Heinz Kükelhaus
Erdenbruder auf Zickzackfahrt
Heinz Kükelhaus

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Unter Vagabunden in Marseille

Als ich meine Fußtritte durch die nachtschaurigen, pflasterharten Straßen des Marseiller Hafens widerhallen hörte, sah ich nichts als dunkle Weite. Und an meiner Seele zogen die Schatten der Ruhelosen in unzähligen Massen vorbei und zeigten mir ihren Staat, ihre Ordnung und Geisterhaftigkeit, zeigten mir das Tal der Hoffnung und den Berg der unerfüllten Wünsche. –

Ich lebte in Marseille als Franzose. Mein Paß, der mit meiner Photographie von einem Fachmann in Hamburg versehen und abgestempelt war, machte mir das möglich, was kaum einem andern Deutschen 1920 gelang: Ich fuhr ohne Behelligung nach Südfrankreich. Ich lebte in einem italienischen Absteigequartier und bewarb mich fleißig um eine Stelle als Steward auf englischen, amerikanischen und italienischen Passagier- und Handelsdampfern.

Auf meinen Streifzügen durch den Marseiller Hafen habe ich Hunderte von Landstreichern getroffen, auch Deutsche, die zum Teil von Italien und Spanien herüberkamen, um in Marseille Frühlingsstation zu machen. Sie wechselten einander vorbei: Nizza, Marseille, Gerona am Mittelländischen Meere – wieder andere liebten den Sommer am Atlantischen Ozean und vagierten zwischen San Sebastian und San Tander. Und die von Spanien kamen mit der Sehnsucht nach dem antiken Italien, krebsten sich hoch bis Genua, wohl auch noch bis Pisa und Livorno und schweiften dann ins Innere.

Alle Landstreicher aber, die dem Zug der Sonne folgten, 28 gaben sich in Marseille einen Monat oder auch zwei der Ruhe hin. Das war vernünftig. Denn der März und der April sind nirgendwo angenehmer zu verleben, als in der Stadt am Golf du Lion. Als ich noch in meinem Absteigequartier wohnte, lebte ich so in der Mitte zwischen den Monarchen der Landstraße und den Geldkönigen, die mit ihren Autos, die wie Flugzeuge summten, aus allen Himmelsrichtungen vor den feudalen Hotels abstiegen. Beide Klassen berührten sich aber in dem Instinkt und der Erkenntnis dessen, was ihnen zur Erholung dienlich ist. –

Marseille ist eine Stadt, die wie eine Spinne ihr Netz fein und qualvoll gesponnen hat. In jeder Straße und an der Peripherie der Stadt saugt ein unsichtbarer Elevator. Er saugt jeden Fremden und auch den Provinzler in seinen Wirbel und preßt und zerrt ihn in die Hauptadern des Marseiller Lebens: in die Rue de Rome mit der baumbepflanzten Promenade du Prado und senkrecht zu ihr die »Cannebière«, die Zufahrt zum alten Hafen.

Auch mich saugten diese Lebensadern Marseilles gleich am ersten Abend auf und ich wogte mit tausend andern Menschen durch das Trommelfeuer des Sprachgewirrs, vorbei an den lichtgesottenen Knalleffekten der prunkvollen Läden. Und es hängt hier ein Duft in der Luft, und es sprüht und wetterleuchtet durch diesen Duft ein Kolorit! – Und fast jedes Gesicht der Mondänen und Kokotten ist einsam, verführerisch wie Rosenwasser, schön wie ein Marmorpostament in lebendem Grün und herrisch wie der Tod vor Särgen. –

Ebenso schnell wie diese ewig junge Stadt den Weltkrieg in den Abgrund des »Rührmichnichtan« fallen ließ, ebenso kräftig wie dieses heutige Marseille vor zweitausend Jahren unter dem Namen Massalia seinem griechischen 29 Vaterlande den Welthandel erschloß, wird es zu allen weiteren Epochen der Kultur die gleiche Stellung nehmen, wird das gleiche Geschlecht züchten: das der Damen und Freudenmädchen, aus dem ehemaligen geschäftslistigen Griechen mit der pikanten Blutmischung des Syrers das Bonmot und die gutmütig kalte List des heutigen Galliers der Stadt am Golf du Lion. –

So sah und erlebte ich Marseille. Es führte mich wie im Traum vorbei an Verbrechen, menschlicher Güte und Schönheit.

Als ich kein Geld mehr besaß und keine Arbeit fand, lebte ich, wie sie alle lebten: vom Hafen. Man sucht nicht, man findet, was man braucht zum Leben. Es ist da ein Gesetz, das über unsereinem schwebt, man geht ihm nach, ganz instinktiv, man füllt sich den Magen, man steckt sich die Taschen voll. Man lebt allein, man findet Gesellschaft und trennt sich. Dann ist man mit einem Schlage nicht mehr sein Selbst, man versinkt in irgendeiner Weltstimmung, in einen sterbenden Organismus, rafft dessen Lebensfrucht und schleppt sie mit sich weiter. –

Da war Gustav Klotz. Ich lernte ihn kennen, als ich eines Nachts im Hafen Quartier suchte. Ich fand da eine nette Sammlung von Kisten und darüber eine Plandecke. Die Plandecke lüftete ich und schob mich in einen Spalt hinein. Der Spalt zwischen den Kisten war so breit, daß da bequem zwei Mann liegen konnten. Das dachte ich auch noch, als vor mir einer anfing, furchtbar zu fluchen – auf gut deutsch. Ich setzte der bayerischen Mundart eine prächtige Kollektion rheinischer Redensarten entgegen und dann vertrugen wir uns und ich schlief herrlich in diesem Lumpenlager von Gustav Klotz.

Klotz war ein reicher Kerl. Er hatte Geld, mehr als 30 Monarchen für gewöhnlich haben. Er hatte Käse bei sich und Brot kaufte er. Er teilte mit mir und ich fühlte, wie gut und böse er war. –

Dann arbeiteten Klotz und ich gemeinsam. – Manche Nacht sah uns der Hafen auf schwanken Brettern zu Leichtern kriechen und hinter den Zollwachen fielen Schmiergelder, die uns der Schweiß der Angst kostete. Aber unsere Hände wurden wieder sauber, unsere Hemden neu und die zertretenen Schuhe blieben in den Leichtern liegen oder trieben auf dem Hafenwasser. Auch die Plandecken des Hafens wurden nicht mehr von unsern schlaftrunkenen Lippen geküßt – unsere Leiber lagen in Betten.

Klotz erzählte mir von seinem jugendlichen Leichtsinn, der ihn aus der Heimat getrieben. Er sprach von der Schuld, die ihm andere gaben. Das klang so leicht und natürlich, daß ich keine Schuld sah. Dann dachte ich an die Schuld, die ich trug, da ich doch so lebte, daß ich fragen mußte, wo liegt meine Schuld? –

Einmal brach ich in der Nacht vor Anstrengung über einem Brette, das wir zu einem Kahn gelegt hatten, zusammen. Klotz brachte mich aber an Land. Noch oft zitterte ich über den schwanken Brettern. Das ging so lange gut, bis eines Nachts . . .

Es war schwere Fracht, die wir an Land holen wollten. Sie kam herüber aus dem spanischen Riffgebiet, wo die Erzminen Kupfer und Silber spenden. Wir hatten es schon einmal gemacht – es war lohnende Arbeit. Diesmal aber schwebte Verrat über uns. Klotz hatte mit den Zöllnern zu grob gesprochen . . .

Es war eine schlimme Nacht. Draußen heulte die See und warf ihre Bewegungen bis in den Hafen, daß die Schiffe im Sog des Wassers stampften. In der Dunkelheit 31 und unter dem Pfeifen des Windes spielte sich eine Tragödie ab, die keine Spuren zurückließ, die nicht einmal in den Kommentaren der Polizeiakten Marseilles irgendeine Anmerkung findet. – Wer kannte denn auch Gustav Klotz und mich!

Der Dampfer, an den wir gelangen mußten, lag an der äußersten Spitze des Hafens in freier Ankerung, also nicht am Kai. Ich warnte Klotz aus einem unbestimmbaren Gefühl heraus, das Abenteuer in Angriff zu nehmen. Klotz zu warnen, war aber vergebens. Wir nahmen den Kahn, der uns für gewöhnlich für unsere Arbeit zur Verfügung stand. und ruderten durch die Nacht und durch das dunkle Hafenwasser. Das war schwere Arbeit. Wir hatten Säcke um die Riemen gewickelt, um plätscherndes Geräusch zu vermeiden. Die Riemen wurden im Wasser so schwer, daß wir sie kaum heben konnten. Es währte eine Stunde, ehe wir den Hafen durchkreuzt hatten und neben der Ankerkette des Dampfers lagen, der in seinem schwarzen Schattenleib die wertvollen Metallbarren barg. Ich vertäute den Kahn an der Ankerkette, während Klotz sich seinen Tragriemen um den Leib band. Das war ein Gürtel, der zu beiden Seiten tuchumwickelte Kettenschlingen hatte.

Klotz kümmerte sich den Teufel um meine Ermahnungen, vorsichtig zu sein. Er drückte mir die Hand und schwang sich auf die breite Ankerkette und rutschte hoch. Er hing mit Händen und Füßen an der mächtigen Kette und das hochragende Achterdeck des Schiffes hing über ihm wie eine steil aus dem Wasser ragende schattenhafte Felskuppe. In schräger Linie schob sich Klotz an die kreisrunden gähnenden Kettenlöcher heran.

Jedesmal, wenn ich Klotz auf diese Art zu einem Schiffe hochturnen sah, wurde mir schlecht. Und in dieser Nacht 32 pfiff der Sturm und die Ankerkette bewegte sich mit dem Wasser, so daß Klotz manchmal wie ein Mehlsack hart die Schiffswand streifte und dann wieder wie eine langgestreckte Raupe an der sich straffenden Ankerkette hing. Es dauerte endlos lange, bis er mit den Händen das Deck faßte und sich im pendelnden Klimmzug an die Reling schwang – dann tauchte er im Dunkel unter.

Nun kam für mich die qualvollste Angelegenheit, das Warten. Ich legte mich platt auf den Kahnboden und starrte an der Schiffswand hoch. Für gewöhnlich dauerte das eine halbe Stunde: der dort oben auf Deck hat Hindernisse zu übersteigen. Wo Wachen stehen, die Wachen zu täuschen, geräuschlos zu sein, sich selbst und noch viele andere Momente zu überwinden.

So wartete ich denn, mit der Angst im Herzen und mit fliegenden Pulsen. Ich wartete mit zitterndem Kopf auf dem Boden des schlingernden Kahnes, der wie ein Papierschnitzel sich hob und senkte, sich neigte und aufrichtete. Ich wartete lange – und dann geschah da oben etwas – es polterte und dann schrien Stimmen, die sich wie fernes Klagen und dann wieder wie stahlharte Metallismen aufs Wasser legten, je wie der Wind um den Schiffsleib sprang.

Mich überfiel im ersten Augenblick eine regelrechte Körperstarre. Ich konnte keinen Muskel bewegen. Dann sog ich eine Sekunde Ruhe in mich ein und entwickelte im Geiste das Drama über mir. Das erlöste mich von der Lähmung. Ich kroch zu dem Tau, zog den Kahn an die Ankerkette, löste das Tau und verband durch meinen Arm das Boot mit der Ankerkette. Das geschah alles sehr schnell und mit keinem Augenblick verlor ich das Achterdeck aus dem Auge. Was dann kam, geschah so blitzschnell, daß mir heute nur noch die Hauptzüge im Gedächtnis sind: Es flog 33 ein Mensch über die Reling, der zu beiden Seiten ein gewichtschweres Etwas hängen hatte. Der Mensch war Klotz, mußte Klotz sein. Er fegte wie eine Vision durch die Luft, und der Todesschrei, den er wohl schon in der Sekunde ausstieß, als er über die Reling sprang – sprang er? – der traf erst mein Ohr, als sein offener Mund in einer Linie mit dem Wasser lag. Und dieser Schrei war so furchtbar gurgelnd, so entsetzlich und qualvoll, so unmenschlich und nervenzerrend, daß ich mitschrie, als wäre ich der Mensch, der da verschwand. – Ich faßte den Kahn mit beiden Händen und trommelte mit den Füßen auf dem Boden und schrie vor Entsetzen. Das war das Grauen, das in mir war und heraus wollte. Und das währte solange, bis da über mir fahle, blaßrote längliche Feuer mit Krachen in die Tiefe fuhren. Das waren Schüsse, die mir galten. Sie brachten mich zur Besinnung. Ich warf mich auf die Riemen, zog mit aller Kraft – aber da waren die Wellen – der Wind hatte sich weiter gedreht und außerdem aufgefrischt. Dem Schußfeld entrann ich schnell, aber dann packten mich die Wellen im offenen Fahrwasser und ein mächtiger Windstoß drückte mich an der Mole vorbei in die offene See. Drei Brecher schleuderten mir den Kahn voll. Und dann entglitt mir noch ein Riemen. Ich wollte den Riemen fassen – da nahm das Boot nochmal Wasser und kenterte. Durch eine Handbewegung kam mir das Tau in die Finger, das an der Bugspitze des Kahnes befestigt war; das hielt ich fest. Dann kamen schlagende dunkle Wasser und drückten mich – ich tauchte tief.

Der Glaube an das unentrinnbare Verhängnis übermannte mich, ich wollte das Tau loslassen und sinken und dachte an den Tod, wie er kommen würde: Die Luftzufuhr ist abgeschnitten, der Schädel wird mir brummen, wird leicht 34 und leichter, ich werde zum schwebenden Sein und entgleite. – Klar, ungeheuer klar, lag das Ergebnis vor mir. Meine Augen sahen schon grelle Punkte, das Wasser kam mir schon durch die Nase – ein letzter summarischer Gedanke von Sonne und guten Menschen – ich riß mich an dem Tau hoch und ruderte mit dem linken Arm seitwärts. Unendlich lang, bis ich die Wellenkämme durchbrach und Luft einsog und wieder matt absackte, das Tau krampfhaft in der Hand. Ich merkte es kaum, wie mir das Boot, kieloben treibend, gegen die Knochen hämmerte. – Hart und härter warf mich die See hinter dem gekenterten Boot her. Ich fühlte mein Blut nicht, verbiß mich in das Tau und schwamm über und unter den Wellen.

Kein Trost war in mir und keine Hoffnung. Ich sah weder Land noch Licht und der Wind jagte über mir und ich tauchte mit dem Boot und kletterte mit dem Boot.

Der Wind ging aber dem Lande zu. Es mußte eine starke Böe ohne stabile Richtung gewesen sein, die mich in die offene See getrieben hatte. Die eigentliche Windrichtung war hart West und schob mich an Land. Ehe das Boot aber mit dumpfem Schrammen auf den Strand fuhr und mich die Brandung höllisch warf, waren Stunden durch die Uhr gelaufen. –

Erschöpft, auf beide Hände gestützt, kroch ich am Frühmorgen hinter einen vermoderten Fischerkahn und sog die Luft ein, getröstet, streichelte mit Händen und Körper die Erde und legte mein Herz in die eiserne Schale des Stolzes.

Die Natur ist gütig und der Frühlingssturm zeugt neues Leben – er blies mir die Füße trocken und kühlte die Wunden. 35

Die Sonnenstadt Marseille gleißte zu meinen Füßen. Ich hatte keine Angst mehr vor den Menschen und ihren Hütern. Die war von mir abgefallen. Wer einmal so richtig mit der Lymphe der Angst geimpft worden ist, und zwar so, daß die Ohren das Blut knacken hören und die Nerven den träumerischen Tod als erlebt in sich versenken, dem gilt die Angst nicht mehr in seinem Gedächtnis. Auch die Gefahr ist in ihrem Wesen erfühlt; man verlacht sie als ein Trugspiel, man kitzelt sie mit der Begierde, ihre Vielfältigkeit zu sehen.

 

An irgendeinem Tage traf ich Kowalsky im Hafen; wie man sich trifft. Kowalsky war Pole, der ein gebrochenes Deutsch sprach. Er war groß und schwer und gutmütig wie ein Bernhardinerhund. Nach seinen Erzählungen schätzte ich ihn auf sechsundzwanzig Jahre. Seine Augen waren von einer ganz mächtigen Fröhlichkeit und seine Stirn so sauber und klar wie weißer Marmor. Irgendwo lag aber in seinem Gesicht das Tier, das hemmungslose, leidenschaftliche Tier. Und dann noch eins: Sein Haar war feuerrot, brandrot wie leckende Feuerzungen. Als ich sein Haar einmal anstierte, wurde er grob und verlegen und knurrte bissig: »Ich habe sie von meiner Mutter geerbt. Sie vergiftete meinen Vater, um einen andern zu heiraten!« –

Als er mir das gesagt hatte, wunderte ich mich, daß ich nicht fortlief. Ich wunderte mich über die Selbstverständlichkeit, mit der ich meine saubere, gepflegte Jugend verlor. Die harten Worte Kowalskys lösten in mir nur eine kritische Betrachtung meiner Gefühle aus. Die Verwunderung war lediglich eine Reflexbewegung der geraden Linie, über die ich in meiner frühen Jugend geschritten war. – 36

Ich schlief mit Kowalsky, wir suchten zusammen Arbeit auf Schiffen und bettelten um Essen. Wir sammelten Geld und tranken gelegentlich eins. Kowalsky war für mich ein brauchbarer Mensch. Er verstand das Schnorren. Er war dabei beharrlich wie ein bockbeiniger Esel und gegen die Schimpfworte der Angebettelten taub wie eine hohle Nuß. Ich habe oft zugesehen, wie er bettelte. Es war einfach unglaublich, wie dieser Mensch sich veränderte, wenn er die Haustüren langging. Er knickte in den Knien ein, als ob er hundert Jahre auf seinem Rücken trug, und ließ die Arme in den Schultern hängen, als seien sie ausgekugelt, und gab mit einem etwas gebeugten Rücken der Idee Ausdruck: Wir leben, um euch (die Angebettelten) zur Güte zu erziehen. Das merkwürdigste aber war sein Gesicht, wenn er bettelte. Es breitete sich dann ein Schleier über seine Züge, daß nichts mehr zu erkennen war als eine hohle Maske, ein sterbendes Ich, Vergangenheit und Zukunft enträtselt und in einen Punkt gedrängt, eine somnambule Natur, die da tut, was die Ahnen durch Jahrhunderte getan: betteln. Das dämmerte mir damals nur langsam. Als er mir aber einmal gestand, daß seine Großeltern gemeinsam ein ganzes Leben gebettelt hatten, dachte ich mir, daß es natürlich sei, wenn er so ist. – Das war seine klare Stirn, die gewollte Armut. –

Kowalsky und ich saßen eines Abends in einer kleinen düsteren Hafenkaschemme und tranken eisgekühlten Glutwein. Er war süffig und rann wie geschmackloses Wasser durch die Kehle, so kalt war er. Aber schon hinter der Kehle wurde er heiß und dickflüssig; man mußte schlucken, um ihn runter zu kriegen. Ich weiß, man temperiert gewöhnlich diese roten Glutweine. Aber das taten wir nicht, das taten sie alle nicht, die da am Tage unter den Kisten und Säcken 37 schwitzten, die sie fünfzig Meter weit trugen und auf die großen Wagen warfen. Ich und Kowalsky hatten an diesem Tage auch Kisten und Säcke geschleppt, so daß wir eben auch eisgekühlten Glutwein tranken; das heißt, nur ich trank, die andern und Kowalsky soffen und waren bald voll und wurden frech.

»Knirps!« lallte Kowalsky, »reiche mir das Weib dort hinten aus der Ecke!« – Es war eine Prostituierte mit grindigem Gesicht – irgendeine fette faule Wanze.

»Unfug«, schrie ich ihn an, »nimm dir den Schwarzen hinter uns und setze ihn hierher. Er soll uns von sich erzählen, von seinem Negerhimmel. Los, ich will ihn von nahem sehen!«

Da schaute mich das traufende, trunkene Tier mit seiner eigenartigen Marmorstirn wie ein demütiger Hund an, grunzte und streichelte meinen Arm, hämmerte seinen Schädel auf den harten Tisch, daß seine wilden roten Haare mir vor den Augen tanzten. Dann flog sein Stuhl – die Bohlen der Kaschemme zitterten, als er ging und den Schwarzen an unsern Tisch lud.

Der Schwarze erhob sich und griente. Er und Kowalsky waren groß und massig wie Berge und ihre Muskeln krochen wie Schlangen unter ihren schweißigen Hemden. Ihre Augen waren lüstern aneinander und ihre Lippen schlippten wie bei Raubtieren, wenn sie Schweiß riechen. Ihre Sprache war keine Sprache, aber das Blut in ihren Augen anerkannten sie.

Mir war es, als krochen um sie die Millionen ihrer Artgenossen. Aus ihrem Kauderwelsch roch ich nur Tragik und nahende Gewalttat.

Die buhlenden Weiber ruckten zusammen und ich fühlte, ohne zu sehen, wie sie kochten beim Anblick solcher Kraftberge. 38

Der Mohr und Kowalsky hatten schon reichlich Alkohol, denn sie lächelten und taumelten so süß und gleichgültig zu mir heran, daß ich den Tisch mit beiden Händen faßte und ihn, je nach ihren torkelnden Bewegungen schob und zurückzog. Dann krachten die Stühle und sie saßen mir gegenüber.

Der Negersohn lächelte mich mit fest zugekniffenen Augen an. Als er die Augendeckel dann hochklappte, sah sein Gesicht aus wie ein Stück fremder heißer Erde. –

Die beiden Männer soffen weiter, tapsten mit ihren Tigerklauen wie spielende Kätzchen an ihren harten Lenden und schielten in meine jungen Augen. Und jedesmal, wenn sich unsere Blicke begegneten, merkte ich ganz deutlich, daß sie einen dumpfen Schrecken in sich fühlten, der irgendwo in Urtiefen dämmerte und nicht zum Bewußtsein gelangte. Sie konnten sich aber auch gar nicht darüber klar werden; ihre Wechselbeziehungen zu den Dingen der Umwelt waren so ganz andere als bei mir. Ich hatte Kultur geschluckt und mein Ich war eine andere, lockerere, kritischere Masse. Ich witterte die Gefühle der anderen und zerlegte sie gedankenlos. Der Schrecken, den sie fühlten, wenn sich unsere Augen begegneten, war die Ahnung ihrer Knechtschaft und Abhängigkeit von dem Schlamm, über den ich schritt, während sie darin umkamen. –

Ich sah über ihre Köpfe hinweg und meine Blicke blieben an einem Spinngewebe hängen, das sich an einem Fenster gebildet hatte und durch ein grelles Hafenlicht transparent in die ölige Bude leuchtete. Das Grau der Luft erhellte sich mir und die Wehen der glimmernden Schicksalskraft zogen ihre Dunstkreise in die Fäden der raublustigen klugen Spinne.

Das war die Weltordnung, die ich da ahnte. Die 39 Erblust, sich vom Molch bis zum Menschen im Blut des Anderen zu nähren. Das Untertauchen in den Bewegungslauf des Anderen!

Ich wartete auf das Gesicht der Spinne, auf den Diabolo, den Dämon des Seins. Mir ruckte der Kopf vor Nervenanspannung. Ich dachte an den toten Klotz und an die schnuppernden Fische, die seinen Leichnam umschwammen. Ich dachte an mein angstloses Herz und an die Fallen, die mir die Weltspinne stellt. Und dann kam, was kommen mußte. Die Mücke, nicht eine Mücke, sondern die Mücke, die schon lange das Netz umschwirrte, saß fest im Gewebe und wühlte sich im Unverstand hinein wie mit Sehnsucht nach Auflösung. Wie der Blitz war die Spinne bei ihrem Opfer und trank sein Blut.

Ich fühlte das Geschehen in meinem Geiste wie ein Erdbeben, wie eine Erfüllung des Gesetzes, wie eine unbedingte Notwendigkeit und Ehrlichkeit. – –

Draußen hatte sich ein sachter Wind aufgemacht und durch Türen und Ritzen sprang das fruchtatmende Leben und die Aromatik, die südliche Hafenstädte zur Nachtzeit wie zu Brunstpillen zerstäuben. –

Der schwarze Tor dampfte. Er gröhlte seine heiße Brunst in die feurigen Haare Kowalskys, der mit hartem Gesicht auf das Klingen der Soustücke und das Knistern der Pfundnoten in des Negers Tasche horchte und herrische Blicke zu den Weibern warf. – Und er war Herr über sie alle, Herr allein durch seine Farbe und durch das lockende Züngeln seiner Kraft.

Mir sagte aber eine innere Stimme, daß er feige sei. Er genoß seine Kraft nur dann, wenn sie ihm eingeräumt wurde, wenn er sie im Spiegel der Langhaarigen widerkäute. 40

Ich sah Kowalsky scharf an und erkannte an seinen verkrampften Fingern und seinem bösen Blick, daß sein Rausch allmählich der Zielsicherheit seiner diebischen Natur wich. Der Mohr lag ihm schlapp am Arm und Kowalskys Judasliebe legte ihre Fänge um das schwarze Opfer. Er zog ihn schmeichelnd vom Stuhl und torkelte – in berechnender Wohlgefälligkeit – an den Weibern vorbei und schleifte den schlaftrunkenen Neger in die Nacht hinein. Wie im Traum folgte ich ihnen. Kowalsky wand sich mit seinem Opfer durch die engen Straßen der Bordelle, dem bodenständigen Verbrecherwinkel zu. Durch stickige Gassen und Hausruinen wankten sie – bis die Falle klappte.

Ich stürzte zu dem Hausloch, in dem sie verschwunden waren und hörte aus dem Keller heraus das Wuchten ihrer Leiber, das Wutbrüllen des erwachenden Negers, ihr ruckweises Stampfen und Ächzen. – Mir stand der Atem still, meine Hände suchten Rettung für die beiden. Ich zündete ein Wachshölzchen an, das sein Licht über eine kleine breite Leiter in den Keller warf und gerade gut war, dem Dolch in Kowalskys Faust den Weg zu weisen. – Ich sah noch den Blutstrahl und das zitternde Heft aus des Negers Hals ragen, bevor es wieder dunkel wurde . . .

Nach stundenlanger Flucht fand ich mich ächzend und jammernd in meinem Schlupfwinkel wieder.

Das war Mord.

Beide, der Ermordete und Kowalsky, waren eins, waren würdig des Erbarmens. Der eine floh, der andere blieb liegen. Aber ihre Tat machte sie zu einem Wesen. Das sündige Blut des Negers wuchtete sich in die Bestimmung Kowalskys, der nun in einem doppelten Rhythmus weiter 41 durch das Leben tanzte. Das schicksalfügende Geld war in Kowalskys Augen der Kurswert eines Lebens. So lange der Kurswert noch klingende Körperlichkeit in seiner Tasche war, trieb es ihn zu den Weibern – dann aber zur Hölle der Angst.

Nach Tagen traf ich ihn an unserer alten Schlafstelle in dem Garten eines Klosters. Er ging wie ein Blinder; es war, als suchten seine Augen einen Lichtschimmer. Er sank vor mir nieder und schlug mit seinem Schädel auf die Erde. Ich fand keinen Rat für seine Angst – er hatte gesündigt und er trug eine Schuld, die ihm seine Kraft raubte. Was fruchtete es, wenn ich ihm Wege wies, die sein Hirn nicht begriff. Es gibt eben keine Frucht, die sich nicht selbst durch Raub zur Reife bringt, kein Gedanke, der Wegweisung gibt, wenn nicht durch Selbstverzehrung geboren.

»Mensch!« sagte ich tröstend, »geh zu den Brüdern des Klosters und laß dir Rat geben!«

Mit verwunderten Augen schaute er mich an und ergriff meinen Fuß und drückte ihn an seine Brust und jammerte mit verzerrtem Gesicht: »Ob die mich schützen?«

Kowalsky begriff nichts. Er weinte mit trockenen Augen und hungrigem Magen. – Ich gab ihm zu essen, was ich hatte und dann schleifte ich ihn hoch und wir gingen, er ziellos und benommen vor Angst, zum Hafen. –

Der Klang der Arbeit stürzte auf mich ein – der Ballast des Lebens, ich verstand ihn. Aber das war auch meine Erkenntnis: ich, wir alle, die Entwurzelten, von Explosionen eigener Art Angefeuerten, die mit dem Pulsschlag einhundertzehn, wir sind nicht unter den Standard zu bringen. Wir ecken an. Wir tragen die Arbeitslast in uns selbst! Und das um so knechtischer und versklavter, als wir 42 nicht einen Augenschlag unsern Seelen entfliehen können, nicht einen Augenblick die Flugbahn unterbrechen können, ohne unsern Rhythmus zu hemmen, in Schlingerbewegungen zu fallen und die Norm unter den Menschen zu verletzen. –

Der Chorus der Arbeit brüllt – meine Gedanken summen ihre Weise. – Meine Füße gingen auf diesem Wege durch den Hafen nicht wie jene der Arbeitenden. Ich flog und meine Augen sahen über das Wasser nach dem andern Kontinent. Meine Bahn geht weiter – es ist immer so gewesen.

Gehen wir.

»Komm, Kowalsky, wir gehen jetzt zur Legion. Es sind dort viele deiner und meiner Art. Man nennt sie freilich »Fremden«-Legion – aber sieh, Freund, wir werden eine Weile ruhen dürfen, trotz unserer Flugbahn. Wir werden von tausend Schwingen mitgerissen und können summen und brüllen, schlingern und einmal nichts verletzen. – Wir können fliehen und können bleiben. Das Essen wird dir gereicht und du zahlst nur mit deinem Blut! – Wirst auch dein Negerblut los.«

Ich weiß nicht, ob Kowalsky mich verstand. Als er aber den letzten Satz hörte, war es Zuversicht, was aus seinen Augen leuchtete; und ich selbst war froh, seinem Unverstand ein Gebet gegeben zu haben. 43



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