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Die Begegnung

1

Endlich war der Tag gekommen, wo sie wieder zusammentreffen und miteinander reden sollten, jene beiden, die sich vor drei Jahren in der alten Propstei zu Korskyrka geliebt hatten; sie, die jetzt eine vornehme Dame war, eine liebreizende und zugleich lebenstüchtige Persönlichkeit, die überall, wohin sie kam, Glück um sich verbreitete, und er, der arme Pfarrer, der immer auf ungebahnten Wegen vorwärtskommen wollte und vom Schicksal dazu ausersehen zu sein schien, allen denen, die er liebte, Unglück zu bringen. Und wo sollten sie zusammentreffen, wenn nicht in demselben Propsteigarten, der Zeuge ihrer Liebe, zugleich aber auch des traurigen Streites, der sie getrennt hatte, gewesen war? Allerdings stand der Garten noch nicht in seiner Sommerpracht; er hatte im Gegenteil eine überaus schattige Lage, weshalb dort der Frühling mindestens einen Monat später eintraf als sonstwo; die Hecken waren noch nicht belaubt, das braune Herbstlaub war noch nicht von den Wegen weggeharkt, ja, da und dort lag noch ein Häuflein schmutziggrauen Schnees wie ein kleines Schutzdeckchen auf einer Rasenbank. Aber hierher wurden eben die beiden durch die Macht des hier Erlebten und nie Vergessenen gelockt. Charlotte war mit der alten Frau Forsius an demselben Tage in der Propstei eingetroffen, wo im Kirchspiel der Jahrmarkt stattfand und Karl Artur in amtlicher Angelegenheit seine Fahrt über Land machte. Charlotte hätte ihre geliebte Pflegemutter auch den Sommer über gern auf Groß-Sjötorp festgehalten; aber es wäre doch zu grausam gewesen, die geschäftige, tatkräftige Dame von der Rückkehr in die Propstei abzuhalten, jetzt, wo die schöne Zeit für alle Frühjahrsarbeiten herannahte. Die Pröpstin sprach von ihrem innigen Wunsche, noch einmal in das Zimmer des seligen Propstes gehen und sich dort auf das Sofa setzen zu können, um die Stöße der grauen Faszikel ihres Mannes, den Schreibstuhl, das Pfeifenbrett, alles das, was ihr das Bild des lieben Heimgegangenen hervorrief, zu betrachten. Aber Charlotte ließ sich nicht irremachen. Sie wußte, es war nicht das allein, was die gute Frau Forsius in ihr Heim zurückrief. Da noch kein neuer Propst ernannt war, hatte sie sich ausgebeten, auch weiter in der Propstei wohnen zu dürfen, und jetzt galt es für die gute Frau, die Ehre des Hauses aufrechtzuerhalten, dafür zu sorgen, daß die Rabatten des Rondells ebenso wohlgepflegt, der wilde Wein ebenso gut beschnitten, die Kieswege ebenso kunstvoll geharkt und die Rasenflächen ebenso gleichmäßig grün waren wie zu Lebzeiten des geliebten Gatten.

Charlotte wollte ein paar Tage in der Propstei verweilen, damit Frau Forsius sich etwas an die Einsamkeit gewöhne, und sie hatte sich das Vergnügen, in ihrem Mädchenstübchen schlafen zu dürfen, ausgebeten. Es war fast, als wollte sie den Wänden zurufen: »Seht, hier bin ich nun, ich, Charlotte! Ihr erkennt mich natürlich nicht wieder! Seht mein Kleid an, meinen Hut, meine Schuhe, und vor allem betrachtet mein Gesicht! Seht, so sieht ein glücklicher Mensch aus!«

Sie trat vor den Spiegel, der schon in ihrer Jungmädchenzeit da gehangen hatte, und betrachtete ihr Bild genau.

»Alle Welt sagt, ich sei jetzt wenigstens dreimal so schön als früher, und ich glaube, alle Welt hat recht.« Plötzlich erblickte sie hinter ihrem eigenen strahlenden Bild ein blasses Mädchenantlitz, in dem zwei düster brennende Augen leuchteten. Da wurde sie ganz ernst. »Jawohl«, fuhr sie fort, »ich hab' mir doch gedacht, daß wir uns hier treffen würden. Armes Mädchen, wie unglücklich warst du damals! Ja, die Liebe, die Liebe!« Hastig wendete sie sich vom Spiegel weg. Sie war wahrhaftig nicht hierhergekommen, um sich in die Erinnerungen an jene furchtbare Zeit, als ihre Verlobung mit Karl Artur in die Brüche gegangen war, zu vertiefen.

Man kann übrigens keineswegs sicher sein, ob sie das, was ihr damals im Sommer 1835 widerfahren war, als ein Unglück betrachtete. Die reiche Frau Charlotte Schagerström wußte eins sehr gut: das, was ihrem Antlitz seinen ganz besonderen Reiz verlieh, der Zug unbefriedigter Sehnsucht, als ob die herrlichsten Gaben des Lebens ihr versagt geblieben wären, diese poetische Wehmut, die in jedem Manne die Frage aufsteigen ließ, ob nicht am Ende er dazu berufen sei, ihr das erlangte Glück zu schenken, das, ja gerade das hatte sie von der armen, verschmähten Charlotte Löwensköld als Erbe übernommen.

Aber diese Sehnsucht, diese Wehmut, die sich über ihr Gesicht breitete, sobald es in Ruhe war, hatte sie etwas zu bedeuten? War diese strahlende, immer frohe, immer mutige und allzeit genußfreudige Charlotte Schagerström nicht glücklich? Bewahrte sie in ihrem Herzen immer noch die Liebe zu dem Geliebten ihrer Jugend? Ach, um die Wahrheit zu sagen, sie selbst hätte diese Fragen wohl kaum beantworten können! Sie lebte glücklich mit ihrem Manne; aber eins mußte sie sich selbst zugestehen: noch jetzt, nach dem dreijährigen Ehestand, war für ihn noch niemals jene starke, alles beherrschende Leidenschaft in ihr aufgequollen, die einst ihre Seele für Karl Artur Ekenstedt hatte glühen lassen.

Seit sie in die große Welt hinausgekommen war, hatte sie selbst oft gefühlt, daß ihre Ansprüche sich gesteigert hatten, sowohl in Beziehung auf Menschen als auch auf vieles andere. Vor dem roten Propsteigehöfte sowie auch vor dem steifen Salon der Frau Pröpstin hatte sie alle Ehrfurcht verloren. Vielleicht hatte sie auch den Geschmack an dem armen Landpfarrer verloren, der sich mit einer Hausiererin verheiratet hatte und in einem Häuschen von nur zwei Stuben wohnte. Auch hatte sie nur einen einzigen Versuch gemacht, ihn nach seiner Rückkehr nach Korskyrka wiederzusehen, und als dieser Versuch mißlang, hatte sie sich eher befriedigt darüber gefühlt. Es wäre ihr nicht lieb gewesen, wenn diese Begegnung ihr eine Enttäuschung gebracht hätte; wenn sie aber keine Enttäuschung geworden wäre, hätte sie eine solche noch weniger gewünscht.

Aber obgleich sie nicht mit Karl Artur zusammentreffen wollte, konnte sie es doch nicht lassen, mit einer Art mütterlicher Fürsorge über ihn zu wachen. Durch die Pröpstin war sie über die äußeren Geschehnisse seines Lebens auf dem laufenden gehalten worden, über seine Heirat und seine Häuslichkeit, über Theas gefährlichen Einfluß und die Tüchtigkeit seiner Frau. Niemand hatte sich mehr darüber gefreut als Charlotte, daß er offenbar in diesem letzten Winter die Achtung und Ergebenheit der Gemeindeglieder wiedergewonnen hatte, demzufolge überdies von den verschiedensten Seiten der Wunsch laut geworden war, wenn doch nur sein Alter und seine Verdienste genügten, um ihn zum Nachfolger des verehrten Propstes Forsius in Korskyrka zu machen! Charlotte, die nach ihrer Hochzeit die schlechte Gewohnheit des Spätaufstehens angenommen hatte, erschien am nächsten Tag erst beim Frühstück. Da war Frau Forsius schon ein paar Stunden auf den Beinen gewesen. Sie hatte eine Runde durch das Gehöft gemacht, hatte am Hoftor gestanden und die ihr liebgewordene Aussicht nach dem See und der Kirche betrachtet, hatte auch mit den Vorübergehenden geplaudert und Neuigkeiten eingesammelt.

»Denk dir nur, Charlotte«, begann sie nun. »Ach, dieser Karl Artur! Ich kann mir ja nicht helfen, ich hab' ihn immer noch lieb, aber er ist jedenfalls noch ganz derselbe wie früher.«

Darauf berichtete sie, daß Karl Artur die horrible Dummheit begangen habe, die zehn Kinder fortziehen zu lassen.

Charlotte saß ganz bestürzt da. Wie früher schon oft fühlte sie, wie vergeblich es doch war, etwas für Karl Artur zu tun. Es gab eine Macht, die ihn unrettbar seinem Untergange zuführte.

»Ja, ist es nicht ein Unglück?« fuhr Frau Forsius fort. »Weißt du, ich habe weder den Doktor gemacht, ja nicht einmal soviel wie ein ärmliches Pfarrerexamen, aber so viel versteh' ich doch, daß ich lieber ins Gefängnis gegangen wäre, als mir von irgend jemand die Kinderschar entreißen zu lassen.«

»Er hat es wohl nicht mit ihnen ausgehalten«, erwiderte Charlotte, die sich sofort an ihren Besuch in Karl Arturs Küche erinnerte, an die dumpfige Luft, den Lärm, den Staub, die Überfülle von Gerätschaften, Betten und Menschen.

»Ausgehalten!« sagte die Pröpstin mit einer verächtlichen Gebärde. »Als ob sich die Leute nicht an Schlimmeres gewöhnen könnten! So verrückt wie er sich auch alles eingerichtet hat, so sah es jetzt doch danach aus, als ob Gott ihm noch zu helfen gedächte. Verlaß dich darauf, hätte er die Kinder bei sich behalten, dann hätte er seine Tage als Propst hier in Korskyrka beschließen können.«

»Aber die Frau?« fragte Charlotte eifrig. »War sie denn damit einverstanden, daß die Kinder fortgeschickt wurden?«

»Gewiß nicht. Sie verlangte nichts weiter, als sie behalten zu dürfen. Ich habe Per-Ers-Mutter drunten am Hoftor gesprochen. Thea soll dahinterstecken, davon ist sie fest überzeugt!«

»Thea! Aber du hattest ihr ja verboten …«

»Ach, verboten … Ja, sie haben sich vielleicht nicht in seinem Hause und auch nicht in ihrem Hause getroffen; aber in einem so kleinen Nest wie hier konnten sie es kaum vermeiden, sich zu begegnen. Per-Ers-Mutter hat einmal mit Thea in des Doktors Wartezimmer gesessen, und da dauerte es keine fünf Minuten, als auch schon Karl Artur erschien. Und dann hat Thea sofort mit ihm davon angefangen, daß er die Kinder fortschicken solle.«

Frau Forsius und Charlotte sahen einander erschrocken und unschlüssig an. Ein sehr gut ausgeheckter Plan war am Auseinanderfallen.

Man war nämlich übereingekommen, daß einige der einflußreichsten Männer des Kirchspiels gerade an diesem Vormittag eine Zusammenkunft im Gasthause haben sollten. Wichtige Vorschläge waren gemacht worden. In Korskyrka, wo man immer darauf bedacht war, mit der Zeit Schritt zu halten, war seit einiger Zeit von der Errichtung einer Volksschule die Rede gewesen. Und das war noch nicht alles. Das Kirchspiel hatte an Einwohnerzahl außerordentlich zugenommen, und so hielt man es für unmöglich, daß ein einzelner Mann die ganze Seelsorge übernehmen könnte. Man dachte deshalb daran, einen zweiten Geistlichen anzustellen, der sowohl Pfarrhaus als auch Besoldung bekäme. Damit aber nun all dies der Gemeinde nicht zu große Lasten auferlegte, hatte man beabsichtigt, die neue Stelle des zweiten Geistlichen mit der des Volksschullehrers zu vereinigen, so daß beide von ein und derselben Persönlichkeit verwaltet würden. Und diese Person sollte niemand anders sein als Karl Artur.

Diese Vorschläge mußten natürlich vom Kirchengemeinderat entschieden werden; da sie aber große Kosten verursachten, hatte man eine vorbereitende Sitzung einberufen, um die Leute zu ermitteln, die ein Wort mitzusprechen hatten und tätige Hilfe leisten würden.

Ganz sicherlich hatte wohl niemand eine Ahnung davon, daß dieser Plan Charlottens klugem Gehirn entsprungen war. Sie hatte es recht geschickt verstanden, die große Liebe, die die Leute für Karl Artur hegten, zu benützen und die Sache in Fluß zu bringen, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Bei seiner Jugend konnte Karl Artur ja unmöglich erster Geistlicher in einem so großen Pastorate werden, das war jedermann klar, und so fand man diese neuen Pläne ganz dazu geeignet, Karl Artur dauernd in der Gemeinde zu behalten.

Kann man sich da verwundern, wenn die Neuigkeiten, die die Pröpstin berichtete, Charlotte ganz außer sich brachten? Nun war es schon so gut wie gelungen gewesen, Karl Artur eine feste Stelle und eine anständige Besoldung zu verschaffen, und nun mußte diese Thea dazwischenkommen! Sie, die ihn liebte, hätte die Sachlage doch verstehen müssen! Die wunderbare Tatsache, daß ein armer Pfarrer die ganze Sorge für so eine große Kinderschar auf sich genommen, dieses Wunder war es gewesen, das Karl Artur seine jetzige Stellung verschafft hatte.

Charlotte sah auf die große Standuhr im Eßzimmer und stieß einen kleinen Seufzer aus. »Es sind nur noch zehn Minuten bis zehn Uhr«, sagte sie. »Die Sitzung wird bald anfangen.«

Sie wußte selbst am besten, welche Anstrengungen und welche Schlauheit es sie gekostet hatte, diese Sitzung zustande zu bringen. Nicht am wenigsten schwierig war es gewesen, Schagerström so weit zu bringen, daß er versprach, dabei anwesend zu sein und die weitgehenden Pläne zu unterstützen.

»Ja, die Sitzung«, sagte Frau Forsius. »Es würde mich nicht verwundern, wenn alles wie eine Seifenblase zerplatzte. Einzelne Personen, die bei Karl Artur drin waren, behaupten, die Frau sitze den ganzen Tag auf dem Herd und spreche kein Wort. Weißt du, sie ist eifersüchtig auf Thea. Solche Leute verstehen es ja nie, sich zu beherrschen. Im übrigen scheinen Karl Artur und Thea hier in meinem Garten ihre Zusammenkünfte zu halten, aber da werde ich nun einen Riegel vorschieben.«

»Ach, Per-Ers-Mutter ist doch von jeher eine Klatschbase gewesen«, sagte Charlotte ergrimmt.

Aber zugleich verwunderte sie sich, wie alles wieder in ihr auftauchte. Den Haß gegen Thea fühlte sie jetzt in ihrem Herzen ebenso heftig wie an jenem Tage, wo sie dieser Person die Locken abgeschnitten hatte.

Unter all diesen Reden war das Frühstück beendet worden, und Charlotte, die empört und mißmutig war, warf ein Tuch um und begab sich hinaus in den Garten. Sie hielt die Augen auf den Boden gerichtet, wie wenn sie die Spuren von den beiden finden wollte, die ihre Liebeszusammenkünfte hier halten sollten. Der Ort war wirklich gut gewählt. Karl Artur wußte von früher her, welche ausgezeichneten Verstecke sich zwischen den Hecken und Gebüschen fanden.

Früher hat er sie nicht geliebt, dachte sie, aber nun ist es natürlich so weit gekommen. Das arme Dalmädchen ist ihm langweilig geworden. Er hat bei Thea Trost gesucht, und da auch der Organist eifersüchtig ist, haben sie sich nur im Freien treffen können.

Obgleich Charlotte all dies ganz natürlich erschien, empfand sie es doch als eine ungeheure Beleidigung, daß die beiden gerade diesen Ort gewählt hatten, um unbemerkt zusammenzukommen.

Aber daß sie es gewagt haben! dachte sie weiter. Die Hecken sind ja noch nicht belaubt. Wer immer draußen auf dem Wege vorbeikommt, hätte sie sehen können.

Sie blieb stehen, um über dies letzte nachzudenken. Da entdeckte sie durch das braune Laub der dunklen Hecken hindurch die Umrisse eines Gartenhäuschens.

Dort haben sie sich wohl versteckt, ja natürlich dort, dachte sie, indem sie auf das vom Zahn der Zeit schlimm mitgenommene Häuschen so rasch zuging, als erwarte sie, drinnen die beiden Missetäter anzutreffen.

Das Gartenhäuschen war verschlossen; aber Charlotte riß das verrostete Schloß ohne alle Schwierigkeiten auf. Drinnen begegnete ihrem Auge die ganze Unbehaglichkeit, die beim Anbruch des Frühjahrs in solchen Sommerhäuschen meist herrscht: die dumpfe Luft, die zerbrochenen Fensterscheiben, die losgerissenen, herabhängenden Tapetenfetzen. Aus einem vom Herbststurm zusammengewirbelten dürren Laubhaufen schimmerte etwas grauschwarz Glänzendes hervor. Es war der Schutzgeist des Gartens, eine ungeheure Ringelnatter, die da ihren Winterschlaf hielt.

Nein, hier wenigstens sind sie nicht gewesen, dachte Charlotte. Beim Anblick unserer alten Schlange wäre Thea in Ohnmacht gefallen.

Sie selbst schenkte dem harmlosen Tier keine Beachtung, ruhig trat sie an eines der gebrechlichen Fenster, machte es auf und setzte sich auf den Sims.

Von da aus hatte sie eine gute Aussicht über die verschlungenen Hecken, deren Zweige, die jetzt im Saft standen, in den weichsten Farben spielten. Zwischen den Hecken grünten die Rasenflächen, und aus diesen lugten da und dort Schlüsselblumen, Gänseblümchen und wilde Narzissen hervor.

Charlotte, die diesen Platz liebte, murmelte: »Es ist wahrhaftig nicht das erstemal, daß ich hier sitze und auf jemand warte, der nie kommt.«

Kaum hatte sie diese Worte vor sich hingemurmelt, als sie auch schon zwischen den Hecken einen Mann daherkommen sah. Er kam auf das Gartenhaus zu und war bald so nahe, daß ihn Charlotte erkennen konnte: es war Karl Artur.

Charlotte blieb regungslos sitzen. Er ist natürlich nicht allein, dachte sie. Bald wird wohl auch Thea auftauchen.

Im nächsten Augenblick hielt Karl Artur jäh an. Er hatte Charlotte erblickt und strich sich unwillkürlich mit der Hand über die Augen, wie man es tut, wenn man eine Sinnestäuschung vor sich zu haben meint.

Er war jetzt nur noch ein paar Schritte von Charlotte entfernt, und diese sah ihn vor sich stehen, sehr bleich, aber mit derselben jugendlichen feinen Hautfarbe wie früher. Er war vielleicht etwas gealtert, die Züge waren schärfer, aber die Vornehmheit, die dem Sohne der Frau Oberst Ekenstedt immer zu eigen gewesen, war nicht verschwunden. Wie er in seinem grauen Friesanzug da vor ihr stand, mußte Charlotte unwillkürlich an einen modernen Schweinehirten im Märchen, an einen verkleideten Prinzen denken.

In weniger als einer Sekunde war sich Karl Artur indes klar geworden, daß die Erscheinung im Fenster wirklich Charlotte war. Mit ausgestreckten Armen lief er die kleine Anhöhe zu dem Gartenhaus hinauf.

»Charlotte!« rief er mit jubelnder Stimme. »Charlotte, Charlotte!«

Heftig ergriff er ihre Hände und bedeckte sie mit Küssen, während ihm die Tränen aus den Augen stürzten.

Dieses unerwartete Zusammentreffen hatte ihn ganz außer sich gebracht – ob aus Freude, ob aus Schmerz, konnte Charlotte nicht entscheiden. Er weinte immer weiter mit einer Heftigkeit, wie wenn jahrelang zurückgedrängte Tränenströme ihren Damm durchbrochen hätten.

Da er aber die ganze Zeit über ihre Hände festhielt, diese küßte und liebkoste, wurde es Charlotte klar, daß der Liebeshandel mit Thea nur ein Lügengewebe sein mußte. Nicht Thea war's, die über Karl Arturs Herz herrschte, es war eine andere.

Aber wer war diese andere? Niemand anderes konnte es sein als sie selbst, die so verächtlich Verschmähte, die er aufs neue zu lieben angefangen hatte. Keine Liebeserklärung hätte eine deutlichere Sprache reden können als dieses leidenschaftliche Weinen.

Als Charlotte diese Gewißheit überkam, spürte sie einen Geschmack auf den Lippen, als ob ein längst gefühlter Hunger gestillt würde, oder als ob irgendwo in der Gegend ihres Herzens ein ununterbrochenes, qualvolles Gefühl zur Ruhe gekommen wäre, oder als ob sie von einer schweren Last, die sie lange getragen, befreit werde. Von einem schwindelnden Glücksgefühl überwältigt, schloß sie die Augen.

Aber das dauerte nur einen Augenblick, im nächsten schon war sie wieder gefaßt und klug.

Wohin soll das führen? dachte sie. Er ist ja verheiratet, er ebenso wie ich, und überdies ist er ein Pfarrer. Ich muß ihn zu beruhigen versuchen, das ist jetzt das Wichtigste.

»Ach, Karl Artur, weine doch nicht so!« sagte sie. »Ich bin es ja nur, Charlotte. Frau Forsius will durchaus im Sommer wieder hier wohnen, und ich bleibe ein paar Tage hier, um ihr zu helfen, den Haushalt wieder in Gang zu bringen.«

Sie hatte in ganz alltäglichem Tone gesprochen, um Karl Arturs Tränen zum Versiegen zu bringen; aber er schluchzte nur noch mehr als vorher.

Armer Kerl! dachte Charlotte. Ja, ich verstehe wohl, du weinst nicht allein meinetwegen. Nein, natürlich weinst du aus lauter Heimweh nach allem Schönen und Gebildeten, nach Gedankenaustausch, nach einer traulichen Umgebung, nach deiner Mutter und deiner Heimat. Aber jetzt dürfen wir nicht an dergleichen denken, was gar nichts nützen kann, jetzt müssen wir vernünftig sein.

Sie ließ ihren Blick ein paar Sekunden über den Garten hinschweifen, dann fuhr sie fort zu reden:

»Ja, weißt du, es ist mir wirklich eine Freude, wieder hier in der alten Propstei zu sein. Gerade heut morgen hab' ich daran gedacht, wie herrlich es hier zwischen den Hecken ist, ehe die großen Lindenbäume ganz belaubt sind, so daß die Sonnenstrahlen nicht mehr bis auf den Rasen fallen können. Es tut einem ordentlich wohl, wenn man sieht, wie gierig das Gras und die Kräuter die Sonnenstrahlen aufsaugen.«

Karl Artur streckte wie abwehrend eine Hand aus; da er aber immer noch schluchzte, beschloß Charlotte, weiter über diese Dinge zu reden, die sicherlich einen beruhigenden Einfluß auf ihn ausüben würden.

»Es ist etwas Eigenes um den Sonnenschein«, sagte sie, »wenn er sich auf solche Weise durch eine Menge Zweige hindurch seinen Weg bis hinunter auf den Boden suchen muß. Er ist so bescheiden und freundlich. Und die Blumen, die er hervorruft, haben nie richtig prangende Farben. Sie sind alle weiß oder hellgelb oder hellblau. Wenn sie nicht so zeitig und in solcher Menge kämen, würden die Menschen sie kaum beachten.«

Karl Artur hob sein verweintes Gesicht auf, und mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, ein paar Worte zu stammeln:

»Ich hab' mich gesehnt … gesehnt … den ganzen Winter hindurch …«

Es war ganz deutlich, in seinem aufgeregten Zustand gefiel es ihm nicht, daß sie so ruhig von den Blumen und Sonnenstrahlen sprach. Nein, sie sollte die Stärke des Sturmes, der in seinem Innern tobte, begreifen. Aber Charlotte, die wußte, daß es viele Worte gibt, die am besten unausgesprochen bleiben, begann aufs neue, gerade wie eine eigensinnige Kinderfrau, die ein aufgeregtes Kind in Schlaf wiegen will.

»Die Frühlingssonne muß wirklich eine ganz besondere Macht haben. Sieh, wohin immer sie ihr Licht schickt, weckt es neues Leben. Der Sonnenschein wirkt wie ein Zauber. So kühl die Strahlen auch sind, so sind sie doch in ihrer Art viel mächtiger als die so glühendheißen im Sommer, und sie sind auch mächtiger als die im Herbst, die nur Verwelken und Tod herbeiführen. Hast du nicht schon manchmal gedacht, daß dieser bleiche Frühlingssonnenschein ungefähr dieselbe Wirkung hat wie die erste Liebe?«

Als Charlotte diese Worte sagte, schien Karl Artur aufmerksamer zuzuhören, und sie fuhr rasch fort:

»Du kannst dich natürlich nicht an so eine Kleinigkeit erinnern, ich aber muß manchmal an einen Frühlingsabend hier in Korskyrka denken, kurz nachdem du hierhergekommen warst. Wir hatten miteinander ein paar arme Leute besucht, die ganz weit draußen im Walde in einer Hütte wohnten. Wir waren ein wenig zu lange dort geblieben, denn ehe wir nach Hause kamen, ging die Sonne unter, und aus den Tälern stiegen Nebel auf.«

Karl Artur hob den Kopf. Die Tränenflut schien am Versiegen zu sein. Er hörte auf, Charlottes Hände zu küssen, las ihr aber jedes Wort, das der schöne Mund aussprach, gierig von den Lippen.

»Kannst du dich wirklich an jenen Gang erinnern?« fuhr Charlotte fort. »Der Weg führte über einen Hügel um den andern. Sooft wir eine Anhöhe erreicht hatten, waren wir vom Sonnenschein umflossen, aber in den Talstrecken umringten uns Nebelschwaden. Die ganze Welt um uns her verschwand.« Wohin wollte sie nur? Der Mann, der sie liebte, leistete keinen Widerstand mehr. Ohne eine Einwendung ließ er sich von ihr auf diesem Gang zwischen den sonnenbeleuchteten Hügeln führen.

»Ach, welche Wanderung war das!« fuhr Charlotte fort. »Die milde blaßrote Sonne und der weiche schimmernde Nebel verwandelten alles rings um uns her! Ich sah zu meiner Verwunderung, wie ganz nahe gelegene Wälder hell wurden, geradezu hellblau, während die etwas ferneren Höhen in leuchtendem Purpur glühten. In einer übernatürlichen Landschaft gingen wir dahin. Und um nicht aus der Verzauberung erweckt zu werden, wagten wir kaum auszusprechen, wie schön es war.«

Charlotte hielt inne. Sie erwartete, daß Karl Artur etwas sagen würde, aber er wollte sie offenbar nicht unterbrechen.

»Auf den Hügeln wanderten wir ganz sacht und vernünftig dahin. Aber wenn wir in die nebelerfüllten Täler hinabkamen, da fingen wir an zu tanzen. Ja, du vielleicht nicht, aber ich. Ganz glückselig über die Schönheit des Abends tanzte ich den Weg entlang. Wenigstens glaubte ich, daß das der Grund sei, warum ich nicht ruhig gehen konnte.«

In diesem Augenblick flog ein Lächeln über Karl Arturs Antlitz. Und Charlotte lächelte auch. Sie begriff, jetzt war der Aufruhr in seinem Innern überwunden. Er war wieder Herr seiner Gefühle.

»Dann wanderten wir über den letzten Hügel«, fuhr Charlotte fort. »Du warst vollständig verstummt. Ich fragte mich, ob es dem Herrn Pastor wohl mißfiel, daß ich auf der Landstraße getanzt hatte, und so wagte ich kaum noch neben ihm zu gehen. Aber als wir die nächste Talstrecke erreichten, wo der Nebel uns einhüllte … Ich wagte nicht mehr zu tanzen, aber da …«

»Aber da«, unterbrach sie Artur, »da küßte ich dich.« Im selben Augenblick, da Karl Artur diese Worte sprach, sah er einen Mann in dem entgegengesetzten Fenster stehen. Wer es war, konnte er nicht erkennen. Die Gestalt verschwand auch sofort wieder, und Karl Artur wußte kaum, ob er wirklich jemand gesehen hatte.

Jedenfalls konnte er es nicht über sich bringen, Charlotte damit zu beunruhigen. Sie hatten ja nur am Fenster gestanden und miteinander gesprochen. Was tat's, wenn einer von den Leuten des Pächters oder vielleicht ein Gartenarbeiter sie gesehen hatte? Dem brauchte ja keine Bedeutung beigemessen zu werden. Warum diesen Augenblick des Glücks zerstören?

»Ja«, sagte Charlotte, »du küßtest mich, und ich begriff ganz plötzlich, warum der Wald so blau geworden war und warum ich im Nebel hatte tanzen müssen. Ach, Karl Artur, in jener Stunde wurde mein ganzes Leben verwandelt! Weißt du, mich überkam ein ganz eigenes Gefühl. Mir war, als könne ich bis auf den Grund meiner eignen Seele schauen, und auf deren weiten Fluren blühten überall Frühlingsblumen. Überall, überall – blaßweiße, hellblaue, lichtgelbe Frühlingsblumen. Ich sah sie da zu Tausenden, sie wimmelten förmlich aus der Erde heraus. Ich weiß nicht, ob ich jemals etwas Schöneres gesehen habe.«

Charlotte wurde beim Sprechen gerührt. Jetzt glänzte eine Träne in ihrem Auge, und ihre Stimme bebte einen Augenblick; doch schon im nächsten erlangte sie ihre vorige Ruhe wieder.

»Mein Freund«, sagte sie, »kannst du jetzt verstehen, warum diese Frühlingsblumen hier mich an die erste Liebe erinnern?«

Karl Artur erfaßte ihre Hand mit hartem Griff.

»Ach, Charlotte!« begann er.

Doch da stand sie rasch auf.

»Da siehst du, warum wir Frauen den nie ganz vergessen können, der die Sonne der Liebe zuerst über uns leuchten ließ. Nein, wir können ihn nie vergessen. Andererseits gibt es aber wohl auch nur wenige, ja, äußerst wenige unter uns, die im Lande der Frühlingsblumen verbleiben. Von etwas Größerem und Mächtigerem werden wir fortgeführt.«

Schelmisch und wehmütig zugleich nickte sie Karl Artur zu, machte ihm ein Zeichen, daß er ihr nicht folgen solle, und verschwand.

2

Als Karl Artur an diesem Morgen erwacht war, schien die Sonne in gerader Linie zu einem Fenster herein, was ihm zeigte, daß er ein gutes Stück in den Vormittag hinein geschlafen hatte. Rasch stand er auf. Noch etwas schlaftrunken fragte er sich, warum er denn so spät aufgewacht sei? Und da fiel ihm ein, daß er bis zum Sonnenaufgang in der Küche gesessen und ein Kartenspiel zerschnitten hatte.

Damit tauchten auch alle anderen Geschehnisse vom vorhergehenden Abend vor ihm auf, und er fühlte größtes Entsetzen und Abscheu, nicht allein vor seiner Frau, sondern vielleicht noch mehr vor sich selbst. Wer war er denn, der wegen einer Kränkung seinem Zorn so die Zügel schießen ließ, daß er seine Frau hatte umbringen wollen? War er es, er selbst, der auf die Bosheit verfallen war, ein Kartenspiel zu zerschneiden und die Fetzen auf dem Boden herumzustreuen? Was für böse Mächte gab es doch in seinem Innern? War er ein Unmensch?

Da er am vorhergehenden Abend nichts gegessen hatte, stand das von seiner Frau für ihn bereitgestellte Abendbrot noch unberührt da. Rasch aß er sich an kalter Grütze und Milch satt, dann nahm er seinen Hut, um einen langen Spaziergang zu machen. Er war froh, die notwendige Auseinandersetzung mit seiner Frau noch einige Stunden hinausschieben zu können.

Er ging die zur Propstei führende Landstraße entlang. Dort angekommen, öffnete er die Gattertür und ging in den altmodischen Garten hinein, wo er im vergangenen Winter oftmals aus dem Umtrieb und dem Gedränge in seinem überfüllten Hause heraus Zuflucht gesucht hatte.

Und da traf er Charlotte, schöner und bezaubernder als je. Kann sich jemand darüber verwundern, daß seine Gefühle ihn überwältigten und er im ersten Augenblick an nichts anderes gedacht hatte, als ihr zuzurufen, seine Liebe sei zurückgekehrt, um sie, die so heiß Ersehnte, an sein Herz zu drücken!

Aber durch das Weinen hatte ihm die Stimme versagt, und Charlotte, diese gute und kluge Persönlichkeit, hatte ihn allmählich wieder zur Besinnung gebracht. Er verstand sehr wohl, was sie ihm hatte sagen wollen, als sie diese Bilder aus der ersten Zeit ihrer Liebe hervorrief. Ach, eins sollte er begreifen: wohl liebte sie noch die Erinnerung an jene Tage, aber ihr Herz gehörte jetzt einem andern!

Nachdem Charlotte gegangen war, herrschten eine Weile Dunkelheit und Leere in seiner Seele. Doch den nutzlosen Haß des Verschmähten empfand er nicht. Er wußte es ja nur zu gut, durch seine eigene Schuld hatte er sie verloren.

Und aus dem großen Dunkel tauchte sehr bald ein kleiner Lichtschein auf. Die Gedanken des gestrigen Tages, die holden Zukunftsbilder, die durch den Unfrieden in seinem Hause verjagt worden waren, stellten sich aufs neue frisch und unwiderstehlich vor ihm auf. Herrlicher als alle irdische Liebe lockte ihn die Aufgabe, endlich seinem Heiland auf die rechte Weise zu dienen, sein ganzes zukünftiges Leben hindurch als ein Apostel der Landstraße umherzustreifen, als ein freier, fliegender Vogel, der da kommt zu den Verschmachtenden mit dem Wort des Lebens, als ein Bettler des Herrn, der in seiner Armut Schätze austeilt, die weder die Motten noch der Rost fressen!

Langsam und nachdenklich wanderte er ins Dorf zurück. Vor allem wollte er Frieden mit seiner Frau schließen. Was später geschehen sollte, wußte er nicht recht, aber er fühlte eine merkwürdige Ruhe in seinem Herzen. Gott hatte sich seiner angenommen, er selbst brauchte nichts zu beschließen.

Als er das erste Häuschen des Kirchspiels erreicht hatte, dieselbe Hütte mit dem Gärtchen davor, aus dem Anna Svärd herausgetreten war, als er zum erstenmal mit ihr zusammentraf, öffnete sich auch jetzt die Tür, und die Eigentümerin kam ihm entgegen. Sie stammte aus Dalarne, und bei dieser ihrer Landsmännin hatte Anna Svärd Unterkunft gefunden, solange sie mit dem Kramsack umhergezogen war.

»Nun darfst nit bös auf mich werd'n, du Pfarrer, weil ich dir mit 'ner bösen Nachricht komm'«, sagte sie. »Aber d' Anna ist heut morgen zu mir kommen und hat g'sagt, sie geh' fort, und ich soll's dir sag'n!«

Karl Artur starrte die Frau verständnislos an.

»Ja«, fuhr diese fort, »sie ist heim nach Medstuby. Hab' sie zwar g'warnt, sie soll nit jetzt geh'n. 's dauert ja wohl keine paar Wochen, dann liegst im Kindbett, sag' ich zu ihr. Aber sie sagt, sie müss' trotzdem fort. Und sie hat mir's recht ein'prägt, daß ich dir sag, wo sie hingeht. ›Er braucht nit zu glaub'n, ich tu mir 'n Leid an‹, sagt' sie, ›ich geh' nur heim!‹«

Karl Artur hatte nach dem Lattenzaun gegriffen. Wenn er seine Frau auch nicht mehr liebte, so hatten sie doch nun eine lange Zeit zusammengelebt, und er hatte das Gefühl, als sei plötzlich in seiner Seele etwas entzweigegangen. Und außerdem war dies ein furchtbares Mißgeschick. Nun würde ja jedermann erfahren, wie unglücklich seine Frau bei ihm gewesen war, so unglücklich, daß sie ihn freiwillig verlassen hatte.

Aber mitten in dieser neuen Qual überkam ihn wieder der tröstliche Gedanke an die große verlockende Freiheit. Gattin, Heimat, Ansehen bei Menschen, all dies bedeutete für ihn nichts auf dem Wege, den er wandern würde. Sein Herz klopfte trotz allem, was ihm widerfuhr, leicht und regelmäßig. Gott hatte ihn von den Sorgen und drückenden Lasten gewöhnlicher Menschen befreit.

Als er einige Minuten später sein Haus erreichte und in sein Zimmer trat, war er überrascht, es ganz in Ordnung zu finden. Das Bett war gemacht und die Reste des Abendbrots hinausgetragen. Höchst verwundert eilte er in die Küche und fand auch da alles in bester Ordnung. Auf dem Boden kniete eine Frauensperson und las die eigensinnigen Kartenfetzchen auf, die sich in den rauhen Bodenbrettern festgesetzt hatten und also beim Auskehren vom Besen nicht erfaßt worden waren. Die Frau trällerte und sang vor sich hin und schien in bester Laune zu sein. Als Karl Artur eintrat, hob sie den Kopf und siehe, es war Thea!

»Ach, Karl Artur«, sagte sie, »sobald ich hörte, daß deine Frau dich verlassen habe, eilte ich gleich hierher. Du mußtest ja Hilfe nötig haben, das war mir ganz klar. Und ich hoffe, du bist nicht unzufrieden darüber.«

»Gewiß nicht, Thea. Es ist im Gegenteil außerordentlich freundlich von dir. Aber gib dir doch keine Mühe mit diesen ärmlichen Kartenstückchen. Sie können gut da liegenbleiben.«

Doch Thea ließ sich in ihrer Arbeit nicht stören. Sie trällerte weiter und las Kartenfetzchen auf.

»Ich sammle sie zum Andenken«, sagte sie. »Als ich vor einer Weile herkam, sah ich, daß sie – du weißt, wen ich meine – nur so ein paarmal mit dem Besen darüber hinweggefegt hat. Aber als sie sah, wie fest sich die Stückchen gebissen hatten, hat sie den Besen weggeworfen. Sie ist auf und davon gegangen.«

Darauf lachte und trällerte Thea aufs neue. Karl Artur betrachtete sie fast mit Widerwillen.

Thea streckte ihm eine Schale entgegen, worin sie ein ganzes Häufchen der kleinen zerschnittenen Papierstückchen gesammelt hatte.

»Sie ist fort, und diese hier, die haben sie fortgejagt«, sagte sie. »Sollte ich sie da nicht sammeln, nicht aufheben?«

»Aber Thea, bist du verrückt?«

Verachtung, ja beinahe Haß klang durch seine Stimme. Thea schaute auf und sah ihn mit düsterer Miene vor sich stehen, aber sie lachte nur.

»Das wirkt bei andern, aber nicht bei mir«, sagte sie. »Schlag mich, gib mir einen Fußtritt! Ich komme doch wieder. Mich kannst du niemals loswerden. Das, was die andren erschreckt, hält mich fest.«

Wieder fing sie an zu trällern, und das Singen wurde mit jedem Augenblick lauter; es klang wie ein Triumphlied.

Karl Artur, der ein wirkliches Grauen vor diesem hysterischen Ausbruch empfand, ging in sein Zimmer hinüber. Sobald er sich da allein befand, kehrte die Freude, das Freiheitsgefühl wieder.

Ohne Zögern begann er den Brief an den Bischof, worin er um Enthebung von seinem Amt nachsuchen wollte.


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