.

Das war eine herrliche Reisegefährtin.

»Mach dich fertig, Kind«, sagte die Alte. »Du gehst um zehn Uhr mit mir, das ist abgemacht.«

Am nächsten Morgen wanderte Giannita auf den Straßen von Catania umher. Aber sie dachte immerfort an ihre Patenschwester. Es war ihr so merkwürdig, daß sie dieser nun so nahe war. Giannita liebte ihre Patenschwester, und zwar nicht allein, weil San Giovanni befohlen hatte, daß Patengeschwister sich liebhaben sollen, sondern sie verehrte das kleine Mädchen in dem seidenen Kleid als das schönste, was sie je gesehen hatte. Es war fast ihr Abgott geworden.

Sie wußte nur soviel von der Patenschwester, daß sie noch nicht verheiratet war und noch in Catania wohnte. Ihre Mutter war gestorben; aber sie hatte ihren Vater nicht verlassen wollen, sondern war als Herrin des Hauses bei ihm geblieben.

»Ich muß es so einrichten, daß ich sie sehe«, dachte Giannita.

Sooft eine vornehme Kutsche daherfuhr, dachte Giannita: »Das kann meine Patenschwester sein.« Und sie betrachtete aufmerksam die Damen in den Wagen, um zu sehen, ob nicht eine von ihnen dem kleinen Mädchen mit dem üppigen Haar und den großen Augen gleiche.

Ihr Herz begann ganz stürmisch zu klopfen. Sie hatte sich immer nach ihrer Patenschwester gesehnt. Sie selbst war noch unverheiratet, weil sie einen jungen Bildschnitzer, Gaetano Alagona, liebte, dieser ihr aber nie die geringste Aufmerksamkeit erzeigt hatte. Giannita war ihm deshalb oft böse gewesen, und nicht wenig hatte es sie geärgert, daß sie dadurch ihre Patenschwester nie zu ihrer Hochzeit einladen konnte. Sie war auch stolz auf ihre Patenschwester gewesen und hatte sich für viel vornehmer gehalten als andre Mädchen, nur weil sie eine so feine Patenschwester hatte. Wenn sie nun zu ihr ging, da sie ohnedies in der Stadt war, würde dies auf die ganze Reise einen Glanz werfen.

Während sie hierüber nachdachte, kam ein Zeitungsjunge dahergestürzt. » Giornale da Sicilia!« schrie er. »Prozeß Palmeri! Große Betrügereien!«

Die hochgewachsene Giannita packte den Jungen beim Nacken, als er an ihr vorüberrannte. »Was sagst du?« herrschte sie ihn an. »Du lügst, du lügst!« Und sie hätte ihn beinahe geschlagen.

»Kauft meine Zeitung, Signorina, ehe Ihr mich schlagt«, sagte der Junge.

Giannita kaufte die Zeitung und begann zu lesen. Da fand sie sogleich den Prozeß Palmeri.

»Da dieser Fall heute vor Gericht verhandelt wird«, stand in der Zeitung, »wollen wir einen Bericht davon geben.« Giannita las und las. Sie las mehrere Male ehe sie verstand. Und als sie endlich verstand, zitterte sie am ganzen Leib vor Entsetzen.

Der Vater ihrer Patenschwester, der große Weinbergbesitzer, war völlig ruiniert, weil die Reblaus die Weinstöcke zerstört hatte. Und dies war noch das geringste. Er hatte auch Wohltätigkeitsgelder, die seiner Obhut anvertraut gewesen waren, durchgebracht. Man hatte ihn verhaftet, und heute sollte die Gerichtsverhandlung stattfinden.

Giannita ballte die Zeitung zusammen, warf sie auf den Boden und trat sie mit Füßen. Etwas Besseres verdiente sie nicht, wenn sie solche Neuigkeiten brachte. Aber dann stand das Mädchen ganz niedergeschlagen da.

Sie war tief betrübt, daß ihr dies widerfahren mußte, jetzt, wo sie nach zwölf Jahren wieder zum erstenmal nach Catania kam. »Lieber Gott«, sagte sie, »hast du am Ende eine besondere Absicht dabei?«

Daheim in Diamante wäre es wohl niemandem eingefallen, ihr zu sagen, was sich in Catania zutrug. War es also eine Schickung, daß sie gerade am Tage der Gerichtssitzung herkommen mußte?

»Hört, Donna Alfari«, sagte sie, »Ihr könnt tun, was Ihr wollt, ich muß hinauf in den Gerichtssaal.«

Giannita war fest entschlossen, niemand konnte sie zum Wanken bringen.

»Begreift Ihr denn nicht, daß Gott Euch nicht um Eurer selbst willen, sondern gerade um dieser Sache willen bewogen hat, mich nach Catania mitzunehmen?« sagte sie zu Rosa Alfari.

Giannita zweifelte keinen Augenblick daran, daß übernatürliche Mächte dabei mitgewirkt hatten.

Rosa Alfari mußte sie gehen lassen, und Giannita fragte sich nach dem Gerichtsgebäude durch. Mitten unter Gassenjungen und Handwerkern stand sie auf dem Zuschauerplatz, und dann sah sie den Kavaliere Palmeri auf der Anklagebank. Es war ein vornehmer alter Herr mit weißem Knebelbart und Schnurrbart. Giannita erkannte ihn sogleich wieder.

Sie hörte, daß er zu einem halben Jahr Gefängnis verurteilt wurde, und Giannita glaubte immer deutlicher zu erkennen, daß sie als Sendbote Gottes hierhergekommen sei. »Nun wird meine Patenschwester meiner schon bedürfen«, dachte sie.

Sie ging wieder auf die Straße und fragte sich nach dem Palast Palmeri durch.

Auf dem Weg dorthin fuhr ein Wagen an ihr vorüber. Sie schaute auf, und ihre Augen begegneten denen der Dame, die im Wagen saß. In demselben Augenblick war es, als ob jemand zu ihr sagte: »Sieh, das ist deine Patenschwester.« Die Dame im Wagen war sehr blaß, sie saß gebeugt da, und ihre Augen hatten einen flehenden Ausdruck. Giannita gewann sie sogleich herzlich lieb.

»Du hast mich so oft froh gestimmt«, sagte sie, »weil ich Freude von dir erhoffte. Nun kann ich dich vielleicht dafür belohnen.«

Giannita war ganz andächtig gestimmt, als sie die hohe weiße Marmortreppe des Palazzo Palmeri hinaufstieg, aber plötzlich überfiel sie ein Zweifel. »Meint denn Gott, ich könne für die etwas tun, die in solcher Pracht aufgewachsen ist? Hat er denn vergessen, daß ich nur die arme Giannita von Diamante bin?«

Sie ließ der Signorina durch einen Diener einen Gruß bestellen und ihr sagen, daß ihre Patenschwester sie sprechen möchte. Als dann der Diener zurückkam und ihr sagte, daß die Signorina sie heute nicht empfangen könne, war sie sehr überrascht. Sollte sie sich damit zufriedengeben? O nein, o nein!

»Sagt der Signorina, daß ich hier den ganzen Tag warten würde, denn ich müsse sie durchaus sprechen.«

»Die Signorina wird in einer halben Stunde den Palast verlassen«, sagte der Diener.

Da geriet Giannita ganz außer sich.

»Aber ich bin doch ihre Patenschwester, versteht Ihr denn das nicht?« sagte sie zu dem Mann. »Ich muß sie sprechen.« Der Diener lächelte und rührte sich nicht von der Stelle.

Aber Giannita wollte sich nicht abweisen lassen. Sie sei ja von Gott gesandt. Das müsse er doch begreifen, sagte sie, indem sie die Stimme erhob. Sie sei von Diamante und seit zwölf Jahren nicht mehr in Catania gewesen. Bis gestern nachmittag um vier Uhr habe sie nicht daran gedacht, hierher zu fahren. Er solle bedenken, bis gestern nachmittag um vier Uhr.

Der Diener rührte sich nicht von der Stelle. Giannita war gerade im Begriff, ihm ihre ganze Geschichte zu erzählen, um ihn zu erweichen, als die Tür sich öffnete. Ihre Patenschwester stand auf der Schwelle.

»Wer spricht hier von gestern um vier Uhr?« fragte sie.

»Eine Fremde, Signorina Micaela.«

Doch nun brauste Giannita auf. Sie sei durchaus keine Fremde, sondern die Patenschwester aus Diamante, die vor zwölf Jahren mit Donna Elisa hiergewesen sei. Ob die Signorina sich ihrer nicht entsinnen könne? Ob sie sich nicht mehr daran erinnere, daß sie einen Granatapfel miteinander geteilt hätten?

Die Signorina hörte nicht auf diese Worte.

»Was geschah gestern um vier Uhr?« fragte sie sehr erregt. »Da bekam ich Gottes Befehl, zu dir zu gehen, Patenschwester«, sagte Giannita.

Die andere sah sie erschreckt an.

»Komm mit mir«, sagte sie, besorgt, daß der Diener hören könnte, was Giannita ihr zu sagen habe.

Sie ging durch mehrere Zimmer, ehe sie anhielt. Dann wandte sie sich so jäh an Giannita, daß diese erschreckt zusammenfuhr.

»Sag es mir schnell!« rief sie. »Quäle mich nicht, laß es mich gleich hören!«

Die Signorina war ebenso groß wie Giannita, dieser aber sonst ganz unähnlich. Sie war feiner gebaut, und es sah aus, als ob sie, die Weltdame, sich weniger beherrschen könne als das Landmädchen. Alles, was sie fühlte, war deutlich in ihrem Gesicht zu lesen. Sie bemühte sich nicht einmal, es zu verbergen.

Giannita war so erstaunt über ihre Heftigkeit, daß sie nicht sogleich eine Antwort fand.

Da hob ihre Patenschwester in Verzweiflung die Arme empor, und die Worte strömten ihr von den Lippen. Sie sagte, sie wisse, daß Giannita von Gott den Auftrag erhalten habe, ihr Kunde von neuem Unglück zu bringen. Sie wisse, daß Gott sie hasse.

Giannita schlug die Hände zusammen. Gott sie hassen! Im Gegenteil, im Gegenteil!

»Doch, doch«, sagte Signorina Palmeri. »Es ist so.« Und als ob sie sich im stillen vor Giannitas Botschaft fürchte, sprach sie gleich weiter. Sie ließ Giannita gar nicht zu Wort kommen, sondern unterbrach sie ständig. Von all dem, was ihr in den letzten Tagen widerfahren war, schien sie so erschreckt zu sein, daß sie sich nicht mehr beherrschen konnte.

Giannita werde wohl begreifen, daß Gott sie hassen müsse, sagte sie. Sie habe etwas Fürchterliches getan. Sie habe ihren Vater verlassen, ihn verraten. Giannita werde wohl auch das vierte Gebot gelernt haben. Dann unterbrach sie sich selbst mit einer neuen, heftigen Frage, warum Giannita ihr denn nicht sage, was sie ihr mitzuteilen habe. Sie erwarte ja nichts anderes als Böses, sie sei auf alles gefaßt.

Aber die arme Giannita konnte nicht zu Wort kommen, denn sobald sie reden wollte, bekam die Signorina Angst und unterbrach sie. Sie erzählte ihr ihre eigene Geschichte, wie um Giannita zu bewegen, nicht hart gegen sie zu sein. Giannita dürfe nicht glauben, daß ihr Unglück allein in dem Verlust ihres eigenen Wagens oder ihrer Loge im Theater, ihrer schönen Kleider und ihrer Bedienung und des Daches über ihrem Kopf bestehe. Auch darin liege es nicht, daß sie alle ihre Freunde verloren habe und nicht wisse, wo sie jetzt Schutz suchen solle. Auch das sei nicht das Schlimmste, daß sie sich vor aller Welt schämen müsse und es nicht wagen dürfe, einem Menschen ins Gesicht zu sehen.

Neben diesem allem sei etwas noch viel Schlimmeres.

Sie hatte sich niedergesetzt und schwieg nun einen Augenblick, während sie sich wie in Angst hin- und herwiegte. Aber als Giannita zu sprechen anfing, unterbrach sie sie wieder und sagte, Giannita könne sich gar keine Vorstellung machen, wie sehr ihr Vater sie geliebt habe. Er habe sie stets in Glanz und Pracht leben lassen wie eine Fürstin. Sie selbst habe nicht viel für ihn getan, sondern ihn immer nur allerlei Vergnügen für seine Tochter ausdenken lassen. Es sei kein Opfer von ihr gewesen, daß sie sich nicht verheiratet habe, denn sie habe nie einen Menschen so geliebt wie ihren Vater, und ihre eigene Heimat sei prächtiger gewesen als irgendeine andere.

Aber dann sei eines Tages ihr Vater zu ihr gekommen und habe gesagt: »Man will mich verhaften. Es heißt, ich habe gestohlen, aber das ist nicht wahr.« Sie habe ihm geglaubt und ihm geholfen, sich vor den Karabinieri versteckt zu halten. Und diese hätten ihn vergebens in Catania, auf dem Ätna und in ganz Sizilien gesucht. Als aber die Polizei den Signor Palmeri nirgends gefunden habe, hätten die Leute zu tuscheln angefangen. »Es ist ein hoher Herr«, sagten sie, »und die hohen Herren helfen ihm, sonst müßte man ihn schon längst gefunden haben.« Und dann sei der Präfekt von Catania zu ihr gekommen. Sie habe ihn lächelnd empfangen, und der Präfekt habe getan, als wolle er nur von Rosen und vom schönen Wetter sprechen. Dann aber habe er gesagt: »Signorina, bitte, lest dieses Papierchen und betrachtet die Unterschrift genau.« Sie habe gelesen und gelesen. Und was habe sie gesehen? Ihr Vater war nicht unschuldig. Ihr Vater hatte das Geld anderer genommen.

Als der Präfekt gegangen war, sei sie zu ihrem Vater geeilt. »Du bist schuldig«, habe sie zu ihm gesagt. »Tu, was du willst, aber ich kann dir nicht mehr helfen.« Ach, sie habe nicht gewußt, was sie sagte. Sie sei von jeher sehr stolz gewesen, und der Gedanke, daß ihr Name mit Schande befleckt werde, sei ihr unerträglich gewesen. Einen Augenblick habe sie gewünscht, ihren Vater lieber tot vor sich zu sehen, als daß dies geschehen wäre. Vielleicht habe sie es ihm auch gesagt. Sie wisse nicht mehr genau, was sie alles gesagt habe.

Aber seitdem habe Gott sie verlassen. Die entsetzlichsten Dinge seien geschehen. Ihr Vater habe sie beim Wort genommen und sich selbst dem Gericht gestellt. Und seit er im Gefängnis sei, wolle er sie nicht mehr sehen. Er beantworte ihre Briefe nicht, und die Speisen, die sie ihm sende, schicke er unberührt wieder zurück. Das sei das Schrecklichste von allem. Er scheine zu glauben, daß sie ihn vergiften wolle. Sie sah Giannita so ängstlich an, als erwarte sie ein Todesurteil.

»Warum sagst du nicht, was du mir zu sagen hast?« fuhr sie auf. »Du bringst mich um.«

Aber es war ihr unmöglich, sich selbst zum Schweigen zu bringen.

»Du mußt wissen, daß dieser Palast verkauft ist, und der Käufer hat ihn an eine englische Dame vermietet, die heute noch einziehen will. Einige ihrer Sachen sind schon gestern hierhergebracht worden, und unter diesen ist ein kleines geschnitztes Christusbild. Ich sah es, als ich durch den Vorplatz ging, Giannita. Die Träger hatten es aus einem Reisesack herausgenommen und auf den Boden gelegt. Es ist so übel zugerichtet, daß keiner acht darauf gab. Seine Krone ist verbogen und sein Wickelband beschmutzt, und all die vielen kleinen Schmucksachen, mit denen es behängt ist, sind mit Grünspan bedeckt und teilweise zerbrochen. Aber als ich das Christusbild auf dem Boden liegen sah, hob ich es auf, trug es ins Zimmer hinein und stellte es auf einen Tisch. Und während ich dies tat, fiel mir ein, daß ich seine Hilfe anrufen könnte. Ich kniete davor nieder und betete lange. ›Hilf mir in meiner großen Not!‹ sagte ich zu dem Christuskind.

Während ich so betete, war es mir, als wolle mir das Bild antworten.

Ich hob den Kopf, aber das Kind stand ebenso unbeweglich da wie zuvor. In diesem Augenblick schlug eine Uhr. Sie schlug vier Schläge, und da war es mir, als habe sie vier Worte gesagt. Es war mir, als habe das Christuskind auf meine Bitte mit einem vierfachen Ja geantwortet.

Dies machte mir Mut, Giannita, so daß ich heute zum Justizpalast fuhr, um meinen Vater zu sehen. Er aber sah mich während der ganzen Zeit, wo er vor dem Richter stand, nicht ein einziges Mal an. Ich benutzte den Augenblick, wo er fortgeführt wurde, um mich in einem der schmalen Gänge vor ihm niederzuwerfen. Ach, Giannita, er ließ mich von den Soldaten hinausführen, ohne ein Wort mit mir gesprochen zu haben!

Siehst du nun, daß Gott mich haßt? Als ich dich vorhin von gestern nachmittag um vier Uhr sprechen hörte, erschrak ich heftig. Das Christuskind sendet mir ein neues Unglück, dachte ich. Es haßt die Tochter, die ihren Vater verraten hat.«

Als Micaela dies gesagt hatte, schwieg sie endlich und lauschte atemlos, was Giannita sagen würde.

Nun erzählte Giannita ihre Geschichte.

»Sieh, sieh, ist das nun nicht merkwürdig?« sagte sie schließlich. »Ich bin seit zwölf Jahren nicht in Catania gewesen, und dann muß ich ganz unerwartet heute hierherkommen. Ich hatte keine Ahnung von dem, was geschehen war, aber sobald ich den Fuß hier auf die Straße setzte, erfuhr ich von deinem Unglück. Gott hat mich gesandt, sagte ich mir. Er hat mich gerufen, daß ich meiner Patenschwester helfe.«

Signorina Palmeris Augen richteten sich unruhig fragend auf Giannita. Nun würde wohl der neue Schlag kommen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, um ihn auszuhalten.

»Was kann ich nun für dich tun, Patenschwester?« fragte Giannita. »Weißt du, was ich dachte, als ich durch die Straßen ging? Ich will sie fragen, ob sie mit mir nach Diamante gehen will, dachte ich. Ich weiß dort ein altes Haus, wo wir billig wohnen könnten. Und ich würde nähen und sticken, so daß wir davon leben könnten. Als ich noch auf der Straße war, meinte ich, dies ließe sich wohl ausführen, aber nun begreife ich, daß es ganz unmöglich ist. Du hast andere Ansprüche ans Leben als ich, aber sage mir nun, ob ich etwas für dich tun kann. Du darfst mich nicht zurückstoßen, denn Gott hat mich gesandt.«

Die Signorina beugte sich über Giannita. »Nun?« sagte sie ängstlich.

»Du mußt mich für dich tun lassen, was in meinen Kräften steht, denn ich liebe dich«, sagte Giannita. Sie sank auf ihre Knie nieder und umschlang die Signorina mit ihren Armen.

»Hast du mir sonst nichts zu sagen?« fragte die Signorina.

»Leider nicht«, erwiderte Giannita, »ich bin nur ein armes, schwaches Mädchen.«

Da veränderten sich die Züge der Signorina wie mit einem Zauberschlag; ihr Antlitz leuchtete, und ihre Augen begannen zu strahlen. Nun zeigte es sich, daß sie eine große Schönheit war.

»Giannita«, flüsterte sie kaum hörbar, »glaubst du, daß dies ein Wunder ist? Glaubst du, daß Gott um meinetwillen Wunder tut?«

»Ja gewiß«, flüsterte Giannita zurück.

»Ich bat das Christusbild, mir zu helfen, und da sendet es dich. Glaubst du, daß dich das Christuskind gesandt hat?«

»Ja, es war das Christuskind.«

»Gott hat mich also nicht verlassen, Giannita?«

»Nein, Gott hat dich nicht verlassen.«

Die Patenschwester weinte eine Weile. Es war ganz still im Zimmer.

»Als du kamst, Giannita«, begann die Signorina wieder, »meinte ich, es bleibe mir nichts andres übrig, als mich zu töten. Ich wußte nicht aus noch ein und glaubte, Gott hasse mich.«

»Aber sag mir nun, was ich für dich tun kann, Patenschwester«, sagte Giannita.

Die Signorina zog Giannita an sich und küßte sie.

»Es ist ja genug, daß du von dem kleinen Christuskind gesandt bist«, sagte sie. »Es genügt mir, zu wissen, daß Gott mich nicht verlassen hat.«


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