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Erneutes Studium der Medizin und Doktorpromotion in Würzburg.

In meinen Jugenderinnerungen Jugenderinnerungen eines alten Arztes. Stuttgart, Bonz u. Comp. 1. Aufl. 1899, 5. Aufl. 1902. habe ich erzählt, warum ich gezwungen war, im Frühjahr 1854 die ärztliche Praxis zu unterbrechen und nochmals zu studieren, um die akademische Laufbahn einzuschlagen. Es sei nur in Kürze wiederholt, daß ich zwei Jahre lang, 1848 und 1849, Militärarzt gewesen war und, nachdem ich am 1. Januar 1850 meinen Abschied genommen hatte, mir einen eigenen Herd als praktischer Arzt gründete und mich in einer der reizendsten Landschaften der südwestlichen Schwarzwaldecke niederließ. Hier genoß ich die Poesie eines jungen, in Liebe geschlossenen Ehebundes vier Jahre lang und übte die Heilkunst aus in ihrem ganzen Umfang mit äußerem Erfolge und innerer Befriedigung. Mein Körper jedoch besaß nicht Widerstandskraft genug, um die Strapazen der aufreibenden Gebirgspraxis zu ertragen und wäre ihnen beinahe erlegen. Darum faßte ich noch kaum genesen den Entschluß, einen Plan aufs neue aufzunehmen, den ich sieben Jahre zuvor in Wien und Prag gehegt, aber beim Ausbruch der Februarrevolution aufgegeben hatte, den Plan, als Dozent in Heidelberg mein Glück zu versuchen. Dazu galt es nun, durch ein erneutes medizinisches Studium mich vorzubereiten, Vergessenes aufzufrischen und Neues aufzunehmen. In den sieben Jahren, die ich in der Praxis verbracht hatte, war trotz der politischen Stürme, die Europa durchbrausten, die Wissenschaft ihre sicheren Wege gegangen und namentlich die pathologische Anatomie, die ich als künftiges Lehrfach ins Auge faßte, hatte unter Virchows Führung eine neue Gestalt und reichen Inhalt gewonnen.

So begreift man, warum ich gerade Würzburg für mein erneutes Studium wählte. Virchow hatte im Herbst 1849 Berlin verlassen, wo er so glänzend begonnen. Als Professor der pathologischen Anatomie nach Würzburg berufen, zog sein Name seit vier Jahren zahlreiche Jünger Aeskulaps nach der seit den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts namentlich durch Doellinger, Heusinger, Schönlein und Ed. Jaeger geweihten und berühmten Stätte. Um jedoch mein Vorhaben ausführen zu können, mußte ich aus finanziellen Gründen mich allein auf den Weg machen und meine kleine Familie bei meinen Schwiegereltern zurücklassen; es fiel uns nicht eben leicht, doch ergab man sich tapfer in die bittere Notwendigkeit.

Ohne zu ahnen, daß mich die Sterne für das klinische Lehrfach bestimmt hatten, beschäftigte ich mich in Würzburg ein Jahr lang ausschließlich mit anatomischen, physiologischen und chemischen Studien. Ich besuchte die Kliniken nur einige Male aus Neugierde, ihre Leiter lehren zu sehen.

Im Winter 1854/55 besorgte noch zum letztenmal Marcus, der Jüngere genannt, zum Unterschiede von seinem Adoptivvater, dem berühmteren Bamberger Marcus, die innere Klinik. Er war fast ganz erblindet und versuchte seinen Fehler vergeblich vor den Schülern zu verheimlichen; seine Assistenten machten ihm die Diagnose des Falls, der zur Vorstellung in der Klinik bestimmt war, führten ihn bei deren Beginn vor das Bett des Kranken, wo er diesen dann demonstrierte und besprach. – Textor, der Vater, leitete ebenfalls in diesem Winter zum letztenmal die chirurgische Klinik; er stand bei seinen Schülern noch immer in großer Gunst. – Im Sommer trat Bamberger an die Stelle von Marcus, und Morawek, ein tüchtiger Lehrer, wie Bamberger, an Textors Stelle, doch ereilte Morawek schon nach 1½ Jahren der Tod. – Scanzoni, dessen Gestirn damals noch in vollem Glanze erstrahlte, war Ordinarius für Geburtshilfe.

Von systematischen Vorlesungen besuchte ich zwei Semester lang die von Virchow über pathologische Anatomie und im Sommer die von Koelliker über Entwicklungsgeschichte und von Scherer über analytische und physiologische Chemie. Kurse nahm ich bei Virchow und Koelliker. Unübertrefflich waren die Demonstrationen und Vorträge Virchows, jeder Tag brachte Neues und Lehrreiches. Bei Koelliker nahm ich teil an seinem mikroskopisch-anatomischen Kurse und einem recht nützlichen Privatissimum über experimentelle Physiologie. Außerdem präparierte ich im Winter noch einmal, wie ich es als junger Student bei Tiedemann gethan, jetzt mit besserem Verständnis als praktisch geschulter Arzt, sämtliche Organe, Muskeln, Gefäße und Nerven, mit Einschluß der kleinsten Kopfganglien, am menschlichen Leichnam. Im Sommer darauf arbeitete ich im chemischen Laboratorium; doch ließ die Anleitung zu analytischen Uebungen darin viel zu wünschen übrig; Scherers Zeit war durch Fakultätsgeschäfte in Anspruch genommen und sein Assistent taugte nichts.

Von großem Werte waren mir manche freundschaftlichen Ratschläge, die mir der Anatom Heinrich Müller, seit 1852 a. o. Professor, erteilte. Ich kannte ihn von unsrer gemeinschaftlichen Studienzeit in Heidelberg her; damals lebte er mit seiner Mutter zusammen, die den schwächlichen jungen Mann ängstlich behütete. Jetzt war er glücklich verheiratet und ich genoß manche schöne Stunde in seiner Familie. Er hatte sich bereits durch seine ausgezeichneten mikroskopischen Untersuchungen der Sehhaut, die er zwei Jahre nachher in einer besonderen Schrift veröffentlichte, großes Ansehen bei den Fachgenossen verschafft. Leider starb Müller schon 1864 im Alter von 43 Jahren.

Wie ich mit Nikolaus Friedreich bekannt geworden bin, damals Privatdozent, später Kliniker in Heidelberg, und mit George Harley, der sich anatomischer Studien wegen in Würzburg aufhielt und später Professor und Physician am London University Hospital wurde, habe ich in meinen Jugenderinnerungen A. a. O. S. 490. und ausführlicher in meinem Nekrologe Friedreichs Deutsches Archiv f. klin. Medizin, 1883. Bd. 32, S. 191 u. f. erzählt.

Um die Vorlesungen belegen zu dürfen, mußte ich mich immatrikulieren lassen und kam mir danach in meiner doppelten Eigenschaft als Student und Familienvater sonderbar vor, mußte mich aber darein ergeben. Ich konnte mit einigem Troste auf andere bemooste Häupter blicken, die auf den Schulbänken bei Virchow saßen, zwei sogar mit mir auf einer Bank, doch hielten sie nicht eheliche Bande gefesselt, wie mich. Beide waren das Opfer ihrer politischen Vergangenheit in den schlimmen Jahren 1848 und 1849. Der eine, Eduard Maria Krafft, ein abgedankter bayrischer Forstmann, saß an meiner Seite; der gescheite, heitere Mann ist als Bezirksarzt in Germersheim 1886 gestorben. Sein Andenken hält die »ärztliche marianische Kongregation«, die er mitbegründet hat, in Ehren. Sie führt die Kollegen der Pfalz alljährlich am letzten Mittwoch des Dezember in Neustadt a. d. H. zusammen. Nach des Jahres Mühen und Sorgen schöpfen sie hier bei edlem Pfälzer Wein neuen Mut für das kommende Jahr. Der andere, ein Hamburger, Lafaurie mit Namen, der im Jahr 1848 Dozent der Nationalökonomie in Jena gewesen war, soll, wie man in Würzburg erzählte, 1848 eine Weile im Besitze der Regierungsgewalt von Sachsen-Weimar gewesen sein; er ließ sich später in seiner Vaterstadt als Arzt nieder. Mein Nachbar auf der andern Seite war ein junger Kommilitone, ein liebenswürdiger Rheinländer und vielversprechender Mediziner, Eduard Lent, heute Geheimer Sanitätsrat in Köln. Von älteren Herren, die ihren Beruf gewechselt hatten um zu Würzburg Medizin zu studieren, nenne ich noch den Schweizer Dr. Gsell-Fels, den bekannten Verfasser geschätzter Reisebücher für Südfrankreich und Italien; er hatte sich mit seiner Frau in Würzburg häuslich eingerichtet.

Von badischen Medizinern, die mir in Würzburg näher bekannt wurden, dürfte Dr. Merz, der in Donaueschingen als Kreisoberhebarzt und Leibarzt des Fürsten von Fürstenberg starb, der bedeutendste gewesen sein; namentlich besaß er vorzügliche chemische Kenntnisse. Einige, mir verwandt oder durch Freunde empfohlen, schlossen sich mir gerne an und machten mich in den ersten Tagen mit den Würzburger Sehenswürdigkeiten bekannt. Zwei dieser jungen Freunde führten mich auch, um mir ein besonderes Vergnügen zu machen, auf den Wochenmarkt. Welcher Natur das Vergnügen sei, behielten sie geheimnisvoll für sich. Der Markt war stark besucht und gedrängt voll Bauersfrauen aus der Umgegend, die entsprechend der Landestracht farbige Tücher um den Kopf gebunden und kurze Röcke trugen; an ihrem Rücken, über die Schultern befestigt, ragten große breite Tragkörbe hoch über den Nacken am Kopf hinauf, die ihnen, auch wenn sie den Kopf zur Seite drehten, jede Aussicht nach hinten versperrten. Meine Begleiter wanderten langsam durch die Reihen der Weiber, schauten prüfend bald nach links, bald nach rechts, bis sie gefunden hatten, was sie suchten. Es war eine dralle Bäuerin, die in gerader Haltung vor ihnen stand und ihnen den Rücken mit dem Korbe zuwandte. Sie leuchteten beide vor Freude, der Gewandtere verlor keinen Augenblick, faßte den Korb mit beiden Händen an den Seiten und drehte das Weiblein wie der Blitz halb herum, so daß sie jetzt hinter sich schaute, starr vor Verwunderung, wie ein hypnotisiertes Huhn. Die mutwilligen Burschen wanderten gelassen, als wäre nichts geschehen, ihren Weg weiter, und niemand hatte in dem lebhaften Marktgetriebe auf den Vorgang geachtet. Ich aber war verblüfft und machte mich eilends davon. Wider Willen hatte ich einen eigentümlichen, mir bisher unbekannten Scherz der studierenden Würzburger Jugend kennen lernen, war jedoch nach weiteren Erfahrungen auf diesem Gebiete nicht begierig.

Ueber die Weihnachtsferien besuchte ich meine Frau, ich hatte sie frisch und rosig verlassen und fand sie kraftlos und bleichsüchtig in hohem Grade. Sobald die bessere Jahreszeit es zuließ, kam sie mit unserem ältesten Töchterchen zu mir und genas ohne Arznei in wenig Wochen.

Wie die meisten badischen Aerzte hatte ich mich nach dem Staatsexamen 1846 mit dem schlichten Titel eines praktischen Arztes begnügt, wollte ich aber zur Habilitation an deutschen Universitäten zugelassen werden, so mußte ich den Besitz eines Doktordiploms nachweisen. Deshalb unterzog ich mich kurz vor dem Abgang von Würzburg der schriftlichen und mündlichen Prüfung pro gradu, disputierte auch, wie es die Vorschrift verlangte, öffentlich, wobei mir Friedreich opponierte, und versprach die Inaugural-Dissertation, die ich erst in Heidelberg ausarbeiten wollte und mich in den Besitz der Promotionsurkunde setzen sollte, nachzuliefern.

Das Recht, die Kandidaten für die Doktorwürde zu prüfen, war ein Monopol der älteren Fakultäts-Mitglieder, Virchow und Koelliker nahmen noch nicht teil daran. Von sämtlichen mir vorgelegten Fragen brachte mich nur eine in Verlegenheit, die mir der alte Textor stellte. Er prüfte mich über den Steinschnitt und schloß mit der wunderlichen Aufforderung, ich möchte ihm angeben, wie oft er den Steinschnitt, nach meiner ungefähren Schätzung, ausgeführt hätte. Ich wagte nicht mit einer Antwort herauszurücken, worauf er mir riet, ihn recht nieder einzuschätzen, denn in Franken seien Blasensteine selten. Um lieber zu viel als zu wenig anzunehmen, meinte ich, ein Dutzend Steinschnitte dürfte er zum mindesten ausgeführt haben. »Fehlgeschossen!« lächelte er mir freundlich zu, »mit vier hätten sie es richtig getroffen.«

Nachher erfuhr ich, daß Kajetan von Textors Sohn Karl, seit 1850 a. o. Professor, eine Habilitationsschrift 1843 herausgegeben hatte unter dem Titel: »Versuch über das Vorkommen der Harnsteine in Ostfranken«, worin er den Nachweis versuchte, daß im fränkischen Stromgebiete des Mains und seiner Nebenflüsse Blasensteine selten seien, während Harnsand und Gries häufig vorkämen. Außerdem rühmte er die Zuträglichkeit der Frankenweine, namentlich der Weine aus dem Saalgrunde, für Personen, die zu Steinbildung geneigt seien. Die Abhandlung ist weitschweifig und ziemlich ermüdend zu lesen, erst am Ende belohnt eine heitere Notiz aus der Geschichte des Fürstbistums Würzburg den Leser, der sich bis dahin geduldig durchgearbeitet hat. Bischof Peter Philipp, im Volksmunde Peter Lustig geheißen, erkannte schon 1681, gelegentlich einer verheerenden Pest, die heilsame und schützende Kraft guter Frankenweine. Dessen zum Gedächtnis ließ er eine Denkmünze prägen, worauf der Pestdrache vor dem flammenden Kreuze, das von traubenschweren Reben umrankt wird, sich elendiglich krümmt und von dannen flieht; um die Münze schlingt sich die Umschrift: »Vincit et sanat.«

Meine Erinnerungen an Würzburg darf ich nicht schließen, ohne der großen Güte zu gedenken, die mir Virchow zu teil werden ließ. Er interessierte sich für mein Vorhaben und versprach mir aus freien Stücken, mich dabei zu unterstützen, meinte jedoch, ich solle das klinische Lehrfach in Aussicht nehmen. Ohne mir vorher ein Wort zu sagen, gab er sich Mühe, mir dazu den Weg zu bahnen. In Tübingen war die Stelle eines Assistenten der inneren Klinik, verbunden mit der Erlaubnis zu doziereu, frei geworden, er schrieb deshalb an Professor Griesinger, der sie zu vergeben hatte, und empfahl mich ihm. Glücklicherweise war die Stelle bereits wieder besetzt und ich brauchte mich nicht erst zu besinnen, ob ich sie annehmen wolle; sie schien mir zwar ganz geeignet für einen Mediziner ledigen Standes, aber nicht für einen Familienvater. Uebrigens brachte mir die Empfehlung den Vorteil, daß sie meine persönliche Bekanntschaft mit Griesinger anbahnte, die mir eine der wertvollsten geworden ist. Dabei aber ließ es Virchow nicht bewenden. Nachdem der Plan mit Tübingen gescheitert war, gab er mir, als ich Abschied von ihm nahm, einen Empfehlungsbrief an Professor Hasse in Heidelberg mit, über dessen Schicksal ich in einem der folgenden Kapitel berichten will.

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