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1874

Glosse zum Wiener Zeitungswesen

Die Kultur erzeugt die Buchpresse, aber die demokratisierte Kultur die Zeitungspresse. Je mehr das Mittelmaß, man könnte richtiger sagen, die Mittelmäßigkeit, der literarischen Kultur ihre Ufer ausdehnt, desto gewisser ergießt sich die Literatur unaufhaltsam und stromweise aus dem Buch in die Zeitung. Der größere Teil der literarischen Produktion wird längst nicht mehr vom Buchhandel, sondern vom Zeitungshandel repräsentiert. Den größeren Posten im literarischen Budget des kaufenden Publikums beziffern bei weitem nicht mehr die Bücher, sondern die Zeitungen. Jedes Kaffeehaus ist eine Leihbibliothek, fast jeder größere Cafetier gibt zwei- bis dreitausend Gulden für seine Zeitungen aus. Welcher Fürst gibt das für seine Bücher aus?

Unter diesen Umständen ist es eigentlich ein zopfiges Zurückbleiben hinter der Zeit, wenn die Zeitungen ihre literarische Kritik noch immer als eine ausschließliche Buchkritik treiben. Zeitungskritik müßte sie richtiger sein. Aber freilich wäre sie dann – Selbstkritik; freilich wäre sie dann Kritik – der Kollegen. Das arme Buch kann sich nicht wehren, aber der eigene Leib ist so empfindlich! Die Selbstkasteiung ist längst aus der Mode, aber der biedere Deres, die ungarische Prügelbank, und ein rezenter Schilling erfreuen sich fortwährend einer zähen, wenngleich verschämten Popularität. So kommt's, daß die Zeitungen, anstatt zu der Zeitungskritik überzugehen, bequem und sicher bei der Buchkritik bleiben. Das Buch ist Feindesland, aber Zeitungskritik wäre Meuterei im eigenen Lager!

Und doch, wer den literarischen Habitus Wiens kritisieren wollte, ginge lächerlich fehl, sich auf Wiens Buchproduktion zu beschränken. In seiner Buchproduktion spiegelt sich Wien höchstens wie in einem kleinen Handspiegel; erst in seiner Zeitungsproduktion steht Wien vor seinem Ankleidespiegel und erscheint vom Fuß bis zum Kopf als die literarische Persönlichkeit Wiens in ganzer Figur.

Die Figur ist mit sich selbst sehr zufrieden; sie findet sich musterhaft schön. »Wiens Zeitungswesen ist tonangebend, Deutschland kann davon lernen; Wien hat den Muster-Journalismus!« Streiten wir nicht, es sei so. Licht ist Licht, auf einem Bilde von Rembrandt so gut wie von Riedel. Aber während das Licht so schmeichelhaft von sich selbst spricht – sprechen wir auch ein wenig vom Schatten. Nicht vom ganzen Schatten, das führte zu weit! Nur eine »Glosse« habe ich versprochen, und eine Glosse genügt schon zur Charakteristik des Schattens.

»Drei Kreuzer kostet die Nummer unseres reichhaltigen Blattes.« – »Zwei Kreuzer kostet die unsrige.« – »Unser Blatt kostet einen Kreuzer« ...! – »Schön, meine Herrschaften. Aber warum verschenken Sie sich nicht lieber ganz? Vielleicht weil das doch allzu – deutlich wäre?« ... »O bitte, bitte; wir verschenken uns auch ganz. Zwar nicht öffentlich, aber im stillen. Wir verschenken uns ganze Quartale lang an die besuchtesten Gast- und Kaffeehäuser. Ja, noch mehr. Da die Gast- und Kaffeehäuser wissen, daß wir uns zu dem Zwecke verschenken, um ihre Gäste an uns zu gewöhnen und sodann abonniert zu werden, da sie ihr Abonnement aber nicht ins Endlose und Unabsehbare vermehren wollen, so sind sie gewitzigt und nehmen uns schon lange auch nicht einmal mehr geschenkt. Was tun wir also, wir Tausendsassas, von welchen Deutschland lernen kann? Wir drücken dem maßgebenden Zahlkellner und Zahlmarqueur noch ein gutes Trinkgeld in die Hand, damit er uns überhaupt nur geschenkt annimmt und duldet und seinen Stammgästen in die Hände spielt. Sind wir Zeitungsmuster und Musterzeitungen, he?!«

Ich schweige. Weiß ich doch nicht, ob ich hier von einer literarischen Erscheinung spreche oder – von einer kriminalistischen.

Satz, Druck und Papier werden fortwährend teurer, aber in logischer Folge davon können die Zeitungen fortwährend wohlfeiler werden! Der die Lilien des Feldes kleidet und die Vögel der Luft speist, mag wissen, wie das zugeht. Es wird wohl »Gottes Segen bei Kohn« sein! Solch logische Wunder sind nicht gut diskutierbar. Wo das Produkt wohlfeiler werden kann, weil sämtliche Produktionskosten teurer geworden, fühlt sich die Logik in ihres ganzen Nichts durchbohrendem Gefühl. Mag sich die Wiener Zeitungs-Arithmetik auf eine Bank setzen neben ihre Schwester – die katholische Arithmetik! Beide Schwestern rechnen – in Wundern, aber Wunder sind unberechenbar.

Es ist eine Spezialität der »musterhaften« Wiener Presse, daß unter fortwährenden Preissteigerungen ihr Preis allein sinken kann. Daß er es kann, ist ein Wunder, wenngleich nicht ein Wunder musterhafter Moralität; verwunderlich ist aber auch ferner, daß er es will. Warum will er es? Warum glaubt die Zeitung wohlfeiler werden zu sollen und zu müssen, um ihre Ausbreitung im Volke anzustreben? Wird denn das Volk immer ärmer? Aber just das Gegenteil ist wahr. Die Hundertzahl der Millionäre schwillt fortwährend an: jeder Tag lichtet die Reihen der Armen und komplettiert die Regimenter der Besitzenden; auf Gassen und Straßen liegen die ersparten Kapitalien und suchen aus purem Übermute ihre Anlage – auf dem Seiltänzerseil; die Nil-Überschwemmung des Wohlstandes durchflutet alle Kanäle der Bevölkerung; Taglöhner kommen sich auf die Einnahme geschickter Handwerker und Handwerker nehmen den Hofratsgehalt unter Kaiser Franz ein! Warum glaubt die Presse eines so wohlhabenden Volkes wohlfeiler werden zu müssen? Glaubt es denn der Kaffee, das Bier, das Fleisch, jeder Verzehrstoff, welcher fortwährend teurer wird und seine Popularität doch nicht verliert, sondern nur immer mehr ausbreitet? Wahrlich merkwürdig! Sonst nimmt mit dem Wohlstande die Bildung zu; hier aber sieht es aus, als ob mit dem Wohlstande die Roheit zunähme und mitten unter materiellem Luxus »die geistige Nahrung« allein das Stiefkind der Konsumenten wäre. Oder glaubt »die geistige Nahrung« selbst nicht mehr wert zu sein? Ich mag die Frage wie immer stellen, sie wird nur immer verfänglicher. Das Verhältnis kommt stets als ein umgekehrtes zum Vorschein: sonst hat man sich »den Bissen vom Munde abgespart«, um sich Genüsse des Geistes zu verschaffen; heute kann sich der Mund die teuersten Bissen vergönnen, aber den Geist glaubt man nur auf die billigste Kost zum Käufer zu bekommen. Es ist, als ob derselbe Mann, der bei Sacher, bei Faber, bei Clement und Foget gespeist, seine geistige Nahrung – in den Knödelhütten auf dem Naschmarkt suchte! Journale schießen wie Pilze aus der Erde, aber eins um das andere – literarische Knödelhütte! Wer auf ein Publikum spekuliert, wagt keinen literarischen Sacher, kein ›Journal des Débats‹, keine ›Revue des deux Mondes‹: er spekuliert mit der Knödelhütte. In dieses Ringstraßen-Wien, in dieses Weltstadt-Wien, in dieses Banken- und Börsen-Wien streckt keine einzige journalistische Neugründung just durch die Kostbarkeit ihrer Ware und ihres Preises ihre Fühlhörner auf das vergoldete, mit Millionen gepflasterte Terrain aus; sie glauben alle nur sicher zu gehen – im tiefsten Bildungskot. Zwei Kreuzer, ein Kreuzer muß eine Schüssel voll »geistiger Nahrung« kosten, d. h. just der Preis der schlechtesten Zigarre, die jeder Hausknecht wegwirft, wenn ihm die ersten Züge nicht schmecken. Wahrlich merkwürdig!

Und doch bezeichnet am literarischen Gradmesser der Wiener Volksbildung das Kreuzerblatt noch nicht den tiefsten Grad; das tut erst das illustrierte Blatt. Erst hier gelangen wir zu dem unverblümten Bekenntnis: auch der niedrigste Bettelpreis ist noch kein Lesereiz; das Lesen ist überhaupt »fad« und bloß das Gaffen interessant.

Das illustrierte Blatt ist der Übergang vom Lesen zum Nichtlesen. Viel Bild, wenig Text! La lecture fatigue la tête, sagen die »heureux Canadiens«, d. h. die verbauerten und mit den Indianern des Hinterwalds verwilderten Franzosen von Canada. Dieses glückfaule Indianerdorf im Hinterwald bekennt sich die Weltstadt Wien durch die Begünstigung ihrer Illustrierpresse zu sein! Nur nicht lesen, immer gaffen! Die Gaffer-Zeitung (mit einem erlaubten Druckfehler auch Kaffer-Zeitung zu benamsen) prosperiert in allen Varietäten. Wer durch den schlechten Text zugrunde ging, rettet sich immer noch durch das schlechteste »Bildl«.

Was G'lehrte durch die Schrift verstahn,
Das lehrt das G'mäl dem g'meinen Mann,

sagt ein alter Reimspruch, und der »gemeine Mann« muß wahrlich in großer Majorität, muß unser literarischer Tonangeber sein, wenn sich die Wiener Presse mit so starkem Instinkt, wie sie es tut, zur illustrierten entwickeln kann. Dieser gemeine Mann war schon vor Erfindung der Schrift da und erfand, ehe er die Buchstabenschrift erfand, die Bilderschrift. Schon der nackte Wilde gibt sich als illustrierte Zeitung heraus, das heißt er tätowiert sich. So tätowiert sich auch das nackte Zeitungsblatt und bringt auf der weißen Haut durch den Holzschneider ein Bild an.

Die Knödelpresse und die Tätowierpresse beherrschen den Wiener Journalismus. Das war zu sagen; darüber zu sagen – ist nichts! Gewisse Satiren schreiben sich selbst, und der renommierteste Timon braucht nichts weiter zu tun, als sich vom Schreibmeister bloß die Hand führen zu lassen!


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