Heinz Kükelhaus
Erdenbruder auf Zickzackfahrt
Heinz Kükelhaus

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Spion oder Patriot?

Am 20. April 1923 zog ich in Essen die Bilanz meiner Tätigkeit im Ruhrgebiet. Ich stellte Posten um Posten auf. Ich vergaß nichts, stellte jede Bewegung in Rechnung – auch die meines Schattens.

Ich fieberte in Düsseldorf, flog auf die Elektrischen und in die Autos. Aber die Gefahr, die ich roch, blieb mir nur im Nacken. Die Gelegenheiten zur Tat wichen mir aus dem Wege – die Nachtdunkle wurde erhellt, die Einsamkeiten belebt.

Ich wollte meine beginnende Unsicherheit durch Tollkühnheit erledigen. Ich war erdrückt von der Ereignislosigkeit der Tage.

Als ich zwei Reitpeitschen auf dem Führerperron einer Straßenbahn spielen sah, gesellte ich mich zu den Peitschen. Ich knirschte mit den Zähnen und benahm mich so unverschämt gegen die französischen Offiziere, daß sie mich starr ansahen. Ich wartete darauf, daß sie die Peitschen heben würden – aber die Kerle waren anständig, sehr anständig. Ich sah mich um und schluckte meinen Anstand und meine Moral hinunter und ließ mir den Leichenzug der vierzehn Deutschen in Essen vor die Augen treten. Dann starrte ich auf die Reitpeitschen. Hinter mir öffnete sich die Wagentür. Ein junger Mann mit geschnürtem Brustkorb und einem Ranbvogelgesicht stellte sich hinter mich.

»Das ist auch ein Franzose«, sagte ich mir. Ich fühlte einen sinnlosen Grimm in mir hochsteigen: »Desto besser, dann sind's drei.« 180

Ich drehte mir eine Zigarette und gab dem plötzlichen Bremsen des Führers willig nach – warf mich mit Stoß auf die Offiziere. – Aber bevor ich sie noch berührte, fing mich der junge Mensch an den Hüften auf und stellte mich fest auf die Füße.

Ich wandte mich um – sah in das freundlich lächelnde Gesicht des Zivilisten.

»Entschuldigen Sie«, sagte er lächelnd, »ich wollte Sie vor einer peinlichen Szene bewahren!«

»Sie, Herr«, meine Stimme überschlug sich – »und das sagen Sie mir in anständigem Deutsch?! – Wer sind Sie, daß Sie mir die Unsicherheit meiner Beine plausibel machen wollen?«

Ich wurde immer heftiger und die Franzosen lachten und empfahlen mir, zuzuschlagen. – Rot wurde ich, meine Hände flogen vor Wut. Ich griff in meine Tasche . . .

»Entschuldigen Sie, gebrauchen Sie bitte mein Feuerzeug!«

Mechanisch brannte ich meine Zigarette an und verließ den Wagen.

In kurzen Stunden benutzte ich alle Verkehrsmittel, bis ich vor dem Kölner Dom stand. Ich lungerte über die Rheinbrücke hin und zurück, verbarg mich hinter Schienen und Baracken.

Am Abend holte ich mir Geld und hinterließ eine kurze Nachricht für Steevens. – Ich nahm eine vorbeifahrende Taxe und fuhr die Straße nach Mehlem hinaus. – Zwei Nächte lag ich hinter der Gartenhecke eines Palais, das einem Manne deutscher Staatsangehörigkeit gehörte, der des Abends mit seinen Autos die Offiziere der Besatzungstruppen zu Bacchanalen fuhr, während sich im 181 Aprilregen die Erde über vierzehn deutsche Arbeitergräber senkte.

Er aber bewachte sein Haus.

Als ich über die Gartenhecke sprang, lebte der Park – zwischen Gesträuch und Rasen flammten Lichter – Lautsprecher schrien – schrille Glocken durchgellten das Haus und Autos hupten. –

Meine Füße versagten mir den Dienst. – Ich wankte zurück und brach durch die dornige Gartenhecke, wie Ohnmächtige vornüberfallen. Nur der stechende Schmerz bewahrte mich vor einer beklemmenden Lähmung. Ich lief durch Felder. Ich sah keinen Menschen. Furchtbar aber ist es, wenn jeder Schritt von einem Knacken begleitet wird, das man selbst nicht verursacht – wenn man plötzlich zwei Schatten hat und sich mit vollem Verstand sagen muß, daß zwei Schatten nur von zwei Körpern geworfen werden können. Als ich das gewahr wurde, packte mich ein Gefühl des Grauens.

Ich murmelte das Einmaleins, um mich bei klarem Verstand zu halten, griff in die Tasche und zog im Gehen und Murmeln das Schießeisen heraus.

Peng! – Das war ein Schuß aus nächster Nähe. Ich warf mich vorwärts und jagte durch Straßen, trabte um Ecken und warf mich in Haustüren und horchte auf meinen Verfolger.

 

Das Mysterium meines Tuns ohne Geschehen nahm mir die Gedankenlogik. Ich floh nach Godesberg und lebte hier zwei Tage in Ruhe und Frieden.

Dann war ich eines Nachts in Krefeld und benachrichtigte Steevens von dem Wahnsinn, der mich zu erfassen drohte. Ich konsultierte einen Nervenarzt. Der hielt mich aber für 182 außerordentlich taktfest. – Ich wurde ruhiger und suchte einen rhythmischen Ausgleich für meine Gedankenkombination und meine pochenden Pulse.

Zwei Nächte verbrachte ich in einem Kabarett, fand aber keinen Geschmack an dem Irrsinn der Gaukler. – Aber durch die Nachtwachen und das Tagbummeln kam mein Körper in die fiebernde Tätigkeit meines Geistes. Das gab mir Schwung und Tatkraft.

Ich war entschlossen, und beschwor ein furchtbares Geschick für jedes Hindernis.

 

Als ich in den Zug nach Essen stieg, war ich schlaftrunken. Ich warf mich auf die Bank eines Abteils vierter Klasse und schloß die Augen. Es stiegen noch viele Menschen ein, Arbeiter. Ich zog die Beine an, wurde dann aber noch bis zum schmalen Sitzplatz verdrängt. – Es hatte lange Weile, bis der Zug sich in Bewegung setzte. Bis dahin war ich eingeschlafen. Der erste Anruck des Zuges war so heftig, daß ich vornüberfiel. Als ich aufstand, schämte ich mich etwas – ich sah mich in der lachenden Gesellschaft um. Das Lachen der Arbeiter stimmte mich fröhlich und ich war fast versucht, mitzulachen, wenn ich nicht in den lachenden Goldschnabel eines mir gegenübersitzenden Herrn gesehen hätte. Auch das hätte mich schließlich nicht stutzig gemacht. Aber, sobald der Mund meine Blicke fühlte, klappte er zu und das Lachen in den Mundwinkeln huschte plötzlich über die Nase und verlor sich in den Augenwinkeln, tat noch einen Sprung und lag in weit aufgerissenen dunklen Augen.

»Maske«, dachte ich – »wo hast du das Gesicht schon gesehen?«

Ich schaute in das gleichgültige Gesicht des Mannes mir gegenüber, der jetzt interessiert eine Zeitung entfaltete. 183

Ich schloß die Augen, ließ mein Gesicht betont schlaff erscheinen und meine Erinnerung arbeiten.

Die blutleere weiße Haut des bärtigen Gesichts wollte mir nicht in meine Bilder passen. – Ab und zu ließ ich mich durch das Stoßen des Wagens wach werden und sog mich mit blitzschnellen Blicken an der Visage des Mannes fest. Ich nahm das Gesicht in meine Gedanken auf, verarbeitete es Zug um Zug. Ich nahm dem Mann den Hut ab, rasierte Schnurrbart und Kinnbart, legte mir Nase und Mund vor die Augen. Ich überlegte lange, noch mehr fühlte ich dumpfe Bilder und zuletzt eine Straßenbahn, einen Führerperron – Düsseldorf; da hatte ich es. – Der junge Franzose hinter mir, der mir den Streit mit den Offizieren verdarb. –

Als ich dahintergekommen war, sah ich mir den Mann noch einmal lange an. Es stimmte. Der Bart war unecht. Blendend maskiert. Vollendeter Schauspieler. Ich sah, wie er mich zeitweise durch ein kleines Loch im Blattbruch der Zeitung beobachtete.

Meine erste Feststellung war, daß ich erkannt sei. – Dann fragte ich mich, warum verhaftet der Mensch mich denn nicht? Er hat doch genügend Beweismaterial in der Hand und schwebt über mir wie ein Engel Gottes, verhütet alle meine Absichten, ehe ich sie noch zu Ende gedacht. Hundert Gesichter mußte dieser Mensch haben, daß ich ihn nicht eher gerochen.

Meine größte Sorge war nun, daß der Mann nicht ahnte, daß ich wußte, wer er war. Ich schaltete jede Sorge vorläufig aus meinem Kopfe aus und schlief bis Essen so fest, daß mich ein Schaffner aus dem Schlafe klopfen mußte. Ich hatte ja auch achtundvierzig Stunden nicht geschlafen.

»Endstation, Herr! Zeigen Sie mal Ihre Fahrkarte.« 184

»Gewiß« – ich suchte in den Taschen und sah mich in dem leeren Abteil um. »Hören Sie, Herr Schaffner, hat Sie etwa ein Herr auf mich aufmerksam gemacht?«

»Ja. – Wieso?«

»Ein Herr mit schwarzem Bart, bleichem Gesicht, mittelgroß?« –

»Genau so – aber, bitte, Ihre Karte!«

»Hier, bitte . . . Ist der Herr, der Sie auf mich aufmerksam machte, dem Ausgang zugegangen?« –

»Ich glaube, na, das weiß ich aber nicht genau!«

»Danke schön!« – Ich sprang aus dem Wagen, schüttelte mich in der Aprilkälte und reckte mir nachlässig den Schlaf aus den Gliedern. Dabei ließ ich meine Augen schweifen. So sehr ich aber auch die Menschen prüfte, ich sah das Gesicht des Bärtigen nicht – und ich wollte ja auch nicht mehr suchen. Ich wußte ja alles. – Außerdem, diese Art Berufsmenschen ist nicht faul und spröde im Erfinden von Masken. Ich war gefaßt, ihn als Gepäckträger, Verkehrsbeamten oder Vagabund wiederzusehen. Ich ging zum Bahnhofsausgang wie ein Reisender, der seine Aufgaben zu erledigen hat und sich nicht gerne aufhält. Dabei fühlte ich, daß ich weiter beobachtet wurde und war mir klar darüber, daß man mich sofort verhaften würde, wenn ich versuchte, ins unbesetzte Gebiet zu entkommen. Ich nahm auch mit der größten Bestimmtheit an, daß mir schon mehrere Spitzel auf den Hacken saßen.

Ich ging in ein Hotel, nahm mir ein Zimmer und schlief bis zum Spätabend.

 

Meine große Schlußrechnung an diesem Abend in Essen war, daß ich von Anfang an verraten war. Ich wurde von dem Augenblick an, da ich das besetzte Gebiet betrat, 185 beobachtet. Und die Regie der Beobachtung war so kunstvoll und vielseitig aufgezogen, daß ich eher dem Irrsinn verfallen mußte, als zu einem Handstreich gelangen konnte.

Die Gefahr schleppte sich von Minute zu Minute. – Ich lief in meinem Zimmer umher und wartete förmlich auf die Füße, die durch den Flur kommen sollten und von der Zimmertür erwartete ich, daß sie sich plötzlich öffnen sollte.

Ich suchte in meinen Gedanken nach dem Verräter. Ich zog die Kreise um meine Bekannten immer kleiner und blieb mit einem Ruck auf Steevens hängen.

Erst schwindelte mir bei diesem Gedanken. Ich stellte ihn zurück, suchte weiter, zog aber immer wieder Steevens in meine Berechnung.

»Ich will dir weder Freund noch Chef sein, aber dein Schatten werde ich sein. Darauf verlaß dich«, das hatte Steevens gesagt. –

Aber das sagte nichts, gar nichts. Ich legte die Worte Steevens nicht auf die Waage, sondern fühlte nur, daß mir ein schweres Gewicht im Nacken lag – ich schüttelte den Kopf, aber das Gewicht fiel nicht. Und meine Gedanken waren ebenso schwer und lagen wie Flocken in der Luft. Steevens ist Spion. Er treibt mich von Stadt zu Stadt. Er sucht durch mich Beweise für Komplottverbindungen gegen die Besatzungstruppen. – Er setzt sich mitten ins unbesetzte Gebiet, hat zu allen deutschen Behörden und Organisationen feste Fäden gesponnen, über die ihm die wichtigsten Mitteilungen zukriechen. – Jetzt weiß ich es, ich, vielleicht der einzige, der seine wahre Tätigkeit erschnüffelt hat. Und ich bin so fest gefangen, daß ich kaum daran denken kann, jemals das unbesetzte Gebiet zu erreichen. – 186

Ich entschloß mich, die Probe aufs Exempel zu machen. Mit schnellen Schritten ging ich aus dem Hotel zur Hauptpost. Ich wollte telephonieren, egal wohin, nur ins unbesetzte Gebiet.

Aus dem Reichstelephonbuch wählte ich eine Nummer in Hannover und übergab einem Postbeamten das dringende Gespräch. Wartend ging ich dann durch die Schalterhalle. Der ganze Postkomplex schwirrte von französischem Militär. Ich hatte einen Augenblick das infame Empfinden, eine totale Null zu sein, eine Laus, winzig und unförmig, die in einer unbestimmbaren Farbe untertauchte. – Die Farbe war blau, blaugrün oder blaugrau – ich weiß es tatsächlich nicht mehr; ich sage am besten: es war die französische Farbe. Die Mantelfarbe, die Hosenfarbe der Franzosen. – Es war eine tote Farbe und eine lebende Farbe, es war ein breites Band und stumpf und flach, wie der französische Stahlhelm.

Ich wartete fieberhaft, wie sich mein Rechenexempel lösen würde. Die Kaltblütigkeit, mit der ich zu Werke ging, holte ich ebenfalls aus meinem Plan: Ich konnte sicher sein, daß meine Verhaftung nur dann erfolgen würde, wenn das mir von Steevens inspirierte Programm erledigt war. Das war noch nicht der Fall. Der zweite Fall der Verhaftung wäre dann erst gegeben, wenn ich Steevens Spionage aufzudecken versuchte. Davor hütete ich mich. Ich mußte doppeltes und dreifaches Spiel spielen: meine Tätigkeit fortsetzen, meine Beobachtung nicht sehen und Steevens entlarven. So mußte ich mich innerhalb streng gezogener Grenzen halten, die Beobachtung im gegebenen Moment irreführen und ins unbesetzte Gebiet flüchten. Das alles war ungeheuer schwer und ich fühlte den einsamen Posten, um so mehr, als mir kein Mensch, keine 187 Behörde innerhalb des besetzten Gebietes Hilfe leisten konnte, ja nicht einmal mit mir in Berührung kommen durfte, ohne selbst in Gefahr zu geraten. Dies überlegte ich mir, noch ehe mein Rechenexempel aufgegangen war. –

Ich wartete. – Dann rief mich der Schalterbeamte. Er sprach auf mich ein, aufgeregt leise flüsternd: »Ihr Gespräch nach Hannover ist gesperrt. Ich rate Ihnen, gehen Sie schnell fort. Man kann . . .« Unser Gespräch wurde unterbrochen. Ein Herr näherte sich uns und nahm ziemlich brüsk den Beamten in Beschlag.

Ich war keine Sekunde erstaunt. Das war ja alles natürlich und so klar. Trotzdem war ich so erschrocken, daß mir fast eine Kugel der beste Ausweg schien. Ich dachte, daß ich vorher aber meinen Verfolger, diesen elenden Schatten, auch niederknallen wollte. Und dann wieder: Ach, warum? Er tut seine Pflicht mit Begeisterung, er weiß nichts – ich weiß alles, ich errate seine Absichten, seine Gedanken, ihre Gedanken; denn es sind doch jetzt sicher schon mehrere, die mich im Auge halten. Verfluchter Steevens, du bist ein Genie, ein König der Spione, gegen den wir doch nur arme Knechte sind. Wie glänzend hast du mich, in deinen Augen ein kleiner Tollkopf, zum Spiegelfechter gemacht! – Ist am Ende nicht dieser ganze Ruhrkampf nur eine Spiegelfechterei und Steevens eine Phantasiegestalt? – Aber nein, Steevens. du bist Wirklichkeit. Dein Land stellt dir eine Aufgabe und du verspielst deine hundert Leben mitten im Feindesland. Und wahrlich, du bist friedlich wie ein Lamm, großzügig, grenzenlos. Ja, du kennst keine Grenzen, du sprichst fremde Sprachen wie du Bier säufst, ein echter deutscher Saufaus. – Ein köstlicher Kerl bist du, Steevens. Wenn ich dich fange, könnte ich dir verzeihen. – Oder, noch besser, ich reizte dich zum Kugelwechsel – und ob ich nun 188 getroffen werde oder du – wir beichten. Du mir aus deinem großen Schädel deine Geheimnisse. – Sicher, ich treffe dich, ich bin jünger und habe eine Mission. Deine ist zu Ende. Ich hypnotisiere dich. Deine Hand wird zittern – irgendeinen Ast im Baume wirst du treffen. – Ja, natürlich, ein Wald muß es sein. So im ersten Sonnenschein fällt der Schuß, der dich lähmt und sentimental macht . . .

Ich schlenderte durch die Stadt, ging zum Bahnhof und notierte mir die Züge in Richtung Münster. Zuerst im Gedächtnis und dann auf Papier. Ich war vorsichtig.

Der Wartesaal wurde von einem Franzosen bewirtschaftet. – Ich ließ mich auf einer Bank mit einigen Franzosen nieder und unterhielt mich freundschaftlich mit ihnen. Dann stand einer von ihnen auf und torkelte weinselig hinaus, kam wieder und forderte, mit bösen Blicken auf mich, seine Kameraden auf mitzukommen.

»Ach so, ich habe mich ganz vergessen und dich auch Steevens. Deine Richtlinien. Das ist spaßig. – Ich bin so müde, Steevens, du lähmst mich mit deiner Klugheit.«

Ich war sehr niedergeschlagen und so allein. Als der Kellner kam bestellte ich: »Un litre du vin, s'il vous plaît.« – »Mais bon vin, monsieur!« – »Vin algérien?« – »Oui!« –

Ich hatte Durst, mir lag der Geschmack algerischer Tropenhitze und Fruchtbarkeit auf der Zunge – ich sah mich mit einem Schritt unter dem Blutregen der Reben und mit einem weiteren im Brandungsgischt des Méditerranée.

»Steevens, du hast recht. Wir müssen suchen und finden durch andere. Opfer spielen. Lämmer sein – aber nicht töten. Wir müssen uns verständigen. Die Komparserie lassen wir toben und saugen den Extrakt aus ihr für unsere Richtlinien. Denn die da toben, sprechen ja doch wahr; 189 sprechen wahr aus Notwendigkeit. Und die Notwendigkeit muß man sondieren. Ich habe dich lieb, Steevens. – Ich will in deinen Schädel schauen. Ich will den Extrakt haben, den du dir aus der deutschen Jugend gesammelt hast. – Du, der du Freund bist . . . ach, wäre ich erst heraus aus diesem Hexensabbat. – Es wird schon glücken. Ich wäge, daß mein Leben notwendiger ist als mein Tod.«

Der Wein blendete mich. Ich trank mit dem wahrsten Genuß, dessen ein Mensch fähig sein kann. Und der, der selten trinkt, den macht der Trunk stark und leicht. – Der Ober brachte mir die zweite Flasche.

»Ich spintisiere nicht schlecht. Komm, Steevens, laß dich weiter fragen. Laß dir erzählen. – Ich glaube, der Mensch der dir den Paradehieb über die Stirn gab, machte dir mehr Vergnügen, als er dir Leid verursachte. – Oder ist der markiert? Fast glaube ich es; markiert. Dann ist es Geschäft, ekliges Geschäft, wie der Talg deine Haut vorzeitig schlaff macht. – Ja, Steevens, das ist Geschäft. Wir sind aber keine Krämerseelen, nicht wahr? – Und gemein ist's, daß sich das Geschäft mit unsern Seelen verquickt. Aber dafür sind wir Menschen. – Talg und Schmiß gehören zu dir wie der Sakkoanzug und der fette Bauch. – Du mußt doch deine Blößen bedecken. Das ist klar. Gott, letzten Endes ist es nicht einmal Geschäft. – Was würden die Mädchen zu deinen Hängebacken sagen, wenn du sie nicht mit Talg zurückdämmen würdest? – Das ging natürlich nicht. – Aber, Steevens, verstehe mich, das kümmert mich nicht. Du bist nun einmal in deine Form geklemmt. Die verkrüppeltsten Feigenbäume tragen doch die schönsten Früchte. – Ich habe zu kurze Beine für meinen Oberkörper. Diesen Schönheitsmangel behebt mir der Schneider. Er tut's, ohne daß ich es ihm sage. Und ich setze 190 es voraus. Das ist dasselbe wie Talg und Schmiß – vom Geschäft wollen wir gar nicht reden.

Ach, ich fühl es, du mußtest mir über den Weg laufen. Das ist mir so bestimmt. Dein Leben ist nichts – gar nichts. Aber das weißt du selbst. – Um dich herum lebt ganz etwas anderes. Das weißt du auch wieder. Aber du mußt mir bestätigen, daß ganz gewaltige Kreise um dich herumschwirren. Kreise, verstehst du, ohne Ecken; alles rund, rund wie die Erde sein soll. – Ha, du lachst! Du freust dich, daß ich den Sinn des Kreises fühle – verlaß dich drauf, seinen Sinn fühlte ich schon, als ich in der Wiege lag. Jedes Geräusch und jede Bewegung rollte mich kreisförmig ein und strebte kreisförmig auseinander. – Daher sind mir auch die Bauzellen der Kultur so schwer begrifflich. – Du sagtest ja selbst, daß du schlechter rechnen kannst, wie ein dressierter Esel. Das sind die Zahlen, die Bauzellen, die wir nicht kapieren können. Und es gibt dämliche Hindernisse, wenn wir den Zahlen glauben. Etwa so: soundsoviel Quadratmeilen. Stopp. Hier ist Schluß mit unserm Vaterland. – Wieso Schluß? – Ja, hier ist die Grenze. Bitte, gehen Sie in die Kartei; da finden Sie die Grenzlande gezeichnet im Maßstab von 1:50 000. – Was heißt 50 000? – Nun, was soll es heißen: Eben 50 000! – Ah, so, 50 000 heißt Vaterland?! – Jawohl, Vaterland. – Das kann natürlich nicht stimmen. Oder, Steevens, würdest du dich für eine Zahl erschießen lassen? – Das glaub' ich nie und nimmer! – Und doch, die Zahl beherrscht unser ganzes heutiges Leben. – Gewiß, wir tragen keine Schuld. Wir armen Menschen. Wir haben überhaupt keine andere Schuld, als geboren zu sein. Das sagte schon Calderon. Wir leben eben und fressen die Erde, und alles bleibt auf der Erde. Wir begehen 191 keinen Diebstahl. – Und die Erde ist die Zahlenresonanz? Das darf nicht sein. Der Weizen blüht in Amerika ebensogut wie in Deutschland. Ach, das mit der Zahl ist gedrillter Kram. Damit operieren sie alle. Die Wissenschaftler, die Techniker, die Kaufleute, überhaupt das ganze Heer der beweglichen, sterblichen Erdenmenschen.« –

In diesen weinseligen Phantasien wurde ich durch eine schwere Hand gestört, die sich auf meine Schulter legte.

»Was tun Sie hier zur Nachtzeit?« Es war eine exakte und schwere Stimme. Und dann eindringlicher: »Geben Sie mir Ihre Ausweispapiere mal her!«

Meine Glieder waren schwer und ich fühlte eine gelinde Wut in mir hochkommen über diese infame Störung. Ich ließ mir aber nichts merken und gab dem Mann meinen schönen neuen Paß und schaute ihn voll an. Er trug halbe Schupouniform – Bahnhofswache – blondes Gesicht – Dialekt Elsässer. Ich war sofort auf der Hut.

»Folgen Sie mir zur Wache«, befahl er leise.

Ich überlegte, was dahinterstecken konnte. Überschraubter deutscher Ordnungs- und Fahndungsdienst, das konnte zur Besatzungszeit schlecht möglich sein. Übrigens lehnten an den Wänden des Wartesaals ganz andere Physiognomien herum. Meine Kleidung war anständig, fast elegant. Mein Gesicht war rasiert, meine weißen Manschetten blitzten unter dem Blau meines Jacketts. Mein Paletot war vom allerneusten Schnitt und mein Hut schimmerte in unnahbarem Seidenveloursglanz.

Hinter diesem Manöver roch ich Steevens Klugheit. Ich sagte mir, wenn man freundlich und echt deutsch zu mir ist, dann ist es Steevens Garde, die mir auf den Zahn fühlen will, ob ich schon in das Spionagewesen eingedrungen bin. Also dumm sein, grenzenlos dumm sein. Ich durfte 192 kein Vertrauen zeigen, kein Anlehnungsbedürfnis. Ich wollte mich einsperren lassen wegen Vagabundierens, ich hätte einen Diebstahl zugegeben, ja, das hätte ich eher getan, als der deutschen Sprache dieses mich verhaftenden Elsässers zu trauen. – Steevens sprach sogar ein famoses dialektfreies Deutsch.

Bis zur Wache waren es einige Schritte durch die Bahnhofshalle. Eine kleine Tür, dahinter ein schmaler Raum. In diesem Raum drehte sich auf einem Stuhl ein breites, brandrotes Haupt. Die Tür klappte hinter mir zu. Das fühlte ich zuerst – abgeschlossen zu dritt. – Ich schwieg und wartete auf die Taktik der Fragestellung.

Mein Paß flog auf den Tisch vor den Brandroten. Der schwieg gleichgültig, schob den Paß zur Seite.

Ich wurde klug – Paß war Nebensache. Man kannte mich also. Sollte ich schon verhaftet werden, schon Schluß? – Unmöglich. – Ich schwieg.

»Setzen Sie sich!« Der Rote schaute mich an. »Helmut, gib mal den Stuhl herüber.«

Der sorgfältig gewählte Name Helmut stimmte nicht, das war mir sogleich klar. Und das gedehnte, langsame Sprechen lag dem Roten auch nicht. Der zitterte eher vor Temperament.

»Wir sind auf Sie durch einige Herren aufmerksam gemacht worden. Man nimmt an, daß Sie ein Werber für die Fremdenlegion sind. So weit reicht aber unsere Macht doch noch, daß wir solche Kerle in Gewahrsam nehmen!« – Dann besann er sich, daß er doch wenigstens meinen Paß nachsehen müsse. Und das tat er mit einer Gleichgültigkeit, die ich voraussetzte.

Ich wurde kühn: »Ich bin Deutscher, Herr Wachtmeister – zum mindesten ebenso guter Deutscher wie Sie. Damit 193 könnte ich eigentlich genug gesagt haben. Sie, als Deutscher, werden vielleicht die Beleidigung fühlen können, die Sie mir mit dieser Inquisition antun.«

Ich gebrauchte mit Absicht das Wort »Inquisition«. Und diese Attrappe von deutscher Polizei fiel drauf herein und nahm das Wort als Selbstverständlichkeit. – Ich dachte, wie gut es sei, wenn man einen Schlüssel zu allen Geheimfächern eines Gehirns hat.

Und dann fragte der Rote: »Haben Sie vielleicht Beobachtungen gemacht, daß die Schangels hier werben? – Sie würden der deutschen Polizei einen großen Gefallen tun, wenn Sie uns solche Personen bezeichnen.«

Schangels – dies Wort war wieder Bluff. Das überzeugte mich noch fester, daß meine Identität gar nicht in Frage gezogen wurde. Die deutsche Polizei wäre vorsichtiger gewesen; denn ich hätte ja auch mit einem deutschen Paß Franzose sein können. –

So antwortete ich im Brustton der Überzeugung: »Herr Wachtmeister, bei solcher Beobachtung wären meine ersten Schritte zu Ihnen gewesen.«

Die Gesichter der beiden wurden auf einmal ruhig und zuversichtlich. Der Rote lächelte sogar und sagte: »Entschuldigen Sie, wir sind zufrieden. – Hier, Ihr Paß, Sie können gehen!«

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich war mit einem Satz an der Tür und hörte noch, wie der Rote den Hörer von der Telephongabel riß. Dann war ich draußen, ging durch meine Beschattung und fuhr mit meinem Schatten zur Essener Adresse. Das mußte ich tun, so leid es mir tat.

Ich stand versunken auf dem Vorderperron einer Straßenbahn und fuhr durch altbekannte Straßen meiner Heimatstadt. Ich fuhr an den Häusern meiner Freunde und 194 Bekannten vorbei. Ich durfte zu keinem sprechen von dem Fluch meines Wissens. Ich wollte zu dem Schaffner hin und ihm im Vertrauen einige Worte sagen. Ich tat einen Schritt und noch einen kleinen. Ich legte dem Müden meine Hand auf den Arm.

»Herr Schaffner, – einen Moment Gehör . . .«

Pingping! Er stieß seinen Fuß in die Schelle, und als er sein Gesicht mir zuneigte, flog die Wagentür auf und mein Schatten schob sich zwischen mich und meine nächtliche Vertraulichkeit. – Ich mußte würgen: »Herr Schaffner, Rellinghauser Straße?« –

»Noch zwei Haltestellen!« –

Dann stieg ich aus. Meinen Mantel zog ich mir fest in die Hüften und ging stur zum Bahnhof Essen-Süd. – Ich hörte den Gleichklang meiner und meines Schatten Schritte. Ich wußte, gleich mußten dunkle Straßen kommen, dann ein langer Feldweg. Den wollt' ich lang – und dann weiter in den Essener Stadtwald. Konnte ich da meine Begleitung nicht verlieren, dann blieb mir nichts anderes übrig, als am andern Morgen die Essener Adresse durch meinen Besuch in Gefahr zu bringen. Aber in dieser Nacht wollte ich mein Heil in der Flucht suchen.

Der Gedanke an die Flucht kam mir erst im Gehen. Die Dunkelheit, die Einsamkeit, der schwache Lichtkranz der Laternen, mein geladener Revolver – das alles beeinflußte mich, Schluß zu machen. Zugleich dachte ich aber an Steevens, den ich schneller oder sicher ebenso schnell erreichen mußte, als er die Nachricht von meiner Flucht aus dem Beschattungsbereich erhielt.

Mein Begleiter gab sich Mühe, mit mir Schritt zu halten. Er gab sich kaum noch den Anschein des geheimen Verfolgers. Kam ich an einer Laterne vorbei, so beobachtete 195 ich ihn durch einen Taschenspiegel, sah seine hastigen Laufsprünge und dann wieder sein verhaltenes Gehen.

»Bursche«, dachte ich, »kommst du mir auf zehn Schritt nahe, liegt einer von uns auf der Erde.«

Ich zündete mir eine Zigarre an und nahm mit den Streichhölzern meinen Revolver zur Hand.

Ich rechtfertigte mein Tun: »Ich bin der Verfolgte. Töten will ich nicht – ich muß mich aber wehren. Verhaftung wäre mein Tod.«

Ich ging – es kamen die Bahngeleise, ein schmaler Pfad durch Baufelder und Baracken.

Dann wurde mir auf einmal klar, daß ich mich französischen Posten und Kasernements nähern könnte. Das durfte nicht sein. Ich drehte kurz entschlossen um und ging auf meinen Schatten zu, der unter einer Laterne stehengeblieben war. Er rührte sich nicht, stand starr. – Ich pfiff das Lied der Fremdenlegion. Als ich ihm näherkam, stellte ich das Pfeifen ein und sang. Dabei wurde ich immer ruhiger. Ich war entschlossen zu schießen, sobald er nur den Arm rührte. – Wir passierten: Mein Schatten huschte über seinen Schatten – ich lächelte, er lächelte. – Ich schaute mich nicht um, ich hörte ihn nicht gehen. Er war wohl erstaunt über meine Kaltblütigkeit, über mein Lächeln und über meinen huschenden Schatten.

Ich fühlte mich plötzlich leer werden. Ich hatte das Verlangen, mich wieder zu drehen, um dem Mann die Hand zu drücken, ihm zu sagen, daß ich alles wisse. –

»Ich will ihm die Hand reichen, wie es Brüder tun, wenn sie sich sehen. Und wenn er seinen Revolver hebt, will ich ihm meinen noch dazu in die Hand drücken.« –

Der Gedanke trieb mir das Blut zu Kopf, mein Herz klopfte zum Zerspringen. Die Idee war so ungeheuer 196 einfach und unkompliziert, daß ich über die Greifbarkeit eines ungeahnten Himmels das Gleichgewicht in meinen Beinen stolpern fühlte. Ich mußte stillstehn und tief atmen. – Ich war halb empört über die Tränen, die mir diese Gemütsbewegung in die Augen trieb, halb beschämt über meine Kraftlosigkeit.

Es geschah dann das Ungeahnte und Furchtbare in mir, daß ich nicht mehr Ich war. Ich fühlte alles um mich herum so wesenlos und so volltönend. Ich entrückte dem Verhältnis zu meiner Körperlichkeit – ich fühlte das Stochern meiner Beine im lehmigen Feld wie ein Schreiten auf Wolkenmeeren. Ich ging mit geschlossenen Augen und vorwärtsstrebenden Armen auf meinen Feind zu. Durch meine geschlossenen Augenlider sah ich die blitzende Helle der Sterne und das Schleiergewebe der Nacht, und da hineingestellt einen armen Menschen, der sich den Staub der Angst von den Augen wischte und dessen Mund stotternd Worte brüllte. Ich wollte auch brüllen – aber ich konnte nicht. Meine geschlossenen Augen wollte ich ihm zeigen und meine leeren offenen Hände sollten Welten und Ideen malen.

Aber dann fühlte ich nichts als den Haß und das Entsetzen des anderen. Das Schweben meines Zwitterdaseins über ungeschlagene Brücken verstand er nicht. Das Krächzen seiner angstgedörrten Kehle schlug das Buch der Grenzen wieder in mir auf. Wie ein sterbender Vogel flog alles in mich zurück. Ich fühlte eine harte Bewegung an meinem rechten Oberarm, das war ein Streifschuß. In letzter großer Rührung beugte ich mich zur Erde und schaufelte den Lehm in meine linke Hand und trug ihm dies kindliche Symbol zu.

Schuß auf Schuß hallte über meinen Kopf. Als ich dann 197 alles begriff, schrie ich vor Elend und Verlassenheit: »Du Knechtseele, du grauer Alltag, du gottlose Welt – ich töte nicht, ich will nicht!«

Meine Hand hob aber doch die Waffe und mein Leichnam suchte Deckung auf der Erde. Ich schoß das Magazin leer und meine feuchten Augen sahen den Hasenlauf des andern.

»Was bleibt dir?« rief ich mir zu – »das Kriterium der Gefühle. Nicht denken, du bist ein Narr, ein Idiot. – Die Schüsse, alter Knabe, erhebe dich. Das Echo treibt sich bis in die Stadt. Los!« – Ich sprang auf, über das Feld, den Bahndamm hinunter. Das Klödern der Steine gegen die Eisenbahnschienen, der singende Draht, Peng, Schnurren – das war die Welt, das Dasein, der Hokuspokus. – Ich kannte das und bejubelte das. – Das – und dann drückte ich das Magazin meiner Pistole voll, schob die Kugel in den Lauf.

Der Teufel aber weiß, daß es stille Nächte in sich tragen, daß verhallte Schüsse und geborstenes Gebrüll in der Stadtumgebung ihren besonderen Widerhall finden. Das Meckern der Töne, das Rätsel der gewesenen Aktivität suchen ihre Opfer. Ich weiß aus Erfahrung, daß der glockenhafte Widerhall des gemeinen Peng auf instruktive Gemüter wie gemurmelte Balladen wirkt. Es liegt eben der Mantel des Rätselhaften über diesem akustischen Höchstmaß eines nächtlichen Schusses. –

Darum – und auch um des fernbewegten Gestrüpps und Gebüschs am jenseitigen Bahndamm ging ich nicht, sondern lief in hastigen Sprüngen. Ich gab mir keine Rechenschaft, warum ich gerade in der Richtung lief, ja ausgerechnet in der Richtung, wo der Gestaltenspuk und das bleiche Funkeln der Bajonettspitzen hinter Häuserfronten lauerte. 198

In der Nacht ist der Dreh des Gehetzten wie ein Veitstanz. Zuerst verliert er den Ortssinn, die Meute läßt keine Zeit zur Peilung, die aufs äußerste angespannte Phantasie spielt dem begrenzten Blickfeld tolle Streiche und die Dunkelheit verspricht mehr als sie hält.

Als ich die Straße unter den Füßen hatte, sauste ich im Zickzackkurs vor dem Schuhgeklapper und Rufen französischer Soldaten her. Die Beleuchtung des Geländes war schwach. Ich war in eine Gegend der Großstadt geraten, wo zwischen brachliegenden Feldern und stinkenden Komposthaufen kleine elende Häuschen von blakenden Laternchen beleuchtet wurden. Und eine dieser Leuchten, die ich erst verwünschte, dann segnete, als sie Gestalten und Bajonette beleuchtete, die ich im Dunkel nie erkannt hätte, spuckte ich durch einen geschickten Steinwurf aus.

Die mich aber im Lichtschein fassen wollten, heulten wie um ihre Beute betrogene Wölfe.

Ich heulte mit und schlich um ihre hörbaren Stellungen. Als ich sie im Rücken hatte und hinter einem Müllhaufen meine Position und meine Aussichten feststellte, kam mir eine komische Gedankenverbindung: In Bochum hatte ich als Knabe einmal einen Strafgefangenen durch eine dichtbelebte Straße fluchtgaloppieren sehen. Er machte einen merkwürdigen Wettlauf. Er lief nämlich mit der Straßenbahn, in der ich saß, um die Wette. Keiner der Passanten legte Hand an den Gefangenen und der schwitzende Gefangenenwärter kam derart schlecht voran in seiner Verfolgung, daß der Flüchtling mit der schnellfahrenden Straßenbahn die freien Felder außerhalb der Stadt gewann. Dann wich er plötzlich von der Straße ab, sprang hinter kleine Häuser, zeigte sich noch einmal und verschwand wieder. Er war dann auch wirklich verschwunden. Die 199 Fahrgäste der Straßenbahn waren die einzigen Augenzeugen, daß er hinter den kleinen Häusern Schutz suchte. – Aber erst nach drei Tagen wurde er gefunden. Er hatte sich in einen hinter den Häusern liegenden Komposthaufen gewühlt und erlitt unter dem Unrat einen kleinen, kurzen Knacks am Herzen . . .

Das fiel mir so ein, als ich hinter dem stinkenden Berg Schutz suchte; und wahrhaftig, ich wäre reingekrochen, wenn es nötig gewesen wäre.

Von der Straße her hörte ich das Hämmern und Knattern eines Motorrades, hörte auch die in die Irre gehenden Schreie und Kommandos der mobil gemachten Soldaten.

Es wurde mir klar, daß ich etwas Außergewöhnliches tun müsse, um meine Person sicherzustellen. Ich mußte annehmen, daß die ganze Gegend umstellt war und systematisch durchsucht wurde. –

Da kam ich auf den Gedanken, das Motorrad, das ich von der Straße her schnurren hörte, zu besitzen. Zu besitzen! Ich nahm nämlich an, daß ich, wenn ich schon gefangen würde, auch den illegitimen Besitz eines Motorrades verantworten könnte.

Der Gedanke wurde zum belebenden Wunsch. – Vorsichtig und sachte entfernte ich mich aus meiner Schutzstellung und kam ins ungedeckte Feld. Es währte sehr lange, bis ich die Straße erreichte und den Scheinwerferkegel des Motorrades mit Genugtuung begrüßte. Ehe ich noch einen genauen Plan hatte, wie ich in den Besitz der Maschine gelangen könne, rief ich mir verschiedene Systeme der Motorräder ins Gedächtnis, die ich kennen gelernt hatte.

»Gangschaltung, Gas, Luft, Kickstarter sind gewöhnlich an allen Maschinen gleich. Es wird sich schon machen lassen.« – 200

Ich kannte die Technik, Licht und Schatten, Dunkelheit und Dämmerung als Tarnkappe zu nutzen. Ich kannte die Raffinesse, sogar einen Körperschatten zur Baum- und Strauchattrappe zu konstruieren.

Es kam aber alles viel schneller, als ich es mir ausgedacht. Die Maschine kam auf mich zu und hielt knapp fünfzig Meter vor mir. Es kostete mich gewaltige Anstrengung, nicht dem ersten Impuls, davonzulaufen, zu erliegen. Ich warf mich platt aufs Feld und schob meinen Kopf in die Erde wie Vogel Strauß. Als ich nach einigen Minuten mir den Lehm aus den Augen wischte, sah ich, wie Soldaten auf der Straße Fahrräder zusammenstellten, einem Ruf folgten und sich auf das jenseits der Straße liegende Feld verteilten. Als die Konturen der Gestalten sich in der Dunkelheit verwischten, kroch ich vorwärts, bis ich mit den Rädern in einer Höhe lag.

»Ich will mit einem Fahrrad zufrieden sein«, dachte ich. »Mit der Maschine käme ich allerdings noch in der Nacht in Münster an.«

Ich wollte meine Wünsche nicht zu hoch schrauben – aus einem gewissen Aberglauben, dem man so gern unterliegt, wenn ein großer Wurf gelingen soll.

Wie eine Raupe schob ich mich zur Straße, zog meine Kleidung durch den Acker, übersprang den Straßengraben und blieb doch mit meinen Händen an dem Motorrad hängen. Der Scheinwerfer strahlte geradeaus und ließ die Dunkelheit hinter sich noch dunkler erscheinen.

Ich mußte nun schnell handeln – und tat es. Den Ständer ließ ich über das Hinterrad schnappen, zog den Gashebel, ließ Kompression und Kickstarter in Ruhe und schob die schwere Maschine an. – Sie puffte, sprang aber nicht an. 201

Das waren qualvolle Sekunden. Ich ließ das Motorrad fallen und warf mich in das Feld zurück. Ich kam fast um vor Unruhe. –

»Benzinhahn aufdrehen, Zündkerze nachsehen.«

Ich übersprang noch einmal den Graben, fingerte an dem Benzinhahn. Er war geöffnet, aber die Zündkerze fehlte. – Ich wollte mich schon auf eins der Fahrräder stürzen, als ich an die Ersatzkerzen dachte, die jeder Motorradfahrer in seiner Satteltasche hat. Ich riß den Riemen der Tasche mit einem Ruck ab und hatte beim ersten Griff eine Zündkerze in der Hand. Es ging alles sehr schnell und noch viel schneller schraubte ich die Zündkerze auf, schob die Maschine an, gab Vollgas, zog Kompression, nahm nochmal Gas und schwang mich aufs Rad und raste ab. Als die ersten Schüsse hinter mir fielen, schlug ich mit einem wuchtigen Faustschlag gegen den Scheinwerfer, kam dabei aber beinah zu Fall. – Und die Lampe brannte lustig weiter.

Die Straßen und Wege und Gassen und Gossen durchfuhr ich, wie sie kamen. Rechts und links, ich bog und flog, lag in den Kurven und zerfetzte mir die Hosenbeine. Aber die Richtung, die ich verfolgte, war die einzige, die ich nehmen konnte. – Ich donnerte mit der Maschine durch Hohlwege, kreuzte durch Felder und gewann den Wald, der träumend auf die Ruhr hinabschaut.

Hier machte ich halt, legte mich auf den warmen, sanften Waldboden und schloß mich von der Außenwelt ab, ließ meine Erregung verebben und versuchte die Geschehnisse der nächsten Stunden zu erraten. Ich fand aber nichts – die endlose Spanne des Nichtswissens, die Unfähigkeit, die nächste Sekunde zu errechnen, zerrte die Unruhe wieder in mir hoch. Ich schlug mit den Fäusten den Boden und 202 ließ mich von der Gewalt meiner Ratlosigkeit so hinreißen, daß ich mit trockenen Augen mir den Wust des Unfaßbaren mit Gedankengeilheit von der Seele spülte. – Ein bewährtes Mittel, eine Erscheinung, die jeder im Augenblick unerträglicher Spannung erfährt.

Das mußte so sein; sonst – ich fühlte das Klettern der Bewußtseinsstörung in mir werden, fühlte, daß ich keine dreistellige Zahl mehr kombinieren konnte. Nicht wahr, dann schluckt man Gift, um sich zu töten. Kein Morphium, kein Rauschgift – ich habe heute zehn Knochenbrüche und sechs Operationen hinter mir und ertrug meine Schmerzen wie ein Knecht seinen Beruf. Man nimmt das Gegengift, das der Körper wie Regenschauer über seine empfindsamsten Nerven peitscht, man läßt die Pilze im Hirn wuchern und dezimiert die Inspiration durch die formstrebende Transpiration der Natur . . . Quark, was soll gesagt sein? – Wäre ich betrunken, würde ich es hinausbrüllen.

Als ich so ruhig war, wie die Bäume in dieser Sommernacht, nahm ich mein Rad und jagte mit ihm zu Tal, ließ die luftgeschwellten Reifen über Stock und Stein, durch Schlagloch und über Gräben springen und wünschte meinen Fußsohlen, meinem ganzen Körper die gleiche variable Schwungkraft wie die der Pneus an meinem Teufelsrad. Die Maschine vertrug diese Art der Beförderung. Und wenn der Abhang zu steil war, dann ließ ich sie rutschen: auch das ertrug sie. Und hätte sie es nicht ertragen, mir wäre es auch gleich gewesen. Ich wäre dann eben zu Fuß gegangen.

Die glatte Chaussee über Rellinghausen nach Steele raste ich im Neunzig-Kilometer-Tempo. Vor Steele erkundigte ich mich über den Weg nach Bochum. Es war ein alter 203 Bergmann – und bevor er auf meine Frage antwortete, entnahm ich aus seinen entsetzten Augen und der krampfhaft gehaltenen Kaffeetöte, daß ich eher nach einem Gehängten aussah als nach einem anständigen Fragesteller. Ich beruhigte den Mann mit einigen Worten und bohrte ihm sein Wissen aus dem gelähmten Schädel und fuhr weiter.

Jetzt kamen die ersten Hemmungen für meine wilde Jagd. Einem französischen Standposten beantwortete ich sein »Halt« mit einem kleinen Zug am Gashebel und ehe er sich über meine fliegenden Hosenbeine klar war, lagen einige hundert Meter zwischen uns.

Eine Viertelstunde später sauste ich an den Stahlwerken von Bochum vorbei. Hier wohnte ein Freund von mir. Es war drei Uhr nachts, als er mir meinen Streifschuß am Oberarm verband und mir einen praktischen Anzug lieh. – Es ist schön, wenn Freunde helfen, ohne zu fragen. Ich sagte ihm nichts; bat nur um eine Karte, die Wege und Stege des westfälischen Besatzungsgebiets angab. Er scheute sich nicht, eine Stunde lang mitten in der Nacht bei seinen Bekannten zu fragen und zu suchen – und zu finden. Um vier Uhr morgens startete ich nach Dortmund, um sechs Uhr lag ich mit meinem Rad vor Lünen. Hier hatte ich keinen Freund. Ich fand aber mit sicherem Instinkt einen jungen Mann, der mir und meiner Maschine über die Lippe half.

Über Lüdinghausen–Dülmen erreichte ich morgens acht Uhr Münster.

In Appelhülsen hatte ich viel Kognak getrunken, weil ich vor der Möglichkeit zitterte, Steevens nicht zu finden. Ich war betrunken, als ich durch Münster fuhr. Als meine Maschine aber stoppte und der Pleuel keine Umdrehung mehr machen wollte, stieg ich ab und taumelte. 204 Ich war unvernünftig selig und nahm mir auch die Zeit, in einer Kneipe zu frühstücken und Benzin zu tanken. Ich ahnte wohl, daß ich keine Zeit verlor. –

Um zehn Uhr stand ich vor der leeren Wohnung von Steevens. Der Hauswirt bedeutete mir, daß Steevens am Tage vorher mit einem Auto abgefahren sei. Seine Akten habe er selbst ins Auto getragen.

»Hat Herr Steevens nichts für mich hinterlassen?«

»Ja – eine schöne Empfehlung soll ich Ihnen bestellen, wenn Sie heute noch nach seiner Wohnung kämen.«

»So, schöne Empfehlung« – mir wurde dunkel vor den Augen vor Enttäuschung. Danke schön. »Wenn Sie wüßten, was das ›heute‹ bedeutet, dann würden Sie sich besaufen oder aufhängen . . . Ich möchte am liebsten beides tun. – Ein Vierteljahr wohnte Steevens bei Ihnen und Sie waren dämlicher, als es die Polizei erlaubt!«

»Herr! Was unterstehen Sie sich«, keuchte der Hausherr vor Wut.

»Jawoll, Herr – das!«

Jawoll, mit dem Wort kommt man am weitesten. Das schneidet die Kehle an. Das ermüdet den Verstand, ist Geste und Schlag.

Daher gab mir der Hauswirt auch die Korridortür zu Steevens Wohnung frei. Ich ging in die Zimmer, warf mich über Tische und Schränke, riß die Schubfächer heraus, kroch unters Bett und fingerte in den Matratzen.

Mit den Händen raffte ich jeden Fetzen Papier, den ich fand. Dann sagte ich nochmal »jawoll, ich gehe« – und sprang die Treppen hinunter.

 

Merkwürdig, als ich auf der Straße stand, war ich noch immer blau. – Ich warf mich auf meine Maschine und 205 ließ den Motor singen. Draußen, in den Baumbergen, grübelte ich über den Inhalt der Papierfetzen. Ich hielt den Winkel, in dem die Idee Steevens lag, fest in der Hand und belastete seine Schenkel mit den Konten meines Wissens. Aber da waren Punkte und Etappen, die ich nicht kleinkriegen konnte. Warum ließ Steevens mich nicht schon einen Tag vor meiner Ankunft in Münster verhaften, da er doch selbst an diesem Tage aus Münster verschwand und somit darüber informiert war, daß ich seine Tätigkeit durchschaut hatte. Ich hatte zu deutliche Beweise der außerordentlichen Tätigkeit seines Spionagesystems erhalten, als daß ich hätte annehmen können, der Befehl zu meiner Verhaftung wäre nicht an seine Garde gelangt. Vor allem – da waren die durch meinen Besuch kompromittierten Mitglieder der Wehrverbände; sie alle waren doch der Komplottverbindung, der Sabotage schwer verdächtig. Es wurde aber auch von ihnen keiner verhaftet. Eine große weise Nachsicht lag über allen Handlungen Steevens. –

Man kann Geheimnisse erraten, wenn man die Konstruktion der Arbeit und den Konstruktionsträger kennt. Man kann Tatsachen auf ihren Ursprung und auf ihre Idee hin rekonstruieren. Aber man kann kein zahlenfreies, naives Denken mit Mathematik enträtseln, man kann keine Gefühlsstatistik aufstellen und keine Phänomene, auch keine menschlichen, hängen, bevor sie nicht erfühlt und kongenial berochen sind. Und das sind die Götter unseres Lebens, die uns trinken, bevor wir ihren Schlund ahnen; die uns nach unserer Nase die Karten mischen und auf jeden Trumpf einen höheren ausspielen. Und denen ist nichts, was ist. Sie sind die Brotherren, die Taschenspieler, die Schlüsselherren, die nur mit einem Punkt ihres 206 Körpers die Erde berühren und ihr geistiges Zölibat nur dann profanieren, wenn sie eine Masche, die ihnen fehlt, suchen – aber dann müssen sie schon sterben. So wird Steevens auch einmal enden müssen. Ich will nicht sagen, daß ich die Masche fand, die er suchte: Nein, die Masche mangelte ihm durchs ganze Leben, ohne daß es ein anderer wußte. Die Masche ist das Prozent, das Steevens seit Geburt mangelte – ein unüberwundener geistiger Schwerpunkt, der sein Sein eben erdhaft machte. – So, wie ein Schiff in den Stürmen des Meeres immer, trotz der wunderbar gezüchteten Balance des Schwergewichts, bedauern muß, sich in höchster Gefahr nicht zu Wasser wandeln zu können.

An diesen unüberwundenen geistigen Schwerpunkten sterben wir letzten Endes alle – oder wir würden einfach nicht leben, wenn wir sie nicht hätten. Es ist der Schnittpunkt, der uns zum Tode fördert, elegant aber sicher. – Außerdem bekenne ich, daß jede Argumentierung über Leben und Tod hochprozentig an unüberwundenen geistigen Schwerpunkten leidet. Ja, das muß ich bekennen; eben, weil ich auf der Erde stehe.

Aber an jenem Tage, als ich in den Baumbergen über den gestohlenen Papierschnitzeln brütete, da glaubte ich noch, Steevens müsse an einer Masche, die ihm im Kampfe mit mir entfallen sei, nicht allein seine Tätigkeit aufgeben, sondern auch sterben. Durch mich – ich war damals noch sehr überheblich.

 

Der Alpdruck, der solange auf mir lastete, als ich Steevens große rätselhafte Hand in meinem Genick fühlte, zerfloß nun.

Als ich wieder in Münster war und mit meinem Rade über den Ring sauste, dann durch die Gartenstraße fuhr, wo Ernst Barth wohnte, machte ich mich recht breit in 207 meinem Sattel. Ich wollte Ernst Barth sehen, darum fuhr ich ein-, zwei- und dreimal durch die Straße. Den Gedanken an Ernst Barth verlor ich dann aber. Das heißt, ich dachte noch an ihn, dann kam plötzlich etwas dazwischen. Ich sah ein eisernes Tor, eine Uniform und dunkelbraune Jacken und helle schwere Hosen. Und eben, mit diesen Hosen und Jacken verschwand der Gedanke an Barth. Das eiserne Tor schlug hinter den Tuchfetzen zu. Da dachte ich mir, das müsse ein Gefängnis sein. Ich schaute an dem eisernen Tor hoch, sah die derbe Mauereinfassung. Während ich nun schaute und langsam fuhr, sah ich den dicken Basaltstein nicht, der sicher schon lange dalag und wartete, bis er seine Bestimmung erfüllt hatte. Ich ließ meine Augen noch höher klettern bis zu einem großen Fenster – dabei nahm aber meine Steuerung eine Wendung von neunzig Grad nach links. – Ich nahm meine Augen aber nicht von dem hohen Fenster weg, wohl aber meine Füße von den Trittbrettern und warf mich nach rechts. Das Fenster versank, ich sah die Umfassungsmauer und dann das Tor. In dem Augenblick, wo ich heftig den Erdboden berührte, öffnete sich das Tor. Ein bleicher junger Mann drückte einer Uniform die Hand und steckte mit nachdrücklicher Geste eine Brieftasche in seine Jacke.

Ich sprang auf, fluchte über den großen Stein, der sich so breitspurig in meine Fahrbahn gelegt hatte, stellte den surrenden Motor ab und richtete die Maschine auf. Als mir das merkwürdige Tor einfiel, drehte ich mich um und da stand der bleiche junge Mann vor mir, der soeben aus dem Tor gekommen war. Er lächelte, wollte mir die Hand geben. Er brachte seine Hand auch bis an meine Brust, ließ sie dann aber fallen, und auch sein todfröhliches Lächeln wurde ganz zart und erstarb dann. 208

Blitzschnell kam mir die Erkenntnis, daß er mich für einen Bekannten, Freund, vielleicht gar seinen Bruder gehalten. Das war mir furchtbar. Ich wollte weglaufen, konnte es aber nicht. Ich sah seine suchenden Augen über meinem Kopf, sah wie seine Schultern froren und als ich meine Augen niederschlug, um einen unsagbaren Schmerz in die Straßengosse zu spucken, sah ich seine zitternden Hosen. Die trugen noch Falten und Fältchen, wie wenn sie eine lange Reise im Koffer gemacht hätten. Erst glaubte ich es nicht, daß Hosen zittern können. Ich prüfte, ob es der Wind war, der die Hosen bewegte. Aber nein, es war windstill und die Hosen zitterten weiter – ohne Aufhören. Und dann hatte ich plötzlich Furcht, daß die Hosen umfallen könnten. Sie gingen vor- und rückwärts wie eine Schiffsschaukel, nur daß die Schiffsschaukel nicht zittert. Die Hosen vor meinen Augen zitterten aber weiter.

Da hob ich meine Hände und legte sie um die Hüften des entlassenen Sträflings. Ich schaute in seine großen Augen. Sie waren wie blindes Glas. Ich dachte erst, er sei halb blind. Ich schaute in seinen Mund und sah morsche Zähne.

Und dann hauchte er: »Es gibt ja noch Mädchen.« Er sprach das ohne Gegensatz, so wie ein Priester von Gott spricht. – Mich überliefen kalte Schauer.

»Gehört dir das Motorrad?« Die Frage klang nach einem Entschluß. Und ich log, oder ich log auch nicht: »Ja, es gehört mir.«

»Willst du mich nicht nach Hause fahren? Nach Dortmund? Ich will noch einmal zu Hause sein.«

»Sicher«, sagte ich, »wir fahren zusammen. Aber erst wollen wir essen, du hast sicher Hunger.« Ich führte ihn an mein Motorrad. Ganz unvermittelt fragte ich nach 209 seinem Namen. – »Klaus«, sagte er, »und du?« »Heinz«. Er lächelte, aber ohne Herz und Sinn. Und ich hatte eine unbestimmbare Angst. Dabei waren wir in unserer Heimat, hörten unsere Sprache, aber Lächeln tat uns weh – das paßte eben nicht zu uns. Der kam aus dem Zuchthaus, und ich – ja, wenn ich's wüßte, woher ich kam. – Und der ging und strebte vorwärts, um einer vagen Erinnerung, und mich trieb das ungefesselte Sein. –

Ich forderte Klaus auf, sich auf den Sozius zu setzen. Er tat es so ungeschickt, daß das Rad sich neigte, und mir den Fuß klemmte. Klaus lächelte wieder, als ich fluchte. Er hätte sicher ebenso gern geweint. Als ich aufschaute, sah ich das Zuchthaustor und das stand auf, ohne Sinn und Verstand. Kein Mensch, keine Uniform bewegte sich drauf zu oder ging hinaus. Es stand auf und ich sah durch das Tor hindurch den Steinhof und dann eine Steintreppe. Was dann kam, war eigentlich nichts. Nur eine Tür, die halb aufstand. – Das alles hatte Formen, die ich kannte. Glatte schlichte Formen, die überall, in aller Welt Zuflucht gewähren: eine Haustür und davor noch ein Tor und dazwischen Erde – aber nein, das stimmte hier nicht, hier war ein Steinhof. Und die Steine liefen bis zur Treppe, tanzten in die Treppe hinein und fügten sich glatt zur polierten Linie.

»Klaus, was liegt hinter der Türe, die sich über der Treppe auftut?«

»Ach nicht, laß uns fahren!«

»Ja, ja, warum sagst du das nicht eher. Fahren wir!«

Aber ich konnte nicht fahren. Vor mir stand jemand. Der Jemand hatte was typisches, daß man gar nicht erst fragt: »Wer sind Sie, was wollen Sie?« – Und wenn man so fragt, dann zeichnet man sich selbst. Aber wenn 210 man nicht fragt, dann zeichnet man sich auch, aber so, daß der Herr Jemand nur nickt und seine breiten Kinnladen zusammenhält wie eine Bibel mit Schloß. Er behält dann sein Evangelium für sich und seine Stoßseufzer für sich in seiner rechten Hosentasche, und seinen breiten Spazierstock in der Linken als saftige Stütze für seinen schweren Körper.

Ich wandte mich an Klaus: »Du, wir können nicht fahren. Das tut mir weh um deinethalben. Du siehst, der Herr will mich mitnehmen. Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe.« – »Wie weit?« wandte ich mich an den Kriminalbeamten.

»Nicht weit. – Und Sie« (sein Blick saugte sich an Klaus fest) »gehen Sie, vier Jahre sind eine lange Zeit!«

Das war roh. Klaus zitterte und schrie: »Gar keine Zeit, Mensch, verstehen Sie! – Aber du irrst, wenn du glaubst, dieser hier sei mein Kumpel. Er hat nichts mit mir zu tun. Gar nichts, noch viel weniger wie du mit ihm. Ich gehe mit, verstehen Sie, du Hund, du Menschenjäger!«

Klaus fiel über seine stockigen Beine. Der Breite lachte mit knackenden Kinnladen und sauberen Zähnen, mit weißen starken Zähnen und mit roter, gesunder Zunge und mit fauchenden, saugenden Lungen.

Ich war erstaunt über so viel erquickende Schönheit eines sauberen Schlundes und vergaß darüber Klaus, der an der Erde lag und mit seinen kümmerlichen Zähnen und mit seinen glasigen Augen, mit seinem stinkenden Hals das Memento mori durch die Gosse gröhlte. Ich fühlte so viel für ihn und seinesgleichen, fühlte aber auch den Ekel, den der Gesunde vor dem fremden Kranken empfindet. Ich hätte Klaus treten und umarmen können. – Wie er mich anschaute. Er fühlte, was ich empfand. Er fühlte den einstürzenden Himmel, den ich ihm so impulsiv gegeben hatte. 211 – Ich hätte mich zerreißen können, daß ich nichts mehr für ihn fühlte. Aber das war die Schwäche, die körperliche Schwäche und Brüchigkeit, die er in dem Augenblick zeigte, wo der Tigerschlund des Kriminalisten so viel prächtige Schönheit offenbarte, so gesundes Urteil voraussetzte, so herrisches Labsal und Schleimlosigkeit des Seins prägte.

Ich sah Klaus mit hoffnungslosen Augen, und mir wurde schlecht. Ich nickte ihm zu und schob mein Rad an, schaute nicht mehr um nach dem Menschen am Bordstein vor dem Zuchthaustor in Münster. –

 

Man brachte mich zur Kriminalpolizei und wollte vieles von mir wissen, mehr als ich von mir selbst wußte. Sie berochen jeden Kilometer, den ich im letzten Monat zurückgelegt hatte. Man ging chronologisch vor: Name – Beruf – Eltern – Vergangenheit? – Das war ein herzhaftes Fressen, das ich ihnen vorsetzte. Dann wurde konstruiert, die Tage gegen die Nächte gewogen, meine Lügen und Wahrheiten für wahr oder unwahr genommen. Besondere Kopfschmerzen bereitete den Beamten das Motorrad. Es war eine französische Marke, und da stockte der findige Geist der Herren. Ich gab keine Winke. Ich glaube, sie hätten mich am liebsten geohrfeigt, weil es ein französisches Rad war; ausgerechnet eine Marke aus dem Lande, das im Augenblick keine Nachforschungen gestattete.

»Wem gehört das Rad?« – Die Frage wurde mir zum zwanzigsten Male gestellt.

Ich wiederholte zum zwanzigsten Male: »Ich sagte doch schon, es ist mein Rad! Und die Papiere – es sind französische Papiere –, die hab' ich verloren. Ich komme mit dem Rad aus dem Ruhrgebiet. Mein einziger Fehler ist, daß ich das Rad in Deutschland noch nicht versteuert habe 212 und augenblicklich keinen Führerschein besitze. Wenn das auch ein Fehler ist, daß ich Ruhrflüchtling bin?«

Da war nichts gegen einzuwenden.

Man war aber sehr kritisch. Ich wurde eingesperrt.

Als sie mich nach vier Tagen wieder herausholten, mir meinen richtigen Namen gaben, mein gestohlenes Motorrad als legitimes, unantastbares Eigentum mir verbrieften und ich mit Steevens Dollars die Versteuerung zahlte, da begann eben für mich ein neuer Tag. Ich trug meinen Namen wie neu geschenkt und verkaufte mein Eigentum um englische Pfunde. –

Ich war eben jung. Es kommen neue Blätter in meinem Lebensbuche. Ich werde blättern und blättern, es liegt alles in mir, und mein Blut ist gesund und rot und trägt seine Bestimmung seit Jahrtausenden.

Und wirklich, es war ein neues Blatt eines neuen Buches, das ich aufschlug. Es war ziffernlos und mit schweren Lettern beschrieben. Und wenn ich heute meine Hand über das Buch halte, ist es mir, als hätte ich es geschrieben, vor Jahren, genau so. Ich lese und finde den Tonfall meiner Worte, finde alles wieder: Traum und Wachsein. – Ich blättere in dem Buche, da fließt mein Blut durch die Zeilen, zuckt in den Buchstaben wie mein eigener Pulsschlag. Es pulst und ist so wie ich. Und ich kann mich nicht losreißen, oder ich müßte mich töten. 213



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