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Die Heimfahrt

Charlotte fährt in tiefem Kummer dahin. Die ganze Zeit über weint und schluchzt sie. Das Taschentuch, womit sie sich die Tränen abwischt, ist allmählich naß geworden, und da es jetzt bei Nacht kalt ist, wird es ganz steif. Um es wieder aufzutauen, steckt sie es rasch unter die Pelzdecke.

Aber was sie auch tut, ob sie sich die Tränen abwischt, ob sie das Taschentuch wegsteckt, so geschieht es ganz mechanisch und unbewußt. Ach, sie wartet ja nur immerfort auf die Antwort des Gebets, das sie einmal ums andere wiederholt.

Jetzt hat sie nicht mehr Baron Adrian neben sich, wie bei der Abfahrt von Hedeby. Außer ihrem Kutscher ist niemand in ihrer Nähe, der ihr zu Trost und Hilfe sein könnte. Lundman und Charlotte sind allerdings recht gute Freunde, und er hält es überdies für seine Pflicht, sich ab und zu auf dem Bock umzudrehen, um ihr ein Wort der Teilnahme zu sagen.

»Ja, gnädige Frau, das ist das Schlimmste, das ich jemals mitgemacht habe.«

Es ist sehr glaublich, daß es sich so verhält, aber Charlotte nimmt sich nicht Zeit, etwas darauf zu erwidern. Sie wiederholt nur immerfort ihr Gebet und lauscht auf Antwort.

Der Schlitten gleitet sehr still dahin. Lundman hat die Glöckchenkränze von den Pferden abgenommen und unter den Sitz gelegt. Bei jeder Unebenheit des Weges geben sie einen klingenden Laut von sich, aber er tönt dumpf und unheimlich und paßt zu der ganzen Fahrt. Sie spielen keine so lustigen Melodien mehr, wie da, als sie frei um den Hals der Pferde hingen.

Die Pferde scheinen zu wissen, daß sie auf dem Heimweg sind und wollen die Schnelligkeit erhöhen; aber Lundman findet das nicht passend und hält sie zurück. Obgleich es niemand sieht, fährt er doch fast im Tempo eines Leichenbegängnisses.

»Er war ein prächtiger Herr, dieser Baron Adrian«, beginnt Lundmann wieder, »und er hat einen schönen Tod bekommen.«

Aber auch diese Bemerkung findet keinen Widerhall bei Charlotte. Sie denkt an etwas ganz anderes; sie betet, betet ohne Unterlaß und lauscht auf Antwort.

Lundman und Charlotte befinden sich nicht allein im Schlitten. Wenn Charlotte den Kopf auf die Seite dreht, kann sie neben sich auf dem Sitz ein großes Bündel unterscheiden, in dem sich ein Mensch zu befinden scheint. Aber es ist sicher keiner von den Ertrunkenen, weder Baron Adrian noch das Kind, ja, und auch durchaus kein Toter. Es ertönt zwar kein Wort von dieser Seite, und auch keine Bewegung ist wahrzunehmen; aber der Schlitten fährt so lautlos dahin, und alles ringsum ist so still, daß Charlotte ein schwaches Röcheln hören kann, das bisweilen das Atemholen begleitet.

Sie versucht, ihre Gedanken auf Baron Adrian und das kleine Mädchen zu richten. Es wäre eine Erleichterung für sie gewesen. Die beiden sind tot und dahingegangen; aber kein Grauen ist mit der Erinnerung an sie verbunden, nur Trauer. Charlotte jedoch muß mit ihren Gebeten weitermachen, muß bis zu Gottes Thron hindurchdringen. Sie muß beten, daß all dem Furchtbaren, das an diesem Abend geschehen ist, doch ein Segen nachfolgen möge.

Als sie und Lundman den Rand der Wake erreicht und vergebens nach der geringsten Spur von den Ertrunkenen gespäht hatten, hörten sie Karl Artur rufen, er werde an Land eilen und Leute zur Hilfe herbeiholen. Das hatte er auch getan, und Thea war mitgegangen. Ein kleiner Eisenhammer, der von demselben Fluß getrieben wurde, der das Unglück verursacht hatte, befand sich in der Nähe, und von da kamen mehrere Männer eiligst dahergelaufen. Sie hatten Stangen mitgebracht und mit diesen weit unter die Eisdecke hinuntergestochen; aber alles war von Anfang an hoffnungslos gewesen. Die starke Strömung hatte die Ertrunkenen mit fortgerissen. Um sie zu finden, hätte man den ganzen See aufbrechen müssen.

Von Thea Sundler hatte Charlotte nichts mehr gesehen; aber Karl Artur war zurückgekommen und einer der eifrigsten bei den Rettungsversuchen gewesen, ja, mehrere Male hatte er sich wirklicher Lebensgefahr ausgesetzt. Während der ganzen Zeit vermied er es, in Charlottes Nähe zu kommen. Erst als alles zu Ende war und sich die vielen eifrigen Helfer, niedergeschlagen und entmutigt, wieder dem Lande zukehrten, war er auf sie zugetreten.

Langsam und zögernd, und nach seiner Gewohnheit mit gesenkten Lidern, war er herangekommen. Als er dicht vor ihr stand, hatte er die Augen so weit aufgeschlagen, daß er ihre Kleidung und ihren Pelz, nicht aber ihr Gesicht sehen konnte. So vor ihr stehend, äußerte er ein paar Worte, die vielleicht ein Trost oder eine Entschuldigung sein sollten.

»Ja, Göran wollte sein Kind wiederhaben. Und dann wollte er vielleicht seinem reichen Bruder für das schöne Leichenbegängnis danken.«

»Karl Artur!«

Da hatte er aufgeschaut, und die größte Bestürzung hatte sich in seinem Gesicht widergespiegelt. Es war ganz deutlich, er hatte nicht erwartet, Charlotte hier zu treffen, sondern geglaubt, die Dame, die Baron Adrian begleitet hatte, sei dessen Frau.

Er hatte kein weiteres Wort gesprochen, war nur stumm stehengeblieben und hatte Charlotte ins Gesicht gestarrt, wie auch sie ihn nur wortlos ansah. All der Schmerz und das Entsetzen, das sie über seine Roheit und Verkommenheit empfand, stand in ihren Zügen geschrieben, und unvermeidlich hatte Karl Artur diese Schrift lesen müssen.

Aber während dieser Augenblicke hatte er sich selbst auf eine Weise verändert, die Charlotte von früher her, wenn er einen seiner Herzanfälle hatte, recht gut kannte. Seine Augen waren irr und starr, die Lippen wie zu einem Schrei geöffnet, und er preßte beide Hände fest auf die Brust. Einen Augenblick stand er vor ihr, dann begann er zu schwanken, und er wäre zu Boden gefallen, wenn Charlotte nicht ihre Arme um ihn geschlungen hätte.

Eine kleine Weile schwankte er hin und her, aber Charlotte rief rasch um Hilfe, ein paar Männer kamen herbeigelaufen und trugen ihn in den Schlitten. Als man ihn da niederlegte, war er besinnungslos.

Alsdann war Charlotte nach dem kleinen Eisenhammer gefahren und mehrere Stunden dort geblieben. Karl Artur brauchte Pflege. Lundman und sie selbst waren von dem Kriechen durch die Schneeschmelze auf dem Eise durchnäßt und mußten nun durchaus ihre Kleider trocknen. Die Pferde mußten ausruhen und Futter bekommen. Aber von allem, was sich in diesen Stunden zugetragen, hatte Charlotte keine Erinnerung. Sie hatte nur immerfort gebetet und Gott angefleht, er möge es ihr gelingen lassen, Karl Artur zu retten und ihn von dem Weibe loszumachen, das ihn ins Verderben stürzte. Man hatte Karl Artur vor der Abfahrt nicht wieder zum Bewußtsein bringen können, aber da man deutlich sah, daß er noch lebte, hatte ihn Charlotte in ihre Pelzdecken gehüllt und in ihrem Schlitten mitgenommen.

Es ist eine finstere, ruhige Nacht, kein Stern glänzt am Himmel. Charlotte seufzt über die große Stille, worein sich der Allmächtige hüllt.

Noch niemals in ihrem Leben hat sie sich so nach Antwort auf ein Gebet gesehnt.

Und plötzlich merkt sie, daß der Bewußtlose einige Bewegungen macht.

»Karl Artur«, flüstert sie, »wie geht es dir?«

Zuerst bekommt sie keine Antwort; aber jetzt, als sie merkt, daß er sich erholt, wird sie plötzlich von Angst erfaßt. Wird er roh und boshaft reden, wie vorhin draußen auf dem Eise? Sie muß sich klarmachen, daß er ein ganz anderer Mensch geworden ist.

Bald hört sie ihn mit sehr schwacher Stimme eine Frage stellen. »Wen hab' ich hier neben mir im Schlitten? Ist es Charlotte?«

»Ja«, antwortet sie. »Ja, Karl Artur, es ist Charlotte.« Seine Stimme ist jetzt die alte, das hört sie. Sie ist recht schwach, aber nicht roh, sondern schön wie früher, und merkwürdigerweise klingt sie gemacht und einschmeichelnd, ja fast ein wenig kindisch.

»Ich konnte mir denken, daß du es bist, Charlotte. Du hast immer etwas so Frisches und Lebendiges. Ich bin gesund geworden, nur weil ich hier neben dir sitze.«

»Du fühlst dich also besser?«

»Ganz gut, Charlotte. Im Augenblick fehlt meinem Herzen gar nichts. Ich habe keine Schmerzen, seit vielen Jahren hab' ich mich nicht so gesund gefühlt.«

»Du bist wohl sehr krank gewesen, Karl Artur?«

»Ja, Charlotte, sehr krank.«

Dann spricht er eine Weile nichts mehr; Charlotte schweigt auch und wartet.

»Weißt du was, Charlotte?« fragt er kurz nachher noch immer mit der kindischen Stimme. »Ich unterhalte mich hier damit, mir meine eigene Leichenrede zu halten.«

»Wie sagst du? Leichenrede?«

»Ja, genauso, Charlotte. Hast du dich noch nie gefragt, was wohl der Pfarrer an deinem Grabe über dich sagen werde, wenn du tot bist?«

»Nein, niemals, Karl Artur. Ich denke nicht ans Sterben.«

»Würdest du nicht den Pfarrer, der an meinem Grabe sprechen soll, bitten, den Zuhörern zu sagen, hier ruhe der reiche Jüngling, der im Gehorsam von Jesu Gebot hinging, alle seine Besitztümer verkaufte und ein armer Mensch wurde.«

»Ja, ja, Karl Artur, aber du mußt ja jetzt nicht sterben.«

»Vielleicht jetzt noch nicht, Charlotte. Ich habe mich selten so gesund gefühlt. Aber du kannst dich ja später daran erinnern. Und noch etwas wünsche ich. Der Pfarrer soll daran erinnern, daß ich einer der Apostel war, die auf Wege und Stege hinausgingen, um den Menschen die Botschaft vom Himmelreich in ihr tägliches Leben, in ihr Spiel und ihre Arbeit hineinzutragen.«

Charlotte erwidert nichts. Sie fragt sich, ob Karl Artur seinen Spott mit ihr treiben wolle.

Er fährt mit derselben gemachten Stimme fort:

»Ich meine auch, es würde sich gut ausnehmen, wenn der Pfarrer sagte, ich hätte, wie der Herr Christus selbst, meine Demut dadurch bewiesen, daß ich mit Zöllnern und Sündern gegessen und getrunken habe.«

»Jetzt aber schweig, Karl Artur! Du und Christus! Das ist Gotteslästerung!«

Es dauert eine Weile, bis Karl Artur etwas erwidert; dann sagt er:

»Dieser Zusatz gefällt mir selbst nicht recht. Aber ich kann mich ja auch zufriedengeben, wenn der Pfarrer nichts von den Zöllnern sagt. Es könnte mißverstanden werden. Das andere kann auch genügen, um zu erklären, warum ich meine Tätigkeit auf die Landstraße unter das fahrende Volk verlegt habe. Und gewißlich hat es mir nicht an Gelegenheit gefehlt, meine Wirksamkeit auch auf andere Orte auszudehnen.«

Charlotte hätte am liebsten vor Entsetzen laut aufgeschrien. Ist das sein Ernst? Oder redet er nur so, um einen überlegenen Eindruck auf sie zu machen? Hat er jede Selbstkritik verloren?

»Charlotte, du erinnerst dich vielleicht an einen Freund von mir, der Missionar geworden ist?«

»An Pontius Friman?«

»Ja, ganz richtig. Er schreibt mir einen Brief um den andern, um mich dazu zu bringen, zu den Heiden hinauszukommen und ihm zu helfen. Ich habe mich auch sehr versucht gefühlt, ihm dahin zu folgen. Ich reise ja so gerne, und Sprachstudien interessieren mich auch. Es ist mir von jeher leichtgefallen, mir Kenntnisse anzueignen. Nun, was sagst du dazu, Charlotte?«

»Ich überlege die ganze Zeit, ob du mich zum besten haben willst, Karl Artur. Sonst würde ich diese Sache für eine ausgezeichnete Idee halten.«

»Wie sollte ich dich zum besten haben wollen? Ich spreche immer im Ernst, das müßtest du doch von früheren Zeiten her wissen. Aber du scheinst mir hier wenig Verständnis zu beweisen. Ich hatte das nicht erwartet nach einer so langen Zeit der Trennung, und ich fürchte, dieses Zusammentreffen endigt mit einer Enttäuschung.«

»Das wäre sehr traurig, Karl Artur«, erwidert Charlotte, die ganz verwirrt, ja, durch die unbeschreibliche Überhebung und Selbstgefälligkeit des armen Vagabunden neben ihr vollständig aus der Fassung gebracht ist.

»Du bist sehr reich, Charlotte, das weiß ich, und ein reicher Mensch wird leicht oberflächlich und urteilt nach dem äußern Schein. So verstehst du nicht, daß meine Armut ganz und gar freiwillig ist. Ich habe ja eine Gattin …«

Als er seine Frau nennt, macht Charlotte einen Versuch, einzugreifen und von etwas zu sprechen, das sein Interesse wecken könnte.

»Hör mich jetzt einen Augenblick an, Karl Artur! Hast du gehört, daß deine Mutter in allen diesen Jahren nichts anderes wünschte, als deine Briefe aus deiner Studentenzeit vorgelesen zu bekommen oder sie selbst zu lesen? Jaquette hat sie ihr tagaus, tagein vorgelesen. Aber eines schönen Tages muß Jaquette der Sache überdrüssig geworden sein, und weißt du, was sie tat? Nun, sie fuhr nach Korskyrka zu Anna Svärd und zu deinem kleinen Sohne. Sie nahm die beiden mit nach Karlstadt und zeigte das Kind ihrer Mutter.«

»Unendlich schön und rührend, Charlotte.«

»Von da an brauchte Jaquette keine Briefe mehr vorzulesen. Deine Mutter wollte das Kind immer in ihrer Nähe haben. Sie spielte mit ihm und dachte an nichts anderes mehr. Man konnte sie nicht von dem Kinde trennen, und deine Frau mußte nach Karlstadt ziehen. Sie scheint bei allen dort in großer Gunst zu stehen, ganz besonders bei deinem Vater. Jetzt, nach dem Tode deiner Mutter, ist deine Frau wieder nach Korskyrka gezogen. Sie und ihre vielen Pflegekinder verwandeln das kleine Haus in einen richtigen Bauernhof. Aber dein eigener kleiner Junge scheint meistens bei Jaquette zu sein, die jetzt auf Älvsnäs wohnt. Er ist ein entzückendes Kind. Hättest du nicht Lust, deinen Sohn zu sehen, Karl Artur?«

»Oh, ich weiß recht wohl, daß meine Frau sich vor Sehnsucht nach mir fast verzehrt und die andern ebenfalls. Aber es nützt nichts, wenn du für sie sprichst, Charlotte. Ich liebe die Freiheit, liebe das Leben auf der Landstraße, liebe die kleinen Abenteuer.«

Er hat für nichts Gutes mehr ein Gefühl übrig, denkt Charlotte. Er entgleitet mir unter den Händen; ich kann ihn nirgends fassen.

Aber sie machte jedenfalls nochmals einen Versuch.

»Du scheinst recht vergnügt zu sein, Karl Artur?«

»Sollte ich nicht vergnügt sein, da ich dich wiedergefunden habe, Charlotte?«

»Bereust du denn gar nicht, daß du das kleine Mädchen gestohlen hast? Zwei Menschenleben sind dadurch zugrunde gegangen.«

»Zwei Menschenleben, zwei Menschen«, erwidert Karl Artur. »Du machst wunderbare Einwürfe, Charlotte. Was kümmere ich mich darum, ob zwei Menschen sterben? Ich hasse alle Menschen. Es ist mein größtes Vergnügen, sie um mich zu versammeln, sie auszuschelten und ihnen zu sagen, was für ein elendes Gewürm sie sind.«

»Still, Karl Artur! Du bist entsetzlich.«

»Entsetzlich? Ich? Aber es ist natürlich, daß du so sagst, Charlotte. Es ist die Rache der Verschmähten. Es sind die sauren Trauben. Jedenfalls mußtest du doch zugeben, daß der, der eine solche Hingebung erwecken konnte wie ich … Weißt du, Charlotte, ich begreife nicht, daß sie sich in Geduld faßt. Ich erwarte, daß sie kommt und mich aus deinen Armen reißt, Charlotte.«

»Aber so schweig doch, Karl Artur!«

»Warum denn, es ist mir eine Freude, mich mit dir zu unterhalten, Charlotte.«

»Du störst mich. Ich bete zu Gott. Ich habe zu ihm gebetet, seit ich diesen Nachmittag mit dir zusammengetroffen bin.«

»Eine höchst lobenswerte Beschäftigung. Aber um was bittest du denn, Charlotte?«

»Daß ich dich von diesem Weibe erretten möge.«

»Von ihr? Das ist vergeblich, Charlotte. Nichts auf der Welt kann ihre Hingebung erschüttern.«

Zugleich neigte sich Karl Artur zu Charlotte hin und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe selbst alles nur Erdenkliche versucht. Aber es gibt keine Rettung. Nichts als den Tod. Nemo nisi mors.«

»Dann bete ich um den Tod für dich, Karl Artur.«

»Du bist von jeher so unbehaglich aufrichtig gewesen, Charlotte. Es ist nicht angenehm, zu wissen, daß du Gott um meinen Tod anflehst; aber ich will dich natürlich nicht stören.«

Sie fahren eine gute Weile ebenso schweigsam dahin wie vorher, ehe Karl Artur das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Charlotte sucht ihre Gedanken zu ordnen, zu überlegen, was sie mit dem Manne, der in einem solchen Grade irrsinnig ist, anfangen soll.

Doch nun wendet sich Lundman noch einmal auf dem Kutschbock um und sagt: »Hören Sie, gnädige Frau, daß einige Leute hinter uns her sind? Sie fahren, so schnell sie können, peitschen wie wild auf die Pferde los und rufen einander zu: ›Da haben wir sie!‹ Wollen Sie, daß wir ihnen entrinnen?«

»Nein, Lundman, gewiß nicht. Im Gegenteil, wir wollen anhalten. Sie sind willkommen.«

Nach ein paar Augenblicken sind sie eingeholt. Im Dunkel der Nacht kann Charlotte zwei kleine Zigeuner unterschieden, die neben ihrem Schlitten auftauchen. Dunkle Gestalten springen heraus auf den Weg. Zwei laufen vor und ergreifen Charlottes Pferde am Gebiß.

Zwei andere, ein Mann und eine Frau, treten zu ihr an den Schlitten.

»Ist es Charlotte, ich meine: ist es die Frau Kommerzienrätin Schagerström?« sagt eine lispelnde Stimme. »Ich möchte nur fragen, ob Sie mir Auskunft über Karl Artur geben können? Als Karl Artur aufs Eis hinauslief, hatten wir ausgemacht, bei einem der Schmiede wieder zusammenzutreffen, und ich habe jetzt dort mehrere Stunden auf ihn gewartet. Schließlich hab' ich mich auf dem Kontor des Eisenhammers nach ihm erkundigt und da gehört, daß er krank geworden sei und daß Sie, Frau Kommerzienrätin, ihn in ihrem Schlitten mitgenommen hätten. Das ist ja überaus gut und freundlich von Ihnen. Ja, wie heißt es doch: Alte Liebe rostet nicht.«

»Du kommst mit großem Gefolge, Thea«, bemerkt Charlotte ganz ruhig.

»Es war ein rechtes Glück für mich, daß zwei von unsern besten Freunden grad heut' abend des Weges dahergefahren kamen. Sie versprachen mir sofort, Karl Artur wieder herbeizuschaffen. Ach, Frau Kommerzienrätin, Sie können sich gar nicht denken, wieviel Gutes Karl Artur unter den Leuten der Landstraße gewirkt hat und wie beliebt er da ist! Sie wollen ihn um jeden Preis wiederhaben.«

»Soviel ich verstehe, willst du ihn also mit Gewalt ergreifen, wenn ich ihn nicht gutwillig herausgebe.«

»Nicht mit Gewalt, Frau Kommerzienrätin, das ist durchaus nicht meine Absicht. Aber wir wollen sicher sein, daß Karl Artur seinen freien Willen hat und, wenn er es wünscht, zu uns zurückkehren darf.«

»Über das, was er wünscht, herrscht durchaus kein Zweifel, Thea. Er hat in dieser letzten Stunde eine höfliche Unterhaltung mit mir aufrechterhalten, aber er ist sehr ermattet und schrecklich froh, daß du gekommen bist. Ich halte ihn gewiß nicht zurück. Sag deinen Freunden, der gezückten Messer, die da um mich her blinken, bedürfe es durchaus nicht. Hier, nimm ihn!«

Thea Sundler, die wohl auf heftigen Widerstand gefaßt war, ist so bestürzt, daß sie nichts erwidert.

»Hier nimm ihn!« wiederholt Charlotte mit lauter Stimme. »Nimm ihn und mach ein Ende mit ihm! Ich glaubte, ich würde ihm helfen können, aber ich kann es nicht. Er ist ganz von Sinnen. Zwei Menschenleben hat er auf dem Gewissen, und er weiß kaum etwas davon. Fort mit ihm! Fort in Lüge, Verbrechen und Elend! Hinein in die Schlammgrube mit ihm! Er freut sich über das, was er heute getan hat. Es flößt ihm kaum Schrecken ein. Er will sein Leben nicht ändern, will weitermachen wie vorher. Fort mit ihm!«

Sie neigt sich auf Karl Arturs Seite hinüber, reißt den Fußsack auf und schlägt das Fell zurück, damit er den Schlitten verlassen kann.

»Fort mit dir! Kehr zurück zu der, die dich zu dem gemacht hat, was du jetzt bist! Ich bin fertig mit dir!«

Ohne ein Wort zu sprechen, tritt Thea Sundler auf Karl Arturs Seite hinüber, und er richtet sich auf. Aber als sie die Hand ausstreckt, um ihm beim Aussteigen zu helfen, stößt er diese zurück.

Er wendet sich Charlotte zu und sinkt vor ihr nieder.

»Hilf mir, rette mich!« ruft er mit einer Stimme, die jetzt auf einmal aufrichtig und wahr klingt.

»Es ist zu spät, Karl Artur.«

Da umfaßt er Charlottes Knie und klammert sich fest an sie.

»Charlotte, rette mich vor ihr!« stößt er hervor. »Niemand als du kann mir noch helfen!«

Charlotte beugt sich über ihn und versucht ihm in die Augen zu sehen. »Du weißt, was es dich kosten wird«, sagt sie ganz leise, aber tiefernst.

»Ja, ich weiß es, Charlotte«, antwortet er ebenso ernst, und er weicht ihrem Blick nicht aus, sondern schaut sie fest an.

»Lundman!« ruft Charlotte mit plötzlicher Freude in der Stimme. »Knall mit der Peitsche und fahr zu!«

Der Kutscher Lundman richtet sich auf seinem Bock auf, bärtig und gewaltig, wie ein Herrschaftskutscher sein soll, und schwingt seine lange Peitsche nach vorne, nach hinten und nach den Seiten hinaus. Die dunklen Gestalten stieben fluchend auseinander, die Pferde steigen und jagen davon. Die Männer, die sie festhalten wollen, werden ein Stück mitgeschleift; aber Peitschenhieb auf Peitschenhieb trifft sie, und da lassen sie los. In wildem Galopp fahren Charlotte und ihr Begleiter in der Richtung nach Hedeby davon.


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