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Studien in Illenau.

Zu Anfang August verließ ich Würzburg und verbrachte zwei Monate in Illenau, der badischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke, in der Mitte des Großherzogtums nahe dem Städtchen Achern reizend gelegen.

Außer Illenau, das zur Aufnahme heilbarer und unheilbarer Kranker bestimmt war, besaß Baden damals nur noch eine Anstalt für unheilbare Irren und Epileptische in dem alten, aus der markgräflich-badischen Zeit überkommenen Irren- und Siechenhaus in Pforzheim. Im Jahre 1826 hatte man die Irren, 201 an Zahl, von da nach Heidelberg in das ehemalige Jesuitenkonvikt, die heutige, baulich erweiterte Kaserne, verbracht; die Siechenanstalt bestand allein als solche fort, die Irrenanstalt war zu einem Arbeitshause umgewandelt worden.

Die Heidelberger Anstalt erwies sich bald als unzureichend und überhaupt als wenig geeignet für Geisteskranke. Das Gebäude liegt mitten in der Stadt, besaß nur wenig Garten, und von Jahr zu Jahr füllten sich seine Räume mehr und mehr mit unheilbaren Kranken; man war genötigt, 60 der schlimmsten wieder nach Pforzheim zurückzuschicken, wo man sie im Arbeitshause unterbrachte. Vgl. Roller, Beleuchtung der von der mediz. Fakultät zu Heidelberg gegen die Errichtung der neuen bad. Irrenanstalt erhobenen Einwürfe. Denkschrift, datiert Heidelberg, im Mai 1837. Das Haus, das den Jesuiten einst gedient hatte, mochte ein gutes Konvikt gewesen sein, war aber ein schlechtes Irrenhaus.

Die Abhilfe von so unwürdigen Zuständen verdankt das badische Land der großen Energie und Umsicht von Christian Friedrich Wilhelm Roller, geb. 1802 in Pforzheim, dem Sohn des 1814 verstorbenen Siechen- und Irrenhaus-Physikus Johann Christian Roller. Nachdem er in Tübingen, Göttingen und Heidelberg studiert und drei Jahre in Pforzheim praktiziert hatte, widmete er sich ganz der Irrenheilkunde, machte wissenschaftliche Reisen zu diesem besonderen Zwecke und übernahm die Stelle eines Assistenzarztes bei dem Direktor Groos in der Heidelberger Anstalt. Nach dessen Rücktritt wurde die Leitung 1836 ihm übertragen. Er entwarf die Pläne zu einer neuen, den Anforderungen der besten Irrenärzte jener Zeit entsprechenden Anstalt, gewann Regierung und Stände für seine Vorschläge, und führte mit dem Baumeister Voß, einem Sohn des berühmten Joh. Heinrich Voß, auf der gut gewählten Illenau bei Achern den Neubau aus. Die Verdienste Rollers und seines Freundes Hergt um Illenau hat der jetzige Direktor der Anstalt, Geh.-Rat Schüle, in einer glänzenden Rede zur Feier ihres 50&nbsp;jährigen Jubiläums gewürdigt. Vgl. die Festschrift zu dem Jubiläum, Heidelberg, Winter 1892. Der Umzug dahin von Heidelberg geschah 1842 mit 291 Pfleglingen. Die Anstalt war für 410 eingerichtet, aber die Aufnahmegesuche aus allen Teilen des Landes mehrten sich von Jahr zu Jahr derart, daß man die Anstalt schon 1850 um 50 Plätze, 1854 um 90 hatte erweitern müssen, was gleichfalls nicht auf die Dauer ausreichte.

Man ersieht hieraus, daß Illenau zu psychiatrischen Studien Kranke in mehr als ausreichender Zahl darbot. Daneben verfügte man über eine gute medizinische, namentlich psychiatrische, Bibliothek. Endlich hatte die Regierung zur Erleichterung der psychiatrischen Ausbildung der Aerzte verfügt, daß sie in der Anstalt selbst zu mäßigen Preisen wohnen und mit den Assistenzärzten an einem Tische speisen durften.

Zwei triftige Gründe hatten mich bewegt, Illenau aufzusuchen. Erstlich hatte ich die Erfahrung gemacht, daß meine, lediglich aus Büchern geschöpften psychiatrischen Kenntnisse für die Praxis nicht ausreichten. Ferner beabsichtigte ich, in Heidelberg neben pathologischer Anatomie gerichtliche Medizin zu lesen. Die gerichtliche Psychiatrie ist ein wichtiger Teil von ihr, und es stand bei mir fest, daß sich ein richtiges Urteil in zweifelhaften Fällen nur in Irrenhäusern erwerben läßt.

Roller und die beiden Aerzte der Anstalt, Dr. Hergt und Dr. Fischer, nahmen mich sehr freundlich auf. Karl Hergt wurde nach Rollers Tod 1878 sein Nachfolger, Fischer, jünger als beide, erhielt noch vorher die Direktion der Pforzheimer Anstalt.

Als Roller hörte, daß ich die Absicht habe, in Heidelberg zu dozieren, widmete er mir noch größere Aufmerksamkeit, und drang in mich, unter meine künftigen Lehrfächer die Psychiatrie aufzunehmen. Ich sagte es ihm zu, obwohl ich mir von rein systematischen Vorträgen ohne demonstrierende Krankenvorstellung wenig Nutzen versprach. Man ersieht aus dieser Aufforderung Rollers, daß man ihm mit Unrecht vorwarf, ein Gegner des psychiatrischen Unterrichts an den Universitäten zu sein, er wollte nur von Irrenhäusern zu klinischen Zwecken an den Universitäten nichts wissen. Nach seiner Ansicht, wie er sie mir damals und später wiederholt entwickelte, sollten die medizinischen Fakultäten nur »Irrenstationen,« wie er sie nannte, erhalten. Darunter verstand er besondere Krankenzimmer, in Heidelberg und Freiburg, vielleicht mit den akademischen Hospitälern verbunden, aber besonderen Lehrern der Psychiatrie unterstellt, wohin die Illenauer Aerzte von ihnen ausgesuchte Kranke zu Unterrichtszwecken und vorübergehendem Aufenthalte schicken sollten. Was wäre dabei herausgekommen? Gerade die praktisch wichtigsten Fälle, wo eine frühzeitige Diagnose und Therapie not thut, hätte man in Illenau zurückbehalten, weil nur hier die nötige Einrichtung zu erfolgreicher Behandlung und Sicherung der Kranken bestand, und ausschließlich solche überwiesen, an denen nichts zu verderben und wenig zu kurieren und zu lernen ist. Daß die Fakultäten damit nicht einverstanden waren, wird man ihnen nicht verübeln.

Die Frage, wie man das Studium der Psychiatrie ohne Schaden für die Kranken einrichten soll, ist schwierig und hat zu großen Kämpfen unter den Irrenärzten selbst geführt. Sie ist allmählich zu Gunsten besonderer klinischer Anstalten an den Universitäten entschieden worden, man hat sie als Irrenhäuser bald kleinen, bald großen Umfangs eingerichtet. Roller ist ihr Gegner zeitlebens geblieben. Er hat der psychiatrischen Unterrichtsfrage noch 1874 in einer größeren Schrift C. F. W. Roller, Psychiatrische Zeitfragen auf dem Gebiete der Irrenfürsorge u. s. w. Berlin, Reimer, 1874. Kap. XXIV. dem Vermächtnis eines reichen Erfahrungsschatzes an die ärztliche Welt, ein ausgedehnteres Kapitel gewidmet. Er bezweifelt darin, daß die bis dahin eingerichteten klinischen psychiatrischen Anstalten der Universitäten den erwarteten Nutzen wirklich gehabt hätten und erwartet alles Heil nur von einem mindestens sechswöchentlichen Studium der Irrenheilkunde in den Irrenhäusern selbst. Niemand wird in Abrede stellen, daß die praktische Bildung, wie in allen Zweigen der Heilkunst so auch in der Psychiatrie, am besten durch den Dienst in den Krankenhäusern erworben wird. Seinem Vorschlag liegt genau derselbe Gedanke zu Grunde, der jedem approbierten Mediziner nach bestandenem Staatsexamen noch einen einjährigen Dienst in Hospitälern auferlegen will. Wären nur nicht die Bedenken über die Ausführbarkeit einer solchen Bestimmung so groß und begründet!

Die gewissenhafteste, liebevollste und uneigennützigste Ausübung seines Berufs schützt den Irrenarzt nicht vor dem wütenden Hasse wahnbethörter Kranker, die nicht selten gerade ihre Wohlthäter und ihre nächsten Angehörigen, Eltern, Kinder, Geschwister, als Urheber ihrer Leiden und als schlimmste Feinde ansehen. Auch Roller blieben solche üble Erfahrungen nicht erspart. Unauslöschlich bleibt mir das unheimliche Bild eines unheilbaren Wahnsinnigen der Anstalt in Erinnerung, eines israelitischen Lehrers, der ihn unversehens bei der ärztlichen Morgenvisite überfiel und ihm die scharfe Spitze eines Messers tief in den Nacken stieß. Und ungeheures Aufsehen erregte die schändliche Schrift eines Hamburger Litteraten, A. Ebeling, der auf die Aussage einer rückfällig gewordenen irren Dame hin, Roller beschuldigte, daß er als feiler, bestochener Arzt an dem abscheulichen Komplotte ruchloser Kinder gegen die leibliche Mutter teil genommen habe, damit sie sich in den Besitz des mütterlichen Vermögens hätten setzen können; zu diesem Zwecke habe sie Roller im Irrenhause eingesperrt, darin sieben Jahre festgehalten, und durch fortgesetzte Mißhandlungen zu töten versucht, bis 1849 badische Freischärler sie befreit hätten. Dieses romantische Lügengewebe fand seine Gläubigen, lief als »der Prozeß Gabe« durch die Zeitungen, wurde auch dramatisch als »die Mutter im Irrenhause« verwertet, und Roller erschien als gottloser Bösewicht auf mehreren Bühnen. Es bedurfte einer eignen Druckschrift des Hamburger Advokaten Biesterfeld, C. W. Biesterfeld, Die Mutter im Irrenhause. Wahrheit. Leipzig, Brockhaus, 1852. XIV u. 180 S. mit nicht weniger als 74 beglaubigten Briefen und Zeugnissen, darunter der berühmten Aerzte Stromeyer, Chelius und des Siegburger Irrenhausdirektors Jakobi, um den Wahnsinn der »Mutter im Irrenhause« festzustellen und das kunstreich aufgeführte Lügengebäude zu zertrümmern. Als ich nach Illenau kam, war dieser niederträchtige Angriff auf Rollers Ehre und sittliche Existenz erst seit zwei Jahren abgeschlagen; er verlor nie ein Wort darüber gegen mich, aber der Vorfall muß doch einen tiefen Schatten auf sein Leben geworfen haben. – Der viel gesuchte Arzt, der Unzähligen mit Rat und That willig beigestanden hat, Armen wie Reichen, hinterließ seinen Kindern ein sehr geringes Vermögen.

Der beiden jungen Assistenzärzte, Bernhard Gudden aus Cleve und Hermann Karl aus Ueberlingen, mit denen ich zusammen speiste und am meisten verkehrte, habe ich bereits in meinen Jugenderinnerungen rühmend kurz gedacht. Beide, hochbegabte Männer, hatten kritische, disputierlustige Köpfe und stießen beim Redeturnier am Mittagstische oft aneinander, wobei bald der eine, bald der andere Beulen davontrug. Gudden beschäftigte sich viel mit feinen mikroskopischen Arbeiten, die den alten Psychiatern fern lagen, und schien in Illenau sich nicht ganz heimisch zu fühlen. Er lebte ziemlich für sich und hat sicherlich freudig den Ruf begrüßt, der ihn bereits ein Jahr nachher zur Leitung der unterfränkischen Landesirrenanstalt Warneck nach Bayern führte. Er besaß ein großes Selbstvertrauen, das in seiner ungewöhnlichen Geistes- und Willenskraft wurzelte und sein tragisches Ende mitverschuldet haben dürfte. Dafür spricht die Erzählung, die mir nicht lange nach der Katastrophe, die ihm das Leben kostete, einer der höchsten Beamten des Königreichs gelegentlich eines Spaziergangs am Starnberger See mitteilte und die ich für richtig zu halten berechtigt bin. Bei der Fahrt des Königs, die ihn einen Tag vor seinem Tode von Neuschwanstein nach dem Schlosse Berg brachte, wurde unterwegs ein Halt gemacht und ließ der König Gudden, der ihm in einem zweiten Wagen folgte, zu einer Unterredung unter vier Augen befehlen. Wie Gudden selbst erzählte, mahnte ihn der König daran, daß er ihm stets ein gnädiger Fürst gewesen sei, und hielt ihm vor, daß es einzig und allein sein ärztliches Gutachten sei, das ihn vom Throne stürze. Gudden sei klug; wenn er ihm dankbar sei, werde er es fertig bringen, das Gutachten zu ändern, und bei der Autorität, deren er als Psychiater sich erfreue, damit auch sein, des Königs, Schicksal. Gudden wich aus. Am nächsten Morgen, also dem Tage der Katastrophe, war der König ungewöhnlich freundlich gegen ihn. Einer der alten Hofbediensteten, der Gudden wohlwollte, benützte einen günstigen Augenblick, um ihn zu sprechen. Der König hatte Gudden zu einem Spaziergange durch den Park befohlen und es sollte niemand folgen. Der besorgte Beamte warnte Gudden: wenn der König so überaus gnädig sei, dürfe man ihm am wenigsten trauen. Gudden lächelte: der König werde ihn nicht überlisten, und ging in den Tod.

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