Heinz Kükelhaus
Erdenbruder auf Zickzackfahrt
Heinz Kükelhaus

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Erdarbeiter gesucht

Ich saß im Gefängnis in München. Es war ein altes Militärgefängnis. Darum war es auch so grauenhaft. Es war ein alter, despotischer Schacht mit vielen kleinen Zellen. Ein Schacht, ein Verließ. Von außen sah das Gefängnis aus wie ein verwitterter Rohbau; von innen aber wie eine blankgeputzte Montur im Zwielicht. Denn volles ehrliches Licht kam nicht in diesen Schacht. Man stelle sich vor Augen: ein langgestreckter Bau, viermal so lang wie breit und dreimal so lang wie hoch – vier Etagen. An beiden Enden hohe Kirchenfenster, nur ohne Malerei und von staubzersetztem Glas. Im Innern ist nur der Schacht. Zu beiden Seiten winden sich Treppen und erstrecken sich Laufgänge. Jeder Laufgang ist eine Etage mit etwa achtzig Zellen. Jede Zelle – ein Gefangener, auch mal zwei. Das macht so an vierhundert Gefangene. Nicht zu viel, aber genug Elend auf einen Haufen gepreßt. – Dann gibt es da Brücken, die den Schacht kreuzen und den diesseitigen mit dem jenseitigen Laufgang verbinden. Brücken wie in aller Welt – mit Tiefsicht, Quersicht, Längssicht und Hochsicht. Verfluchte Brücken, ohne Konstruktionsfehler, aus Eisen und mit weißem Geländer. Hier steht ein Gefangenenwärter und kommandiert. Auf dem Geländer hämmert der große Zellenschlüssel den Takt der Disziplin. Im Parterre ist ein harter Zementboden, ein gescheuerter, sauberer Zementboden und lang, so lang wie der ganze Bau, mit Zellen zu beiden Seiten. Wenn man hier hochschaut, dann sieht der Schacht mit seinen 231 Treppen und Laufgängen aus wie eine expressionistisch dargestellte Himmelsleiter – lang und schmal wie ein Christusgesicht.

Oh, es gibt Gefängnisse, die wie Traumgesichte wirken – beklemmend und schattenhaft.

Kimmelfink kam in ein anderes Gefängnis, weit außerhalb Münchens. Ich habe später gehört, daß man ihn vom Eisenkreuz am Zellenfenster abgeschnitten hatte – in letzter Minute. An seinem eigenen Hemde hatte er sich aufgehängt. – Vor ähnlichen Absichten rettete mich ein Päckchen Schnupftabak. Wenn düstere Gedanken in mir hochkamen, dann fing ich an zu schnupfen; es war weißer Schneeberger, eine gute Marke. Ich schnupfte, bis mir die Tränenbäche aus den Augen liefen und ich so dösig wurde, daß ich nicht einmal mehr niesen konnte.

Ich lag allein in einer Zelle. Draußen schneite es. Ich sah die Flocken wie graue Vögel fallen. Zellenfenster sind immer hoch oben an der Decke angebracht und werden mit der Zeit blind vom Schauen in ein trostloses dunkles Loch. – Ja, da fielen die Schneeflocken tagaus, tagein, und das Stück Himmel, das ich sah, wirkte wie ein gespaltener Dom – häßlich. Da gefiel mir noch besser der Schacht des Gefängnisses. Er war ein rechter Dom, ein Dom, in dem jedes Geräusch vibrierte. Er war Katakombe und Dom, Zerrbild und Wahrheit.

Wirklich, Zerrbild und Wahrheit – ich sah es nie deutlicher als in jener Messe, die am Weihnachtsmorgen auf der Zementsohle des Schachtes abgehalten wurde.

So war es: ein jeder Gefangene nahm seinen Schemel zur Hand und stieg über Laufgänge und Treppen hinunter. Die Schemel wurden so geordnet wie die Bänke in einer Kirche: in der Mitte ein breiter 232 Laufgang. Es war nicht hell und auch nicht dunkel. Es war Kirchgang.

Da saßen wir nun, vierhundert Gefangene, auf Schemeln vor einem roten Tuch, das quer durch den Schacht gespannt war. Ein rotes, finsteres Tuch. – Warum das? Und warum rot? – Liefen nicht schon genug Jahre durch unser rotes Blut, pulste nicht die Wärme des roten Saftes durch unsere heißen Augen mit dem Hunger nach Grün. – Es war aber ein rotes Tuch – und das war das Zerrbild. Und vor dem roten Tuch stand ein Altar, ein primitiver Altar mit Stäbchen, Bildchen und Kerzen – das war die Wahrheit, ein schwaches Symbol, aber die Wahrheit. – Wir selbst, wir Gefangenen, ließen es gelten. Altäre sind heilig. Wir, in unsern Zellen, bauten täglich Altäre: den Müttern, den Geschwistern – und einen ganz großen, pompösen . . . aber das gehört nicht hierher. – Vor dem Altar stand ein Priester mit einem Kreuz auf der Brust. Das Kreuz war grün, von schwerem, ächzenden grünen Kristall. Als ich das Grüne sah, wurde ich froh – das war wieder die Wahrheit; es war belebende, blendende Wahrheit. – Es rollten dann die Gebete durch den Schacht. Das Rot des Vorhangs wurde fast schwarz, als sich Schneewolken vor den jungen Morgen hängten. Ein Harmonium wurde hinter dem Vorhang gespielt und dann sang auf einmal etwas durch den Schacht, was zuerst unsere Vorstellungskraft lähmte: Ein Weib hinter dem Vorhang sang. Ich weiß nicht mehr, was sie sang. Sie sang auf jeden Fall erbärmlich. – »Wie ein Hahn, dem das Messer an der Kehle sitzt, kräht sie – ein Weib«, flüsterte der Gefangene neben mir. – Sie sang hinter dem roten Vorhang vor vierhundert Männern in Sträflingskleidern – das war Zerrbild und Wahrheit. Das war die verkappte 233 Religion. Der Priester stellte sie hinter den Vorhang und vor den Vorhang den Altar – und vor den Altar sich selbst mit dem grünen Kreuz – und davor uns Gefangene. Und als sie sang, verschwand der Priester mit dem grünen Kreuz, der Altar und die Religion. Nur der Vorhang hing noch da. Und der blähte sich vor vierhundert Augenpaaren. Viele schluchzten, die meisten saßen steil und stierten starr durch den Vorhang, und nur einer rief mit heiserer Triumphatorstimme: »Göttin Vagina!« – Er wurde vom Schemel gezerrt, gestoßen. – Die ihn aber verstanden hatten, lachten sich selbst aus, mußten ihm recht geben und seine Frechheit bewundern.

 

Es kam ein endloser Transport nach Münster. Und Nacht war es, als ich ins Gerichtsgefängnis eingeliefert wurde.

Durch vier Monate bewies uns der Untersuchungsrichter, daß wir schuldig seien, vorsätzlich ein Gebäude in die Luft gesprengt zu haben.

Das Schwurgericht verurteilte uns zu vielen Jahren Zuchthaus.

 

Das Zuchthaus ist eine der realsten Mächte dieser Erde. Ich war kein dummer Junge mehr, als ich verurteilt wurde. Ich hatte einen gewissen Weitblick gewonnen, der mich zu Vergleichen zwang. – Und alles, was ich hier im Zuchthaus erlebte, verträgt Vergleiche mit der Außenwelt. Nicht, weil der Komplex kleiner und darum besser zu überschauen wäre. Das wäre klein und zahlenmäßig gedacht. Nein, sondern aus dem Grunde, weil die Verbrecher mit ihren Trieben und Gedanken, mit ihren guten und bösen Anlagen Kristalle sind, die sich in einem Millionenvolk notwendigerweise bilden müssen. Im Zuchthaus 234 zeigen sie nun ihre Einfügung in eine ihnen aufgezwungene Ordnung. Die Ordnung ist ungeheuer durchdacht und durch tausend Befehle und Paragraphen festgenagelt – genau so wie in der Gemeinschaft außerhalb der Zuchthausmauern; aber auch ganz genau so: Jedes Vergehen gegen den Sinn der Gemeinschaftsordnung hat Paragraphen hier wie dort. – Und Vergehen, Verbrechen kleiner und schwerster Art leben im Zuchthaus ebenso weiter wie außerhalb der Mauern. Es ist darum das Zuchthaus nicht ein Ausschnitt, abseitsliegend vom großen Gemeinschaftsleben in der »Freiheit«, sondern das Zuchthaus ist der jeweilige Niederschlag der staatlichen Macht, die pure Kristallisierung des Machtbegriffes der Menschen überhaupt; ist die Universität der Nationalökonomie, der Volkswirtschaft, des Rechts, der Theologie, der Psychiatrie; ist der Mikrokosmos im Makrokosmos. – Auch ist das Zuchthaus keine zu verdammende Einrichtung. Es ist absolute Kulturwürde und mit seinen drakonischen Gesetzen und seinen Gefangenenwärtern immer nur das Menschsein seines Jahrhunderts.

 

Ich kann nicht sagen, wie verderbt die Häftlinge im Grunde ihrer Seele waren, mit denen ich unter einem Dache, jeder in einer Zelle für sich, lag. Nicht, daß es sich meiner Kenntnis entzog, was sie getan hatten, daß sie hier für Jahre festsaßen. Nach ihren Verbrechen waren sie alle degenerierte Individuen: die Diebe, die Räuber, die Sittlichkeitsverbrecher und Mörder. – Es ist aber das merkwürdige im Zuchthaus, daß die Verbrechen, die hier gebüßt werden, durchaus keinen Maßstab für die Verderbnis der Häftlinge gewähren – abgesehen von den vertierten Raubmördern und Gewohnheitsverbrechern. Das sind aber schon Idioten 235 und Epileptiker, eben Kranke, die immer in der Irrenanstalt enden. Der gesunde Häftling, gleich welche Straftat er begangen, ekelt sich vor diesen Idioten und Epileptikern. Ihn rührt es auch nicht, wenn sie in den Arbeitssälen oder in den Zellen ihre Anfälle bekommen. –

Die Verderbnis ist schwer zu finden. Nicht, daß die Häftlinge lammfromm in den Zellen sitzen und sich der Ordnung fügen, arbeiten und beten. Im Gegenteil, sie grübeln über jedes vermeintliche Unrecht der Gefängnisverwaltung nach und werden brutal und aufsässig, sobald der geringste Anlaß gegeben ist. Ich habe es mehrmals erlebt, daß drei Zuchthausflügel unter dem Gebrüll der Gefangenen bebten. Wo der Anlaß zu dieser Aufregung mit Gebrüll begraben lag, wußte die Mehrzahl der Gefangenen nicht. Es kam meistens so: Einige Gefangene schrien vor Wut über einen Beamten – oder ein Gefangener wurde geschlagen; das kommt immer mal vor. Dann tobt zuerst der Flügel, in dem der Notruf des Gefangenen erscholl. Hörte nun das Gebrüll dieses Flügels nicht ganz schnell wieder auf, dann wird der zweite Flügel angesteckt. Zuerst schreit er ganz automatisch mit. Wenn aber die Wände erst zittern, dann zittern auch alle Gefangenen. Erst noch aus Proteststimmung, dann aber aus Freiheitssehnsucht und zuletzt aus Angst, im panischen Schrecken. Wenn nun das Geschrei im ersten und zweiten Flügel den Höhepunkt erreicht hat und ersterben will, langsam in verkniffene Wut übergehend, dann hebt der dritte Flügel an. Er weckt noch einmal alle Stadien der Erregung – es toben alle drei Flügel.

Das war jedesmal eine so ungeheure Aufregung für die Häftlinge, daß sie nicht mehr wußten, was sie taten. Es wurden die Zellengegenstände zertrümmert, die 236 Fensterscheiben zersplittert und das Ach- und Wehgestöhn der Anfallsüchtigen machten aus dem Zuchthaus eine Latrine des Drecks und des Abschaums. – Wir waren keine Menschen dieser Erde mehr, sondern Männer vom Mond – Menschen unter gänzlich anderen Lebensbedingungen.

Das war aber wieder keine verderbte Bosheit. Seit Jahren sitzen die Häftlinge in Einzelzellen. Nur die wenigsten arbeiten in Gemeinschaftssälen. Die Einzelhaft ist auf die Dauer aber furchtbar schwer zu ertragen. Sie ist eine Strafe und ein Schicksal für sich. Hängen nun noch Jahre über dem Häftling, dann ist es nur zu menschlich, daß ihm bei der geringsten Erregung Hände und Knie beben und unter der Masse der Häftlinge die Epilepsie wie Giftkraut gedeiht. Andererseits ist die Aufregung wieder blutnotwendig. Man würde stumpf werden und verkindlichen, wenn es nicht zu gelegentlichen Explosionen käme. Allein schon das allgemeine Gebrüll benutzen zu können, um sich das Elend mit Flüchen von der Seele zu schreien, ist eine große Wohltat. –

Wenn ich gebrüllt hatte, konnte ich gewöhnlich zwei Tage nichts essen. Es schmeckte mir nichts. Nicht einmal die tägliche Freistunde im Zuchthaushof reizte mich. Ich ekelte mich vor den Suppengesichtern der Gefangenen.

Bestimmt, es war keine Verderbnis.

Es gibt Gefangene, die Vertrauensstellungen in den Zuchthäusern genießen. Das sind die Kalfaktoren. Sie tragen das Essen aus und schwenken die Zellenkübel. Am Tage stehen ihre Zellentüren auf. – Die meisten sind aber Schweinehunde, die die Gefangenen bestehlen und begaunern. – Wenn sie keine Schweinehunde sind, dann sind sie kalte Geschäftsleute – sie sind wie die Kapitalisten in der »Freiheit«. – Beklage sich mal der Häftling, dem 237 ein Paket Tabak aus der Zelle gestohlen wird, während er eine halbe Stunde im Hofe Luft schnappt. Es wagt keiner. Tabak ist verbotene Ware, und wer in seiner Zelle dies herrliche Kraut versteckt hält, der hat darum eine Woche gehungert. Seine Zulage, sein Brot, seine Eßwaren vom Arbeitsverdienst und sein Kautabak gingen hin für ein Paket Tabak. – Wirklich, es sind Obergauner, die den Tabak stehlen und die die Tauschgeschäfte zu gleicher Zeit vornehmen. – Es sind kaltblütige Geschäftsleute, welche die kostbare Lunte vertreiben. Die Gefangenen haben aber das Feuer nötig. Auch der Kassiberdienst will schwer bezahlt sein. – Geld ist nicht vorhanden oder nur so selten, daß es keinen Kurswert hat. Es bildet sich automatisch ein Zahlungsmittel aus dem, was da ist: Lebensmittel und Kautabak. Man zahlt mit Hunger. Die Kalfaktoren haben die Macht und nützen sie.

Nach dem geltenden Gesetz unter den Menschen, »Ausnutzung der Macht«, war auch das Tun der Kalfaktoren keine Verderbnis. –

 

Kimmelfink lag in einem andern Flügel als ich. Es dauerte lange, bis ich spitz hatte, daß ich ihn von meinem Zellenfenster aus sehen konnte. Ich konnte ihn nur für Sekunden sehen: Von meinem Fenster aus schaute ich in einen Hof, der einen Winkel von fünfundvierzig Grad bildet. Hier liefen die Gefangenen jeden Morgen eine halbe Stunde im Kreis – schweigsam, in zwei Meter Abstand. Keiner durfte sprechen. Auch Kimmelfink lief hier jeden Morgen. – Nun war es aber verboten, aus dem Fenster zu schauen. Im Hofe standen Wachbeamte, die ihre Augen mehr auf die Kerkerfenster richteten als auf die Gefangenen im Kreis. Trotzdem – ich sah Kimmelfink für Sekunden und 238 zwar in den Augenblicken, wo er die Spitze des Winkels schnitt. Er ging immer mit hängendem Kopf und schleppendem Schritt, das Zuchthauskäppi schief und die Sträflingsjacke kurz und eng anliegend. Als ich ihn zum erstenmal so sah, dachte ich an seine Behauptung mit dem fehlenden Kragenknopf. – Jetzt hatte er keinen Kragen mit der Nackenfalte herunterzuhalten – sein Kopf baumelte vornüber.

 

Ich flocht Pferdehalfter in meiner Zelle. Und wenn ich arbeitete, dann hing die Luft voll Bastfäden. Ich war dauernd am husten. Ich arbeitete ohne Gedanken. Ein Jahr und zwei Jahre. Ich lebte aber weiter. Es war mir als liefe ein breites, rollendes Band mitten durch mein Hirn, auf das ich alles setzte was hurtig leben wollte. Das Band kreiste durch die weite Welt. Zuerst warf ich die Märchen meiner Jugend darauf, dann das Spiel meiner Kraft, meine Erlebnisse. Ich verfrachtete Tag um Tag ein Stück von meinem Ich, bis ich leer war und eine Welle von Eitelkeit von außen in mich hineinrollte. Ich wurde zum Automaten, zum Spiegel der Welt. Und alle jene hörigen Bürstenstriche der Verfeinerung des Klassenmenschen tat ich nun mit Spannung und Verstand. Ich kratzte den Kalk von den Zellenwänden und übertünchte mein Gesicht mit teuflischem Weiß und verschmierte die Fugen, die mir diese gramvolle Zeit in die Gesichtshaut grub und paradierte dann als Narr an den Sonntagen auf den Kirchenbänken, ohne daß ein Gott oder ein Mensch mich verlacht hätten.

Über ein Jahr währte es, bis ich diese Krankheit überwand und in meinem Hirn wieder die Erde mit Sehnsucht brannte. 239

 

Ich lag wohl mal in meiner Zelle auf dem Boden und heulte mit trockenen Augen.

Nachts saß ich oft auf meinem Bette und schaute in das kleine Stück Himmel, das durch das Fenster schimmerte.

Erde, eine Hand voll lehmiger Erde, nahm ich mir oft aus dem Hofe mit in meine Zelle. Die Erde formte ich zu Menschenleibern, zu Bäumen und Brot. Knetete alles wieder um und barg die Erde in ein Tuch. Nachts lag mein Kopf darauf.

 

Ich hatte schreckliche Sehnsucht nach der Erde. Ich mochte keine Blumen sehen, ich wollte grüne Wiesen sehen und starke Bäume, wollte mit flachen Händen den Erdboden schlagen und Erde essen. Ich habe es in meiner Zelle getan. Ich habe Erde gelutscht, wenn mein Bewußtsein überzuschnappen drohte. Ich habe mir mit feuchter Erde die Augen zugekleistert, wenn ich die kahlen weißen Wände nicht mehr ertragen konnte.

Ich habe oft gedacht, warum streicht man nicht die Wände grün, grasgrün, malte Bäume darauf und legte in das saftige Gras eine Kuh.

Ich dachte an das grüne Kreuz, das der katholische Priester in München vor seiner Brust trug. – Es lag darin so viel Weisheit verborgen – noch mehr Gefühl. –

Sie sollten keine Zuchthäuser mehr bauen. Ins Moor und auf die Heide sollte man uns schicken, um das Land urbar zu machen. – Jeden Flüchtling aber müßten die Mitgefangenen peitschen, lynchen, weil er die Erde mißachtete – die freie, schöne Erde, die ihm zum Geschenk wurde.

 

Ich erkannte viel in den Jahren meiner Gefangenschaft. Ich sah auch zuletzt nicht mehr die Zellenwände als 240 Hemmungen für meine persönliche Freiheit. Ich hatte in der Zelle den Punkt für meine Füße gefunden, von dem aus ich die Welt aus ihren Angeln heben konnte. – In mir brach die große Abenteurernatur durch, der Mystiker, der nicht kontrolliert, sondern glaubt.

Der leiseste Mondstrahl, den mein Zellenfenster haschte, trieb mich zur Bewußtseinsspaltung. Ich lag nachts durch Stunden in Trance und erlebte die seltsamsten Dinge.

Ich warf die Hypothesen des erlernten Weltbildes weit hinter mich. Dieses Weltbild war für mich erledigt als mein großer Schatten das »Gesetz der Schwere« durchbrach. Das geschah auf eine allbekannte Art und Weise: Mein Schemel tanzte eines Tages durch die Zelle, ohne daß ich ihn berührt hatte. Mein Eßnapf, Gabel und Messer schwebten in der Luft. Des Nachts fand ich keine Ruhe mehr in meinem Bette. Die Materialisationen aus jener andern Welt häuften sich. Ich war von Gestalten umgeben, ich sah Fata Morganas.

Als es mir zu bunt wurde, sprach ich ein ernstes Wort zu meinem zweiten Ich und verbat mir alle weiteren Belästigungen. Ich sah durchaus nichts Übernatürliches in diesen Materialisationen. Im Gegenteil, ich war empört über das Wachsfigurenkabinett, über die gemeine Irreführung, über diese Teufelei meines allmächtigen Schattens. Am allerweitesten aber warf ich den Gedanken der wissenschaftlichen Kontrolle von mir.

Ich sah in allem perverse Erscheinungen; Versuche, mich zum Größenwahnsinn und zum Unglauben zu führen, mir den Boden der heiligen Erde unter den Füßen zu nehmen.

Ich bin Mystiker. Ich bin es, weil ich die Sehnsucht nach der Erde trug, als ich zwischen Gestein und Eisen durch fast drei Jahre lag. 241

Ich stellte meine ganze Sehnsucht auf den physischen Tod ein, auf den Traum meiner Kindheit, der mich breit und fest auf die Erde stellte und mich nur die Ewigkeit ahnen ließ. Ich warf meine Sehnsucht auf das ewig wachende grüne Kreuz.

Ich bin Abenteurer und Mystiker, der die Farben der Welt liebt. Ich bin ein gesunder und starker Mensch, der siebzig Jahre und mehr leben will. Denn die Welt ist schön und die Erde ist unsere Mutter. –

 

Jahre saß ich in der Einzelzelle, ehe ich die Audienzen besuchte, die der Direktor der Strafanstalt in jeder Woche einmal gab. Zwei Monate lang tat ich das. Ich war gewissenhaft und überschlug keine Audienz. – Und jedesmal stellte ich die Bitte, mich zur Moorarbeit nach Ostfriesland zu verschicken. – Zwei Monate träumte ich von dem Moor, das eben und dunkelbraun den Horizont küßt. Zwei Monate tröstete mich der Gedanke, daß ich bald die weiche Erde mit meinen Füßen fühlen dürfe – es würde auch der Augenblick kommen, wo ich im Moorwasser würde schwimmen können. Ich, der ich in Seen, Flüssen und Meeren getaucht hatte!

Ich war zäh und der Direktor mußte in meinen Augen wohl die Erde gesehen haben, nach der ich mich sehnte.

Ich durfte ins Moor. Eines Morgens, ganz früh, als noch der Bodennebel auf den Wiesen und Äckern lag, fuhr ich mit zwanzig anderen Gefangenen nach Ostfriesland.

Zwanzig Gefangene mit tränennassen Augen.

Auf der Bestimmungsstation standen zwei Gendarme, die Bedeckung für unsern kleinen Transport. Und einer von ihnen rief laut meinen Namen. Als ich mich meldete, fragte er: »Also Sie sind's? – Na, dann kommen Sie mal mit.« 242

Wir gingen zwei Stunden bis zu den Baracken, die wie verirrte Schatten in der unendlichen Ebene des Moors lagen.

Hier wurde nochmal mein Name gerufen. Zum zweitenmal. Ich dachte, ein neues Unheil schwebe über meinem Haupte. Diesmal rief mich der Oberinspektor der Moorverwaltung: »Ramm, Sie sind – begnadigt.«

Ich sagte nichts und fühlte nichts. Ich stand ja auf der Erde, auf weicher, sumpfiger Moorerde.

Erst am folgenden Tage konnte ich mit andern Gefangenen den Rücktransport nach Münster antreten.

 

Als das Zuchthaustor sich für mich öffnete und hinter mir ins Schloß krachte, wandte ich mich nicht um. – Vom Zuchthausturm schlug die Uhr neun harte Schläge. Die Straßen waren dunkel. Durch die Nacht sang die Erde.

 

In einer großen Stadt führte mich mein Schicksal vor ein schwarzes Schild. Es hing breit und lang an einer Hauswand und während ich davorstehe, kommt ein Mann und schreibt mit weißer Kreide auf die schwarze Tafel: »Es werden gesucht zwei Tischler und zehn Erdarbeiter – das Städtische Arbeitsamt.«

Ich ging zum Arbeitsamt. Da standen viele Männer, die still und mit harten Gesichtern auf mich schauten. Als ich an ihnen vorbeigehen wollte, riefen sie: »Hier bleiben, anschließen!«

Das riefen sie, obgleich keiner von ihnen wußte, daß ich, wie sie auch, Erdarbeiter werden wollte. Sie riefen mich in ihre Reihe.

Nach einer Weile standen noch viel mehr Männer hinter mir wie vor mir. 243

Mit fünf anderen Männern ging ich in einen Raum. Ein Mann mit rotem Gesicht und von gewaltigem Körperbau stand vor uns, der sehr nervös sprach: »Ich gebrauche nur noch einen Erdarbeiter! – Was sind Sie von Beruf?«

»Kaufmann!« Ein schmaler junger Mann sagte es.

»Kann ich nicht gebrauchen! – Und Sie?«

»Doktor der Volkswirtschaft!«

Der schwere Mann lachte furchtbar: »Kann ich nicht gebrauchen – und Sie?«

»Schlosser!«

»Hm«, der Unternehmer überlegte kurz – »und Sie?«

Jetzt war ich an der Reihe. Mir wurde schwindlig, ich fühlte, wie mein Kopf abwechselnd siedeheiß und eiskalt wurde. Dann sagte ich laut und hart: »Ich bin der, den Sie suchen!«

Er sah mich an und sagte: »Gut, kommen Sie mit!«

 


 


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