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XI. Das Fest des heiligen Sebastian

Als Gaetano fortgestürmt war, blieb Donna Micaela noch lange in Donna Elisas Garten. Wie gebannt blieb sie auf derselben Stelle stehen; sie konnte weder fühlen noch denken. Da fiel ihr plötzlich ein, daß sie und Gaetano nicht allein auf der Welt waren. Sie dachte an ihren Vater, der daheim krank lag und den sie seit vielen Stunden vergessen hatte.

Sie ging sogleich durchs Hoftor hinaus auf den Korso, der öde und verlassen dalag. Aus der Ferne drangen noch immer Schüsse und Lärm zu ihr herüber, und sie schloß daraus, daß an der Porta Ätna gekämpft werde.

Der Mond goß seinen hellen Schein auf die Fassade des Sommerpalasts, und Donna Micaela wunderte sich, daß um diese Zeit und in dieser Nacht die Balkontüren offenstanden und die Fensterläden nicht geschlossen waren. Aber noch mehr wunderte sie sich darüber, daß das Tor offenstand und auch die Ladentür ganz geöffnet war.

Als sie durch das Portal ging, sah sie nirgends den alten Türhüter Piero. Die Hoflaterne war nicht angezündet und kein Mensch auf dem Hof zu sehen.

Sie stieg die Treppe hinauf zur Galerie, da stieß ihr Fuß plötzlich an etwas Hartes. Es war eine kleine Bronzevase, die sonst ihren Platz im Musiksaal hatte. Ein paar Stufen weiter oben fand sie ein Messer. Es war ein langes Messer mit einer dolchartigen Klinge. Als sie es aufhob, fielen ein paar dunkle Tropfen von der Klinge herab. Sie war überzeugt, daß es Blut war.

Und ebenso war sie überzeugt, daß das, was sie den ganzen Herbst hindurch befürchtet hatte, nun eingetroffen war. Die Banditen waren im Sommerpalast gewesen, um ihn zu plündern. Wer fliehen konnte, war entflohen, ihr Vater aber, der das Bett nicht verlassen konnte, war natürlich ermordet worden.

Sie konnte nicht wissen, ob die Räuber nicht noch im Hause waren. Aber jetzt, wo sie sich mitten in der größten Gefahr befand, verschwand ihre Angst, und sie eilte weiter, ohne daran zu denken, daß sie allein und wehrlos war.

Sie durchschritt die Galerie und erreichte den Musiksaal. Hier fiel der Mondschein in breiten Streifen auf den Fußboden, und in einem dieser Streifen lag ein Mensch regungslos ausgestreckt.

Donna Micaela beugte sich über den leblosen Körper. Es war Giannita. Sie war ermordet; sie hatte eine tiefe, klaffende Wunde am Hals.

Donna Micaela legte den Körper zurecht, kreuzte ihr die Hände über der Brust und drückte ihr die Augen zu. Ihre Hände wurden dabei blutig, und als sie diese laue, klebrige Feuchtigkeit fühlte, brach sie in Tränen aus.

»Ach, meine liebe gute Schwester«, klagte sie ganz laut, »dein junges Leben ist mit diesem Blut dahingeflossen. Dein ganzes Leben lang hast du mich geliebt, und nun hast du dein Blut vergossen, indem du mein Haus verteidigt hast. Hat dich Gott mir entrissen zur Strafe für meine Härte?

Bist du deshalb von mir gegangen, weil ich dir den nicht gönnte, den ich selbst liebe? Ach, Schwester, Schwester, konntest du mich nicht weniger hart strafen?«

Sie beugte sich nieder und küßte die Tote auf die Stirn.

»Glaub es nicht«, sagte sie. »Du weißt, daß ich dir immer treu gewesen bin. Du weißt, daß ich dich liebhatte.«

Dann sagte sie sich, daß die Tote nun von allem Irdischen befreit sei und kein Bedauern und keine Freundschaftsversicherungen mehr nötig habe. Sie sprach ein paar Gebete über der Leiche; das einzige, was sie für ihre Schwester noch tun konnte, war, die entfliehende Seele mit frommen Gedanken zu Gott hinaufzugeleiten.

Dann ging sie weiter; sie fürchtete nicht mehr, daß ihr selbst etwas zustoßen werde, aber sie war von unbeschreiblicher Angst erfüllt, was wohl ihrem Vater widerfahren sein mochte.

Als sie endlich die lange Reihe der Prunkgemächer durchschritten hatte und vor der Tür des Krankenzimmers stand, tasteten ihre Hände lange nach dem Schloß; aber als sie es gefunden hatte, hatte sie nicht die Kraft, den Schlüssel umzudrehen.

Da rief ihr Vater von innen heraus, wer da sei. Als sie seine Stimme vernahm und erkannte, daß er noch am Leben war, hatte sie das Gefühl, die ganze Kraft ihrer Seele verließe sie. Herz und Gehirn versagten plötzlich den Dienst, und ihre Glieder trugen sie nicht mehr. Es gelang ihr noch, sich klarzumachen, daß dieser Zustand von der furchtbaren Spannung kommen müsse, in der sie sich befand. Dann sank sie mit einem eigentümlichen Gefühl von Befreiung in eine tiefe Ohnmacht.

Erst gegen Morgen erwachte Donna Micaela aus ihrer Bewußtlosigkeit. Inzwischen war vieles geschehen. Die Diener waren aus ihren Schlupfwinkeln zum Vorschein gekommen und hatten Donna Elisa geholt. Diese hatte sich des verlassenen Palastes angenommen, nach der Polizei geschickt und die weißen Brüder kommen lassen, die sogleich Giannitas Leiche ins Haus ihrer Mutter schafften.

Als Donna Micaela erwachte, lag sie auf einem Ruhebett in einem Zimmer neben dem ihres Vaters. Niemand war bei ihr, aber drinnen bei ihrem Vater hörte sie Donna Elisa sprechen.

»Mein Sohn und meine Tochter«, sagte Donna Elisa schluchzend, »ich habe alle beide verloren, meinen Sohn und meine Tochter!«

Donna Micaela versuchte aufzustehen, aber sie konnte nicht. Ihr Körper lag noch im Schlummer, nur ihre Seele war erwacht.

»Cavaliere, Cavaliere«, sagte Donna Elisa, »könnt Ihr das verstehen? Vom Ätna herüber kommen Banditen und schleichen sich nach Diamante. Banditen kommen daher, die aufs Zollhaus schießen und schreien: ›Es lebe der Sozialismus!‹ Aber sie tun es nur, um die Leute von der Straße zu verscheuchen und die Carabinieri nach der Porta Ätna zu locken. Kein einziger Mensch von Diamante weiß etwas davon. Die Banditen haben es ausgeheckt, um bei Miß Tottenham und bei Donna Micaela zu plündern, bei zwei Frauen, Cavaliere! Was haben diese Herren Offiziere, die im Kriegsgericht sitzen, eigentlich gedacht? Haben sie geglaubt, Gaetano stehe im Bund mit Banditen? Haben sie nicht gesehen, daß er ein Edelmann, ein echter Alagona, ein Künstler ist? Wie haben sie ihn nur verurteilen können?«

Donna Micaela hörte voll Entsetzen zu, aber sie versuchte sich einzubilden, daß sie noch träume. Sie glaubte Gaetano zu hören, der sie fragte, ob sie ihn ihrem Gott opfere. Und sie meinte sich selbst antworten zu hören: »Ja, das tue ich.« Nun träumte sie, wie es sein würde, wenn man ihn wirklich gefangennähme. Anders konnte es ja nicht ausgehen.

»Was für eine Unglücksnacht!« sagte Donna Elisa. »Was liegt nur in der Luft, das die Leute toll und verwirrt macht? Ihr kennt Gaetano, Cavaliere. Er ist allerdings von jeher stürmisch und feurig gewesen und immer blindlings auf etwas losgegangen. Aber ganz ohne Sinn und Verstand war er doch nicht, er hatte immer noch etwas Überlegung. Heute nacht jedoch stürzt er sich den Soldaten gerade in die Arme. Ihr wißt ja, daß er einen Aufstand herbeiführen wollte. Ihr wißt, daß er nur deshalb zurückgekehrt ist. Aber als er hört, daß geschossen wird und die Rufe ertönen: ›Es lebe der Sozialismus!‹, gerät er ganz außer sich. Er sagt sich, das ist der Aufruhr und rennt auf die Straße hinaus, um auch dabei zu sein. Und er ruft ab und zu aus Leibeskräften: ›Es lebe der Sozialismus!‹ Und dann begegnet ihm eine große Menge Soldaten, ein ganzes Heer. Denn diese Soldaten waren schon auf dem Weg nach Paterno gewesen, als sie aber von der Landstraße aus das Schießen in Diamante hörten, zogen sie hierher, um zu sehen, was da los sei. Und Gaetano erkennt nicht einmal mehr eine Soldatenmütze, er meint, es seien die Aufständischen, er meint, es seien Engel vom Himmel, er stürzt auf sie zu und läßt sich festnehmen. Die Soldaten aber hatten schon vorher die Banditen, die sich eben mit ihrer Beute davonschleichen wollten, gefangengenommen, und nun ergreifen sie auch noch Gaetano. Sie durchschreiten die Stadt, sie finden alles ruhig; aber ehe sie weiterziehen, halten sie Gericht über die Gefangenen. Und sie verurteilen Gaetano mit den übrigen, verurteilen ihn als einen, der Einbruch verübt und Frauen ermordet hat. Haben diese Leute nicht den Verstand verloren, Cavaliere?«

Donna Micaela konnte nicht verstehen, was ihr Vater erwiderte. Sie selbst hätte tausend Fragen stellen mögen, aber sie war noch immer wie gelähmt und konnte sich nicht rühren. Sie dachte nur immer, ob Gaetano wirklich erschossen worden sei.

»Was dachten sie nur, daß sie ihn zu mehr als zwanzigjähriger Kerkerhaft verurteilten?« sagte Donna Elisa. »Meinen sie denn, er werde so lange leben oder irgend jemand, der ihn liebhat, werde so lange leben? Er ist tot, Cavaliere, tot für mich, gerade wie Giannita.«

Donna Micaela war es, als sei sie in starke Fesseln gekettet, damit sie nicht entkommen könne. Dieses Gefühl war schrecklicher, als an einen Schandpfahl gebunden zu sein und ausgepeitscht zu werden.

»Die ganze Freude meiner alten Tage ist mir geraubt worden«, sagte Donna Elisa. »Giannita und Gaetano! Ich hatte immer gehofft, sie würden sich heiraten. Sie hätten so gut zueinander gepaßt, weil beide meine Kinder waren und mich liebhatten. Wofür soll ich nun leben, da ich keine Jugend mehr um mich habe? Ich habe mich oft recht schwer durchringen müssen, als Gaetano zu mir kam, und man sagte mir oft, ich hätte es besser, wenn ich allein wäre; ich aber antwortete stets, ich mache mir nichts daraus, wenn ich nur Jugend um mich habe. Und ich dachte immer, wenn er dann herangewachsen wäre, würde er sich eine Frau nehmen, dann würden sie Kinder bekommen, und ich müßte niemals als eine infame und unnütze alte Frau dasitzen.«

Donna Micaela fiel ein, daß sie es in der Hand gehabt hätte, Gaetano zu retten, es aber nicht gewollt hatte. Aber warum hatte sie nicht gewollt? Jetzt erschien es ihr ganz unbegreiflich. Sie begann die Gründe aufzuzählen, die sie dazu bewogen hatten, ihn in sein Verderben rennen zu lassen. Er war ein Gottesleugner und Sozialist und wollte Aufruhr erregen. Das hatte alles andere aufgewogen, als sie ihm die Gartenpforte öffnete. Es hatte auch ihre Liebe aufgewogen. Jetzt begriff sie es nicht mehr. Es war, als ob eine Waagschale voll Federn imstande gewesen sei, eine Waagschale voll Blei aufzuwiegen.

»Mein schöner Junge«, sagte Donna Elisa, »mein schöner Junge! Drüben in England war er schon ein berühmter Mann, und er kehrte zurück, um uns armen Sizilianern zu helfen. Und nun haben sie ihn verurteilt wie einen Banditen. Es heißt, sie hätten ihn beinahe erschossen wie die anderen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie es getan hätten, Cavaliere. Vielleicht wäre es mir leichter gefallen, ihn ins Grab zu legen, als ihn im Gefängnis zu wissen.

Wie soll er denn all das Elend ertragen? Er wird es nicht überstehen, er wird krank werden und bald sterben.«

Während sie so sprach, wurde Donna Micaela endlich Herr ihrer Betäubung, so daß sie vom Sofa aufstehen konnte. Sie wankte durchs Zimmer und hinein zu ihrem Vater und Donna Elisa, totenbleich wie die arme ermordete Giannita.

Sie war so schwach, daß sie nicht wagte, durchs Zimmer zu gehen, sondern an der Tür stehen blieb und sich an den Türpfosten lehnte.

»Da bin ich«, sagte sie, »Donna Elisa, ich bin es...«

Die Worte wollten nicht über ihre Lippen. Sie ballte vor Verzweiflung die Hände, weil sie nicht sprechen konnte.

Donna Elisa war sogleich neben ihr. Sie legte den Arm um sie, um sie zu stützen, ohne sich darum zu kümmern, daß Donna Micaela sie zurückstoßen wollte.

»Ihr müßt mir verzeihen, Donna Elisa, ich habe es getan.« Donna Elisa hörte nicht das, was sie sagte. Sie sah, daß Micaela Fieber hatte, und glaubte, sie phantasiere.

Donna Micaelas Lippen bewegten sich krampfhaft. Man sah, daß sie etwas sagen wollte, aber sie brachte nur einzelne Worte heraus. Es war unmöglich, zu verstehen, was sie meinte.

»Gegen ihn, gerade wie gegen meinen Vater«, sagte sie immer wieder. Und dann sagte sie, daß sie alle, die sie liebhabe, ins Unglück bringe.

Es war Donna Elisa gelungen, sie zu einem Stuhl hinzuführen; und da saß nun Donna Micaela und küßte ihr die alten runzligen Hände und bat sie um Vergebung für das, was sie getan habe.

Gewiß, gewiß, Donna Elisa verzieh ihr.

Donna Micaela sah sie scharf an, mit großen fieberheißen Augen, und fragte, ob es auch gewiß wahr sei.

Freilich sei es wahr.

Da lehnte sie ihren Kopf an Donna Elisas Schulter und schluchzte heftig; sie dankte ihr und sagte, sie hätte nicht weiterleben können, wenn sie nicht ihre Verzeihung erlangt hätte. Gegen niemanden habe sie so schwer gesündigt, wie gegen sie. Ob sie ihr auch wirklich vergeben könne? »Ja, ja«, sagte Donna Elisa jedesmal; und sie dachte nur immer, Donna Micaela phantasiere infolge des Schreckens und des Fiebers.

»Ich muß dir etwas sagen«, fuhr Donna Micaela fort. »Ich weiß es, aber du weißt es nicht. Du verzeihst es mir nicht, wenn du es erfährst.«

Auf diese Weise sprachen sie noch eine gute Weile, ohne einander zu verstehen. Aber es war gut für Donna Elisa, daß sie in dieser Nacht jemanden hatte, den sie zur Ruhe betten, den sie trösten und dem sie stärkende Tropfen eingeben konnte. Es war gut für sie, daß jemand da war, der seinen Kopf an ihre Schulter lehnte und über sein Leid weinte.

*

Donna Micaela, die Gaetano seit fast drei Jahren liebte, ohne je daran gedacht zu haben, daß sie einander angehören könnten, hatte sich eine sonderbare Art von Liebe zurechtgelegt. Es genügte ihr, zu wissen, daß Gaetano sie liebte. Wenn sie daran dachte, überkam sie ein angenehmes Gefühl der Sicherheit und des Glücks.

»Was tut's? Was tut's?« sagte sie sich, wenn ihr ein Unglück widerfuhr. »Gaetano liebt mich!« Er war immer bei ihr, ermunterte und tröstete sie. Er lebte in allen ihren Gedanken und in all ihrem Tun. Er war der Odem ihres Lebens.

Sobald Donna Micaela sich Gaetanos Adresse verschafft hatte, schrieb sie an ihn. Sie bekannte ihm, daß sie die feste Überzeugung gehabt habe, er gehe einem Unglück entgegen. Aber sie habe sich vor dem, was er möglicherweise in der Welt ausrichten würde, so gefürchtet, daß sie ihn nicht zu retten gewagt habe. Sie schrieb auch, wie sehr sie seine Lehre verabscheue. Sie heuchelte nicht im geringsten und sagte, auch wenn er frei wäre, könnte sie nicht die Seine werden. Sie fürchte sich vor ihm. Er habe eine solche Macht über sie, daß sie mit ihm vereint auch eine Sozialistin und Gottesleugnerin werden würde. Um ihre Seele zu retten, müsse sie immer von ihm getrennt leben.

Aber sie bat und flehte, er solle trotz alledem nicht aufhören, sie zu lieben. Das dürfe er nicht. Nein, das dürfe er nicht. Er könne sie strafen, auf welche Weise er wolle, nur solle er nicht aufhören, sie zu lieben.

Er solle es doch ja nicht machen wie ihr Vater. Es wäre zwar ganz natürlich, wenn auch er ihr jetzt sein Herz verschlösse, aber er solle es doch nicht tun. Er solle barmherzig sein.

Wenn er nur wüßte, wie sie ihn liebte! Wenn er wüßte, wie oft sie von ihm träumte! Sie sagte ihm, daß seine Liebe ihr Leben sei.

»Muß ich sterben, Gaetano?« fragte sie.

»Ist es nicht genug, daß diese Ansichten und Lehren uns trennen? Ist es nicht genug, daß sie dich ins Gefängnis gebracht haben? Mußt du auch noch aufhören, mich zu lieben, weil wir nicht gleich denken?«

»Ach, Gaetano, liebe mich! Es kann zwar nichts helfen, deine Liebe bringt mir keine Hoffnung, aber liebe mich dennoch, denn ich muß sterben, wenn du mich nicht mehr liebst.«

Kaum hatte Donna Micaela diesen Brief abgeschickt, als sie auch schon auf Antwort wartete. Sie glaubte, sie würde einen leidenschaftlichen, erzürnten Brief erhalten; aber sie hoffte auch, es würde sich doch ein einziges Wörtlein darin finden, das ihr verriet, daß er sie noch liebte.

Aber sie wartete mehrere Wochen, ohne einen Brief von Gaetano zu erhalten.

Es half nichts, daß sie jeden Morgen in der Galerie draußen auf den Briefträger wartete und diesen ganz betrübt machte, weil er immer sagen mußte, daß er nichts für sie habe.

Eines Tages ging sie selbst zur Post und bat mit den flehendsten Blicken, man möchte ihr doch den Brief geben, den sie erwarte. Er müsse ja da sein, sagte sie. Vielleicht habe man die Adresse nicht lesen können, vielleicht sei er in ein falsches Fach hineingeraten. Und ihre sanften, bittenden Augen rührten den Postmeister so, daß er ganze Haufen alter, nicht abgeholter Briefe durchsuchen und alle Fächer im Postkontor von unterst zu oberst kehren ließ. Aber es half alles nichts.

Sie schrieb noch mehrere Male an Gaetano; aber es kam und kam keine Antwort.

Da versuchte sie, an das zu glauben, was ihr unmöglich schien. Sie versuchte sich zu der Erkenntnis zu bringen, daß Gaetano aufgehört habe, sie zu lieben.

Aber je mehr diese Überzeugung sich ihr aufdrängte, desto mehr schloß sie sich in ihrem Hause ein. Sie fürchtete sich allmählich vor den Menschen und blieb daher am liebsten allein. Mit jedem Tag wurde sie schwächer. Sie ging tief gebeugt. Selbst ihre schönen Augen schienen ihren Ausdruck und Glanz zu verlieren.

Nach einigen Wochen war sie so entkräftet, daß sie sich nicht mehr aufrecht halten konnte, sondern den ganzen Tag auf dem Sofa liegen mußte. Sie war die Beute eines Leidens, das ihr langsam alle Lebenskraft raubte. Sie erkannte, daß sie dem Tode entgegenging, und sie fürchtete sich vor dem Sterben. Aber sie konnte nichts dagegen tun. Es gab nur ein einziges Heilmittel für sie, aber das kam nicht.

Während so ganz allmählich Donna Micaelas Leben zu entfliehen schien, rüstete man sich in Diamante auf das Fest San Sebastiani, das auf Ende Januar fällt.

Das war das größte Fest, das in Diamante gefeiert wurde, aber in den letzten Jahren war es nicht mit der gewöhnlichen Pracht begangen worden, weil allzu große Not und Niedergeschlagenheit die Gemüter bedrückte.

In diesem Jahr jedoch, gleich nachdem der Aufruhr mißglückt war, während Sizilien noch von fremden Truppen überfüllt war, und die geliebten Helden noch im Gefängnis schmachteten, schlug man vor, das Fest mit aller herkömmlichen Pracht zu feiern, denn jetzt, so hieß es, sei nicht die Zeit, wo man die Heiligen vergessen dürfe.

Und die frommen Leute beschlossen, daß eine ganze Woche lang gefestet und daß San Sebastiano durch Flaggen und Kränze und reichen Häuserschmuck, durch Wettrennen und biblische Festzüge, durch Illumination und Wettgesänge gefeiert werden solle.

Man machte sich mit großer Eile und Eifer daran. In jedem Hause wurde geputzt und gescheuert. Man suchte die alten Prozessionskleider hervor und rüstete sich, vom ganzen Ätna Gäste zu empfangen.

Das einzige Haus in Diamante, wo keine Vorbereitungen getroffen wurden, war der Sommerpalast. Donna Elisa war tief betrübt darüber, aber sie konnte Donna Micaela nicht dazu bewegen, ihr Haus schmücken zu lassen.

»Wie kannst du verlangen, daß ich ein solches Trauerhaus in Blumen und Grün kleide?« sagte sie. »Die Rosen würden ihre Blätter fallen lassen, wenn ich sie dazu verwenden wollte, das Unglück, das hier herrscht, zu verdecken.«

Aber Donna Elisa war vom Fest ganz hingenommen. Sie erwartete viel Gutes davon, daß man wieder anfing, die Heiligen zu ehren wie in den alten Tagen. Sie sprach von nichts anderem mehr, als daß die Priester die Fassade der Domkirche in alter sizilianischer Weise mit silbernen Blumen und Spiegeln dekorieren ließen. Und sie beschrieb den Festzug; so viele Reiter würden es sein, und so hohe Federn würden sie auf den Hüten haben, und so lange blumenumwundene Stäbe mit Wachslichtern an der Spitze würden sie in den Händen tragen.

Als der erste Festtag anbrach, war Donna Elisas Haus aufs prächtigste geschmückt. Hoch vom Dach flatterte Italiens grün-rot-weiße Fahne, und rote, goldgefranste Tücher mit den Namenszügen der Heiligen waren über die Fenstersimse und Balkone gebreitet. Aber an den Wänden waren Girlanden aus Steineichenlaub sternförmig und in Bögen angebracht, und um die Fenster schlangen sich Kränze, die aus den kleinen rosa Rosen in Donna Elisas Garten gebunden waren. Genau über dem Eingang prangte von Lilien umrahmt das Bild des Heiligen, und auf der Türschwelle lagen Zypressenzweige. Und wenn man ins Haus getreten wäre, hätte man gesehen, daß es im Innern ebenso reich geschmückt war wie außen. Vom Keller bis zum Dach hinauf war es gescheuert und mit Blumen geschmückt. Und auf den Regalen im Laden stand auch nicht der kleinste noch so unbedeutende Heilige, der nicht ein Maßliebchen oder eine Immortelle in der Hand gehabt hätte. Auf dieselbe Weise wie bei Donna Elisa waren in dem armen Diamante die ganzen Straßen dekoriert. Es war ein solches Gewimmel von Flaggen, daß man unwillkürlich an die Wäsche erinnert wurde, die in dem Gäßchen vor dem Haus des kleinen Mauren himmelhoch hing. Alle Häuser und alle Ehrenpforten waren mit Flaggen geschmückt, und quer über die Straßen hingen Stricke, an denen Wimpel an Wimpel flatterten.

Alle zehn Schritte hatten die Bewohner von Diamante Ehrenpforten quer über die Straße errichtet. Und über jeder Pforte stand das Bild des Heiligen von gelben Immortellenkränzen eingerahmt. Die Balkone waren mit roten Decken und bunten Tischtüchern geschmückt. Und die Wände hinauf schlangen sich steife Girlanden.

Überall sah man so viele Blumen und so viel Grün, daß man gar nicht begreifen konnte, woher man das alles schon im Januar aufgetrieben hatte. Alles war bekränzt und mit Blumen geschmückt. Der Besenstiel trug einen Kranz von Krokusblüten und der Türklopfer einen Strauß Hyazinthen. An den Fenstern aber standen Tafeln mit Namenszügen darauf und mit Inschriften aus blauroten Anemonen.

Und zwischen diesen reich geschmückten Häusern hindurch wogte der Menschenstrom so gewaltig wie die steigende Flut. Nicht nur die Bewohner von Diamante feierten San Sebastiano. Vom ganzen Ätna kamen gelbe, prächtig ausgeschlagene und bemalte Wagen, die von Pferden mit reich geschmücktem Geschirr gezogen wurden und die ganz vollgepfropft waren mit Menschen. Kranke, Bettler und blinde Sänger hatten sich in Scharen eingefunden. Und es kamen auch ganze Pilgerzüge solcher armer Leute, die jetzt nach den schweren Heimsuchungen für irgendeinen teuren Menschen zu beten hatten.

Es waren so viele Menschen herbeigeströmt, daß man sich fragte, wie man alle innerhalb der Mauern der Stadt unterbringen solle? Auf den Straßen, an den Fenstern, auf den Baikonen, überall waren Menschen. Auf den hohen steinernen Treppen saßen sie, und die Läden waren auch gedrängt voll von Zuschauern. Die großen Haustüren standen weit offen, und drinnen auf dem Flur waren im Halbkreis Stühle aufgestellt wie in einem Theater. Da saßen die Bewohner mit ihren Gästen und betrachteten die Vorüberziehenden. Die ganze Straße herab drang ein betäubender Lärm. Nicht genug, daß alle Menschen sprachen und lachten: Da waren auch Leierkastenmänner und drehten Leierkästen, die so groß waren wie Orgeln. Da waren auch Straßensänger und Männer und Frauen, die mit schrillen, heiseren Stimmen aus dem Tasso deklamierten. Da gab es allerhand Ausrufer, Orgelgebraus strömte aus allen Kirchen heraus, und auf dem Marktplatz oben auf dem Berg spielten die Stadtmusikanten so laut, daß man es in ganz Diamante hörte. Diesem frohen Lärm und diesem Blumenduft und diesem Flattern der Fahnen vor Donna Micaelas Fenster gelang es, sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit aufzuwecken. Sie erhob sich, als hätte das Leben sie gerufen.

»Ich will nicht sterben«, sagte sie zu sich selbst. »Ich will versuchen zu leben.«

Sie legte ihren Arm in den ihres Vaters und ging mit ihm auf die Straße. Sie hoffte, das Leben draußen werde sie so berauschen, daß sie ihr Leid vergessen könne. »Glückt mir auch das nicht,« dachte sie, »kann ich keine Zerstreuung finden, dann muß ich sterben.«

Aber da war in Diamante ein alter armer Steinhauer, der gedacht hatte, er werde sich doch wohl während des Festes ein paar Soldi verdienen können. Deshalb hatte er aus Lava einige Büsten des heiligen Sebastian und des Papstes Leo XIII. verfertigt. Und da er wußte, daß viele in Diamante Gaetano liebten und über sein Schicksal trauerten, hatte er auch ein paar Büsten von ihm gemacht.

Sobald Donna Micaela auf der Straße war, traf sie mit diesem Mann zusammen, der ihr gleich seine kleinen, ärmlichen Figuren anbot.

»Kauft Don Gaetano Alagona«, sagte der Mann. »Kauft Don Gaetano, den die Regierung ins Gefängnis geworfen hat, weil er Sizilien beistehen wollte.«

Donna Micaela drückte heftig den Arm ihres Vaters und ging schnell weiter.

Aber drinnen im Café Europa stand der Sohn des Wirts und sang Kanzonen: Er hatte für das Fest verschiedene neue gedichtet und darunter auch ein paar auf Gaetano. Denn er sagte sich, es sei recht wohl möglich, daß die Leute etwas über ihn hören wollten.

Als Donna Micaela an dem Café vorüberkam, hörte sie, daß drinnen gesungen wurde; sie blieb stehen und lauschte.

»Ach, Gaetano Alagona!« sang der junge Mann. »Mächtig ist der Gesang! Befreien will ich dich mit meinen Liedern! Zuerst sende ich dir die zierlichste Kanzone. Sie soll zwischen die Gitter deines Gefängnisses hineingleiten und sie zerbrechen. Dann schicke ich dir das Sonett, das schön ist wie ein Weib und deine Wächter verführt. Und hierauf dichte ich dir eine herrliche Ode, die mit ihrem stolzen Rhythmus deine Gefängnismauern erschüttern soll. Aber wenn das alles nicht hilft, stimme ich ein gewaltiges Epos an, das ganze Scharen von Worten enthält. O Gaetano, stark wie ein Heer zieht es einher! Alle Legionen des alten Roms hätten nicht vermocht, es aufzuhalten!«

Donna Micaela klammerte sich während dieses Gesanges krampfhaft an den Arm ihres Vaters, aber sie sagte nichts, sondern ging weiter.

Da begann Cavaliere Palmeri von Gaetano zu sprechen.

»Ich habe nicht gewußt, daß er so beliebt war«, sagte er.

»Ich auch nicht«, murmelte Donna Micaela.

»Aber heute sah ich, wie ganz fremde Leute in Donna Elisas Laden kamen und sie flehentlich baten, ihnen etwas zu verkaufen, was er geschnitzt habe. Sie hatte nichts mehr übrig als ein paar Rosenkränze, und ich sah, wie sie diese zerriß und Perle um Perle verteilte.«

Donna Micaela sah ihren Vater an wie ein bittendes Kind. Aber er wußte nicht, ob sie wünschte, daß er schweige oder daß er fortfahre.

»Donna Elisas alte Freunde gehen dort mit Luca im Garten umher«, sagte er. »Er zeigt ihnen Gaetanos Lieblingsplätzchen und das Gartenland, das er selbst bepflanzt hat. Pacifica aber sitzt in der Werkstatt neben der Hobelbank und erzählt alles mögliche von ihm, als er noch klein war.«

Er konnte nicht weitererzählen, das Gedränge und der Lärm um ihn her wurden so groß, daß er abbrechen mußte.

Sie schlugen den Weg zum Dom ein. Auf der Domtreppe saß wie gewöhnlich die alte Assunta. Sie hielt einen Rosenkranz zwischen den Fingern und murmelte bei jeder Perle dasselbe Gebet. Sie bat den Heiligen, Gaetano, der versprochen habe, allen Armen zu helfen, nach Diamante zurückkehren zu lassen.

Als Donna Micaela an ihr vorüberging, vernahm sie deutlich die Worte: »San Sebastiano, gib uns Gaetano wieder! Ach, um deiner Barmherzigkeit willen, um unseres Elends willen, San Sebastiano, gib uns Gaetano wieder!«

Donna Micaela hatte die Absicht gehabt, in die Kirche hineinzugehen, aber auf der Treppe kehrte sie wieder um.

»Es ist ein furchtbares Gedränge drinnen«, sagte sie, »daß ich mich nicht hineinwage.«

Sie ging wieder nach Hause. Aber während sie fortgewesen war, hatte Donna Elisa die Gelegenheit wahrgenommen. Sie hatte auf dem Dach des Sommerpalasts eine Flagge aufgezogen und auf den Balkonen Tücher ausgebreitet, und als Donna Micaela ihr Haus erreichte, war sie eben dabei, eine Girlande am Tor aufzuhängen. Denn es war Donna Elisa unerträglich, daß der Sommerpalast nicht geschmückt war. Sie wollte, diesmal solle San Sebastiano zu Ehren ja nichts versäumt werden. Sie fürchtete, der Heilige werde Diamante und Gaetano nicht helfen, wenn der alte Palast der alten Alagonas nicht auch geschmückt sei.

Donna Micaela schritt daher, bleich wie eine zum Tode Verurteilte und gebückt wie eine achtzigjährige Greisin.

Sie murmelte vor sich hin: »Ich mache keine Büste von ihm, ich singe keine Lieder über ihn, ich wage nicht, für ihn zu beten. Ich kaufe keine seiner Rosenkranzperlen. Wie sollte er sich da denken können, daß ich ihn liebe? Er wird all die anderen, die ihn verehren, lieben, nur mich nicht. Ich gehöre nicht seiner Welt an, mich kann er nicht mehr lieben.«

Und als sie sah, daß man ihr Haus mit Blumen schmücken wollte, kam ihr das so empörend grausam vor, daß sie Donna Elisa den Kranz aus der Hand riß und ihn ihr vor die Füße warf, wobei sie fragte, ob Donna Elisa sie umbringen wolle.

Dann eilte sie an dieser vorüber, die Treppe hinauf und in ihr Zimmer. Sie warf sich aufs Sofa und vergrub das Gesicht in die Kissen.

Erst jetzt wußte sie, wie diese Äußerlichkeiten trennend zwischen ihr und Gaetano standen. Der Mann des Volks konnte sie nicht lieben.

Dazu gesellte sich noch das Gefühl, daß sie ihn gehindert habe, allen diesen Armen zu helfen.

Wie mußte er sie verabscheuen, wie sie hassen!

Und dann beschlich sie wieder ihr altes Leid. Der Kummer darüber, daß niemand sie liebte. Das würde noch ihr Tod sein. Während sie so auf dem Ruhebett lag, dachte sie, daß nun alles vorbei und zu Ende sei.

Doch während sie so dalag, tauchte plötzlich das Christusbild vor ihrer Seele auf. Es war, als sei es in seiner ganzen armseligen Pracht ins Zimmer getreten. Sie sah es ganz deutlich.

Donna Micaela begann das Christuskind um Hilfe anzuflehen. Und sie wunderte sich, daß sie sich nicht schon früher an diesen guten Helfer in der Not gewandt habe. Das kam wohl daher, daß das Bild nicht in einer Kirche stand, sondern wie eine Rarität von Miß Tottenham umhergeschleppt wurde. Deshalb erinnerte sie sich daran nur in der höchsten Not.

*

Es war spät am Abend desselben Tages. Nach dem Mittagessen hatte Donna Micaela allen ihren Dienern erlaubt, zum Fest zu gehen, so daß sie und ihr Vater nun ganz allein in dem großen Haus waren. Aber gegen zehn Uhr stand Cavaliere Palmeri auf und sagte, er wolle den Wettgesang auf dem Markt hören. Und da Donna Micaela sich nicht traute, allein zu Hause zu bleiben, mußte sie sich entschließen, mit ihm zu gehen.

Als sie auf den Markt kamen, sahen sie, daß der Platz in ein Theater umgewandelt worden war; eine Reihe Stühle stand hinter der andern. Jedes Winkelchen war von Menschen besetzt, so daß sie und ihr Vater nur noch mit großer Mühe einen Platz fanden.

»Heute abend ist Diamante herrlich, Micaela«, sagte Cavaliere Palmeri. Die Schönheit der Nacht schien ihn milde gestimmt zu haben. Er sprach so zutraulich und freundlich zu seiner Tochter wie seit langem nicht mehr.

Und Donna Micaela fühlte, daß es ihr aus der Seele gesprochen war. Sie hatte jetzt eine ähnliche Empfindung wie damals, als sie zum erstenmal nach Diamante kam. Es war die Stadt der Wunder, die Stadt der Schönheit, ein kleines Heiligtum Gottes.

Ihr gerade gegenüber stand ein hohes, mächtiges Gebäude, das aus selbstleuchtenden Diamanten gebaut war. Sie mußte eine Weile nachdenken, ehe sie begriff, was das war.

Es war aber nichts anderes als die Fassade der Domkirche, die mit Blumen aus steifem Silber- und Goldpapier geschmückt war und mit tausend kleinen Spiegeln, die man zwischen die Blumen gesteckt hatte. In jeder Blume hing ein kleines Ölglas, worin ein Flämmchen brannte, so groß wie ein Leuchtkäfer. Das machte sich wunderschön. Es war die schönste Dekoration, die Donna Micaela je gesehen hatte.

Es war keine andere Beleuchtung auf dem Markt, aber man brauchte auch sonst keine. Diese große Diamantenwand leuchtete hell genug. Der schwarze Palazzo Geraci stand da wie in feurige Glut getaucht, wie von einer Feuersbrunst erhellt.

Es war nichts zu sehen als der Marktplatz. Alles außerhalb lag in tiefem Dunkel, und dies bewirkte, daß Donna Micaela jenes alte verzauberte Diamante, das nicht auf der Erde lag, sondern eine heilige Burg auf einem Himmelsberg war, wiederzuerkennen meinte. Das Rathaus mit den schwerfälligen Balkonen und der hohen Staffel, das lange Nonnenkloster und das römische Tor kamen ihr wieder herrlich und wunderbar vor. Sie konnte kaum glauben, daß sie in dieser Stadt ein so schweres Leid hatte treffen können.

Inmitten der großen Menschenmasse fühlte man keine Kälte. Die Winternacht war lau wie eine Lenznacht, und auch Donna Micaela überkam es wie Frühlingsahnung. Ein Zittern und Beben lief durch ihren Körper, das ihr süß und schrecklich zugleich schien. So mußte es den Schneemassen des Ätna zumute sein, wenn die Sonne sie zu glitzernden Bergbächen auftaut.

Sie sah die Menschen an, die den Markt füllten, und jetzt wunderte sie sich darüber, daß sie ihr am Vormittag so zuwider gewesen waren. Jetzt freute es sie sogar, daß sie Gaetano liebten. Ach, wenn er doch auch sie noch geliebt hätte, dann wäre sie unsäglich stolz und glücklich über die Liebe all dieser Menschen hier gewesen!

Dann hätte sie diese alten schwieligen Hände, die Bilder von ihm geformt und sich im Gebet für ihn gefaltet hatten, küssen können.

Während sie an all das dachte, öffnete sich das Portal der Kirche, und ein großer flacher Wagen wurde herausgerollt. Hoch oben auf dem rotausgeschlagenen Wagen stand San Sebastiano an seinem Marterpfahl, und unter der Bildsäule saßen die vier Sänger, die ihn um die Wette besingen sollten. Der eine war ein kleiner blinder Mann aus Nicolisi, der andere ein Böttcher aus Catania, der als der beste Improvisator auf ganz Sizilien galt, dann ein Schmied aus Termini und schließlich der kleine Gandolfo, der Sohn des Rathauswächters in Diamante.

Alle Leute wunderten sich, daß Gandolfo bei einem so aussichtslosen Wettkampf aufzutreten wagte. Tat er es vielleicht seiner Braut, der kleinen Rosalia zuliebe? Er hatte sein Leben lang nichts getan, als Mandarinen gegessen und den Ätna betrachtet.

Durch das Los wurde entschieden, wer zuerst singen durfte. Und die Lose fielen so, daß der Böttcher der erste, und Gandolfo der letzte wurde. Als die Ziehung so ausfiel, erblaßte Gandolfo. Es war ihm schrecklich, daß er der letzte war, denn alle vier mußten ja dasselbe Thema behandeln.

Der Böttcher besang San Sebastiano als Prätorianer in Rom, der um seines Glaubens willen an den Marterpfahl gebunden und von seinen Gefährten als Zielscheibe benützt wurde.

Nach dem Böttcher kam der Blinde an die Reihe. Er berichtete, wie eine fromme Römerin den Märtyrer fand, blutig und von Pfeilen durchbohrt, und wie es ihr glückte, ihn wieder ins Leben zurückzurufen.

Dann kam der Schmied daran. Er erzählte von den Wundern, die San Sebastiano im fünfzehnten Jahrhundert während der Pest auf Sizilien vollbracht hatte.

Alle drei wurden sehr gelobt. Sie ergingen sich in starken Ausdrücken von Blut und Tod, und das Volk jubelte ihnen zu. Aber die Leute aus Diamante begannen, um den kleinen Gandolfo zu bangen.

»Der Schmied nimmt ihm alle Worte vorweg. Es muß ihm mißlingen«, sagten sie.

»Ach«, sagten andere, »die kleine Rosalia nimmt deshalb doch das Verlobungsband nicht aus dem Zopf heraus.«

Aber Gandolfo kroch in seiner Wagenecke zusammen. Er wurde kleiner und immer kleiner. Die in seiner Nähe Sitzenden hörten, wie seine Zähne vor Angst klapperten.

Als er endlich an die Reihe kam und aufstand, um zu improvisieren, ging es recht schlecht, noch schlechter, als man erwartet hatte. Er stotterte ein paar Verse her, aber es war nur eine Wiederholung dessen, was die anderen schon gesagt hatten.

Dann verstummte er plötzlich und rang nach Luft. In diesem Augenblick überkam ihn die Kraft der Verzweiflung. Er richtete sich auf, und eine leichte Röte zeigte sich auf seinen Wangen.

»O Signori«, sagte der kleine Gandolfo, »laßt mich von dem reden, woran ich immer denken muß! Laßt mich von dem reden, was immer vor meinen Augen steht!«

Ohne Zögern und mit gewaltiger Kraft begann er nun zu berichten, was er selbst gesehen hatte.

Er erzählte, wie er, der Sohn des Rathauswächters, sich über dunkle Speicher geschlichen und auf einer der Tribünen des Gerichtssaals versteckt hätte, in jener Nacht, wo das Kriegsgericht stattfand, das über die Aufrührer in Diamante zu richten hatte.

Da hätte er Don Gaetano Alagona auf der Anklagebank sitzen sehen, in Gesellschaft einer Menge wilder Männer, die schlimmer aussahen als Tiere.

Er erzählte, wie schön Gaetano gewesen sei. Dem kleinen Gandolfo war er wie ein Gott erschienen neben den schrecklichen Menschen, die ihn umgaben. Und er beschrieb diese Banditen mit ihren wilden Raubtiergesichtern, ihrem struppigen Haar, ihren plumpen Gliedern. Er sagte, sie seien so gewesen, daß einem das Herz im Leibe bebte, wenn man sie nur angesehen habe.

Und doch, in all seiner Schönheit war Gaetano furchtbarer als alle diese Menschen. Gandolfo wußte nicht, woher sie den Mut nahmen, neben ihm auf der Bank zu sitzen. Unter seinen gerunzelten Augenbrauen hervor flammten Blitze auf seine Mitgefangenen, die ihre Seelen getötet hätten, wenn sie wie andere Menschen eine Seele gehabt hätten.

›Wer seid ihr‹, schien er zu fragen, ›die ihr es wagt, auf Plünderung und Mord auszuziehen, während ihr die heilige Freiheit anruft? Wißt ihr, was ihr getan habt? Wißt ihr, daß ich um eures Anschlags willen gefangen sitze? Und ich, ich hätte Sizilien gerettet!‹ Und jeder Blick, den er auf sie warf, war ein Todesurteil.

Sein Blick fiel auf die Sachen, die die Banditen geraubt hatten und die auf dem Gerichtstisch lagen. Er erkannte sie wieder. Hätte er die Uhren und silbernen Gefäße aus dem Sommerpalast nicht erkennen sollen? Hätte er die Heiligenbilder und die Münzen nicht erkennen sollen, die sie seiner englischen Gönnerin geraubt hatten? Aber als er diese Sachen erkannte, schickte er seinen Mitgefangenen ein furchtbares Lächeln zu. ›O ihr Helden, ihr Helden!‹ sagte dieses Lächeln. ›Ihr habt zwei Frauen bestohlen!‹

Sein edles Gesicht wechselte ständig den Ausdruck. Gandolfo sah, daß es sich einmal wie in plötzlichem Schrecken verzerrte. Das war, als der Mann, der neben ihm saß, eine ganz blutige Hand ausstreckte. Hatte er vielleicht da eine Ahnung von der ganzen Wahrheit bekommen? Dachte er daran, daß Menschen in das Haus eingebrochen waren, worin sie, die er liebte, gewohnt hatte?

Gandolfo erzählte, wie die zu Richtern ernannten Offiziere still und ernst hereinkamen und sich auf ihre Plätze niederließen. Aber als er diese hohen Herren gesehen habe, fuhr er fort, sei er ruhiger geworden. Er habe sich gesagt, sie müßten wissen, daß Gaetano ein vornehmer Herr sei und daß sie ihn also nicht verurteilen könnten. Welcher von diesen würde glauben, daß er zwei Frauen ausgeplündert hätte?

Und siehe da, als der Richter Gaetano Alagona aufrief, hatte seine Stimme durchaus keinen harten Klang. Er sprach mit ihm wie mit seinesgleichen!

»Aber«, fuhr Gandolfo fort, »als Gaetano nun aufstand, konnte er gerade auf den Markt hinaussehen. Und über diesen Platz hin, wo jetzt so viele Menschen in Lust und Freude sitzen, bewegte sich ein Leichenzug.

Es waren die weißen Brüder, die Giannitas Leiche ins Haus ihrer Mutter trugen. Sie hielten Fackeln in den Händen, und man sah deutlich die Bahre, die auf den Schultern der Träger ruhte. Während der Zug so langsam über den Markt schritt, konnte man das Bahrtuch erkennen, das über die Leiche gebreitet war. Es war das Bahrtuch der Alagonas, das mit dem prächtigen Namenszug und mit reichen silbernen Fransen geschmückt ist. Als Gaetano das sah, wußte er, daß die Ermordete dem Hause Alagona angehörte. Sein Gesicht wurde aschgrau, und er schwankte, als wolle er umsinken.

In diesem Augenblick rief ihm der Richter zu: ›Kennt Ihr die Ermordete?‹ Und er antwortete: ›Ja.‹ Da fuhr der Richter, der ein barmherziger Mann war, fort: ›Stand sie Euch nahe?‹ Und Gaetano antwortete. ›Ich liebe sie.‹«

Als Gandolfo in seiner Rede so weit gekommen war, sah man, daß Donna Micaela sich heftig erhob, wie um ihm zu widersprechen; aber Cavaliere Palmeri zog sie rasch neben sich nieder.

»Still, still!« sagte er zu ihr. Und sie saß ganz still, das Gesicht in den Händen verborgen. Hin und wieder wiegte sie den Oberkörper hin und her und wimmerte leise.

Gandolfo erzählte, wie der Richter, nachdem Gaetano diese Erklärung gegeben hatte, auf dessen Mitgefangene deutete und ihn fragte: ›Wenn Ihr dieses Weib liebtet, wie konntet Ihr da Gemeinschaft machen mit diesen?‹

Da habe Gaetano sich nach den Banditen umgewandt. Er habe die geballte Faust gegen sie erhoben und ihnen damit gedroht. Er habe ausgesehen, als wünsche er sich einen Dolch, um einen nach dem anderen niederzustoßen.

›Mit diesen!‹ habe er ausgerufen. ›Mit diesen soll ich etwas gemein haben?‹

»Und ganz gewiß hat er damit sagen wollen, daß er mit Räubern und Mördern nichts zu schaffen habe. Der Richter lächelte ihm auch freundlich zu und sah aus, als habe er nur auf diese Antwort gewartet, um ihn freizusprechen.

Aber da geschah ein Gotteswunder.«

Und Gandolfo erzählte weiter, daß unter den gestohlenen Sachen, die auf dem Gerichtstisch lagen, auch ein kleines Christusbild gewesen sei. »Es war ungefähr eine Elle hoch, reich mit Zieraten behängt und mit goldener Krone und goldenen Schuhen geschmückt. Gerade in diesem Augenblick neigte sich einer der Offiziere vor, um das Bild zu sich heranzuziehen, und als er das tat, fiel die Krone herab auf den Boden und rollte bis zu Gaetano hin.

Don Gaetano hob die Krone auf, hielt sie einen Augenblick in den Händen und betrachtete sie genau. Er schien etwas darauf zu lesen.

Nur einen Augenblick hielt er sie in den Händen. Der Wachtsoldat nahm sie ihm sogleich weg.«

Donna Micaela sah fast entsetzt auf. Das Christusbild! Da war es wieder! Sollte ihre Bitte so schnell erhört worden sein?

Gandolfo fuhr fort: »Aber als Gaetano jetzt wieder aufblickte, erzitterten alle wie vor einem Wunder, denn er war ganz verwandelt.

O Signori, sein Gesicht war so weiß, daß es zu leuchten schien, und seine Augen strahlten in ruhigem, freundlichem Glanz. Kein Zorn war mehr darin zu entdecken.

Und er begann, für seine Mitgefangenen zu bitten. Er begann, um ihr Leben zu flehen.

Er bat, die armen Menschen doch nicht zu töten. Er sagte, die hohen Richter sollten lieber etwas für sie tun, damit sie auch einmal leben könnten wie andere Menschen. ›Wir haben ja nur dieses Leben‹, sagte er. ›Unser Reich ist nur von dieser Welt.‹

Nun begann er zu erzählen, wie diese Menschen gelebt hätten. Er redete, als könne er in ihren Seelen lesen. Er schilderte ihre Lebensgeschichte so düster und traurig, wie sie in Wirklichkeit gewesen war. Er sprach so, daß einige der vornehmen Herren weinten.

Die Worte klangen so stark und gewaltig, daß es war, als sei Gaetano der Richter und der Richter der Verbrecher. ›Seht!‹ sagte er zu ihnen, ›wessen Schuld ist es, daß diese armen Menschen zugrunde gehen? Ihr habt die Macht, Ihr, Ihr hättet Euch ihrer annehmen müssen.‹

Und man sah, daß sich alle über die Verantwortung, die er ihnen aufbürdete, entsetzten.

Aber plötzlich unterbrach ihn der Richter.

›Verteidigt Euch selbst, Gaetano Alagona‹, sagte er, ›und nicht die andern.‹

Da lächelte Don Gaetano. ›Signor‹, sagte er, ›ich weiß ebensowenig wie Ihr, weswegen ich mich verteidigen soll. Aber etwas habe ich allerdings getan. Ich habe meinen Beruf in England verlassen, um in Sizilien einen Aufruhr zu erregen. Ich habe Waffen eingeführt. Ich habe aufrührerische Reden gehalten. Etwas habe ich verbrochen, wenn auch nicht viel. Der Richter flehte ihn fast an. ›Sprecht nicht so, Gaetano‹, sagte er. ›Bedenkt Eure Worte.‹

Aber Gaetano hatte schon Bekenntnisse gemacht, die die Richter zwangen, ihn zu verurteilen.

Als sie ihm sagten, daß er zu neunundzwanzigjähriger Kerkerhaft verurteilt sei, rief Gaetano: ›Nun geschieht, was sie wollte, sie, die soeben vorübergetragen wurde. Ihr Wille geschehe!‹

Dann sah ich nichts mehr von ihm«, sagte der kleine Gandolfo, »denn die Wachtsoldaten nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn fort.

Aber ich, der ihn für die bitten gehört hatte, die seine Geliebte ermordet hatten, gelobte mir, etwas für ihn zu tun.

Ich gelobte mir, San Sebastiano eine schöne Improvisation zuzueignen, damit er ihm helfe. Aber es ist mir nicht gelungen. Ich bin kein Improvisator, ich konnte es nicht.«

Hier brach er ab und warf sich laut weinend vor dem Heiligenbild nieder.

»Verzeih mir, daß ich es nicht konnte!« rief er, »und hilf ihm trotzdem! Du weißt, daß ich es um seinetwillen gelobte, weil sie ihn verurteilten, damit du ihn retten sollst. Aber nun habe ich nicht von dir sprechen können, und du wirst ihm auch nicht helfen.«

Donna Micaela wußte kaum, wie es zuging, aber sie und die kleine Rosalia, die Gandolfo liebte, waren fast gleichzeitig bei ihm. Sie zogen ihn an sich, und alle beide küßten ihn und sagten, er habe geredet wie keiner der anderen. Ob er nicht gesehen habe, daß sie geweint hätten? San Sebastiano sei sehr zufrieden mit ihm. Donna Micaela steckte einen Ring an den Finger des jungen Mannes, und ringsum winkte man mit vielfarbigen Taschentüchern, die in dem hellen Licht von der Domfassade her wie Meereswogen glitzerten.

»Eviva Gaetano! Eviva Gandolfo!« rief das Volk.

Und es regnete Blumen und Früchte und seidene Tücher und Schmucksachen auf den kleinen Gandolfo herab. Donna Micaela wurde fast mit Gewalt von ihm weggedrängt. Aber sie dachte an keine Furcht mehr. Sie stand mitten in der wogenden Menschenmenge und weinte. Die Tränen strömten ihr die Wangen herab, und sie weinte aus lauter Freude, daß sie weinen konnte. Das war ja die höchste Wohltat.

Sie wollte sich wieder zu Gandolfo vordrängen; sie konnte ihm nicht genug danken. Er hatte ihr ja gesagt, daß Gaetano sie liebte. Als er die Worte anführte: »Nun geschieht, was sie wollte, sie, die soeben vorbeigetragen wurde«, war es ihr plötzlich klargeworden, daß Gaetano geglaubt hatte, sie liege unter dem Bahrtuch der Alagonas.

Und von dieser Toten hatte er gesagt: »Ich liebe sie.«

Das Blut strömte wieder durch ihre Adern, ihr Herz schlug wieder, ihre Tränen flossen.

»Das ist das Leben, das Leben«, sagte sie sich, während sie sich willenlos von der Volksmasse hin und her schieben ließ. »Ich lebe wieder; ich werde nicht sterben.«

Alles drängte sich um den kleinen Gandolfo, alle wollten danken, daß er ihnen in diesen Tagen der Niedergeschlagenheit, wo alles verloren schien, etwas geschenkt hatte, was sie lieben, worauf sie hoffen und wonach sie sich sehnen konnten.


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