Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ein gefährlicher Schüler.

Unter den Medizinern, die meine Vorlesungen, zuletzt die über Psychiatrie im Winter 1858/59, besuchten, befand sich ein Schwarzwälder, der mir von Anfang an durch mehrere Sonderbarkeiten aufgefallen war. Ein hagerer, etwas mehr als mittelgroßer Mensch in der Mitte der zwanziger, von dunkeln Haaren und finsterer Miene, ging er stets allein und setzte sich auch im Hörsaal einsam auf die hinterste Bank. Regungslos hörte er mit tiefem Ernste zu. Man sagte mir, er beschäftige sich viel mit abstrusen Studien und habe eine Preisfrage über Spinoza in Angriff genommen, seine Arbeit aber schließlich nicht eingereicht. Im ganzen war er mir unheimlich.

Im Winter 1858/59 fand ich nach einem Spaziergang abends auf meinem Schreibtisch ein Briefchen in feinster Miniaturschrift, fünf bis sechs Zeilen ohne Ueber- und Unterschrift, den artikulierten Aufschrei einer verzweifelnden Seele, aber keine Bitte darin um Teilnahme oder Hilfe. Erschüttert sagte ich mir nach kurzem Ueberlegen: diese schrecklichen Zeilen kann nur der unheimliche Zuhörer auf der hintersten Bank geschrieben haben! Mit Hilfe des Adreßkalenders suchte ich ihn sogleich in seiner Wohnung auf und fand ihn zu Hause, er hatte sich in einem gut eingerichteten Studentenzimmer des Harmoniegebäudes eingemietet; es dunkelte bereits und er beeilte sich nicht, für Licht zu sorgen. Meine Frage, ob er mir geschrieben, verneinte er anfangs und bejahte sie erst, nachdem ich ihm auf den Kopf zugesagt hatte, er und kein andrer habe mir den Brief geschrieben, den ich ihm vorwies, ob er es zugebe oder nicht; ich bat ihn dann herzlich, mir sein Vertrauen zu schenken. Nun erst rückte er ganz mit der Sprache heraus, es falle ihm von Jahr zu Jahr schwerer zu studieren, er leide oft an Kopfweh und Angstgefühlen und mache sich Vorwürfe über seine Vergangenheit und trübe Gedanken über seine Zukunft. Ich erteilte ihm Rat so gut ich konnte, beschwor ihn, seine abstrusen Studien aufzugeben, das nahe Staatsexamen zu verschieben, abends nicht zu arbeiten, viel in die Luft zu gehen u. dgl. mehr. Er versprach zu folgen und es vergingen einige Wochen, ohne daß er mich, wie ich gewünscht, aufgesucht hätte.

Unerwartet erhielt ich eines Tags abermals ein Briefchen in derselben Handschrift, ohne Ueber- und Unterschrift und gleichen Inhalts, wie das erste. Ich suchte ihn wieder auf, beriet und tröstete ihn, versuchte ihn zu bestimmen, die Heilanstalt Illenau aufzusuchen; dazu aber ließ er sich nicht bewegen.

Bald hernach kam er plötzlich aus einer Vorlesung bei Helmholtz über Physiologie des Nervensystems, verbunden mit physiologischen Uebungen, furchtbar aufgeregt zu mir gestürzt und erklärte mir, er wisse jetzt ganz genau, wer ihn schändlich verfolge und seine Krankheit verschulde. Es sei der russische Augenarzt, der bei Helmholtz arbeite. Dieser Mensch habe ihn schon mehrmals auf der Straße verdächtig angeschaut, heute aber seine feindselige Gesinnung ohne Scheu verraten. Helmholtz habe über den Augenspiegel gesprochen und den russischen Arzt beauftragt, den Schülern nach der Vorlesung den Gebrauch dieses Instruments zu demonstrieren. Darauf habe dieser mehreren Studenten und zuletzt ihm die Augen damit untersucht, kaum aber habe er ihm hineingeschaut, so sei er aufgefahren und habe ihm zugerufen: »Mein Herr, nehmen Sie sich in Acht, Ihr Gehirn ist nicht mehr in Ordnung, lassen Sie sich ärztlich behandeln!« Ich ging sogleich zu dem mir bekannten russischen Kollegen und erfuhr, daß sich der Augenspiegel wirklich als Gehirnspiegel erwiesen hatte; die Scheibe des Sehnerven begann zu schwinden und die ganze, trostlose Diagnose lautete: Gehirnschwund. Aufs neue übernahm ich die schwierige Aufgabe, den Kranken zu beruhigen, und die vergebliche, ihn zu bereden, nach Illenau zu gehen.

Der Winter ging herum, auch die Osterferien nahten ihrem Ende, da begegnete ich eines Tags meinem russischen Bekannten in der breiten Straße vor dem akademischen Krankenhause, vor der heutigen Kaserne, gegenüber dem Amtsgerichtsgebäude. Wir begrüßten uns und er erzählte mir ein heiteres Abenteuer, das ihm auf einer Ferienreise nach Italien zugestoßen war. Wir lachten und in diesem Augenblick ging auf der anderen Seite der Straße der Unglückliche vorüber und bemerkte unsre scherzhafte Unterhaltung. Sein Gesicht wurde noch finsterer, ich erschrack und rechnete auf ein Briefchen oder seinen Besuch, doch währte es einige Tage, bis ich, am 20. April 1859, einige Zeilen von ihm empfing, diesmal oben mit dem Datum, unten mit den Anfangsbuchstaben seines Vor- und Zunamens, C. H., versehen. Der Brief ist noch in meinem Besitz und ich teile ihn in genauer Abschrift mit; er ist ganz nach dem Muster der beiden älteren geschrieben und gewährt einen tiefen Blick in das Gemütsleiden des Unglücklichen.

»Faß ich die Gegenwart ins Aug, so seh ich nichts, denn ein entehrtes Jetzt; schau ich zurück, ein unerhörter Frevel, der dem Selbstmord gleicht, wie ein Ei dem andern, und richt ich vorwärts den Blick, ein elendes, qualvolles Scheinleben meine Zukunft. So find ich nirgends mehr einen Halt; es ist der Fluch, der auf mir ruht.«

Eilends ging ich zu ihm und es gelang mir diesmal, ihn zu bewegen, sich in Illenau aufnehmen zu lassen, wo er am 28. Mai eintraf. Er schrieb hier anfangs sehr eingehende und vollkommen verständige Berichte nieder über seinen Lebensgang von der ersten Kindheit an, seine Gymnasial- und Universitätsstudien und die Ursachen seiner Krankheit. Er war ursprünglich zum Theologen bestimmt gewesen, hatte dieses Fach auch zunächst in Freiburg gewählt, es aber gegen den Willen seiner verwitweten Mutter, die ihn deshalb verfluchte, mit dem Studium der Medizin vertauscht, erschrecklich viel durcheinander gelesen und wenig verdaut, auch Verirrungen sich hingegeben, deren schädliche Natur ihm erst durch meine psychiatrischen Vorlesungen ganz klar geworden sei. – Man ließ ihn anfangs sich ziemlich frei bewegen und traf keine Maßregeln besonderer Vorsicht.

Nachdem ich eine Weile von meinem Schüler nichts mehr gehört hatte, erhielt ich einen Brief von ihm, datiert vom 14. Juli, der mit den Worten begann: »Zitternd vor Schrecken und Entsetzen über Ihre Inhumanität, mit der Sie gegen mich gehandelt, möchte ich Sie mit bitterem Ernste fragen, ob es Sie nun beruhigt, mich mürbe gemacht zu haben, und welcher Art die Befriedigung ist, die Sie empfinden, mich in Gemeinschaft mit dem Russen einem Elende zugeführt zu haben, das Sie wahrscheinlich kennen aber nicht empfinden.« Ich war in seinen Augen ein abscheulicher Heuchler, der sein Vertrauen mißbraucht, und sich mit dem Russen verschworen hatte, ihn zu verderben, ja ich hätte sogar, was er mit eigenen Ohren gehört, mich mit diesem Bösewicht über sein Unglück noch lustig gemacht. Er warnte mich und gestand mir, daß er mir nach jener Verhöhnung seines Elends abends acht Uhr unter dem großen Thorbogen am seitlichen Eingang des Museums, der sich allerdings zu einem mörderischen Ueberfall trefflich eignete, mit einem Dolche aufgelauert habe, um blutige Rache an mir zu nehmen, »ohne Rücksicht auf mein junges Weib und meine schönen Kinder«. Nur das höllische Gelächter, das ich unter dem Thore ausgestoßen, habe mich damals gerettet. Er bewahre den Dolch, um davon zur rechten Zeit den rechten Gebrauch zu machen.

Ich habe nicht nötig zu bemerken, daß ich weder damals noch je sonst beim Besuche des Museums Lachsalven losließ. Als mir der Wahnsinnige auflauerte, durchbrach zweifelsohne ein Strahl des alten Vertrauens, das noch in ihm zurückgeblieben war, die Nacht, die sein krankes Gemüt umhüllte, er halluzinierte das Gelächter und ich war gerettet. Umgehend schickte ich seinen Brief nach Illenau, wo man den Dolch bei ihm auffand, wegnahm, und ihn selbst besser beaufsichtigte. Er starb den 7. Juni 1860 an Tuberkulose der Lungen.

Wäre ich unter dem Dolche meines Schülers, dessen Geheimnis ich allein besaß, gefallen, welche Fabeln würden wohl die geschäftige Phantasie erfindungsreicher Laien über mein Verhältnis zu ihm ausgebrütet haben? Sicher hätte es nicht an selbstgewissen und von ihrem unfehlbaren Scharfsinn überzeugten Leuten gefehlt, die in mir ein moralisches Scheusal erkannt hätten, einen Verbrecher, der das Vertrauen seines unglücklichen Schülers in irgend einer dunkeln Weise, man wisse nur nicht wie, mißbraucht und dafür den verdienten Lohn empfangen habe.

.


 << zurück weiter >>