Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Meine Inaugural- Dissertation.

Der Aufenthalt in Illenau ist mir in mehrfacher Beziehung nützlich gewesen. Vor allen Dingen hat er mich mit den Seelenstörungen hinreichend genug bekannt gemacht, um mich vor Fehldiagnosen zu schützen, wie sie sogar berühmte Pathologen begingen, die sich um die organischen Krankheiten des Nervensystems verdient gemacht, aber die Psychiatrie nur aus Büchern studiert haben. Sie verkannten ausgesprochene Fälle von allgemeiner Paralyse, zweimal ging die Diagnose auf chronische Meningitis, in einem andern Falle sogar auf Tumor cerebri. Auch verdanke ich Illenau die erste Anregung zu der Inaugural-Abhandlung, die ich der Würzburger Fakultät vorlegen mußte, um in den Besitz meines Doktordiploms zu kommen.

Unter den psychiatrischen Schriften der Illenauer Bibliothek ragte durch Geist und wissenschaftliche Methode mächtig hervor das leider unvollendet gebliebene Werk Jakobis, des Direktors der Siegburger Anstalt. Ich traf darin auf Versuche über Kompression der Karotiden zu Heilzwecken, die teils er selbst, teils andere nach dem Vorgänge Kaleb Parrys (1797) angestellt hatten. Dieser Eingriff bewirkt eine plötzliche Unterbrechung der Blutströmung in den beiden, vorn am Halse gelegenen und dem Fingerdrucke zugänglichen großen Halsschlagadern, die das Gehirn beim Menschen mit der Hauptmasse an Blut versorgen, dessen es in reichlichen Mengen zur Erfüllung seiner Verrichtungen als Organ des bewußten Fühlens, Denkens und der Willensbewegungen bedarf; nur ein weit geringerer Teil wird ihm vom Nacken her durch die versteckten Wirbelarterien geliefert. Gudden war Jakobis Assistent gewesen und hatte vielen solchen Versuchen angewohnt. Er zeigte mir das Verfahren an einigen dazu geeigneten jüngeren Personen, bei denen keine Gefahr durch die Ausführung zu befürchten war. Die Wirkung auf das Gehirn ist erstaunlich und beweist, daß die Blutmenge, die ihm durch die Wirbelarterien allein zugesührt wird, für das menschliche Gehirn nicht ausreicht, das Bewußtsein zu erhalten. Wie vom Schlage gerührt verliert der Mensch, sobald die Blutbahn der Karotiden gesperrt wird, das Vermögen, bewußt zu fühlen, zu denken, sich auf den Beinen zu halten und den willkürlichen Gebrauch seiner Muskeln überhaupt.

Diese Thatsache kannte schon Galen. Ein berühmter Anatom in Pisa, Colombo (1554) benützte sie, um eine große Gesellschaft in Erstaunen zu setzen. Unter dem Vorgeben, zaubern zu können, machte er einen jungen Mann durch einfachen Fingerdruck auf den Hals umsinken. Ich selbst wiederholte sein Kunststück eines Tags bei einem befreundeten jungen Mann, der mit seiner Stärke prahlte und mir nicht glauben wollte, daß es für einen Mediziner eine leichte Sache sei, den stärksten Athleten durch einfachen Druck der Finger zu Boden zu werfen. Er forderte mich auf, es bei ihm zu versuchen, ich werde ihn nicht bezwingen. Vorsichtshalber, um ihn vor dem Niederstürzen zu bewahren, ließ ich ihn auf einen Stuhl sitzen, ehe ich den Druck ausübte. Seine Karotiden lagen sehr günstig. Kaum hatte ich die Finger angelegt, so erblaßte er, schwankte und drohte vom Stuhle zu sinken; ich hatte kaum noch Zeit, ihn aufzufangen. Er kam sogleich wieder zu sich und lallte: »Wo war ich?«

In die erste Hälfte der fünfziger Jahre fällt die Entdeckung des vasomotorischen Nervensystems. Es wurde festgestellt, daß es besondere Nerven giebt, die durch Einwirkung auf die Muskelhaut der Gefäße deren Lichtung sowohl zu verengen, wie zu erweitern vermögen und dadurch in stand gesetzt sind, den Blutstrom zu regulieren. Das Blut wird durch das Herz in die Schlagadern getrieben, aber seine Verteilung in den Organen des Körpers steht unter der Herrschaft der vasomotorischen Nerven, die durch verschiedene Reize und von verschiedenen Provinzen des Nervensystems aus erregt werden können. Wärme, Champagner und Schamgefühl röten die Wangen; Kälte, Ekel und Schreck machen sie blaß. Die Gefäßnerven vermitteln die Röte wie die Blässe. Mit der Menge des zuströmenden Blutes steigt zugleich die Wärme der Teile, die ihr Blut durch die von den Nerven regierten Arterien in Gestalt sowohl kontraktiler als elastischer Schläuche empfangen; wird dagegen der Blutstrom gesperrt, so sinkt sie. Mittelst der Blutverteilung beherrschen so die Gefäßnerven auch die Verteilung der Wärme an die Organe des Körpers.

Jedem medizinischen Anfänger sind diese Lehrsätze heute geläufig, die uns zahlreiche, normale und krankhafte Vorgänge und wirksame Kurverfahren, namentlich mittelst der Anwendung des Wassers, verständlich machen. Wie einfach sie auch jetzt erscheinen, nachdem sie gefunden sind, so haben sie doch viele Arbeit gekostet, und sind in vielen Einzelheiten noch nicht abgeschlossen. Nur der Tierversuch hat sie uns kennen gelehrt, und die Opfer, die ihre Erforschung in den Laboratorien der Physiologen verlangte, reichen nicht entfernt an die Hekatomben, die der Jagdlust in Feld und Wald, dem Fischfang in Flüssen und Meeren, und dem unersättlichen Appetite der fleischvertilgenden Menschheit in den Schlachthäusern aller Weltteile zum Opfer gefallen sind.

Die Entdeckung der vasomotorischen Nerven knüpft sich an die berühmten Versuche Claude Bernards über die Verrichtungen des sympathischen Halsnerven von 1852. Wenn er den Nerven durchschnitt und somit lähmte oder mittelst des elektrischen Stroms am Schnittende des Kopfteils erregte, traten mit gesetzmäßiger Regelmäßigkeit bestimmte Veränderungen in der Blutfülle, Farbe und Wärme der entsprechenden Kopfhälfte und bestimmte Bewegungen, namentlich am Auge der gleichen Seite ein, verschieden und ganz entgegengesetzter Art, je nachdem der Nerv gelähmt oder erregt wurde. In der Deutung dieser Vorgänge war Bernard nicht glücklich, erst dem Scharfsinne von Donders und seinen holländischen Schülern, von Schiff u. a. ist es gelungen, sie aus der vasomotorischen Natur des sympathischen Halsnerven zu erklären.

Diese wichtigen Untersuchungen waren im vollen Gange, als ich in Würzburg und Illenau meinen Studien nachging. Es lockte mich, sie nach einer Richtung, die man bisher außer acht gelassen, zu vervollständigen. Es mußte gelingen, falls die Annahme eines besonderen vasomotorischen Nervensystems richtig war, dieselben Erscheinungen am Kopfe, die man durch Lähmung und Reizung des sympathischen Halsnerven hervorrief, auf dem nächsten, unmittelbaren Wege, durch einfache mechanische Sperrung und Wiederherstellung des Stromlaufs in den vier großen Schlagadern, die den Kopf mit Blute versorgen, zu erzielen.

Am Menschen ließen sich solche Versuche nicht ausführen, sie mußten sich auf die Kompression der Karotiden beschränken und waren bei Brüchigkeit der Gefäße bedenklich, bei den Tieren, die dazu taugten, Kanninchen und Hunden, stellte sich sofort heraus, daß die Blutmenge, die ihrem Gehirne durch die Karotiden zugeführt wurde, nicht entfernt den großen Wert für dessen Verrichtungen hatte, wie beim Menschen. Es genügte schon diejenige Menge, die dem Gehirne durch die Wirbelarterien zufloß, seine Verrichtungen so weit zu unterhalten, daß die gewaltigen Erscheinungen, die beim Menschen in Folge der Karotiden-Kompression zu stände kommen, nicht oder doch nur ganz ausnahmsweise und nur angedeutet eintreten. Wollte man die Blutzufuhr zum Kopf und Gehirn völlig sperren, so mußte man ein operatives Verfahren auffinden, das alle vier Schlagadern, Karotiden und Wirbelschlagadern plötzlich zu verschließen und ebenso rasch wieder zu öffnen gestattete. Nach genauem Studium der anatomischen Anordnung der Gefäße gelang dies beim Kaninchen, man konnte mittelst kleiner Pinzetten nach Belieben den Strom zum Kopfe sperren oder zulassen und genau dieselben Erscheinungen hervorrufen, wie sie Bernard durch seine Eingriffe auf den sympathischen Halsnerven erhalten hatte.

Anfangs vereitelte tödliche Verblutung der Tiere den Versuch die tief versteckten Wirbelarterien bloßzulegen; das Blut quoll unstillbar aus den Haargefäßen des umgebenden Bindegewebes. Da kam mir der Gedanke, sie trocken zu füttern, statt wasserreicher Gemüse, Kohl, Lattich u. dgl. bekamen sie Hafer und Wicken. Siehe da! von nun an gelangen sämtliche Versuche. Diese Beobachtung ist mitgeteilt in Moleschotts Zeitschrift. Untersuchungen zur Naturlehre u. s. w. Bd. 3. S. 70.) Bei dieser Kost hatte die Gerinnungsfähigkeit des Blutes bedeutend zugenommen. – Diese Beobachtung erinnert mich an eine Erfahrung aus meiner ärztlichen Praxis. Ein blondes Mädchen bekam jedes Jahr in der Kirschenzeit bei reichlichem Genuß dieser saftreichen Früchte häufiges starkes Nasenbluten, was sie so lange heimsuchte, bis sie auf den Genuß verzichtete.

Erst nachdem ich mich mit meiner Familie in Heidelberg niedergelassen hatte, nahm ich diese Untersuchungen auf und stellte zunächst den Einfluß fest, den die Blutströmung auf die Bewegungen der Iris und anderer Teile des Kopfes ausübt. Ihre Ergebniffe legte ich 1855 als Inaugural-Dissertation der Würzburger Fakultät vor, die Abhandlung fand auch Aufnahme in den Verhandlungen der medizinisch-physikalischen Gesellschaft in Würzburg. Verhandlungen d. med. physik. Gesellsch. zu Würzburg. Bd. 6. S. 1–42.

Professor Knoll in Wien hat 1886 gleichfalls Untersuchungen »Ueber die nach Verschluß der Hirnarterien auftretenden Augenbewegungen« angestellt Sitzungsberichte der Kais. Akad. d. Wisssensch. Bd. XCIV, Abt. III Oktoberheft 1886. und hat, wie er angiebt, weniger konstante und mannigfachere Bewegungen beobachtet, als ich sie beschrieb. Der Grund davon dürfte ein doppelter sein. Er bediente sich nicht ausschließlich kleiner Klemmpinzetten, wie ich, sondern auch unterlegter Fadenschlingen, die ich unzuverlässig fand. Um die Augenbewegungen graphisch aufzunehmen, hielt er die Augen mit Lidhaltern offen und reizte sie noch empfindlicher durch Pinzetten, die er in die Hornhaut einhakte. Benützte er Fadenschlingen, so war er nicht sicher, vollkommene Hirnanämie zu erzielen, und die Bewegungen konnten deshalb ausbleiben. Reizte er die Augen, die namentlich bei Kaninchen-Albinos sehr empfindlich sind, so waren die Versuche nicht rein genug. Ich halte deshalb an der Richtigkeit meiner Angaben fest, obwohl ich keine Lust mehr hatte, sie nochmals zu prüfen.

Eine zweite Abhandlung verwandten Inhalts ließ ich der ersten 1857 folgen unter der Aufschrift: »Ueber den Einfluß der Blutströmung in den großen Gefäßen des Halses auf die Wärme des Ohrs beim Kaninchen und ihr Verhältnis zu den Wärmeveränderungen, welche durch Lähmung und Reizung des Sympathikus bedingt werden. « Moleschotts Unters. z. Naturlehre. 1857. Bd. 1. S. 90–132. Zwei mir teure verstorbene Kollegen, Adolf Tenner, damals cand. med., und G. Bülau aus Hamburg, damals stud. med., unterstützten mich bei meinen Versuchen.

.


 << zurück weiter >>