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Das Kartenspiel

1

Sie hatte sich nicht selbst geschaffen, sie konnte nichts dafür, daß sie so war, wie sie war. Nein, sie konnte nichts dafür, daß sie zu denen gehörte, die gezwungen sind, ganz stillzuschweigen, wenn sie auf jemand zornig sind. Die allerschlimmsten von dieser Art pflegen zwar sonst die Sprache wiederzufinden, wenn ein oder zwei Tage vergangen sind; aber Anna war ein so großes Unrecht widerfahren, daß sie nun schon eine Woche lang hatte die Zähne zusammenbeißen müssen, ohne ein Wort lautwerden zu lassen.

Auch war es ja jetzt gar nicht nötig, daß sie sich eine ordentliche Arbeit vornahm. Zusammengekauert saß sie auf dem Herdrand, dem Feuer so nahe wie möglich, und wiegte sich mit den Händen vor dem Gesicht hin und her. Das einzige, was sie sich vorzunehmen vermochte, war, Kaffee zu trinken. Sie besaß einen kleinen dreibeinigen Kessel, den sie während ihrer Wanderjahre ganz unten in ihrem Kramsack mit sich geführt hatte. Dieser stand nun beständig auf dem Feuer, und aus ihm trank sie eine Tasse Kaffee um die andere.

Ein wenig Ordnung mußte sie freilich im Haushalt schaffen sowie das Essen für Karl Artur kochen; aber das war auch alles. Sie konnte nicht mehr mit ihm am Tisch sitzen; sobald sie das Essen aufgetragen hatte, kroch sie wieder auf den Herd, und da saß sie und wiegte sich hin und her, ohne einen Blick auf ihren Mann zu werfen.

Der Mann, ja, der Mann! Wäre sie doch nur mit einem Dalburschen aus Medstuby verheiratet, einer, der begriffen hätte, wie ratlos sie dasaß und wie nötig sie Hilfe brauchte! Ein solcher hätte wohl wenigstens den Kaffeekessel zum Hause hinausgeworfen und sie selbst gezwungen, irgendeine Handarbeit vorzunehmen, und das wäre gut für sie gewesen.

Aber dieser hier! Dazwischen einmal kam er zu ihr herein, fragte sie, wie es ihr gehe, und bat herzlich, sie solle doch ein Wort sagen. Wenn sie trotzdem unentwegt schwieg, tätschelte er sie ein wenig auf die Schulter und drückte seine Überzeugung aus, daß es ihr bald besser gehen werde, und dann ging er wieder seines Weges.

Das war die ganze Hilfe, die sie von ihm bekam! Oh, sie verstand, was er dachte! Er hatte irgend jemand sagen hören, die Frauen würden in der Zeit, wo sie ein Kind erwarteten, oft etwas sonderbar. Und nun bildete er sich wohl ein, sie sei von etwas Derartigem angefochten.

Aber damit hing es nicht zusammen, o nein, und das hätte er verstehen müssen, er, ein gelehrter Mann! Sie hatte auch die sichere und fest begründete Überzeugung, daß er wußte, was ihr fehlte, aber eben so tun wolle, als begreife er es nicht. Er machte sich nichts aus den zehn Kindern, er wollte sie nicht wiederhaben. Lieber sollte sie sich mit ihrer Qual herumschlagen.

Nein, sie hatte sich nicht selbst geschaffen, sie konnte nichts dafür, daß sie so war, wie sie war. Die Angst um die Kinder arbeitete und arbeitete rastlos in ihr und hörte nie auf. Da droben im Norden, wo die Kinder jetzt waren, gab es viele Zigeunerweiber, die in den Kirchspielen umherwanderten und bettelten. Sie hatten immer große Kinderscharen bei sich, und wenn sie keine eigenen Kinder besaßen, entlehnten sie solche von anderen Familien. Anna war nun fest überzeugt, daß die sechs kleinsten von den zehn an so eine Frau ausgeliehen waren. Sie waren in Lumpen und Säcke gehüllt worden, damit sie recht arm aussähen. Sie mußten barfuß laufen, obgleich der Schnee da droben noch kaum geschmolzen war, und sie mußten Hunger leiden, wurden geschlagen und in jeder Weise schlecht behandelt. Bettelkinder durften ja nicht wohlgenährt und froh aussehen, das ging nicht.

In demselben Augenblick, wo Anna die Kinder frisch und gesund sehen würde, wäre sie geheilt. Aber dies zu Karl Artur sagen! Das konnte sie nicht, er sollte selbst darauf kommen, ohne ihre Mahnung.

Jeder Mann daheim in Medstuby, er mochte sein, wer er wollte, würde begriffen haben, daß es dies war, was sie quälte, und er hätte das Pferd vorgespannt und wäre gleich am nächsten Tag nach dem Eksbezirk gefahren, um die Kinder zu holen. Oder wenn er ihr nicht auf diese Weise hätte helfen wollen, hätte er sie an den Haaren gepackt, sie vom Herd heruntergerissen und ihr damit seine klare Meinung kundgetan; und auch das wäre seiner Frau nützlich gewesen. Aber der Mann hier, er kam nur mit ein paar freundlichen Worten, klopfte ihr auf die Schulter und ließ damit alles beim alten!

Ach, sie war seiner so überdrüssig! Zuerst war er das Beste gewesen, was sie kannte, aber jetzt konnte sie es kaum noch ertragen, wenn er zu ihr in die Küche trat.

Eines Mittags, als er zum Essen hereinkam, saß sie mit einer kleinen Tonpfeife zwischen den Lippen am Herd und blies große Tabakwolken in die Luft. Sie wußte, dies schickte sich nicht für eine Pfarrfrau, aber sie mußte es eben tun; es war ihr geradezu befohlen worden. Und jetzt war sie äußerst neugierig, wie Karl Artur es aufnehmen würde, daß seine Frau wie ein Finnenweib rauchte.

Er sah sehr erschrocken aus, ja, tatsächlich erschrocken. Und er sagte auch sofort, er könne sich nicht darein finden, eine Frau zu haben, die Tabak rauche.

Sie sah ihn ganz erwartungsvoll an. Jetzt wird er doch woll begreif'n, daß er mir helfen muß, dachte sie. »Anna, wenn du die Küche mit Tabakqualm füllst, kann ich nicht hier essen, das mußt du dir klarmachen«, sagte er. »Wenn du es nicht aufgibst, mußt du mir das Essen in mein Zimmer hinüberbringen.«

Er wurde nicht einmal böse; geduldig und freundlich war er wie immer! Und Anna begriff, daß sie von ihm niemals Hilfe bekommen würde. Von da an aß er in seinem Zimmer; aber er vergaß nicht, zu ihr zu kommen und nach ihr zu sehen. Wie gewöhnlich klopfte er ihr auf die Schulter und sagte ihr ein paar freundliche Worte. Auf diese Weise verging ein Tag um den anderen. Während der ganzen Zeit hörte Anna, wie gar oft am Tage die Haustür geöffnet und wie in Karl Arturs Zimmer laut und eifrig gesprochen wurde. Da er eine große Gemeinde zu betreuen hatte, kamen ja gar viele in amtlichen Angelegenheiten; aber eine ganze Menge suchte ihn auch auf, um mit ihm über den Zustand ihrer Seele zu sprechen, das wußte Anna. Ja, er war wohl der Rechte, an den sie sich wendeten! Wie sollte er ihnen raten können? Er, der nicht einmal seiner armen Frau helfen konnte!

Eine Woche war auf diese Weise vergangen, als Anna eines Tages merkte, daß sie mit einem unter der Schürze verborgenen Messer am Herd saß. Wie auf Befehl hatte sie das Messer an sich genommen. Daß sie das getan hatte, kam ihr gar nicht so sonderbar vor, aber sie konnte die Absicht dabei nicht verstehen. Es war nur ein ganz stumpfes Tischmesser, das sie im Schoß hatte, mit dem konnte sie weder sich selbst noch andern das geringste Leid antun.

Im Laufe des Vormittags kam Karl Artur herein und sagte, er sei nach auswärts gerufen worden und müsse auf einen Hof fahren, der in dem abgelegensten Teil des Kirchspiels liege, es sei eine Fahrt von mindestens zwei Meilen. Sie brauche also kein Mittagessen für ihn zu richten, aber er wäre dankbar, wenn sie ihm bei seiner Rückkehr etwas bereit hielte, er werde gegen sechs Uhr abends wieder dasein.

Anna erwiderte wie gewöhnlich nichts; aber als er nun hinzufügte, er meine, sie sehe an diesem Tage etwas wohler aus, und er sei überzeugt, sie werde in kurzem wieder ganz wie früher sein, da schob sie die Schürze ein wenig zurück. Als er dann die Hand ausstreckte, um ihr nach seiner Gewohnheit auf die Schulter zu klopfen, zog sie die Schürze heftig auf die Seite, und da sah er das Messer blinken.

Er fuhr zurück, wie wenn sie mit einer Kreuzotter im Schoß dagesessen hätte. Eine ganze Weile brachte er kein Wort heraus. Ganz still stand er vor ihr und schüttelte vollkommen ratlos den Kopf.

»Anna, Anna«, sagte er schließlich, »du bist gewiß sehr krank. Wir müssen durchaus etwas in dieser Sache tun. Wenn ich heut abend heimkomme, werde ich sofort den Doktor bitten, zu untersuchen, was mit dir los ist.«

Damit ging er. Aber jetzt hatte sie das erfahren, was sie wissen wollte. Jetzt wußte sie, daß ihr dieser Mann niemals aus ihrer Betrübnis helfen konnte.

2

Wie schön ist es, in die Welt hinauszureisen, selbst wenn man nur in einem rüttelnden Bauernwagen fährt, um auf diese Weise von den alltäglichen Sorgen wegzukommen! Man weiß ja, das, was einen plagt, ist etwas Vorübergehendes, und alles wird wieder gut, sobald das erwartete kleine Menschenkind das Licht der Welt erblickt hat. Aber die Geduld ist in der letzten Zeit doch auf recht harte Proben gestellt worden, und deshalb ist es unbeschreiblich wohltuend, ein wenig hinauszukommen und zu sehen, daß das Leben auch anderes zu bieten hat als mürrisches Wesen und Übelwollen.

Karl Artur brauchte nur an der Doktorwohnung vorbeizufahren und in die Dorfstraße einzubiegen, um Freude und Fröhlichkeit anzutreffen. Er sah rote, weiße und gelbe Tücher in der Luft flattern, auf beiden Seiten der Straße waren mit allerlei Waren gefüllte Buden aufgestellt, und auf der Fahrbahn selbst drängten sich die Menschen in buntem Gewimmel; das Pferd vor Karl Arturs Wagen konnte nur Schritt für Schritt vorwärts kommen.

Es war nämlich Jahrmarkt in Korskyrka, allerdings kein so bedeutender wie im Herbst, wo die Leute sich Vorräte für den Winter eintun mußten, aber jedenfalls war er ganz willkommen und sehr besucht. Die Händler aus Westgotland waren da und boten Baumwolltücher feil, die für die bevorstehende schöne Jahreszeit sehr gut paßten. Die Dalmänner verkauften Pflugscharen und Sensen, die man zum Pflügen und Ernten brauchte; Korbmacher bahnten sich ihren Weg, über und über behängt mit Körben, die beim Beerenpflücken im Sommer gute Dienste leisteten; Webkammacher hatten sich mit großen Bündeln Webkämmen eingefunden, und niemand hatte einen besseren Absatz als sie, weil in den langen, hellen Frühsommertagen gerade die rechte Zeit war, den Webstuhl in Gang zu setzen.

Das Ganze bot einen schönen Anblick, und was Karl Artur vor allem gefiel, war die Freude, die aus allen Gesichtern leuchtete. Reiche Kaufleute aus Kristineham, Karlstadt und Örebro, die sich nicht für zu gut dünkten, selbst mit ihren Waren herumzureisen, standen in ihren Buden in prächtigen Pelzmänteln und Seehundfellmützen und grüßten ihre Kunden mit holdem Lächeln. Die Dalmädchen standen buntfarbig und lustig hinter ihren einfachen Ständen, auf denen sie ihre Waren ausgebreitet hatten, während die Einwohner des Ortes Freunde und Bekannte mit jener natürlichen Fröhlichkeit begrüßten, die man im Frühjahr fühlt, wenn es aus ist mit der Kälte und dem schlechten Wetter und dem Eingesperrtsein. Der Branntwein trug wohl auch das Seine zu der guten Laune der Leute bei, das war nicht zu leugnen; aber um diese Tageszeit sah man noch keine Betrunkenen, höchstens war man ein wenig übermütig und lachlustig.

An einer Stelle war das Gedränge so groß, daß das Gefährt nicht weiterkommen konnte, sondern warten mußte. Karl Artur beklagte sich nicht darüber, er erfreute sich an den vielen kleinen lustigen Auftritten, die sich im Jahrmarktgewimmel abspielten. Vor einem Stand, wo man prächtige eigengewebte baumwollene Tücher aus Westgotland verkaufte, stand ein alter, kleiner, dürftig aussehender Kätner mit einem schönen jungen Mädchen an der Hand. Der Alte hatte wohl schon einen oder auch mehrere Gläser getrunken, und die Frühlingssonne hatte das übrige getan; er war von einem glückseligen Übermut ergriffen und rief dem Verkäufer mit lauter Stimme zu: »Bonander, Bonander, was kostet die rote Mütze? Was kostet die rote Mütze, Bonander, Bonander?« Aber die rote Mütze, die er seiner Tochter kaufen wollte, war ein schöner Strohhut mit seidenem Futter und langen rosaseidenen Bändern. Der Kaufmann hatte ihn vorne an seinem Stand aufgehängt, um damit die vornehmsten Damen herbeizulocken, und als nun der Kätner ihn haben wollte, geriet er in Verlegenheit und tat, als hörte er nicht, was der Alte rief. Aber dies hatte zur Folge, daß der Kunde nur immer lauter sein »Bonander, Bonander, was kostet die rote Mütze?« schrie.

Die Menge brach in helles Gelächter aus, die Gassenjungen äfften den armen Alten nach; aber Karl Artur fand ihn rührend, ihn, der sich nichts anderes denken konnte, als daß der schönste Hut auf dem Markte eine vollkommen passende Kopfbedeckung für seine Tochter wäre.

Das Gefährt hatte sich kaum wieder in Bewegung gesetzt, als es schon aufs neue anhalten mußte. Diesmal war es ein Bewohner des Bergwerkdistrikts, ein stattlicher Mann in mittlerem Alter, vorzüglich gekleidet und mit klugem, schönem Gesicht, der eine große Menge Leute um sich versammelt hatte. Er stand mitten unter ihnen, sehr ernst und sehr würdig, aber dann machte er plötzlich einen hohen Sprung und knipste mit den Fingern. »Jetzt bin ich richtig betrunken!« rief er. »Ei, wie lustig ist doch das!«

Im nächsten Augenblick war er wieder ernst, stand eine Weile würdig und schweigend da, dann kam unerwartet derselbe Satz und dasselbe Knipsen mit den Fingern. »Jetzt bin ich doch richtig betrunken!« rief er wieder. »Ei, wie lustig ist das doch!« Die Umstehenden fanden das höchst komisch; aber Karl Artur, der jede Trunkenheit verabscheute, fand den Auftritt unangenehm und wendete den Kopf weg, bis ihm sein Fuhrmann erklärte, das Ganze sei nur ein Spaß. »Der dort ist ebensowenig betrunken wie ich«, sagte er. »Auf jedem Jahrmarkt, den er besucht, steht er so da und spielt sich auf, nur um die Leute zum Lachen zu bringen.«

Karl Artur tat seine Frau leid, die daheim zusammengekauert auf dem Herd saß und nicht die geringste Ahnung von dem fröhlichen Leben hatte, das sich ganz in ihrer Nähe abspielte. Wie schade, daß sie nicht hierherkommt! dachte er. Sie würde vielleicht die eine oder andere von ihren früheren Kameradinnen treffen, denen sie ein gutes Andenken bewahrt. Es würde sie aus ihrem Trübsinn, der sie jetzt so bedrückt, herausreißen. Seine Gedanken wurden indes bald in eine andere Richtung gelenkt. Wie es auf den Märkten zu gehen pflegt, hatten sich auch viele lose Vögel, Gauner und andere Vagabunden eingefunden, deren hauptsächlichster Ernährungszweig im Pferde- und Uhrentauschhandel bestand. Einer von diesen Schelmen kam nun in voller Karriere auf der Straße dahergefahren, wahrscheinlich, um irgendeinem Liebhaber zu zeigen, was sein Pferd leisten konnte. Karl Artur sah ihn schon von weitem: einen dunkeln, schlanken Mann, der aufrecht auf dem Kutschersitz stand, um die Peitsche besser über einer kleinen gelben Schindmähre schwingen zu können. Der Kerl kreischte und fluchte, der Gaul stürzte wild vor Schrecken vorwärts, die Leute flohen auf die Seite, um nicht überfahren zu werden. Auch Karl Arturs Fuhrmann suchte auszuweichen; aber das Gedränge hinderte ihn daran, und einen Augenblick sah es aus, als müßten die beiden Gefährte aufeinanderstoßen.

Doch in der letzten Minute rief der Pferdehändler seinem Pferd ein paar beruhigende Worte zu und zerrte an den Zügeln. Als es darauf ganz langsam an dem jungen Pfarrer vorbeitrottete, zog er höflich seine Mütze, von der der halbe Schirm abgerissen war.

»Gehorsamer Diener, Vetter!« rief er. »Ei der Tausend, wie abgemagert du doch aussiehst! Wirf den schwarzen Rock ab und komm zu mir! Das ist ein Leben, das auch verschlägt!« Er hieb auf den Gaul los, der sich gleich in Trab setzte, und Karl Artur, ob der Begegnung etwas in Verlegenheit, befahl seinem Fuhrmann, sich Mühe zu geben, eiligst aus dem Jahrmarktgetriebe hinauszukommen.

Als sie glücklich die große Landstraße erreicht hatten, versank der junge Pfarrer in Gedanken. Er dachte an seinen Vetter Göran Löwensköld von Hedeby, der als junger Mensch aus dem elterlichen Gut davongelaufen war, sich mit Zigeunern und andern losen Vögeln zusammengetan und nie die geringste Lust bezeugt hatte, je wieder in ein geordnetes Leben zurückzukehren.

Bis jetzt hatte Karl Artur diesen Vetter immer als einen verkommenen, mißratenen Menschen angesehen, für einen Schandfleck der Familie, doch an diesem Tage war er weniger geneigt, dieses harte Urteil über ihn zu fällen. Das Leben eines solchen Landstreichers war vielleicht nicht so ganz ohne Reiz. Da herrschte Freiheit, da regierte das Unerwartete. Hinter jeder Straßenecke schaute ein Abenteuer hervor. So ein Mann brauchte keine Predigten zu machen, die an einem bestimmten Tag fertig sein mußten, keine langweiligen Protokolle zu führen, keinen schleppenden Kirchenratssitzungen vorzustehen. Vielleicht hatte der Vetter gar keine so ganz verwerfliche Wahl getroffen, als er die Gesellschaftszimmer eines Herrenhofes mit der Landstraße vertauschte.

Karl Artur wußte selbst recht gut Bescheid über die Landstraße. Während seiner Universitätszeit, wo er viermal im Jahr zwischen Karlstadt und Upsala hin und her gefahren war, hatte er nähere Bekanntschaft mit ihr gemacht. Viele sorglose Tage hatte er da erlebt. Mit Wonne erinnerte er sich an die in bunten Blumen prangenden Wegränder, an die schönen Aussichten von den Gipfeln der Hügel aus, an die Zubereitung seiner Wegzehrung in den Wirtshäusern, an die Unterhaltungen mit den aufgeräumten Wagenführern, die ihn im Lauf der Jahre immer wieder erkannten und verwundert fragten, ob er denn in Upsala bleiben wolle, bis er so weise sei wie der König Salomo?

Karl Artur, der von jeher das Leben in der freien Natur geliebt, waren die Reisen auf der Landstraße ihrer selbst wegen lieb gewesen. Während sich andere darüber beklagten, hatte er im stillen gedacht: Ich weiß nicht, warum sie jammern; die Landstraße ist von jeher mein Freund gewesen. Mir gefallen die steilen Hügel, dadurch kommt Abwechslung in die Reise. Die tiefen, einförmigen Wälder haben eine eigene Fähigkeit, die Phantasie anzuregen. Schlechte Wege sind mir auch nicht ganz verhaßt. Eine gebrochene Radachse hat mir einmal in einer Ortschaft Freunde verschafft, und ein Schneesturm führte mich sogar als Gast in ein Grafenschloß.

Während er so in seine Betrachtungen versunken, die der Anblick seines Verwandten in ihm erweckt hatte, dahinfuhr, geschah etwas Unerwartetes. Ein ganz neuer Gedanke flammte in ihm auf. Wie ein Blitz direkt vom Himmel herunter schlug er ein. So bestürzt war er darüber, daß er sich im Gefährt aufrichtete und einen Schrei ausstieß.

Der Fuhrmann zog die Zügel an und schaute sich um. »Sie haben doch wohl Ihren Talar nicht vergessen, Herr Magister?« fragte er.

Karl Artur setzte sich wieder und beruhigte den Mann. Nein, er habe sicherlich nichts vergessen, alles sei in bester Ordnung. Im Gegenteil, er habe etwas Vergessenes wiedergefunden.

Dann saß er während der ganzen Fahrt mit gefalteten Händen und in den Augen den strahlenden Widerschein seines neuen Gedankens still da.

Ganz richtig, wie er zu dem Fuhrmann gesagt, war es nichts Neues, was er da herausgefunden hatte. Hunderte, ja, vielleicht Tausende von Malen hatte er im Evangelium Matthäi die Worte gelesen, die Jesus sagte, als er seine Jünger aussandte, um die Botschaft von dem nahe herbeigekommenen Himmelreich zu verkündigen. Aber noch nie hatte er die volle Bedeutung dieser Worte erfaßt. Jetzt erst meinte er, Jesus habe seinen Aposteln tatsächlich befohlen, als arme Wanderer, ohne Stecken und ohne Tasche, umherzuziehen und die selige Botschaft in die Häuser am Wege, in die Hütten ebenso wie in die Schlösser zu bringen. Sie sollten sich auf den Märkten einstellen und die Leute um sich versammeln, sollten die Reisenden bei ihrer Rast in den Herbergen anreden, sollten sich mit anderen Wegfahrern ins Gespräch begeben, allüberall das Wunder des Himmelreichs verkündigend.

Wie war es möglich, daß er nicht früher schon daran gedacht hatte, diesem Befehl, der doch mit klaren, deutlichen Worten gegeben worden war, zu gehorchen? Er war, gerade wie andere Pfarrer, ruhig auf seiner Kanzel stehengeblieben und hatte erwartet, daß die Menschen zu ihm kommen sollten. Aber so hatte es Jesus nicht haben wollen. Seine Absicht war eine andere gewesen: Um zu den Menschen zu gelangen, sollten die Jünger auf Straßen und Gassen hinausziehen.

Er, Karl Artur, hatte seinen eigenen Plan, einen selbstgeschaffenen Plan. Ein irdisches Paradies hatte er schaffen wollen, das den Menschen ein Vorbild sein sollte. In diesem Augenblick begriff er, warum es mißglückt war. Er begriff, warum ihm soviel Widerstand begegnet, warum er seiner Beredsamkeit beraubt worden, warum er so großes Unglück verursacht hatte. Er hatte das Unrichtige gewählt, das hatte Gott ihm zeigen wollen. Christus wünschte nicht, daß seine Diener innerhalb von vier Wänden festsitzen sollten. Ein fliegender Vogel, ein freier Wanderer, ein armer Wanderer, der im Schoße der Natur lebte, so allein sollte der rechte Diener des Heilands sein. Essen und Trinken sollte er von der Gnade Gottes empfangen, hungern und dürsten, wie es Gott gefiel. Er durfte in einem Bett schlafen, wenn es Gott für ihn zurechtmachte, und wenn er eines Morgens, vom Sturm in eine Schneewehe getrieben, tot aufgefunden wurde, so bedeutete das nur, daß Gott den müden Wanderer zu seiner Herrlichkeit heimberufen hatte.

Das ist der Weg der vollkommenen Freiheit, dachte er in seligem Entzücken. Ich danke dir, Gott, daß du mich ihn hast finden lassen, ehe es zu spät ist!

»Wenn ich heimkomme«, murmelte er vor sich hin, »will ich an den Bischof schreiben. Ich werde ihn bitten, mich meines Amtes in Korskyrka zu entheben, und dann werde ich aus der schwedischen Staatskirche austreten. Prediger will ich natürlich auch ferner sein; ich will keine neue Lehre verkündigen, aber ich will auch keinem Kirchengesetz und Bischof und Konsistorium mehr untertan sein.

Jesu Lehre will ich verkündigen in der Weise, die er selbst bestimmt hat, ich will ein ›Landstreicher‹ unseres Herrn sein, ein Bettelpfarrer, ein Narr Gottes.«

Ganz hingerissen vertiefte er sich in diese Phantasien. Das Leben schien ihm einen neuen Sinn bekommen zu haben; wieder war es reich und hinreißend.

Meine Frau kann ja auch ferner in meinem Hause wohnen, dachte er. Sie wird da glücklich sein, wenn sie mich los ist. Sie wird die zehn Kinder zurückkommen lassen. Annas wegen brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Sie kann sich durch ihre eigene Arbeit alles verschaffen, was sie nötig hat.

Auf einmal meinte er aller Schwierigkeiten enthoben zu sein. Sein Herz klopfte mit leichten Schlägen wie in einem tanzenden Rhythmus, und das erfüllte ihn mit unendlichem Wohlbehagen.

3

Karl Artur konnte nicht bis sechs Uhr zu Hause sein, es war fast acht Uhr, als er vor seiner Wohnung aus dem Gefährt stieg.

Als er ein paar Augenblicke später die Küchentür öffnete – ach, er hatte seit langer Zeit diese Tür nicht in so froher Stimmung aufgemacht! –, hielt er jäh auf der Schwelle an, so verwundert war er über den Anblick, der sich ihm darbot.

Seine Frau hatte ihren Platz auf dem Herd verlassen; sie saß jetzt am Tisch vor dem Fenster und spielte mit zwei fremden Männern Karten. Gerade als Karl Artur eintrat, warf sie eine Karte auf den Tisch und rief laut und lustig: »Schippen! Und kein Trumpf da!«

»Doch, Anna, mein König ist da und sticht deine Karte«, sagte einer der Mitspieler, indem er seine Karte herausschleuderte.

In diesem Augenblick wurde das Spiel abgebrochen. Man hatte Karl Artur bemerkt, der mit bestürztem Gesicht unter der offenen Tür stand.

»'s sind zwei Kameraden von mir aus meiner Hausiererzeit, die mich b'sucht hab'n«, sagte seine Frau, ohne aufzustehen. »Wir unterhalt'n uns mit 'nem Spiel, wie wir's früher g'macht hab'n, wenn wir am Jahrmarkt im Wirtshaus beisammen g'wesen sind.«

Jetzt trat Karl Artur näher, und die beiden Männer standen vor ihm auf. Der eine trug eine schwarze, bis zum Hals herauf zugeknöpfte Plüschweste und einen langen Schoßrock aus schwarzem Düffel. Er hatte ein rotes Gesicht, einen Kahlkopf und sah freundlich und wohlwollend aus. Karl Artur erkannte in ihm jenen Kaufmann Bonander wieder, der den schönen roten Hut vorne an seinem Stand hängen gehabt hatte. Der andere war ein Dalbursche im langen Schafpelzrock, ein schöner Mann mit regelmäßigen Zügen und über der Stirn kurzgeschnittenem, aber an den Ohren recht langem Haar. »Der da ist August Bonander von Mark«, sagte Anna, »'s ist einer, der in einer festen Bude auf 'm Jahrmarkt steht und zwischen'nein seine Waren mit 'm Wagen 'rumfährt. Muß mich nur wundern, daß er so 'ne arme Person aus Dalarne wie mich und den Korp Lars dort, der sich mit dem Kramsack auf 'm eig'nen Buckel im Land 'rumschlagen muß, b'suchen will.«

Der Mann aus Westgotland machte eine höfliche Handbewegung, wie wenn er ein allzu geringes Angebot eines Kunden abweisen wollte. Er fing an zu reden und sagte, wie geehrt er sich immer gefühlt habe, mit so einem Prachtmädel von einer Hausiererin wie Anna Svärd Umgang zu pflegen. Aber Karl Artur unterbrach ihn.

»Die Freunde meiner Frau sind immer willkommen«, begann er, »aber ich muß sofort sagen, daß das Kartenspielen in meinem Hause verboten ist.«

Das wurde zwar freundlich, aber mit großer Würde gesagt. Die beiden Männer wurden ein wenig rot und sahen sich unsicher um; aber Anna hatte sofort ihre Antwort bereit.

»Unsinn!« rief sie. »Willst uns woll unsern Spaß verderb'n! Geh du zu dir in die ander' Stub'! Hab' dein Abendbrot 'neingestellt, uns aber laß in Ruh'!«

Karl Artur, der seine Frau noch niemals in solchem Tone mit sich reden gehört hatte, fühlte bei diesen Worten einen unbeschreiblichen Schmerz in sich aufsteigen; aber er beherrschte sich und sagte ebenso ruhig und höflich wie vorher: »Kann man denn nicht auch behaglich beisammensitzen und sich unterhalten? Alte Freunde haben meist gar viele Erinnerungen aufzufrischen?«

»Spiel aus, August!« sagte Anna. »Jetzt bist du dran. Der dort gibt nit nach, bis er de' Leut' alles g'nommen hat, was sie gern hab'n.« – »Anna!« rief Karl Artur in scharfem Ton.

»Jawoll! Hast mir vielleicht nit die dreitätig' Hochzeit g'nommen? Hast mir nit 's Pfarrhaus g'nommen, das ich hätt' hab'n soll'n? Hast mir nit die Kinder und die fünfzig Reichstaler g'nommen? Und jetzt willst mir auch noch 's Kartenspiel nehm'n! Spiel aus, August!«

Der Angeredete folgte der Aufforderung nicht. Er und der Mann aus Dalarne saßen ganz still da und warteten, bis der Streit zwischen den Eheleuten zu Ende sein würde. Keiner von den beiden war berauscht, und es ist fast anzunehmen, daß es Karl Artur gelungen wäre, sie im guten vom Kartenspielen abzubringen, wenn er nur seine Ruhe hätte beibehalten können. Aber er wurde ungeduldig, weil seine Frau ihm zu widersprechen wagte, überdies in Gegenwart Fremder. Er streckte die Hand aus, um ihre Karten an sich zu reißen. Im selben Augenblick aber machte Korp Lars, der mit einem mächtigen Sack voll eiserner Waren auf dem Rücken im Lande umherzog, eine Bewegung mit dem Arm. Es war nur eine kleine, kaum bemerkbare Bewegung; aber Karl Artur fuhr zurück wie eine weggejagte Fliege und wäre zu Boden gefallen, wenn nicht ein Stuhl im Wege gestanden hätte. Einen Augenblick blieb er nach dem plötzlichen Überfall keuchend sitzen, da er aber nun schon seit Wochen jeden Tag ein paar Stunden Holz gespalten hatte, fehlte es ihm nicht an Körperkraft. Er wollte auf den Widersacher losstürzen; doch da preßte ihm ein fester Griff beide Arme an den Körper, dann wurde er aufgehoben und in sein eigenes Zimmer hinübergetragen. Alles geschah vorsichtig und bedächtig, man hätte kaum von Gewalt reden können. Durch einen Stoß flogen die Türen auf, er wurde vorsichtig auf sein Bett gelegt und dort ohne ein Wort allein gelassen.

Da lag er nun zähneknirschend vor Zorn und der erlittenen Demütigung. Aber vom ersten Augenblick an wußte er auch, daß hier nichts zu tun war. Die Stärke des anderen war geradezu überwältigend. Wenn er nicht zum Vogt eilen und Leute herbeischaffen wollte, die die beiden Fremden aus dem Hause jagten, konnte er durchaus nichts unternehmen.

Mehrere Stunden lang lag er so auf seinem Bett und lauschte nach der Küche hinüber. Das Lachen und Schwatzen sowie das Aufklatschen der Karten auf dem Tisch, wenn irgendein großer Trumpf ausgespielt wurde, drang durch die dünnen Wände zu ihm herüber. Wahnsinniger Haß gegen seine Frau war in ihm aufgestiegen, und er schmiedete wilde Rachepläne, die er ausführen wollte, sobald die beiden Männer das Haus verlassen hätten.

Endlich gingen sie auch ihrer Wege, und seine Frau begab sich in ihre Schlafkammer. Es wurde ganz still im Hause.

Nun stand er auf, schlich sich durch den Flur nach der Schlafstube seiner Frau; aber siehe, der Schlüssel war abgezogen.

Er wetterte ein paarmal gegen die Tür, bekam aber keine Antwort. Darauf ging er in sein eigenes Zimmer zurück, holte ein Licht und eilte damit in die Küche, in der Hoffnung, da irgendein Werkzeug zu finden, womit er die Schlafstubentür seiner Frau aufbrechen könnte. Das erste, was ihm in der Küche in die Augen fiel, war das Kartenspiel, das noch mitten auf dem Tische lag, und nun meinte er, die Gelegenheit benützen zu müssen, diesen seinen Feind zu vernichten.

Anna hab' ich in gutem Gewahrsam. Sie wird mir nicht entgehen, dachte er.

In der Tischlade fand er eine Schere, und nun fing er an, das Kartenspiel zu zerschneiden. Jede Karte wurde einzeln ganz gut und methodisch, aber mit wahnsinnigem Eifer, in kleine, dreieckige Stücke zerschnitten. Aber die zweiundfünfzig Karten machten ihm viel Arbeit, und er war erst fertig, als schon die Morgensonne durch die Fensterscheiben hereinlugte.

Unterdessen war der heißeste Zorn verrauscht. Ihn fröstelte, er fühlte sich unbehaglich und unerhört schläfrig.

Nun muß es eben bis zum Morgen warten, dachte er. Aber einen kleinen Gruß soll sie jedenfalls von mir vorfinden.

Er griff in den vor ihm liegenden Haufen Schnipsel und streute alle die kleinen Fetzchen lachend in der Küche herum. Handvollweise säte er sie umher, wie ein Ackermann seinen Samen ausstreut; ja, er gab wohl acht, daß sie jeden Fleck bedeckten. Als er fertig war, sah der Küchenboden aus wie ein Ackerfeld nach einem leichten Schneefall.

Der Boden war alt und splitterig, mit großen Ritzen zwischen den Brettern. Die Hausfrau würde eine ordentliche Arbeit haben, bis sie diese scharfkantigen Schnipsel, die sich in jeder Unebenheit festsetzten, fortgescheuert hätte.


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