Heinz Kükelhaus
Erdenbruder auf Zickzackfahrt
Heinz Kükelhaus

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf Europas Straßen und Schiffen

Im März mußte ich Abschied nehmen vom Rande des dunklen Kontinents. – Durch die Straßen Melillas sah ich sie noch einmal – die Trupps der Legionäre. Mit dem Tschingtschang der Marschmusik wurden sie in die Schiffe verfrachtet – und die ganze Erbärmlichkeit ihres Seins lachte heulend über ihre Gesichter.

Dumpf hallen die Kanonenschüsse vom schwarzglänzenden Riff herüber. Wimpel wehen in den Straßen, und immer mächtiger und schöner weitet sich der blaue Himmel.

 

Malaga! Wieder Europa unter den Füßen. – Die Menschen träumen viel von Reisen um die Erde. Hunderttausende von Menschen sahen mehr Länder als ich. Aber das glaube ich: wenige traten die Reise in sich selbst an, in den Kern und Ursprung der Reflexe, die wir Welt nennen. – In uns selbst liegen die Welten, durch uns selbst braust die Ewigkeit ohne Gezelte und Stationen.

 

Spanische Polizei nahm mich in Empfang. Man brachte mich in das Polizeigefängnis von Malaga. Ein Loch war es, in das man mich stieß. Ich habe später mit vielen Polizeigefängnissen Bekanntschaft machen müssen, aber so etwas von Verwahrlosung öffentlicher Inhaftierung sah ich nie wieder. Drei Meter in der Länge und anderthalb Meter in der Breite, an einer Wand längs eine Pissoirrinne – in diesen Raum gepfercht Männlein und Weiblein. 102

Die Insassen saßen auf einer schmalen Bank, der Rinne gegenüber. Als ich nun mit Schwung durch diese dunkle Arrestzelle sauste, sämtliche Zehen der Inhaftierten betrampelnd, erhob sich Geheul und Protest.

Keiner war erschrockener als ich, denn ich hatte niemanden gesehen. Ganz hoch oben unter der Decke glänzte schwaches Tageslicht, unten war es aber düster.

Ich entschuldigte die Unhöflichkeit des Beamten, der mich in diese Zelle gestoßen hatte, und machte eine devote Verbeugung vor einem leuchtenden Kattunrock. Unter diesem hellen Fetzen schoß aber ein grober Schuh hervor, bohrte sich seitwärts in die Kniekehle meines rechten Beines, so daß ich der Holden vor die Füße fiel. – Großes Gelächter im Raum. Ich stand wieder auf und tastete nach einer Sitzgelegenheit. Da war aber nichts mehr, so lehnte ich mich in eine Ecke und drehte mir eine Zigarette. – Meine Augen unterschieden bald im Grau dieser Zellendämmerung Gestalten und Bewegungen. Das Glucksen suffgewohnter Kehlen und das Räuspern katarrhalischer Raucher verriet mir schnell die Gewohnheiten meines vornehmen Publikums.

Ja, diese Raucher der Landstraße, sie sind anders als die, die eine Havanna aus dem Laden holen und ein silbernes Dingchen knipsen lassen und sich gar mit einem güldenen Feuerzeug das rassige Blatt anzünden. – Natürlich, diese Raucher meine ich nicht. Wie kämen die auch in dieses Loch und ließen ihre Zehenspitzen – Schuhe trägt man hier nicht –, wie ließen die ihre gepflegten Zehenspitzen in einer Pissoirrinne spielen. – Nein, und auch das Glucksen, das man oft hinter den Wein- und Biertischen hört und das sich auch in den Betten der Gesalbten dieser Erde verzittert, unterschied sich wesentlich, sehr wesentlich von 103 diesem scharf pointierten Glucksen, das fast jedes gesprochene Wort begleitete.

Gott, wer hat aber auch Interesse und Verständnis für dies Räuspern und Glucksen. Daß sie den Tabak- und Spritkonsum nicht belasten, ich meine mit Produktionsforderung nicht belasten, das ist ihr Fluch. Hier liegt ihr Räuspern und ihr Glucksen begraben.

Sie leben und genießen vom Abfall. Es sind gottgewollte Subjekte der restlosen Produktionsvernichtung. Asche zu Asche.

Ein schöner Zigarrenstummel liegt nirgendwo lange umher; er findet bald seinen Herrn. Und hat die Zigarre vorher unter einem gepflegten Bart und zwischen Goldzähnen ihre Glut verhaucht, wurde sie dann aus irgendeiner Unmutsregung aufs Pflaster gespien – bestimmt, sie fühlt sich ebenso wohl unter einem traufenden, stinkenden Hängebart und zwischen schwielenharten Lippen; jawohl Lippen, denn Stummelraucher, die Zigarren mit den Zähnen fassen, gibt es wohl nicht: die Feuchtigkeit würde an den ersten Raucher erinnern und an die Bazillenübertragung. – Eine liebe Selbsttäuschung, über die aber das Räuspern nicht hinweg hilft.

Mir erging es in den spanischen Städten nicht anders – die liebe Selbsttäuschung! – Wenn aber das teuflische Geld fehlt, dann muß die Täuschung helfen. Ich denke daran, wie die Jungens nachts durch die Straßen liefen und wie sie sammelten. Ihre Sprünge und Bewegungen glichen Affen, die durch Straßen galoppieren, und ihre Augen waren so scharf, daß sie Zigarren- und Zigarettenstummel unter tiefstem Schmutz und Lippenspeutz fanden.

Diese Jungens aber helfen unsereinem; sie kosen und streicheln unsere Not mit liebendem Blick. Hinter 104 irgendeiner Haustür sitzt ein Geschäftskollege, der Berge von gesammelten Stummeln vor sich hat und das edle Kraut mit fleißigen Händen gewinnt. Und wieder hinter einer andern Haustür werden die Zigaretten gedreht und etikettiert. Im ersten Morgengrauen stehen dann die Lümmels an den Ecken und verkaufen ihre Zigaretten zu konkurrenzlosen Preisen.

Ich kannte diesen Produktionsgang und auch die Straßenzüge, die am ergiebigsten waren, kannte die Haustüren, hinter denen gearbeitet wurde. Trotzdem kaufte ich die Zigaretten. Ich machte nur große Umwege um die Werkstätten.

Daher das katarrhalische Räuspern.

Das Glucksen aber, dieses scharfe »Heb«, das eine Wolke Spritgeruch ausröchelt, dieses Glucksen tragen die bösen Wirte und die nachlässigen Gäste auf dem Gewissen: Kommt da so ein müder Erdenbruder mit seinen weiten wässerigen Augen vom schweren Tippelgang über Berg und Tal, dessen Blut vom Wassertrunk bald dick geworden ist, in so eine göttliche Trunkstätte, wo die Zapfen von Faß zu Faß wandern, dann sucht er die Cents aus den Beulen und Höhlen seiner Hosentaschen und möchte gern für drei Cents einen alkoholischen Trunk heben. Dann muschelt der Fritze hinter der Tonbank und gibt ihm Tröppelsaft und die Saftreste aus den Gläsern, in denen noch die Barthaare der Zahlenden schwimmen. Das sammelt sich so im Tag bis zu zehn Litern und steht wohl mal zwei Tage wie ein Spucknapf für Staub und Fliegengetier. Aber Geld bringt's noch und dem Erdenbruder das harte Glucksen.

»Heb – Bruder – heb – das – heb – edle – Naß!« 105

 

Nach zwei Tagen Haft stand ich vor dem deutschen Konsul. Er gab mir einen Paß und die Anweisung, mit dem nächsten deutschen Dampfer nach Barcelona zu verschwinden und mir während meiner Wartezeit täglich zwei Pesetas abzuholen.

Vier Wochen blieb ich in Malaga. Vier Wochen trank ich die heiße Sonne vom ewig heiteren Himmel in behaglicher Bewegungslosigkeit. – Die erste Woche schlief ich im Hafen. Da türmte sich ein gewaltiger Berg gepreßten Strohes. Terrassenförmig waren die Ballen geschichtet, und auch terrassenförmig lagen wir, die Heimatfernen. Wohl hundert Menschen schliefen hier und stäubten sich des Morgens den Mist aus den Kleidern, wuschen sich unter einer nahe liegenden Pumpe und zogen zur Gelegenheitsarbeit. Eine Woche schlief ich hier, aber dann winkte mir ein Stück Heimat. Und ich griff diesmal mit beiden Händen zu. Ich kannte diese Bindung noch nicht, rekelte mich in diese trunkene Lebendigkeit hinein und ließ mir den gezeichneten Geist und meine gebrochenen Knochen von einem Paar lieber Mädchenhände streicheln. – Am Tage lagen wir in den Bergen, und ihr behendes Zünglein lehrte mich die Glutsprache Spaniens, und ihre Augen zeigten mir ein Land von unermeßlicher Schönheit und ein Volk voll Treue und Leidenschaft.

 

Ein deutscher Dampfer sollte mich mit nach Barcelona nehmen. Bis zum Fallreep ging ich – ließ dann aber meinen Fahrschein ins Wasser flattern und wandte meine Schritte dem Norden Spaniens zu.

Die Tragkräfte meines Lebens wallten wieder. Die Sehnsucht, hinter jedem Busch und Baum die 106 Geheimnisse des Lebens zu finden, klang so mächtig in mir, daß ich der Menschen nicht mehr achtete. Ich ging, und wenn's mich überkam, stürmte ich die Berge hinan. Die Quellbäche ließ ich mir im Sturz über den Schädel rauschen und sah dann durch die Wasserperlen an den Augenwimpern in eine vielfarbige Welt. Und war kein Strauch im nackten Gebirge zu finden, dann legte ich mich auf den warmen Fels und hörte Urquellen kommen und sah Welten vergehen. –

Führte mich der Weg durch Dörfer, wo die Häuser und Hütten der Spanier aus den Resten arabischer Architektur ein Wirrwarr von Nutz und Schutz gebildet, dann blieb ich Stunden und Tage. Ich setzte mich an die Tische der Menschen und aß mit ihnen. – Fiel die Glut des Tages, zerklagte die Bergeule zitternd die Schwingen der toten Luft und rauschten die Fledermäuse im Zickzack auf Insektenfang, dann hockten die Menschen im Kreise.

Der Gang der Alten splittert die Kraft der Jungen – Feuer wechselt im Kreise. Ein Funke fällt – Musik erwürgt, was lodernd heiß die Hand zur Nacht sich reichte. – Musik! der Trunk, der wirkt.

Nun wird Ereignis, was die Ahnen an Blut und die Umwelt an Hemmungen geben.

Pas à pas in wundervoll ausgeglichenen Bewegungen, wie eine Schlafwandlerin, dann in rasendem Kreistanz, nun wieder schwer wie die dunkle Erde. Erst sie allein, dann alle Mädchen im Takt der Kastagnetten.

Wie müde, welke Blumen, so schleichen sie in ihre Kammern – die Natur ist geschlagen, ein Rhythmus – verhaucht seit Jahrhunderten, schlug Brandung.– die Jünglinge aber wälzen ihr Blut und sterben aus. 107

 

Pfade gibt es in allen Ländern Europas; Pfade, die sich durch Gebirge, Felder, Wälder und Sümpfe schlängeln. Aber der, der ohne Karte wandert, den nicht das Verlangen von Stadt zu Stadt treibt, der kurz vor der Stadt einen Haken schlägt und die Chaussee quer unter die Füße nimmt, der findet vom Seltsamen das Seltsamste. Den werfen die Gewalten der Extreme, der küßt die Stirn der Kruzifixe in den Einsamkeiten, und sein Gesicht wird hager und rauh wie die Erde, so daß die Wölfe unter den Menschen und Tieren ihr Blut wohl sehen lassen, ihre Zähne aber verstecken.

Wenn ich Pfade schritt, so lief ich längs der silbernen Bänder der Eisenbahn. Das Tempo, mit dem die Züge rasen, die Abgeschlossenheit ihrer Wege, der Geruch von Stein und Schwelle und Luft und Erde gaben meiner Seele den Gleichklang.

So durchwanderte ich die Nevada.

In Cartagena landete ich in der ersten Nacht auf dem Plaza del Correo und schlief auf einer Bank, bis mich der unsanfte Stoß eines Nachtwächters vertrieb. Ich schlich dann am Grand Hotel vorbei und verschlief den Rest der Nacht in den Anlagen an der Muralla del Mar. – Die folgenden Nächte schlief ich im Hafen, und am Tage lebte ich von der Gastfreundschaft der Schiffe. Die Matrosen aller Nationen sind gute Kerle und haben Herzen für ihre wandelnden Erdenbrüder. – Nur einmal sagte mir ein tollköpfiger Franzose, der in mir den Deutschen sah, ein hartes Wort und warf mir noch ein Stück Kohle an den Kopf.

Eines Abends war ich sehr hungrig. Ich hatte kein Schiff gefunden, das mir Atzung gewährte. Als ich nun eine Schlafstelle suchen ging, stieß ich auf zwei Brüder 108 meiner Art. Der eine war ein Deutscher, der andere ein Engländer. Sie forderten mich auf, mit ihnen gemeinsam der Kombüse eines amerikanischen Schiffes einen Besuch abzustatten. Ich war dazu bereit. Wir gingen zu dem Dampfer, der mit seinen vieltausend Tonnen wie ein mächtiger Klotz am Kai lag. Die Wachen waren nicht da – es ist so üblich, daß sich die Amerikaner in den spanischen Häfen kräftig betrinken und anschließend in Schutzhaft wandern. So auch hier. Es war kein Mensch an Bord zu sehen. Wir kletterten auf das Schiff und fanden die Kombüse abgeschlossen. Kein Köchlein war auf Deck zu finden. Mein Landsmann war ein ganz Gewiegter. Er sprang auf einen Kohlenhaufen und von da auf die Kombüse, schug das Deckfenster auf und stieg in die Küche hinunter.

Wir hörten ihn rumoren.

»Landsmann, steig auf die Kombüse«, flüsterte er durchs Schlüsselloch.

Ich schwang mich hoch und ergriff, was er mir reichte: Würste, Speck, Brot, Kuchen, zwei Flaschen Wein, und dann kam eine Kelle, gefüllt mit kaltem Gulasch. Die wurde so oft wieder heruntergereicht, bis wir zwei satt waren.

Der da unten aber in der Küche gab sich nicht zufrieden. Er stöberte und fand ein silbernes Ding, kugelrund und blitzend. Das zwängte er in seine Tasche und kletterte hoch.

Hinter Weinfässern und Ladewagen im Hafen packten wir aus und teilten. Den Wein tranken wir – es war schwerer Malaga. Wir wurden lustig. Als kein Tropfen mehr in der Flasche war, ritt uns der Teufel. Wir gingen in die Stadt, durch die lichterhellten Geschäftsstraßen, schlenderten durch die Puertas de Murcia, zeigten unsere 109 blonden Gesichter den ausschauenden Mädchen und beanspruchten zu dritt per Arm den Platz der Cartagenser Kaufherren.

Das Gefluche der Spanier reizte uns zum Lachen. – Wir schwankten in die Markthallen und beriefen mit lautem Hallo einen Munizipalbeamten.

Er kam, griff nach seiner Plempe und wollte hauen. Dazu kam er aber nicht. Einer gegen dreie – seine Plempe schwang sich über die Marktkörbe und -tische und verzitterte ihren blutdürstigen Flug in dem Speck eines ausgeschlachteten Hammels. Der Angstschrei des tapferen Beamten rief Alarm, und dann saßen wir in der Patsche. Mit geschwungenen Säbeln kamen seine Kollegen und brachten uns zur Wache.

Wir wurden untersucht, unsere Bettelpfennige flogen auf den Tisch, und der wertvolle Tabak verkrümelte sich an der Erde, die Würste und der Kuchen rollten durch die Bude – dann war auf einmal alles still und starr. Ein Wort war gefallen, das sie alle erstarren ließ.

»Una machina inferna!«

Ich sehe die Herren heute noch vor mir: Mit schlotternden Knien und bebenden Händen hielt einer der Tapferen das silberne runde Ding in seiner Hand, das mein Landsmann aus der Kombüse gestohlen hatte.

»Sie halten deinen Spirituskocher für eine Höllenmaschine!« rief ich unter furchtbarem Lachen.

Das Lachen und unsere fremde Sprache brachte sie aber noch mehr in Aufruhr. Sie wichen bis zur Türe ihres eigenen Wachtlokals und – wumm, sie waren draußen und verschlossen ihr eigenes Loch.

Das war zuviel für uns. Wir hielten uns umschlungen und taumelten lachend durch die Bude. – Ich zerlegte 110 den Spirituskocher in seine Bestandteile und breitete diese in ihrer ganzen Harmlosigkeit auf dem Tisch aus. Und dann warteten wir. Wir warteten ziemlich lange, eine halbe Stunde. Und dann kam's: Klapp, klapp, klapp, klapp – Kommandorufe – Stille, dann rasche Schritte, die Tür flog auf, Bajonettspitzen, ein Offizier und einer der Wachtbeamten traten vorsichtig in die Stube. Ich erkläre die Sachlage. Der Offizier schimpft und lacht dann schließlich. Wir lachen alle, und draußen bei den Soldaten trampeln die Schuhe wie im Krampf – es dröhnt ein Gelächter.

Man bringt uns zur Hauptwache. Würste und Speck und Kuchen haben wir aber wieder in der Tasche, und das runde silberne Ding trägt mein Landsmann wie ein Tablett auf der flachen Hand.

Unser Mundraub auf dem Schiff wurde nicht gemeldet, und wir erzählten natürlich nichts. Unsere Papiere waren in Ordnung, und unsere Ruhestörung wurde mit einem Tag Haft bestraft. Aber schon am nächsten Morgen wurde jedem eine Fahrkarte nach Barcelona in die Hand gedrückt. Durch einen Dolmetsch wurde uns der Stadtverweis ausgesprochen.

Die Fahrkarte brachte mich bis zum Bahnhof von Cartagena. Da verkaufte ich sie und schüttelte den Staub Cartagenas von meinen Füßen. Ich fuhr mit einer Bahnsteigkarte, bis mich ein empörter Kontrolleur aus dem Zuge warf. Dem Munizipalbeamten, der mich greifen wollte, entwischte ich.

 

Ich wanderte durch die Ebene nach Alicante. Der erste Sommerhauch trieb die Menschen aus den Städten in die kleinen Badeörter dieser wundervollen Küstenstrecke. Ich wurde Saisonarbeiter und putzte in der Nacht den Gästen 111 die Stiefel und stand am Tage hinter dem Spültrog vor dampfendem Wasser. Ich kellnerte, wurde Dolmetsch und Fiakerkutscher, Fremdenführer, dienerte mit Grandezza als Portier und lernte Trinkgelder erpressen.

Befiel mich aber die Sehnsucht nach der Weite, dann steckte ich meine Zahnbürste ins Futteral, putzte meinen Blechspiegel und ging in die Nacht hinein.

Im Hafen von Alicante ging ich unter die Schauerleute. Ich arbeitete, daß sich meine Knochen bogen. – Das vergaß ich aber bald, nur sehe ich noch das gütige Greisengesicht jenes Domorganisten, der eine Mittelmeerreise mit seiner Tochter unternahm. Er wollte mich mit in die Heimat nehmen, ich aber konnte es ihm nicht sagen, daß ich keine Sehnsucht nach den Städten hatte. Ich sah ihn aber vom Schiffe winken, und das helle Gesicht seiner Tochter leuchtete mir lange durch die Welt wie eine Segenswirkung fraulicher Güte.

 

Auf dem Güterbahnhof von Alicante lag ich hinter Stellwerken und wartete auf einen Güterzug, der in Richtung Valencia fuhr. Ich schlug mir die halbe Nacht mit dem Warten um die Ohren; aber dann schnappte endlich das Signal, und ratternd fuhren die Waggons über die verzwickten Weichen. Die erste Hälfte des Zuges ließ ich passieren, schoß dann über die Schienen und sprang zwischen zwei Wagen und stellte mich auf die Puffer. Ich wußte, das war nicht trampgerecht; man kann die Verunglückten nicht zählen, die auf diese Art ihr bißchen Leben sich zerquetschen ließen. Die Trittbretter sind das Senkrechte oder ein Sprung und ein fester Griff mit Schwungklimmzug über die niedrigen Waggons – das bringt keinen Konflikt mit den Rädern, mit dem rollenden Tod. 112

Hoheit Tramp, ich legte damals den Schwur ab, deinen Vernunftsgesetzen ergeben zu sein!

Vorläufig saß ich aber auf den Puffern und ließ mir die Gedärme schütteln. – Komisch, aber wahr. Mit dem Augenblick, wo der erste Aufsprung glückt, betrachtet man das Trampleben als das einzig gegebene Geschenk der Kultur an uns Erdenbrüder. Und dies Geschenk, diese Verbeugung des Zweckmäßigen vor der Romantik, wächst sich uns wieder zum belebenden Kampf aus, macht uns zu Fachleuten im Eisenbahnwesen und zu Fahrplankundigen. Wir lernen das Material der Schienen taxieren, bestimmen den Ausscheidungsmoment der Waggons, begutachten die Schwellen und Bodensenkungen. Nach der Fracht und der Frachtortbestimmung und der Herkunft der Fracht bestimmen wir die geologischen Verhältnisse der produzierenden Landschaft und erkennen ihre sozialen Verhältnisse und werden so Wirtschaftskenner und könnten Börsenjobbern Lehren erteilen.

»He, Kalk hat dieser Waggon in sich hineingefressen. Wo mag dieser Bengel herkommen? – Schau, schau – Cordoba hat Kalkgruben. Hm, werde Arbeitslustige hinschicken und mir selbst ein Paar gute Schuhe verdienen!« –

»Das hab' ich noch gar nicht gewußt, Cartagena versendet nach Madrid Roheisen?! – Georges, das ist unser Fach. Wir reisen morgen mit dem Güterexpreß!« –

Wir enterten einmal zu sechsen einen einzigen Güterwagen, und in der Nacht hörte ich folgendes Gespräch: »Ja, Golef, das mußt du erkennen, über uns steht nichts, gar nichts! Von dem Trunk, den die Bürger mischen, schlürfen wir das Aroma; und wir, die Giftreinen, geben das Werturteil. Sie leben ja alle von uns, die Seßhaften. Von uns, weißt du, was Nomaden sind?! He?.– Du 113 weißt es nicht. Ideenträger! Weltchronisten, Stilveredler, Pestträger. – Teufel, was verstehst du aber davon!« –

Sie rattern, die Züge – fressen die Meilen – tragen Verwesung und Aas, Geld und Leben, aber keine schönere Idee, als den Lümmel, der sich nichts erbat, als in einem Waggon auf den Puffern oder im Bremserhäuschen zu fahren. –

 

Die Eisenbahner aller Länder sind im Grunde alle gleich. Die Meilen drillen ihnen einen gleichen Rhythmus ein, und die Montur macht sie auch von außen zum Schema. Und ihre Gewohnheiten außer Dienst: Von Muttern aus dem Bett – vom Meilendienst zu ihr. Der Skat in aller Welt ist derselbe, der Verdienst gleich schmal, der Kaffee schlapp und vom Brot die Verdauung schlecht; die Weichen aller Welt nach Schema X und die Erregung über Trampfahrer nicht individuell, auch nur schematisch und ebenso schematisch vom Tramp zu besänftigen und zu umgehen.

Und das ist die Tragik im Trampleben: die Eisenbahner sind keine Kerle. Ihre Bewegungen und Erregungen sind erfühlt, bevor man sie sieht. Und wenn sie da sind, markiert man Schüttelfrost und flüstert ein leises »to home«. Sie aber komplimentieren aus fünf Meter Entfernung. Man kann sich nicht beklagen wegen Ruhestörung – sie komplimentieren einen kaltlächelnd aus dem Waggon heraus und feixen, wenn man die Böschungen herunterkugelt. –

Trampleben. Ich habe es kennengelernt. Von Alicante nach Valencia, Valencia–Madrid, Madrid–Valladolid, von da nach Porto.

Ich schwamm am Rande des Atlantik, und im Busen von Biskaya kenterte ich mit einem Segelboot. 114

Spanien, schönes Spanien! Mit deinen Güterzügen kroch ich durch das Iberische Gebirge zum portugiesischen Porto, badete im Tajo und ließ mich von seinem Gefälle nach Lissabon treiben.

Was sind Grenzen? – Die Brücken, die Erdenbrüder bilden, sind zwar Seiltänzerpfade, doch keusch und unbewacht.

In Sevilla schlief ich in Friedhofsgrotten und in Granada unter den Rosen der Alhambra. Dann jagte ich mit Dampf noch einmal die Strecke entlang, die meine Füße getreten hatten: Malaga–Cartagena–Valencia. – Als ich zur Ebromündung kam, überfiel mich ein Moskitoschwarm und spritzte mir so viel Gift ins Blut, daß ich lange krank lag und meine Malaria wieder zum Ausbruch kam. Da machte ich den letzten Sprung auf einen spanischen Güterzug, pendelte mit Schwung in eine Kohlenladung und rollte unter Gewitterkrachen und Eisregen durch die Tunnels, über hohe Gebirgswege Barcelona zu.

Hoheit Tramp, lange Jahre liegen zwischen uns, als ich dir in Barcelona meinen Zoll zahlte: Ich wusch zwei Tage lang an meinen verkohlten Kleidern. Aber noch hallt mächtig dein Pulsschlag in meinen Ohren, denn die Sehnsucht lebt weiter, wenn auch alles Drum und Dran sich verwischt wie ein Traum vorm Tage.

 

Barcelona! – wie sich mächtig deine Zufahrtsstraßen in Hunderten von Schienen und Wegen kreuzen und die Schnittpunkte die vom Wind zerrissenen Nebelfetzen jener morgenden Augusttage zeigten, so bist du ein Bild deiner Bewohner, deiner für uns Nordeuropäer exotischen Blutspannung.

Catalonier und Castilianer, letztere mit dem Stolz der Herren und erstere mit dem Blut der Arbeitsbienen und 115 ihrer revolutionären Kraft. Militär und Adel, Handel und Verkehr, Weltbürgertum – das alles prägt das Gesicht dieser größten Hafenstadt Spaniens. Die weiten Fluchten der Straßen, die Paläste des Verkehrs und der Geldzentren, der Kunst und Bildung, die gespaltenen Melonen vor Hütte und Schloß; das Atmen deiner Grünanlagen und die Arbeit der Industrie, welche so wenig zu den Lackschuhchen und prima weißen Chemisetts der Arbeiter passen und doch so notwendig sind, um die Armut mit Würde zu decken!

 

Der Asphalt der Straßen war naß, als ich vom Bahndamm hinuntersprang. Von Baum und Strauch tropfte der Augustregen, und nächtliche Kälte hauchte vom Meere herüber. Die Gaskandelaber an den Straßenecken spiegelten sich in den blankgespülten Straßen. – Der Geruch der Luft leitete mich lange irre. Es wollte mir nicht klar werden, was für eigentümliche Erregungen durch meinen Kopf zuckten und mir die Knie tatterig machten. Ich schnupperte und schloß die Augen. Dann wußte ich's: Großstadt.

Das überfiel mein Bewußtsein so schnell und heftig, daß ich mich auf die Steintreppe eines Hauses setzte, um nicht ganz den Kopf zu verlieren. Dabei waren meine Gedanken so geordnet wie nur etwas. Ich legte mir die Aufteilung einer Stadt in Gedanken zurecht, zog die Straßenzüge kreuz und quer, rundete und quadrätelte die Plätze und Märkte, aber es blieb die Erregung, die mir den Kopf benahm, und das Schwindelgefühl, das meine Beine wanken machte. Ich schlug, ich boxte gegen meinen Schädel, torkelte die nassen nächtlichen Straßen entlang. Die Erregung wuchs und schnürte mir die Brust. Ich lief und stöhnte und roch, ich taumelte und fiel. Die geraden 116 Dächer der Häuser wurden schief und die Straßen fluchteten in die Höhe, – Wirrwarr in meinen Augen, Teufelsspuk – – Marseille!

Marseille, das war's. Die Klammern, das Gewebe und die Fänge der Spinne!

O ihr Städte mit euern gezirkelten Straßen und dem Wunder der Lebendgeburten in euern Häusern, mit den Sträuchern und Bäumchen vor dem Pfuhl, mit den Ballungen von beseelten Organismen zwischen totgeborenen Ideen!

 

Hinter Busch und Stein blieb ich, bis mich der Hunger in den Hafen trieb. Ich turnte auf die Schiffe und bat um einen Fraß – Matrosen sind gut. Und als mich ein Deckoffizier von Bord jagte, flog mir vom Achterdeck Käse und Brot an den Kopf.

Die Wege, die so viele gegangen, wanderte ich dann auch: Vom Krankenhaus zum Konsulat, vom Konsulat zu dem Schiff, mit dem Zwangspaß zur Heimreise in der Tasche.

Ich kam nach Genua.

Die Städte trieben mich wieder. Ich fragte nach Brot und erhielt harte Worte. –

Im nördlichen Teil des Hafengeländes von Genua legte ich mich in eine der riesigen Ankerbojen, die am Rande des Kais lagen, zum Schlafen. Weich waren sie mit Lumpen und Stroh ausstaffiert, denn die, die hier vor mir gewohnt, hatte Kinder gezeugt und geboren.

All die Bojen, die hier in einer Reihe lagen, waren Tag und Nacht belegt. Männer mit ihren Frauen, Mädchen, Erdenbrüder aller Nationen fanden in diesen stählernen, runden Wohnungen Asyl. Meine Behausung zählte 117 manchmal fünf und mehr Schlafgäste, Wanderer aus allen Himmelsgegenden. Dann verlor ich das Mein der Behausung. Allgemeingut wurde jeder Fetzen Leinwand und jeder Strohhalm, läusebekrochen. –

Aus irgendeinem Grunde tobte der Haß zwischen Boje und Boje. Chilenen und Brasilianer gegen meine Schlafgenossen: Engländer, Schweden und Dänen. Ich glaube, die Ursache war ein Weib, das eines Nachts jämmerlich vor der Nachbarboje schrie, als die heißblütigen Südamerikaner mit Messern zähneknirschend aufeinander losgingen. Seitdem verfiel das Weib den Schweden. Die wühlten nachts abwechselnd ihre Blondschöpfe in die heiße Pracht der Italienerin. –

Das Diskuswerfen mit scharfen Stahlplatten von Boje zu Boje war mehr Mord als Sport. – Da die Boje der Amerikaner vor der unsrigen lag und dem Hafenausgang zugewandt, mieden wir den Weg an ihr vorbei. Wir knebelten Hemd und Hose und buckelten das Paket und nahmen den Wasserweg zum Schutz vor scharfgeschliffenen Messern. Ich mußte mittun – ich schlief ja mit dem Weib in einer Boje. Ich mußte, obgleich mir die Chilenen und Brasilianer gleich lieb waren. Aber die Stahlplatte, die mich eines Abends am rechten Oberarm verwundete, zwang mich zur Parteinahme. Ich ratschlagte mit meinen Schlafgenossen, wie wir diesen Wölfen die Zähne ausbrechen könnten. – Ehe wir aber noch zum Beschluß kamen, handelten die Wölfe.

Nachts warfen sie brennenden Schwefel und gossen glühenden Teer in unser Loch. Der Däne, der vornean lag, brüllte entsetzlich, als der Teer über seine nackten Waden lief. Eklig roch es nach verbranntem Fleisch. Der Schwefeldampf zerbiß uns die Augen, daß wir Mann auf Mann 118 losgingen. Wir heulten, daß die Stahlwände zitterten – die Wölfe heulten vor Freude vor dem Loch.

Stroh und Lumpen glimmten in unserm Loch, der Dampf stach uns furchtbar in Nase und Rachen, kein Auge wagten wir aufzumachen. Die Wölfe ließen uns nicht heraus, sie brüllten vor Lachen.

Das Weib keifte und schlug wie eine Irrsinnige um sich. – Der Engländer fiel das Weib an und rächte sich im schwelenden Dampf und dem Toben der Männerleiber für seine lange Wartezeit. –

Als der Luftmangel uns die Kraft zur Abwehr nahm, kamen wir erst auf den Gedanken, den Zunder und das schwelende Stroh vor das Loch zu werfen. Wir räumten aus, die Finger verbrannten uns bis auf die Nägel. Das war aber Rettung. Wir wären unter dem Freudengeheul der Wölfe erstickt.

Es heulten aber nicht nur die Wölfe, sondern die Bewohner der andern Bojen kläfften mit. Sie kläfften um so toller, je dichter die Rauchschwaden aus unserer Hölle drangen. – Da war auch keiner, der die Behörde alarmiert, und auch keiner war da, der sie nicht zu fürchten gehabt hätte. –

Als der Qualm abzog, sahen wir die Wölfe vor unserm Loch. Dicke Steine warfen sie in unser Loch. Die trafen uns an den Schienbeinen, an den Füßen. Die Flüche der Wölfe prasselten und ihre tobenden Muskeln fraßen sich selbst.

Die Steine flogen zurück – ha, der klatschte vor den Bauch – noch mal, der ging an die Nieren. Dann hob ich eine Eisenstange und schwang sie durchs Loch – brüllend wühlte sich einer im Dreck. Die Stahlplatten, die Holzkloben und die Eisenklumpen, die wir gesammelt hatten, 119 raus damit, ihnen vor die Knochen – und dann Sprung auf Sprung, Mann gegen Mann.

Der Mond und die Hafenlaternen gaben das Silber des Lichts und die nasse Erde den Schlamm, der an unsern fast nackten Leibern hochspritzte.

Bei Gott, es war kein gewöhnlicher Kampf – auch keine gewöhnlichen Menschen, die sich ihre Zähne an harten Fäusten splitterten und sich die Kinnladen brechen ließen. Das war harte Arbeit und findige Gier der Notwendigkeit.

Einer roch dem andern die Achillesferse ab, und der, der dem Mitleid Raum gab oder die Wucht seines Schlages hemmte oder gar durch Gebärde Gnade verhieß, dem war der Tod näher als die Annahme des Pardons. –

Mit einem harten Schlage der linken Faust an den Hals meines Partners sprang mir die Hand aus dem Gelenk. Ich ließ den Arm baumeln – schleuderte dann meine Rechte dem schon Taumelnden unters Kinn, daß es krachte und meine solid gebaute Hand sich im Muskelkrampf versteifte. – Da war ich kampfunfähig. Der andere auch, und der Fußtritt, den er mir noch in die Weichteile stieß, hatte nur noch halbe Kraft und ließ mich nicht mal zucken. Auf der Erde kroch er und fletschte mit seinen blutigen Zähnen – verbrüllte seinen harten Schmerz.

Hinter mir und vor mir tobte noch der Kampf. Als die Südamerikaner sahen, daß einer der Ihrigen erledigt war, verdoppelten sie ihre Kräfte. Der Kampf dauerte aber schon zu lange. Wie traumselige Brüder fielen sie sich wankend in die Arme – so schlapp waren sie. –

»Hund von einem Engländer, ich – rase dich zu Hackfleisch! – Da, du Aas, friß!« Und damit sprang der schwarze Balg des Brasilianers im tigerhaften Sprung auf den 120 vorgehaltenen Kopf des Engländers. Der hob aber nur seine gewaltigen Fänge und fing den Brasilianer an den Lenden auf und warf ihn weit über seinen Kopf. Keinen Ton gab er mehr von sich – er lag mit dem Gesicht in einer Pfütze, und seine Fußsohlen wölbten sich zitternd nach innen. – Später wälzte ich seinen schweren Körper und legte Holz unter seinen Schädel, damit er nicht in der Pfütze erstickte. – –

Um das Weib kümmerte sich niemand. Sie hatte unserer Roheit zugesehen und mit gurrendem Lachen die Lawine an sich vorüberrauschen lassen.

Wie besiegte Hunde mit gekniffenem Schwanz schlich einer nach dem andern zum Wasser und kühlte den tobenden Kopf und bedachte, in welche Speichen des Weltrades er seine Hände geworfen.

Wer gehen konnte, der ging zur Ambulanz im Hafen und bat um einen Lappen und einen Schluck Branntwein.

Irgendein Zöllner aber, der das Kampfgeschrei gehört hatte und dem nächtlichen Spuk zugesehen haben mußte, alarmierte die Polizei. Und die kam und sperrte uns die Hafenausgänge. Ich sah die kriechenden Scheinwerfer der Fahrradtruppen wie silberne Bänder durch den Hafen fliegen und schlug unter den Unsrigen Alarm. Ich benachrichtigte sogar die Südamerikaner von der kommenden Gefahr. Sie dankten mir's nicht, sondern warfen mir noch ein schweres Stück Eisen in den Rücken. Wer aber noch kriechen konnte, der verkroch sich oder plumpste ins Wasser und schwamm durch die Schmier- und Ölschicht des Hafenwassers. – Die Nachtschatten der Schiffe geizen nicht mit undurchdringlicher Finsternis, und die Ankerketten der Dampfer gestatten ein sicheres Tauchen, wenn die Polizeiboote mit Geknatter und Gestank das Wasser wühlen. 121

 

Die großen Ankerbojen wurden abgebracht, und die Razzien der Polizei kamen Nacht für Nacht. – Oft noch war das Wasser meine einzige Rettung vor der Schutzhaft. Ich sprang immer herzhaft zu, wenn ich die Scheinwerfer kommen sah, und schluckte so viel Öl und Kohlenstaub von der Wasseroberfläche, als eben nötig war, schleifte Hemd und Hose so lange durch den Dreck, bis das Gewebe eher nach Fischnetzen aussah als nach menschlicher Kleidung. – Als sich mein Magen aber wehrte und mich mit zweitägiger Kolik auf den Hund brachte, – als mein Blut im Tropenfieber an zu singen fing und meine Beine mich nur noch torkelnd vom Campo Santo herunterbrachten, ging ich zu den Nonnen und schlug das Kreuz.

Ich dachte mir, das Kreuz wird von den Nonnen eher beweint und beschenkt als von den Mönchen, die mich nicht einmal ohne großen Streit einige Feigen stehlen ließen. – Das dachte ich. Aber Lamento und eine Schale voll Grütze mit schwammigem Brot war alles, was sie mir gaben. – Nein, noch mehr gaben sie mir, nämlich den guten Rat, zu den Mönchen zu gehen.

»Ein Schelm, der mehr gibt, als er hat«, murmelte ich und verschluckte die Flüche von der Zunge, die die Ohren der barmherzigen Schwestern kosen wollten.

 

Es ist eklig, durch staubige Straßen zu gehen, wenn die Lippen heiß und die Zunge gedörrt am Gaumen klebt: vor Durst. Noch ekliger und betrübender aber ist es, wenn einem die Malaria flimmernd durchs Blut tanzt und eine Hauswand die einzige Stütze für bebende Hände bildet. Wenn man dann so langsam in die Knie sinkt und wie ein Bettler demütig vor den Gerechten und Aufrechten mit 122 Händen und Füßen zittert, dann jammert einem selbst das Herz vor Mitleid. –

Mir erging's so. Und als die Krankenwärter mich ins Auto hoben, segnete ich doch so in etwa die hilfreiche Stadtseele, die ein Verkehrshemmnis aus dem Wege räumt und ins Krankenhaus trägt.

Ich habe nie erfahren können, wie das Krankenhaus hieß, das mich drei Nächte beherbergte und die Nonnen wie einen Ameisenberg einsog und ausspie.

Was so mit unsereinem gemacht wird, der in ein reines Bett soll, das wurde auch mit mir gemacht. – Als ich nach einem langen Schlaf fieberfreier wurde, sah ich, was sie mir angetan hatten. Mein Kopf war kahl, wie rasiert. Dabei hatte ich bestimmt nie Kopfläuse gehabt. Die Haare konnte ich mir nicht zurückwünschen, aber schimpfen konnte ich wie ein Neapolitaner, daß die Gesichter der Nonnen violett wurden und ihre Kutten entsetzt von meinem Bette durch die Hallen tanzten und aus jedem der Reihenbetten ein fast irrsinniges Gelächter erscholl. –

Ein altes Kloster oder eine Kirche mußte das Krankenhaus früher gewesen sein. Die hohen, schmalen Hallen, in denen wir lagen, sahen aus wie die Wandelhallen und Kreuzgänge einer Klosterkirche. Die Spitzbogenfenster zu unsern Häuptern und die Wandnischen vor uns mit ihren Statuen katholischer Heiliger – das Echo jeden Geräusches und das Grablicht – alles Zeichen, daß vor dem Fiebergestöhn und Schmerzensgeschrei der Kranken einmal die rollenden Töne der betenden Priester durch diese Hallen fluteten. –

Chinin half mir am Tage – aber in der Nacht brachte es mich nicht zur Ruhe. Ich hörte das Röcheln der Kranken, und meine Fieberphantasie übertrug es in das Schwirren 123 der raumlosen Höllen. Die Öllämpchen, die neben den Betten ihr Licht wimmerten, ließen die Heiligen in ihren Nischen wie schwerttragende Teufel springen. Kam dann noch eine Karawane rauchfaßschwenkender, vielfarbiger Meßknaben mit ihrem Priester zum Bette eines Sterbenden, so lag ich wie in Muskelstarre und sah im Priester einen knurrenden Profoß mit seinen Schandbuben.

»Hilfe!« – Ich schoß aus dem Bette – meine Füße wuchsen mir zu weichenden Schaukeln und meine Fäuste zu riesenhaften Hämmern, mit denen ich das murrende Gewürm totschlagen wollte. Dabei war ich wach und sah die Betenden und begriff ihr menschliches Tun – aber das maßlose Maß, der Kreis mit seiner ewigen Peripherie zauberte mir die Geschehnisse über die Wippe des Verstandes. Zu hellsichtigen Protoplasmen malten meine Seelenaugen die Rauchschwaden – und die Ahnen, die Zeitlosen der Betenden, wuchsen in ihre Erdhaftigkeit zurück und kläfften schaurig – »Henkermahl!« – –

Ich muß sie geworfen haben, die Nonnen, denn sie lagen neben mir, als ich ruhig und sicher in mein Bett ging und schlief. –

Ich schlief mich gesund. Am Tage verwirrte ich die Nonne, daß sie ihre Chininschachtel auf meinem Bette liegen ließ. Sie wanderte unter mein Kopfkissen. Dann inspizierte ich in aller Ruhe die Hosen der Kranken und fand eine, die mir paßte. Das Hemd, das ich trug und Inventar des Krankenhauses war, gedachte ich mitzunehmen. Schuhe suchte ich nicht, weil ich keine besseren finden konnte, als ich schon hatte.

In der kommenden Nacht stahl ich mich durch den Hof zum Tore hinaus, lief, räusperte und spie: »Pfui, alter Knabe, das waren heulende Nächte!« – 124

Ich lief nach Remi, und mit der leuchtenden Septembersonne unternahm ich eine lange Schwimmtour im Meere, gurgelte, reinigte mir den Schlund mit Seewasser. Den Brand löschte ich mit eisgekühltem Weißwein, – das kostete mich die letzten Bettelpfennige des Konsulats. – Meine Gedanken aber bezahlte ich niemandem.

Als blinder Passagier lag ich dann einen Tag und eine Nacht im Rettungsboot eines Hamburger Dampfers via Neapel. Als man mich fand mußte ich Kohlen schaufeln. In Neapel flog ich das Fallreep hinunter, aber ich hatte warme Kleider, sogar Kragen und Schlips.

Ich überlegte lange, wie ich aus dem verwünschten Italien herauskäme. Als Trampfahrer, das ist in Italien kein Spaß. Die Polypen waren zu sehr hinter uns Erdenbrüdern her und Strecken lohnen sich auch nicht: eine Nacht und man hat Italien fast durchquert. Auch sind die Strecken bekleckert und beleckt vom Wesen der Städte und vermitteln keine Weite und Einsamkeit.

Es blieben nur die Schiffe. Neapel ist aber ein schlechter Hafen für die, die weit heraus wollen. Die Hafenwache ist zu streng, und Neapel selbst stinkt vor Armut. So blieb mir nur noch die Sehnsucht, schnell nach Genua zurückzukommen. Und ich kam zurück. Sogar ohne Kohlen zu schaufeln. Das Konsulat bezahlte mir die Fahrt nach Genua und gab mir sogar Spesengeld. Da sah ich meinen Schlips dankbar an und streichelte meinen weichen Kragen und segnete meinen Lügenmund. Als ich in Genua ankam, durchschlich ich den Hafen. An irgendeiner Ecke erfuhr ich, daß der holländische Passagierdampfer Prinzeß Juliane am nächsten Tage nach Indien auslaufen sollte.

Prinzeß Juliane? – Holländischer Passagier? – Ich erinnerte mich an einen holländischen Schiffsagenten, dem 125 ich einen Spazierstock, goldbeknäuft, aus dem Hafenwasser gerettet hatte, und mir auf mein Bitten versprach, für mich eine Stewardstelle auf einem Schiffe frei zu halten. Ich suchte in meinem Hirn nach seinem Namen und nach seiner Adresse. Beides hatte ich aber vergessen. Darum lief ich zum holländischen Konsulat und ließ mich zweimal hinauswerfen, nachdem ich den Konsulatsbeamten zweimal eine Viertelstunde lang mit Fragen gequält hatte, den Agenten wohl zwanzigmal mit einer Deutlichkeit beschrieben hatte, nach der jeder Maler sein Konterfei vor Augen gehabt hätte.

Der Beamte warf mich zur Tür hinaus. Dabei mußte ich den Agenten finden! Ich überlegte, was ich tun könnte und überlegte weiter, was ich tun würde, wenn ich ihn finden sollte. Auf die erste Frage gab ich mir die Antwort, daß ich ihn am ehesten im Hafen finden würde und auf die zweite Frage sagte ich mir vielerlei: Ich werde ihm seinen Spazierstock unter die Nase reiben wie seine ewige Seligkeit. Ich werde mich an den Stock hängen, und wenn er mir nicht hilft, verprügele ich ihn mit dem geretteten Holzast. –

Ich lief in den Hafen und fand den Agenten, als er von der »Prinzeß« herunterstieg. Er war nicht allein, aber das störte mich nicht.

Ich bewegte mich langsam, fast schämig, auf ihn zu.

»Guten Tag, Master! – Kennen Sie mich nicht mehr? – (Er schaute mich gar nicht an, und ich wurde hinweisend.) Da, den Spazierstock den holte ich Ihnen doch aus dem Wasser. – Erinnern Sie sich doch bitte, bitte sehr!«

Als ich ihm den geretteten Spazierstock seinerzeit in die Hand drückte und mir das dreckige Wasser aus den Hosen 126 tropfte, bedankte er sich in sehr feinem Deutsch. Und jetzt redete er mich holländisch an und verdammigte entweder mich oder sich – das verstand ich nicht. – Ich trat näher an ihn heran und bat mit den Augen.

»Bitte, mein Herr«, flehte ich, »hören Sie mir einige Minuten zu! – Wie? – Ja, so hören Sie doch! Ich kann hier keine Stelle bekommen – ich suche schon so lange danach – und jetzt, wo der Passagier daliegt – bitte, vermitteln Sie mir doch eine Stelle – als Trimmer – ich will ja arbeiten!«

Er hatte mich angehört! Ich war glücklich darüber, so glücklich, daß meine Hände faselig wurden und nach dem Rockknopf meines Gegenüber langten und seine Hände kosten!

Der Agent verstand aber meine stummen Bitten nicht oder wollte sie nicht verstehen. Er schlug meine bittenden Hände mit harter Faust von sich und sagte: »Du kannst nicht als Trimmer arbeiten. Der Dampfer geht nach Java. Du verreckst vor Hitze – vor den Feuern arbeiten nur Malaien!«

»Als Aufwäscher!« bat ich, »Knecht für alles! Nur daß ich aus diesen Städten herauskomme!«

Der Agent schaute mich feindlich an, seine Augen wurden bullerig, und seine Nasenflügel bebten. »Du bist ein toller Bursche«, schrie er mich an, »ein Erdenbruder – häng dich auf, aber laß mich in Ruhe!« –

Da warf ich mich auf seinen Spazierstock und zog den davoneilenden Mann zurück. Irgendeine traumselige Regung legte mir die Anrede »Bruder« in den Mund. – »Bruder, hilf mir doch – wir sehen uns sicher niemals wieder. Was Sie jetzt tun, das werden Sie und ich nie vergessen!«

»Bruder?« schnellte er wie von der Tarantel gestochen 127 auf mich zu. »Du toller Hund, ich rufe die Polizei! Scher dich, Schindluder!« –

Ob er recht hatte in seiner Wut über die Anrede oder nicht – ich hatte ihm den Stock aus spontaner Regung aus dem Wasser gezogen und mir eine nasse Hose geholt – und ebenso spontan versprach er mir, eine Stewardstelle für mich offenzuhalten. Ich fühlte, als er mich nicht erkennen und mir nicht helfen wollte, daß ich der Treuere war, da ich handelte, während er kniff.

Weil ich aber gar keine Verachtung und keinen Haß für diesen Menschen aufbringen konnte – denn letzten Endes konnte ich nicht von ihm verlangen, daß er seinen Stock ebenso hoch einschätzte wie ich die Rettung aus meiner Not – schien mir aber ein Erziehungsakt angebracht.

Ich riß den Stock an mich und schlug ihn mit Schwung um seine Beine und warf ihn noch weit ins Wasser.

»Bruder«, sagte ich nun erbost, »du bist wohl fünfzehn Jahre älter als ich, aber dein Lehrmeister will ich doch noch sein, du lieber Schuft!«

Hatte der Begleiter des Agenten bisher stumm zugesehen, so verbündete er sich nach dem harten Schlag mit ihm. Beide sprangen auf mich ein. Ich wehrte ihre Fäuste ab und erteilte wuchtige Hiebe. Das Publikum wurde aufmerksam. Von der »Prinzeß« herunter erschollen Zurufe auf die beiden Helden. Matrosen bildeten Karree um uns – ich hörte, wie sie Wetten abschlossen und jeden saftigen Stoß meinerseits applaudierten.

Ich schlug und stieß, und während ich schlug, sah ich Villach, den goldigen Villach, den baumlangen Villach, der mir wie ein heiliger Mentor Mut zunickte. Und ich schlug und stieß weiter. Als ich nicht mehr konnte, schrie ich: »Villach! Bruder! Nimm mir doch einen ab.« 128

Villach nickte und knurrte: »Komm schon, Bruder.« Und dann schlug er gleich dem Agenten seine Faust ins Gesicht, daß er sich setzte. Ich tat noch einen zweiten Schlag gegen den andern, den dieser damit quittierte, daß er verwirrt seinen Schlips unter die Weste drückte und sich zurückzog.

Villach war in Flammen. Er schnob und stöhnte. Das war immer so, wenn Villach in Wut kam. Dann konnte er sich nur schwer beruhigen. Er fluchte lästerlich. Und als er keinen Gegner mehr fand, hatte ich Mühe, daß er sich nicht an einem Matrosen vergriff, der seine Flüche nicht wie ein Echo aufnahm.

»Komm, Ramm, – wo warst du eigentlich die letzten Wochen? In welchem Loch hast du dich so 'rausgeputzt, he?! – Deibel, Schlips und Kragen!« – Und dann nach einiger Zeit der Betrachtung meiner beschlipsten Brust sagte er unvermittelt: »Du, komm, wir machen einen gelinden Dauerlauf. Der Agent holt die Hafenpolizei!«

Wir liefen, und im Laufen sagte ich zu Villach: »Für Schlips und Kragen kann ich nicht; das haben mir die Matrosen angedreht!« Unter Lachen erzählte ich ihm, wie der Konsul in Neapel darauf 'reinfiel, und schwor ihm, daß ich die Halsschlange abbinden würde, noch ehe die Sonne unterging. – Wir krochen in eine Ecke des Hafens und hielten uns bis zum Abend versteckt. Hier erzählte ich auch Villach von meiner Absicht, mit der »Prinzeß Juliane« in See zu stechen. Ich wollte unbedingt nach Java und fragte ihn, ob er mitmache. Er erzählte mir, daß er vor zwei Jahren in Java war, und daß die Holländer ihn mit furchtbarer Keile wieder abgeschleppt hätten. Schön wäre es da und fruchtbar, überhaupt ein Paradies für Erdenbrüder.

»Komm schon mit.« 129

 

So standen wir denn abends spät bei dem holländischen Passagier und warteten auf die Matrosen, die zum Suff ihre Beine in die Stadt lenkten. Das ist die beste Gelegenheit, um Freundschaften zu knüpfen und mancherlei Pläne zu hecken.

Ein alter Bootsmann erriet unsern Plan, bevor wir ihn noch ansprachen. Wir gingen zusammen durch Genua und tranken, knauserten nicht mit unsern Bettelpfennigen, bis der alte Bruder warm war und das Versprechen gab, uns an Bord zu verstauen.

Wer einen Bootsmann bei solchen Angelegenheiten für sich hat, der fährt gut. Wir gingen durch die Zollwachen an Bord, als gehörten wir zum Personal – den Weg zu den Bunkern fanden wir allein. Wir schossen die hohen Steintreppen hinunter, vorbei an den erstaunten Maschinisten, tanzten durch die Feuerlöcher wie Schattenrisse, daß die Malaien vor Schreck Schaufel und Schürhaken fallen ließen. – »Ruck« flog die Bunkertüre auf – »wumm« klappte sie hinter uns zu. –

Mit den Füßen tasteten wir die Kohlenberge ab. Ehe wir aber hochkamen, waren wir ein paarmal abgerutscht, und die Kohlen verschütteten uns, ehe wir noch unten waren. Der Kohlenstaub verschlug uns den Atem, daß wir gegeneinander lehnten und hinter unsern Hemden nach Luft schnappten. Dazu zitterte uns die Hitze des Kohlenbunkers durch die Lungen – unsere Kleider waren sofort schweißdurchnäßt, und vor unsern Augen tanzten noch immer die flackernden Feuer, vor denen die Malaien standen. – Der Gedanke, für die nächsten zwölf Stunden, vielleicht gar sechsunddreißig Stunden, keinen Lichtschimmer zu sehen und keinen Japper nach frischer Luft machen zu können, war nicht berückend. 130

Als wir endlich die Kohlenberge erklommen hatten, verzogen wir uns kriechend in die tiefste Ecke des Bunkers, warfen uns Hose und Hemd unter den Kopf und schwitzten, schwitzten die ganze Nacht. – Morgens um acht Uhr sollte der Dampfer auslaufen. Bis dahin nicht entdeckt – so nahmen wir an –, hatten wir das Schwerste überstanden. Der Bootsmann wollte uns dann Getränke bringen und uns Las Palmas avisieren. Darauf wollten wir uns dem Kapitän melden, der uns dann fluchend Arbeit geben würde. – Bitte, würde! . . . Aber noch vor Abfahrt des Schiffes krochen durch die schwere Luft des Bunkers Geschrei und Befehle in unsere finstere Ecke. Geschossen wurde, daß wir das Splittern der Kohlen dicht vor uns hörten – ein greller Scheinwerfer faßte uns, daß ich die Augen schließen mußte und in die Feuer der Sonne zu tauchen meinte.

»Verflucht, nicht schießen – wir kommen!« brüllte Villach.

Wie naßgespülte Neger krochen wir aus dem Bunker.

»Hallo! Ihr verfluchten Hunde!« schrie uns der Wachoffizier an und stieß uns die Schürhaken in die Seite, die Malaien warfen uns heiße Schlacken an den Kopf.

»Bestien!« schrie ich und nahm eine Schaufel und schlug um mich.

»Raus, Villach«, brüllte ich, »zieh dich die steile Wand hoch und spieß die Lümmels auf die Haken!«

Wir saßen aber in der Falle. Über uns standen die Maschinisten und grienten.

»Damned, go on!« rief der Offizier uns zu, der doch noch die Europäer in uns zu achten schien. Wir kletterten die Treppen hoch, fühlten an Bord noch mal die Tauenden und gingen knurrend an Land. – Wir waren 131 vollkommen nackt und sahen furchtbar aus in unserer schweißigen Kohlenschwärze. Es war noch früh, und der blasse Morgen starrte kalt über unserm nackten Fell. Wir legten uns abwechselnd unter die Pumpe, bis wir wieder schier waren. Und in einer Waschhalle klopften wir unsere Hosen und Hemden im Seifenschaum, spülten und wuschen, trockneten und bügelten mit harten Pflastersteinen unsere Hosen in elegante Kniffe und segneten die warme Sonne.

Die Javareise war zu Ende, vorzeitig. Das ärgerte mich. – Als wir mittags durch den Hafen schlenderten, lag die »Prinzeß« noch immer am Kai. Die Ladekräne waren noch in voller Tätigkeit, die Schauerleute tanzten wie wild über das Deck und liefen die Zugbrücke auf und ab. Der Kapitän stand an der Winde und feuerte die Mannschaft an.

»Villach«, flüsterte ich, »die ›Prinzeß‹ hat Verspätung! – Weißt du, ich hätte Lust, an der Ankerkette hochzuklimmen!«

»Deibel, ich hab' genug«, meinte Villach und drehte bei.

Ich ging an die Zugbrücke und lehnte mich ans Geländer und überlegte. Ich redete mir gut zu: einfach hoch! Aufs leere Achterdeck und in eins der Rettungsboote hinein! –

Dann pfiff die Schiffssirene – eine letzte Marmorplatte hob sich von der Erde, – die Arbeiter verließen fluchtartig das Schiff – zwei Schlepper legten sich dampfend vor den Schiffskoloß. Sirenengebrüll, Kommandolärm, die Zugbrücke gleitet rollend und polternd zur Erde, die schweren Bordtüren schließen sich.

Ich schiele hoch, da steht der Bootsmann mit einem Köchlein. Langsam pendelt ein schweres Tau über die Reling.

»Hoch!« ruft das Köchlein. – 132

Ich schaue mich um. Die Menschen drängen sich am Pier und schauen hoch. Die Bordkapelle spielt den Abschiedstusch. Tücherschwenken, Lachen, Weinen. Über allem liegt diese großartige Stimmung süßen Abschiedsschmerzes und himmelferner Weite.

Ich fasse das Tau mit beiden Händen, ziehe mich in hastigen Klimmzügen hoch, springe über die Reling und tauche in dem Gewirr der Menschen an Bord unter.

»Geh unter die Passagiere der dritten Klasse!« flüstert mir der Bootsmann zu und verschwindet.

Ich laufe die Wandelgänge lang, lande dann wieder vor der Küche – springe zurück und gerate in einen kleinen Kohlenverschlag neben der Küche und fange an wie blödsinnig Kohlen zu schaufeln. Ich schmiere mir das Gesicht und die Hände mit Kohle ein.

Währenddessen hat der Dampfer abgelegt. Die kleinen Schlepper vor dem schweren Koloß brüllen und zischen, und dann bewegt sich das Schiff vorwärts.

Auf einmal steht hinter mir das Köchlein. »He! verschwinde, du bist schon verraten!« Ich werfe die Kohlenschaufel in die Ecke, springe aus dem Verschlag und fliege zum Achterdeck. – Verdammt, da steht der Wachoffizier mit einigen Matrosen. – Ich reiße eine Tür auf, höre wie aus weiter Ferne Musik, Tellerstoßen, Silbergeklapper – dann stehe ich im Speisesaal der ersten und zweiten Klasse. Die Speisenden schauen mich erstaunt an und lachen. Ich bin furchtbar verlegen und durcheile in mächtigen Sätzen den Saal, jage aufs Verdeck und springe in eine offene Kabine. – Hier hängen in langen Reihen Bananenstauden, Weintraubenreben und auf der Erde stehen Fässer und Kisten. Ich überlege nicht lange, greife mit der einen Hand Bananen, mit der andern Weintrauben und setze 133 mich hinter eine Kiste. Die angenehme Kühle dieses Raumes, die Handgreiflichkeit der Nahrung – das verleitet mich zu der Absicht, wenn möglich während der ganzen Überfahrt bis Java nicht mehr aus meinem Versteck hervorzukriechen. –

Es verging eine kurze Zeit, während der ich ungeschoren blieb. Dann wurde plötzlich die Tür aufgerissen, gerade, als meine Hand nach einer neuen Banane langte. Ich konnte mich nicht schnell genug ducken, und als ich es doch krampfhaft versuchte, pendelten die Bananenstauden und die Weintraubenreben.

Ich sah dann einen schlanken Revolver, der sich über die Kisten auf mich zuschob – mechanisch greife ich nach einer weichen Banane, und werfe sie, daß sich der Brei in die Handkanone wühlt.

»Du Luder!« schnarrte mich der Wachoffizier an. »Das dachte ich mir, daß du das bist. Du verfluchte Kanaille – du Aas!« – Er stand vor mir und war blaurot im Gesicht. Seine Halsadern krochen aus dem enganliegenden Rockkragen heraus und seine Hände fuchtelten mir vor der Nase. Seine Flüche aber ebbten immer mehr ab, und je freundlicher ich ihn anlachte, desto freundlicher wurden seine Worte. »Du Kujon, wie bist du bloß hier raufgekommen?« Ich lachte ihn an und sagte nichts. Sogar die Matrosen hinter ihm lächelten und faßten mich freundlich und nachsichtig am Arm und führten mich über Deck.

Die Maschinen zitterten schon im Schiffsleib – das krachende Brodeln der Schiffsschrauben kündete mir den Beginn der Fahrt. Ich zitterte vor Freude, daß die Reise nun begann. –

Die Matrosen schleppten mich vor den Kapitän. Der stand ein Verdeck höher als ich, so daß er auf mich 134 herniederschaute wie auf eine gestellte Wanze. Um ihn versammelten sich mehrere Deckoffiziere und viele Fahrgäste. Der Kapitän sprach kein Wort, hörte den Bericht des Offiziers, sprang dann zurück zur Türe und gab kurze Befehle. Dann kam der Kapitän herunter. Die Matrosen hatten mich noch immer am Arm und führten mich zum Achterdeck. Die Sirenen des Schiffes fingen laut an zu heulen. Und dann erst sah ich, daß sie das Lotsenschiff zurückriefen, das in etwa fünfhundert Meter Entfernung dem Hafen zustrebte. Die letzten Ausläufer des Hafengeländes lagen schon hinter uns. Die Maschinen arbeiteten nur noch ruckweise. Ich sah, wie das Lotsenboot scharf wendete und zurückjagte, in einem Tempo, daß der Bug ganz und gar in weißen Schaum eingehüllt war.

Da erst begriff ich, daß man mich holen sollte.

Ich wandte mich an den Kapitän und an den neben ihm stehenden Schiffsarzt und bat himmelflehend, mich an Bord zu lassen. Ich wandte mich mit flehenden Gebärden an die Fahrgäste – alles blieb aber still. Ich fühlte die sich kreuzenden Blicke von etwa fünfzig Menschen auf mir ruhen. Und alle sezierten mich kaltlächelnd. – Alle schauten mich still an, wie man einem Schauspiel zusieht, das eine angenehme Abwechslung in ein gleichförmiges Leben bringt. Dann wendete ich mich ab von den Menschen, legte mich an die Reling und sah das Steinmeer Genuas wie ein fernes Panorama vor mir liegen, sah, wie die Hafenpolizei mit dem Lotsen an Bord kletterte – und dann, da war auch der verprügelte Agent.

Mir schwirrte alles im Kopf durcheinander: Gefängnis, Strafe, Abtransport und noch vieles andere, und alles legte sich wie tiefe Traurigkeit auf mein Gemüt. Und dann 135 sprang ich über das Deck, rammte einen Matrosen, der sich mir entgegenstellte, daß er auf die Planken flog. Es war ein großes Wagnis, das an einem ganz kurzen Entschluß hing und mir erst deutlich wurde, als ich schon schwebte. Da lagen einige Laufplanken über einer großen Kiste. Über die lief ich, und als ich auf der Kiste war, machte ich eine letzte gewaltige Anstrengung und schoß über die Reling im Hechtsprung in die Tiefe. Als ich mit meinem Kopf das Wasser berührte, machte ich mein Kreuz hohl, so daß ich kaum zum Tauchen kam. Aber sofort merkte ich den furchtbaren Sog der Schiffsschrauben. – Ich arbeitete rasend, kam aber nicht von der Stelle, fühlte mich sogar rückwärts treiben und hörte die Schrauben furchtbar brüllen. Plötzlich war Schluß. Die Schrauben standen still – ich gewann wieder mit jedem Stoß und strebte dem Außenkai des Hafens zu. Ich war stolz, daß dieser große Indiendampfer meinetwegen seine große Reise unterbrechen mußte. Ich mußte sogar lachen – aber während ich lachte, sah ich das Lotsenboot auf mich zukommen. Da gebe ich alle Kraftverschwendung auf und lege mich auf den Rücken und schaue dem entschwindenden Schiffe nach, das jetzt wieder mit voller Maschinenkraft meine Hoffnungen mit sich trägt. Die Reling ist schwarz voll Schaulustiger, die die Jagd nach dem armen Erdenbruder mit Film und Kamera festhalten.

Dann ist das Hafenboot bei mir, nimmt mich auf, und die Polizei nickköpft mir zu wie einem guten alten Bekannten. – »So nickt die Polente allen Erdenbrüdern zu«, knurrte ich und besann mich auf die Beziehungen, die ein jeder Mensch zum andern hat.

Als mich der Agent hohnlächelnd ansah, wurde ich wütend und schrie ihn an: »Well – du verfluchter Agent, das 136 hättest du mir ersparen können, aber weh tust du mir nicht. Dazu bist du zu dumm, du Vogelhirn!«

»Gottverdammter Bursche! Halte deinen ungewaschenen Schnabel«, rief er mir bösartig zu.

Der Lotse aber lachte mich lieb an. Er verstand mich – und das freute mich fast mehr, als wenn die Javareise geglückt wäre.

Ich war verhaftet. 137



 << zurück weiter >>