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III. Der Verstoßene

Als Donna Micaela erfuhr, wie die Armen Miß Tottenham ausgelacht hatten, eilte sie ins Hotel, um dieser ihr Beileid auszudrücken. Sie wollte sie bitten, diese Armen nicht nach dem zu beurteilen, was sie getan hatten, als sie vom Wein und von der Freude ganz berauscht gewesen waren. Sie wollte sie bitten, ihre Hand nicht von Diamante abzuziehen. Sie selbst liebte Miß Tottenham nicht besonders, aber um der Armen willen... Sie wollte ihr alles mögliche Angenehme sagen, um sie zu versöhnen.

Als sie in die Nähe des Hotel Ätna kam, stand die ganze Straße voller Lastwagen. Es war also wohl nichts mehr zu machen: die große Wohltäterin wollte abreisen.

Vor dem Hotel herrschte viel Betrübnis und Reue. Die beiden blinden Weiber, Donna Pepa und Donna Tura, die bisher immer auf dem Hotelhof gesessen hatten, waren nun ausgeschlossen und knieten vor dem Tor. Und der junge Eseltreiber, der alle englischen Signorinas liebte, stand vor dem Hause, drückte das Gesicht an die Mauer und weinte. Aber drinnen im Hotel ging der Wirt in den langen Korridoren auf und ab und haderte mit dem Schicksal, das ihm ein solches Unglück geschickt hatte. Signor Dio, ich bin ein ruinierter Mann. Wenn du dies geschehen läßt, nehme ich meine Frau an der Hand und meine Kinder auf den Arm und stürze mich mit ihnen den Ätna hinab. Die Hotelwirtin war sehr bleich und sehr demütig. Sie wagte kaum, ihre Augen vom Boden aufzuschlagen und wäre gerne auf den Knien gerutscht, wenn sie dadurch die Signorina zum Bleiben gebracht hätte.

»Wagt Ihr es, mit ihr zu sprechen, Signora?« fragte sie. »Gott helfe Euch, daß Ihr das rechte Wort findet. Ach, sagt ihr, daß der neapolitanische Bursche, der das Unglück verschuldet hat, schon aus der Stadt ausgewiesen sei. Sagt ihr, daß alle bereit seien, ihr Abbitte zu leisten. Sprecht mit ihr, Signora!«

Die Wirtin führte Donna Micaela ins Vorzimmer der Engländerin und trug ihre Karte hinein. Sie kam sogleich wieder heraus und bat Donna Micaela, sich nur ein paar Minuten zu gedulden. Signorina Tottenham bespreche eben mit Signor Favara Geschäftsangelegenheiten.

Dies war gerade der Augenblick, wo Advokat Favara um Miß Tottenhams Hand warb. Und während Donna Micaela wartete, hörte sie ihn ganz laut sagen:

»Ihr dürft nicht abreisen, Signorina. Was soll aus mir werden, wenn Ihr uns verlaßt? Ich liebe Euch, ich kann Euch nicht abreisen lassen. Ich hätte nicht gewagt, es Euch zu gestehen, wenn Ihr nicht mit Eurer Abreise gedroht hättet. Aber jetzt...«

Er senkte die Stimme wieder; Donna Micaela wollte nichts mehr hören, sondern entfernte sich. Sie begriff, daß sie hier überflüssig war. Wenn es Signor Favara nicht gelang, die große Wohltäterin zurückzuhalten, dann gelang es niemandem.

Als sie wieder durch die Tür hinausging, schalt eben der Wirt den alten Franziskaner Fra Felice aus, und er war so erregt, daß er ihn nicht nur ausschalt, sondern auch aus dem Hause jagte.

»Fra Felice«, rief er, »Ihr kommt, um mit der großen Wohltäterin zu streiten! Ihr werdet sie nur noch mehr aufreizen. Geht Eurer Wege, sage ich, geht, Ihr Menschenfresser, Ihr Wolf, macht, daß Ihr fortkommt!«

Fra Felice war ebenso zornig wie der Wirt und wollte sich an diesem vorbeidrängen. Aber da wurde er von ihm am Arm gepackt und ohne weiteres aus dem Hause hinausgeführt.

Fra Felice war ein Mann, der von seinem Schöpfer eine große Gabe empfangen hatte. Auf Sizilien, wo jedermann in der Lotterie spielt, gibt es Leute, die die Fähigkeit haben, vorauszusagen, welche Nummern in der nächsten Ziehung herauskommen werden. Wer diese Wahrsagergabe hat, wird »Polacco« genannt, und man trifft sie sehr häufig bei alten Bettelmönchen. Ein solcher Mönch war auch Fra Felice. Er war der größte Polacco in der Ätnagegend.

Da er allen eine gewinnende Dreier- oder Viererkombination sagen sollte, wurde ihm überall mit großer Achtung begegnet, und Fra Felice war daher nicht gewöhnt, am Arme gefaßt und auf die Straße hinausgeworfen zu werden.

Er war gegen achtzig Jahre alt und ganz vertrocknet und gebrechlich. Als er nun zwischen den Wagen dahinwankte, stolperte er, trat auf seine Kutte und wäre beinahe gefallen. Aber keiner der Knechte und Kutscher, die vor der Tür standen und durcheinander redeten und jammerten, hatte heute Zeit, an Fra Felice zu denken. Der Alte schwankte hin und her in seiner großen Frieskutte. Er war so klein und mager geworden, daß seine Kutte mehr Halt durch sich selbst zu haben schien als durch den darinsteckenden Mönch. Es war, als halte die alte Kutte diesen aufrecht.

Donna Micaela holte Fra Felice ein und zog seinen Arm durch den ihren. Sie konnte es nicht mitansehen, wie er sich an den Laternenpfählen hielt und über Häuserstufen fiel. Aber Fra Felice merkte gar nicht, daß sie sich seiner annahm. Er brummte und fluchte und glaubte offensichtlich, daß er ebenso allein sei wie daheim in seiner Zelle.

Donna Micaela aber wunderte sich, warum Fra Felice nur so böse auf Miß Tottenham sei. War sie am Ende draußen im Kloster gewesen und hatte Fresken von den Wänden herabgenommen, oder was mochte sie sonst getan haben?

Denn Fra Felice wohnte seit sechzig Jahren in dem großen Franziskanerkloster, das draußen vor der Porta Ätna liegt, Wand an Wand mit der alten Kirche San Pasquale.

Fra Felice war dort schon dreißig Jahre lang Mönch gewesen, als das Kloster eingezogen und an einen Laien verkauft wurde. Die anderen Mönche zogen fort, aber Fra Felice blieb da, weil er nicht begriff, daß San Franziskos Haus verkauft werden könnte.

Wenn nun ein Laie einzog, hielt es Fra Felice für um so notwendiger, daß wenigstens ein Mönch auf dem Platz blieb. Wer würde sonst das Glockenläuten besorgen oder Heilmittel für die Bauernweiber herstellen oder an die Armen des Klosters Brot verteilen? So wählte sich Fra Felice eine Zelle in einem verborgenen Winkel und ging auch ferner im Kloster ein und aus, wie er es von jeher getan hatte.

Der Kaufmann, dem das Kloster gehörte, besuchte es niemals. Er machte sich nichts aus den alten Gebäuden, ihm lag nur an den Weinbergen, die dazu gehörten. So schaltete und waltete Fra Felice noch immer in dem alten Kloster. Er mauerte herabgestürzte Gesimse wieder fest und bewarf die Wände mit Kalk. Ebensoviele Arme wie früher im Kloster Essen bekommen hatten, erhielten dies auch jetzt noch. Wenn Fra Felice durch die Ätnastädte wanderte, bekam er für seine Wahrsagerkunst so bedeutende Almosen, daß er ein reicher Mann hätte sein können; aber er gab alles dem Kloster.

Aber noch mehr als um das Kloster trauerte Fra Felice um die Kirche. Während der Kriegszeit war diese durch blutige Schlägereien und andere Schändlichkeiten entheiligt worden, so daß keine Messe mehr darin gelesen werden durfte. Aber auch das konnte Fra Felice nicht begreifen. Die Kirche, in der er sein Gelübde abgelegt hatte, war und blieb für ihn gleich heilig.

Das war sein größter Schmerz, daß die Kirche ganz in Verfall geriet. Er hatte mitansehen müssen, wie Engländer die Kanzel, das Lesepult und die Chorstühle kauften. Und er hatte es nicht verwinden können, daß Herren vom Museum in Palermo dahergekommen waren und Kronleuchter und Bilder und Meßgewänder mitgenommen hatten. So sehr er es auch gewünscht hatte, er hatte nichts tun können, um seine Kirche zu retten. Aber er haßte diese Kirchenräuber, und als Donna Micaela ihn so erzürnt sah, glaubte sie, Miß Tottenham habe ihm wohl auch einige seiner Schätze entreißen wollen.

Aber dem war nicht so. Im Gegenteil, jetzt, wo die Kirche ganz ausgeplündert war und niemand mehr etwas darin suchte, dachte Fra Felice daran, für eine neue Ausschmückung zu sorgen, und er hatte seine Augen auf die Sammlung der Heiligenbilder geworfen, die im Besitz der reichen englischen Dame war. Bei ihrem Fest, wo sie so gut und freundlich zu allen gewesen war, hatte er es gewagt, sie um ihre schöne Madonna zu bitten, die ein Gewand aus Samt trug und Augen wie der Himmel hatte. Und Miß Tottenham hatte ihm versprochen, seine Bitte zu erfüllen.

An diesem Morgen nun hatte Fra Felice die Kirche gefegt, den Staub abgewischt und Blumen auf den Altar gestellt, ehe er zu ihr gegangen war, um das Bild zu holen. Als er aber zum Hotel kam, hatte die Engländerin ihren Entschluß geändert und ihm die kostbare Madonna durchaus nicht überlassen wollen. Statt dessen hatte sie ihm ein kleines zerlumptes, schmutziges Christuskind gegeben, das sie ihm ihrer Meinung nach ohne Bedauern überlassen könnte.

Ach, in welcher frohen Erwartung war der alte Fra Felice zu ihr gekommen, und nun war er so enttäuscht worden! Er hatte sich aber nicht gleich zufriedengegeben, sondern war immer wieder zurückgekommen, um auch noch um das andere Bild zu bitten. Das war ein so kostbares Bild, daß er es nicht um alles, was er in einem ganzen Jahre zusammenzubetteln pflegte, hätte kaufen können.

Schließlich hatte die große Wohltäterin ihn hinausführen lassen, und nach diesem Erlebnis war Donna Micaela mit ihm zusammengetroffen.

Während sie die Straße miteinander hinuntergingen, redete sie mit dem Alten und entlockte ihm bald seine ganze Geschichte. Er hatte das Christuskind bei sich; mitten auf der Straße hielt er an, zeigte es ihr und fragte sie, ob sie wohl schon etwas Erbärmlicheres gesehen habe.

Donna Micaela sah das Bild einen Augenblick bestürzt an. Dann lächelte sie und sagte: »Leiht mir das Bild auf ein paar Tage, Fra Felice.«

»Nehmt und behaltet es«, erwiderte der Greis. »Ich will es nie wieder sehen.«

Donna Micaela nahm das Bild mit sich nach Hause und arbeitete zwei Tage daran. Als sie es dann Fra Felice sandte, war es strahlend schön mit dem blankgeputzten Schmuck und mit einem neuen, reinen Wickelband; es war frisch bemalt, und in der Krone glänzten durchsichtige bunte Steine. Er war jetzt so schön, der Verstoßene, daß Fra Felice ihn auf den leeren Hochaltar seiner Kirche stellte.

*

Es war sehr früh am Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen und das weite Meer kaum sichtbar. Es war wirklich noch sehr früh. Die Katzen wanderten noch auf den Dächern umher, noch stieg kein Rauch aus den Schornsteinen, und unten im Tal wogte der Nebel um den steilen Monte Chiaro.

Da kam der alte Fra Felice im Sturmschritt in die Stadt herein gewandert. Er lief so schnell, daß er das Gefühl hatte, der Berg schwanke unter ihm. Er lief so schnell, daß die Grashalme am Wege nicht einmal seine Kutte mit Tau benetzen konnten, so schnell, daß die Skorpione nicht Zeit hatten, den Schwanz aufzuheben, um ihn zu stechen.

Während der Alte so dahineilte, flatterte seine Kutte, und der nicht zusammengeknüpfte Strick flog um ihn her. Die weiten Ärmel bewegten sich wie Flügel, und die schwere Kapuze schlug ihm auf den Rücken, als wolle sie ihn zur Eile antreiben.

Der Zolleinnehmer am Stadttor, der noch schlief, erwachte, als Fra Felice vorbeirannte; er rieb sich die Augen, konnte ihn aber nicht mehr erkennen. Das Straßenpflaster war schlüpfrig von der Nachtfeuchtigkeit, die Bettler schliefen auf den hohen steinernen Häusertreppen und ließen die Beine nachlässig auf die Straße baumeln, übernächtigte Dominopfeifer gingen vom Café nach Hause, aber Fra Felice eilte weiter, ungeachtet aller Hindernisse.

Und Häuser und Portale, der Markt und die überwölbten Gasseneingänge verschwanden hinter dem alten Fra Felice. Er eilte noch über den halben Korso, ehe er haltmachte.

Jetzt hielt der Alte vor einem langen Haus mit vielen mächtigen Balkonen. Er ergriff einen Türklopfer und klopfte, bis einer vom Gesinde erwachte. Dann beruhigte er sich nicht, bis der Knecht eine Magd rief und diese die Signora weckte.

»Donna Micaela, Fra Felice ist drunten. Er behauptet, er müsse Euch unbedingt sprechen.«

Als Donna Micaela zu Fra Felice hinunterkam, war er noch immer atemlos und keuchte, aber seine Augen glänzten, und kleine bleiche Rosen brannten auf seinen Wangen.

Es war das Bild, das Bild! Nachdem Fra Felice die Vieruhrmesse geläutet hatte, war er in die Kirche gegangen, um das Bild zu betrachten.

Da hatte er gesehen, daß sich genau über dem Bild zwei große Steine aus der gewölbten Decke gelöst hatten: Sie waren auf den Altar gefallen und hatten die Altarplatte zertrümmert, aber das Bild war unversehrt geblieben. Und von dem Schutt und Staub, der herabgefallen war, hatte nichts das Bild getroffen; es war ganz und gar unbeschädigt geblieben.

Fra Felice ergriff Donna Micaelas Hand und sagte, sie müsse ihn sogleich ins Kloster begleiten, um das Wunder zu sehen. Sie dürfe es vor allen anderen sehen, weil sie sich des Bildes angenommen habe.

Und Donna Micaela ging in der grauen Morgenkühle mit Fra Felice hinaus zum Kloster, während ihr Herz vor Ungeduld und Erwartung heftig klopfte.

Als sie das Kloster erreichte und sah, daß Fra Felice die Wahrheit gesprochen hatte, sagte sie ihm, daß sie das Bild auf den ersten Blick wiedererkannt habe, und sie wisse, daß es ein wundertätiges Bild sei. »Es ist der größte und gütigste Wundertäter, den es gibt«, sagte sie.

Fra Felice ging zu dem Bild hin und sah ihm in die Augen. Denn es ist ein großer Unterschied zwischen Bild und Bild. Und es gehört die Klugheit eines alten Mönchs dazu, um unterscheiden zu können, welches Bild Macht hat und welches nicht. Jetzt sah Fra Felice, daß die Augen des Christusbildes tief und strahlend waren, als ob sie lebendig seien, und daß ein geheimnisvolles Lächeln um seine Lippen schwebte.

Da sank der alte Fra Felice vor ihm auf die Knie nieder und hob die gefalteten Hände zu ihm auf. Und sein altes verschrumpeltes Gesicht wurde von einer großen Freude verklärt.

Fra Felice war es plötzlich, als seien die Wände seiner Kirche mit Bildern und Purpurteppichen bedeckt, als strahlten Lichter auf dem Altar, als ertöne Gesang vom Chor her und als knieten ringsumher anbetende Menschen.

Alle nur erdenkliche Herrlichkeit würde seiner armen alten Kirche zuteil werden, jetzt, wo sie eines der großen wundertätigen Bilder besaß.


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