Heinz Kükelhaus
Erdenbruder auf Zickzackfahrt
Heinz Kükelhaus

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Das Attentat

Als ich mein Motorrad verkauft hatte, besaß ich viel Geld. Englische Pfunde in der Inflationszeit! –

Da traf ich einen alten Bekannten aus Essen: Kimmelfink. Er hatte einem französischen Soldaten seine mächtige Faust ins Gesicht geschoben, weil sich ein deutsches Mädchen für den Soldaten interessierte. Ich hab' seine Tat sogleich kritisiert, als er sie mir mitteilte. Ich schimpfte, das Gesicht sei zu hart, er könne sich seine Knochen an den Zähnen splittern. Ich gab ihm den Rat, stets nach dem Magen zu zielen. Er versprach es mir; hat sein Versprechen aber nie gehalten. Später erzählte er mir, er hätte einen Abscheu vor allem Weichen und Dehnbaren. Da verstand ich ihn schon besser.

Es lebte in mir immer noch ein Rest von Pflichtbewußtsein – Steevens. Ich sagte mir tagtäglich, ich müsse ihn verfolgen. Als Kimmelfink nun bei mir war, wurde das anders. Er hinderte mich an der Verfolgung. Nicht absichtlich, er war aber eben da und lebte von mir und dann lebten wir zusammen.

Wir schlitterten in die nationalen Wehrverbände. Erst war es Interesse am Bewegungsspiel und zuletzt kein Interesse mehr, sondern ererbter Enthusiasmus. Wir wurden den Rhythmus nicht los, den der Krieg uns in die Knochen gesungen hatte. Die Kritik erlag der Bewegungshypnose, und das Wort fand die Lehren und Stigmata der Jahre 1908–14, 1914–18.

Wir trugen die Seelen der heimatlichen Häuser in uns. 214 Und die waren so fest umrissen, so gequält voll von dem Wesen der Tradition, voll von unsagbarem Stolz. –

 

Die Stadt Münster blieb dieselbe, wie ich sie zuerst sah. Und jedesmal, wenn Kimmelfink und ich zurückkehrten aus dem Ruhrgebiet, von der Lippe bei Lünen und vom Rhein, Münster blieb die gleiche Stadt. Sie begann da mit irgendeinem roten Backsteinhaus und baute sich vor dem einfahrenden Zug schnell auf. Es war aber nie eine Lücke zu bemerken, obgleich ich den Traum hatte, diese Stadt müsse über Nacht die Veränderung zeigen, die ich durchmachte: Vom Lausejungen des zwanzigsten Jahrhunderts bis zum Landsknecht.

Ich verlor nie das Gefühl der Beschämung, wenn ich unter den alten, hängenden Dächern der Häuser und durch die Schatten der Dome dieser Stadt ging. Und den Menschen, die da durch die engen Straßen wogten, ging ich mit hängendem Kopfe entgegen.

Kimmelfink zeigte sich anders. Er warf seinen kurzen, starken Nacken in eine wohlgefällige Falte und schaute mit seinen schwarzen Augen allen und jedem ins Gesicht. Als ich ihn einmal daraufhin anhielt, meinte er, das sei der fehlende Kragenknopf im Nacken schuld; er müsse den Kragen mit seiner Nackenfalte herunterhalten. – Das war natürlich Unsinn. – Später sah ich Kimmelfink auch noch mit hängendem Kopf und ohne Nackenfalte. –

Wir kannten die Lokale von Münster, wo die Gäste sich sammelten, die, mit Staub beschmutzt bis zum Hals, den ersten harten Trunk hoben, dann den zweiten, den dritten und den vierten und so fort. Wir kannten die harten Bänke und Tische und die schönen blanken Wirtstöchter, die das Bier in Stiefeln schenkten. Sie wußten, daß wir alle zum 215 Mord neigten. Sie sagten uns aber kein Wort des Bedauerns über unser Leben. Sie hielten keinen von uns mit ihren Händen von einem Abenteuer ab, das uns den Tod bringen konnte. Nicht eine von ihnen, und es waren viele, die neben der Zahltasche auch nur einmal ihr Mädchenherz zeigten. Und doch waren wir ihre Brüder, mehr noch, ihre Geliebten in späten Abendstunden. – Ich glaub' die Kinder küßten uns nur, weil wir uns den Schlund volltranken, was ihnen wieder die Aussteuer einbrachte. Und diese Mädchen mit ihren weißen Gesichtern und kurzen Röckchen, sie waren doch nur Marketenderinnen. Sie mögen sich heute wehren gegen diese Zumutung, – aber keine war besser wie die Kleine, die Kimmelfink zwei Nächte festhielt – nur weil sie ihn gern hatte. –

Kimmelfink und ich haben schwere Nächte hinter uns. Damals in Lünen. Wir wurden beschossen, ohne zu wissen woher. Eigentlich wurden wir von allen Seiten beschossen. Ich suchte krampfhaft nach einem Dunghaufen (meine Spezialität) – und fand keinen. Kimmelfink schrie: »Ich glaube, ich bin getroffen! Mir ist so übel!« – Dabei lief er besser als ich. Und ich schrie: »Da ist die Lippe, wir müssen schwimmen!« Ein Kunststück für sich ist es, mit vollem Zeug zu schwimmen; ein noch größeres aber, unter Gewehrschüssen und bei Scheinwerfern dem fließenden Gewässer zu entkommen. Aber es glückte uns, wenn wir auch den Schlamm an den Ufern fraßen und der Sumpf uns wie die Pest im Magen saß.

Bei Schwerte – hinter Hagen – schiebt sich die Hohensyburg aus dem bergigen Gelände. Den schroffen Abhang flogen wir zweimal hinunter und rammten Strauch und Baum. Und hinter uns her hagelten die Schüsse ins Dunkle. Zweimal aber waren wir oben und lagen im Keller 216 des Wirtschaftsgebäudes und machten den Topographen und Soldaten der Besatzungstruppen die Hölle heiß.

Noch viele schwarze Nächte – aber das liegt hinter uns und ist fast nicht gewesen. Es liegt hinter uns wie die Zeit ohne sichtbare Merkmale. Wir töteten keinen Menschen. Darum sehe ich auch heute nur noch dunkle Wälder und das leere Gespenst der Zeit. Daß wir nicht töteten, war Zufall; ebenso Zufall, daß wir nicht getötet wurden. Und aus dem Zufall machen wir das Glück und aus dem Glück die Absicht.

Ich war nach jedem Ausflug ins besetzte Gebiet verwundert, daß in den Städten und ihren Umgebungen so wenig Widerhall für Kleinkriegsromantik verborgen lag. Ich war auch erstaunt, daß die Besatzungstruppen keine Hindernisse legten für unsereinen, Hindernisse tnrmhoch, die wir nicht überklettern konnten ohne vernichtet zu werden. Statt dessen waren da tausend Eingänge zu den Städten, und nur in einigen dieser Eingänge standen Wachen und kontrollierten den Verkehr.

Ach, es waren keine Heldentaten, die wir verrichteten. Ich weiß es heute. Es war eine leere, hohle Zeit, ohne Kraft – es waren die letzten rollenden Wellen des Krieges, die uns erfaßt hatten. Wir waren Illusionisten, deren schwache Wellenkraft künstlich gestaut war, denen die Anknüpfungspunkte an das neue Gebilde der Kultur zerrissen wurden, ehe sie noch fest geknotet waren. Wir waren die, die vor der Revolution als Kinder standen und an den Auseinandersetzungen zwischen alter und neuer Welt ohne Stellungnahme vorübergehen mußten, um Symbole – wenn auch in Gegensätzlichkeit – der neuen Welt zu werden.

So ist es in Wahrheit gewesen. Darum lassen sich auch 217 ohne Scham Brücken schlagen von jener alten Welt bis in unser heutiges Sein. – Für Kimmelfink und mich auch die Brücke über das zerstörte Haus in Münster, das da, ohne Wille und Gedanke, genau wie wir selbst, mit großem Explosionskrach in die Luft flog.

Ja, das taten wir. Wir fanden den Grund in der Zeit – oder wir fanden auch nichts, denn die Zeit waren wir. Wir standen mit beiden Füßen drin – und wir waren nichts anderes als groteske Fratzen, denen eine Stoppuhr in die Hand gedrückt war, mit der wir die Zeit maßen. Wir standen zwischen zwei Welten, der brüchigen und der neuen. Wir hoben und senkten uns. Und so mußten wir einen Tanz tanzen, der außerhalb beider Ideen lag und automatisch das persönliche Leid zur Folge hatte.

So waren wir. – Kimmelfink und ich sind nur Blitzlichter unter hunderttausend.

Wir legten die Sprengstoffpakete in einen alten blechernen Kaffeekessel. Kimmelfink lachte dabei, und wir konnten uns kaum denken, daß das unschuldige Gefäß die Wirkung haben sollte, die wir vorsahen. – Zu denken nun, daß wir Abenteurer und Söldner waren – das ist unmöglich.

Mit dem Kaffeekessel schwangen wir uns über Zäune und gelangten in die Druckerei einer Zeitung. Das taten wir ohne Hast und Angstgefühl. Wir fühlten kaum das Ungesetzliche unseres Tuns. Wir gingen und kalauerten, wie der Berufsmensch zur Arbeit geht. Wir legten den Kaffeekessel unter die Rotationsmaschine, steckten die Sprengpatrone in den runden roten Kreis eines Sprengstoffpaketes und schoben die Zündschnur durch die Schnauze des Kaffeekessels. – Das ging mechanisch – das war die geschmierte Nebensache, auf die wir gedrillt waren. 218 Dann schalteten wir das Strafgesetz, das wir übertraten – ach wie lange schon übertreten hatten, ein.

»Kimmelfink«, flüsterte ich, »die Zeitung soll vorläufig lahmgelegt werden. Wir wollen kein Menschenleben gefährden. Gehen wir und durchsuchen den Bau.«

Wir fanden keinen Menschen . . .

Wir zündeten jeder ein Streichholz an und hielten das Feuer gleichzeitig an die Zündschnur. Dann stiegen wir aus den Fenstern und über die Zäune und gingen fort.

Wir hatten den gleichen Schritt, Kimmelfink und ich. Die gleiche gesottene Ruhe und den gleichen stumpfen Gedanken: Was haben wir getan – mit unseren Händen?

»Kimmelfink, wir haben nichts getan!«

»Nein, Ramm, wir haben nichts getan!«

Plötzlich stellte Kimmelfink fest, daß er seine Uhr verloren hatte. Er war wütend. Er war so furchtbar wütend, daß ich ihn gar nicht wiedererkannte. Er suchte seine Uhr und fand sie nicht. Er wollte sogar zurücklaufen und in dem Bau seine Uhr suchen.

Wir liefen mal ein Stück und gingen wieder ein Stück.

Dann stand auf einmal alles Kopf, und wir nahmen den weichen, regennassen Acker, über den wir gingen, zum Bett. In unserm Rücken zerkrachte die Luft mit Donnergetöse. Das Splittern von Scheiben und das Bersten und Krachen des steinernen Hauses war furchtbar.

Ich sah Kimmelfink bleich und mit steifem Nacken neben mir herschieben.

Wir fingen an, bewußt oder unbewußt, die einfachsten Umstände durcheinander zu werfen. Wenn ich sagte, es sei ein Kaffeekessel aus Aluminium gewesen, dann eiferte Kimmelfink, das sei nicht wahr.

»Na, was war es denn?« 219

»Es war ein Teekessel, ein ganz kleiner und blau wie ein Veilchen.«

»Stimmt, Kimmelfink! Er war so klein, daß einfach kein Pikrin reinging. Und durch die Schnauze ging nicht einmal die Zündschnur. – Mensch, was bist du klug!«

Wir stampften durch die Felder, wir gingen, überlegten und suchten Witze. Unsere Köpfe waren heiß und rot und unsere Lippen trocken. Und alles, was wir sprachen, klang wie ein Traum, – so schleppend waren die Stimmen, die da neben uns gingen . . .

Denn, ganz abgesehen von dem Kaffeekessel mit der Pikrinsäure und der kleinen Sprengpatrone – es war ja ganz was anderes, was solche Tat, ich meine die primäre Aktivität, zur Erde geboren hatte. Ich hatte nach dem Attentat immer die Ahnung, als ob es hätte zwangsläufig geschehen müssen, nicht durch mich –innerlich bring' ich mich mit diesem Geschehen in ganz untergeordnete Beziehung. Wir waren wie Meteore, die im rasenden Fall und Abwärtsstrudel keine dinglichen Kombinationen mehr reihen konnten.

Wir kamen in einen kleinen Ort in der Umgebung Münsters. Es war schon hell geworden. Hinter einer Hecke reinigten wir unser Zeug. Wir nahmen Taschentücher und rieben uns gegenseitig das Gesicht. Dann sahen wir, daß unsere Finger gelb waren, ganz gelb. Das erinnerte uns wieder an das Pikrin. Wir reinigten uns unsere Finger an den nassen Gräsern. – Als wir im Zuge saßen, flutete herrlicher Sonnenschein durch die Fenster unseres Abteils. Wir saßen allein. Auf dem Bahnhof in Münster war große Erregung. Extrablätter beschrieben das Attentat. Ich kaufte eins. Da war eine Aufnahme des zerstörten Gebäudes, eine genaue Beschreibung des Explosionsherdes und das 220 Gutachten eines Sachverständigen, das auf Gasexplosion lautete.

Auf den Gedanken waren wir noch nicht gekommen. Wir griffen ihn auf – natürlich, wie konnte es anders sein. Gasexplosion!

»Komisch«, meinte Kimmelfink, »wie kann denn das Gas unter der Rotationsmaschine explodieren?«

»Ganz einfach«, beruhigte ich ihn, »Gasrohrbruch – unsere brennende Zündschnur . . .«

»Und das Pikrin?«

»Hat nur ganz untergeordnete Bedeutung.«

Und doch fuhren wir nach Detmold und suchten uns ein Alibi zu verschaffen. Ein Klub hatte von Münster am Tage vorher einen Ausflug unternommen, der am nächsten Tage in Detmold enden sollte. Während wir am Hermannsdenkmal hinter einem Gebüsch schlummerten, lagen die Vereinsbrüder noch unten in Detmold hinter den Biertischen. Erst am Spätnachmittag kamen sie herauf. Wir mischten uns unter sie, wir tranken mit ihnen, wir besprachen mit ihnen den vorhergehenden Tag, den sie in Lage verbracht hatte. Wir sprachen so, als ob wir dabei gewesen wären. Aus zwei Gruppenbildern, die am Fuße des Hermannsdenkmals aufgenommen wurden, liegen Kimmelfink und ich im Vordergrund. Es wurden noch viele Einzelphotos gemacht. Kimmelfink und ich krochen hinter jedem der Photographen her, und wenn er knipste, so dämmerte entweder Kimmelfinks oder mein Schädel im Hintergrund.

Wir wurden kühn und logen und suggerierten unser Alibi.

»Weißt du noch, Ferdi, gestern in Lage. Du Schwein, hast Zoten gerissen, du warst betrunken, wie ich noch nie 221 einen Mann habe betrunken gesehen. Zweimal hast du mir über die Hände gekotzt.«

Ferdi war nur einen Moment verblüfft und erinnerte sich plötzlich: »Ja, ja, Mensch, ich habe jetzt noch einen Rausch. Aber ich bin dir dankbar, daß du mich davor bewahrt hast, den schuftigen Kellner zu verkeilen.« – Das sagte Ferdi, der würdige Klubvorstand. Und ich glaubte ihm. Er war überzeugt, daß ich am Tage vorher mit in Lage gewesen war, zu einer Zeit, als in Münster ein Gebäude in die Luft flog. Ich war fast selbst überzeugt, daß ich Ferdi vor einem Streit bewahrt hatte.

Und Heinrich Klotzkopf, der dupierte uns sogar.

»Tag, Kimmelfink. – Tag, Ramm. – Mensch, ihr wart aber gestern kopfheister. Kimmel, du hast nichts davon gemerkt, als ich dir gestern nacht in der Scheune auf den Bauch trat. Du hast nur ›Uh‹ gestöhnt – so voll warst du.«

Kimmelfink stierte mich und Heinrich wie vergeistert an. Da fiel ich schnell ein: »Klotzkopf, komm, wir wollen einen genehmigen. Du bist ein kluger Kerl und hast ein wunderbares Gedächtnis. Ich weiß nicht mehr viel von gestern. Mir schwebt nur vor, ich hätte dich hinter der Scheune liegen sehen.«

»Ganz recht.«

»Und ich sah dich vorübertorkeln«, behauptete Heinrich Klotzkopf ganz frech – und ich war's zufrieden.

 

In Münster kamen schlechte Tage für uns. Wir übernachteten in Herbergen. Am Tage wußten wir nicht, wo wir hin sollten. Wir liefen die Straßen kreuz und quer und hatten kein Geld, uns Brot zu kaufen. – Da standen wir gar nicht mehr auf – wir blieben in den Betten der 222 Herbergen liegen und träumten unter den düsteren Wolldecken vor Hunger.

Das war eine Überraschung: wir mußten hungern. – Die uns helfen konnten, denen saß die Angst im Nacken. Sie waren so furchtbar feige, daß ich mich ihrer schämte. Wenn mir einer dieser Männer begegnete, dann wurde ich rot und blaß vor Scham und machte einen großen Bogen um seine Feigheit. Ich hätte sie treten können, so windig und unmannbar stellten sie sich an. Bettelpfennige ließen sie uns in die Hand drücken, und wir nahmen die Pfennige, um uns Brot zu kaufen und uns die Bärte rasieren zu lassen. Denn wir hatten Bärte, Kimmelfink einen schwarzen und ich einen blonden, stacheligen Bart.

Zu guter Letzt flohen wir nach München. Wer politischer Verbrecher war, der fand hier sein Asyl. Und es waren viele da und keinem fiel es ein zu arbeiten, um seinen Unterhalt selbst zu verdienen. Wir waren großartig. Die Türen zu den besten Häusern standen uns weit auf. Man machte nur einige dunkle Andeutungen über seine politische Vergangenheit, man fluchte auf die Regierung, man gab sich falsche Namen und aß an Familientischen.

Als Kimmelfink und ich nach München kamen, waren wir in dieser Beziehung noch Waisenkinder. Aber wir lernten rücksichtslos sein, die Kritiklosigkeit der Menschen auszunutzen. Das war nicht gemein – nur zwangsläufig. Die Lügen wurden uns von der Zunge gelockt. Man stelle sich vor: da standen auf weißgedecktem Tisch Kalbskeulen und Gurkensalat. Alles, was drum und dran war, sahen wir einfach nicht. Die Gastgeber waren uns Wurst. Wir rochen nur die Bratensoße und sahen die Kalbskeulen.

»Bitte, nehmt Platz«, sagte der Herr Oberstleutnant und klopfte uns väterlich auf die Schulter. 223

»Ja, Platz nehmen und erzählen«, erscholl es in der Runde.

Wirklich, da war eine Runde: Frau Oberstleutnant, Frau Professor, Herr Doktor, Herr General a. D. und Damen; junge schöne Damen mit sonnverbrannten Gesichtern, just aus Biarritz verfrachtet.

Und nochmal: »Ja, erzählen . . . Oder sollen die jungen Herren nicht erst essen?« –

Die jungen Herren waren wir, Kimmelfink und ich. Wir waren zwar mies gekleidet, aber hinter uns stand eine Macht, eine große Macht: das Rätsel. Keiner wußte, wie wir hießen, was wir getan hatten. Ein kleiner Empfehlungswisch von einem berühmten Mann in Bayern machte uns auch berühmt.

Es erhob sich in der Gesellschaft ein großes Gerede, ob wir während des Essens oder vor dem Essen oder nach dem Essen erzählen sollten. Man war sich uneinig. Die jungen Damen wollten uns zuerst essen sehen. Nicht aus Mitleid oder aus sonst einer fraulichen Regung. Nein, sie wollten sehen, wie wir aßen. Das durchschaute ich sofort. Sie sahen nämlich unsere etwas unsauberen Finger und unsere Stielaugen. Da bekam ich es mit der Angst. Ich log, wir seien furchtbar satt. Wir hätten schon bei Frau von F. K. gegessen, wir seien sicher satt. Kimmelfink log mit mir, wir logen, daß sich die Balken bogen und hörten nicht eher auf zu lügen, bis die Kalbskeulen und der Gurkensalat vom Tische verschwanden. Die jungen Damen waren enttäuscht. Ich hatte sie um den interessantesten Akt gebracht. Wir beide waren auch enttäuscht: wir mußten nun mit hungrigen Magen erzählen. Wir erzählten abwechselnd, planlos. Wir logen Heldentaten und breiteten Schleier über unsere Personen. Kimmelfink erzählte von 224 einem Sprung aus einem fahrenden Schnellzug, verfolgt von Franzosen. Ich war erstaunt – ich hatte noch gar nichts davon gehört. Es war eine gefährliche Erzählung: Er raste durch die Laufgänge der Wagen, alles niederkämpfend, was sich ihm in den Weg stellte. Der Zug hatte mindestens ein Siebzig-Kilometer-Tempo (und Kimmelfink saß vergnügt und erzählte!). – Mir wurde schwindlig, ich stierte Kimmelfink an wie einen Engel, dem die Flügel von den Schultern fallen können. Ich hatte Angst, er würde sich irgendwie festerzählen. Er erzählte aber wundervoll zu Ende. Er beachtete bei seinem Sprung aus dem Zuge alle Möglichkeiten – er deckte sich gegenüber den Zuhörern den Rücken. Einen großartigen Misthaufen zauberte er dahin, flog hinein und tat sich nicht einmal weh. Die Schüsse aus dem Zuge, von französischen Soldaten gefunkt, verlachte er.

Die Zuhörer waren geschlagen. Ihnen stockte der Atem. Die jungen Damen vergaßen sich und strahlten Kimmelfink an. An mir schauten alle vorbei. Ich war ganz klein geworden. Ich versuchte auch gar nicht mehr, gegen den Sprung anzukommen. Kimmelfink beherrschte das Feld. Er erzählte wie ein Vortragskünstler. Er schuf aus dem Vollen und meißelte Typen aus dem Leben im Ruhrkampf wie ein gewiegter Schriftsteller. – Mit dem Sprung aus dem D-Zug hatte er sich aber selbst übertroffen. Er hat vorher und später nie wieder auch annähernd so schön erzählt. Ich schrieb das seinem hungrigen Magen zugut. Alles, was er dann noch erzählte, waren kühne Behauptungen – aber ebenso kühn bewiesen. Der Sprung aber lebte – und wenn er nie gesprungen wurde, was tut's. –

Wir erzählten noch an manchen Tagen. Uns wurde viel geglaubt und noch mehr aßen wir. – Nur einer war unter 225 den Zuhörern, der glaubte uns nicht: Herr Sechziger, Oberleutnant a. D. Er glaubte einfach nicht. Ich sah es an seinen Augen. Er glaubte aus Neid nicht. Sagen tat er freilich nichts. Wie hätte er aber auch! Alles war auf unserer Seite und der Empfehlungswisch war echt und von einem berühmten Manne. Als ich aber einige Tage später erfuhr, daß der Oberleutnant in ähnlicher Lage steckte wie wir, da glaubte ich ihm seine Charge auch nicht mehr. Wir trafen den Herrn Sechziger jeden Tag zum Essen. Er war aber zu neidisch, sich mit uns zu verbünden. Er thronte einsam und war der Galan einer schönen Frau. Er trug seidene Hemden und drei schwere goldene Ringe. Er brauchte nicht zu lügen, er hatte eine Macht: eine schöne Frau. Wir hatten nichts als den Wisch, der jederzeit widerrufen werden konnte. Doch, noch etwas hatten wir, einen Schleier, dessen Löcher wir aber ständig zulügen mußten. Das war der Unterschied zwischen uns. Herr Sechziger hatte außer der Dame noch einige Freunde bei der Kriminalpolizei.

Mich wunderte es daher gar nicht, daß wir eines Tages am Stachus verhaftet wurden. Herr Sechziger stand im Hintergrund und dirigierte das Verhaftungsmanöver. Er hatte alles im geheimen über uns ausgekundschaftet. Er wußte auch von unserm Attentat in Münster.

Die Kriminalpolizei verhörte uns getrennt. Es kam ein furchtbarer Kohl zusammen, so daß die Beamten bei einer Konfrontierung in ein höllisches Gelächter ausbrachen. Trotz alledem – nach einer Woche waren wir wieder frei. Es waren da Mächte, die ihre Hände über unsere Häupter hielten. Den zarten Wink aber, Deutschland sofort zu verlassen, befolgten wir.

Das war im Oktober. Wir flohen nach Italien. Die Strecke 226 München bis Innsbruck überwanden wir in einer zwölfstündigen Fahrradtour. Als wir in Innsbruck vor dem »Theresl« abstiegen, waren wir krumm und lahm. Wären nicht die Autos gewesen, die uns unterwegs ein Stück mitgenommen, dann wären wir wahrscheinlich in Mittenwald nochmal verhaftet worden. Am nächsten Tage schon nahmen wir den Brennerpaß im Schneesturm. Jenseits der Gebirgswand war noch lauwarmer Herbst. Zwei Monate etwa streiften wir durch Italien. Wir nutzten sämtliche Beziehungen aus, die wir nur irgend fassen konnten.

Am 1. Dezember 1923 saßen wir wieder in München. Wir hatten uns einer Auswanderertruppe angeschlossen, die sich am 4. Dezember über Genua nach Brasilien einschiffen wollte. Das Geld hatten wir rücksichtslos aufgetrieben. Wir waren froher Hoffnung, ein Leben hinter uns zu lassen, das uns allmählich unfähig machen mußte, jemals wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Der »Stiefelknecht«, sonst ein gutrenommiertes Münchner Hotel, wurde uns zum Verhängnis. –

3. Dezember. – Wir wollten die letzte Nacht in Deutschland noch einmal ehrbar in einem Hotel schlafen. – Um zwölf Uhr krochen wir in die Betten. Um ein Uhr weckte mich ein furchtbarer Traum. Ich schlief aber gleich wieder ein und konnte mir den Traum nicht rekonstruieren. – Um zwei Uhr klopften Fäuste gegen die Tür unseres Zimmers und Stimmen verlangten kategorisch, daß wir sofort öffnen sollten.

In mir wurde alles still, und ich erlebte noch einmal den Traum, der mich um ein Uhr geweckt hatte. Genau so hatte ich geträumt: Dumpfes Klopfen an der Türe, schwere Männer, Eisengitter, lange, lange Zeit. – 227

Kimmelfink sprang aus dem Bett, zog sich seine Hose an. Ich tat's ihm nach. Wir rissen das Fenster auf. Irgendeine Hoffnung auf Flucht verleitete uns dazu. Als wir aber unsere Köpfe durch das Fenster steckten, wichen wir entsetzt zurück. Auf der Straße stand nämlich jemand und winkte uns zärtlich mit einem Revolver zu.

»Aufmachen!« . . .

Wir waren verwirrt. Kimmelfink war blaß. Mir selbst zitterten die Hände vor Aufregung. Wir wußten, daß etwas Furchtbares kommen würde. Ich hatte keine Zeit, Kimmelfink meinen Traum mitzuteilen. Kimmelfink suchte Schutz in seinem Bette und warf seine Hose energisch gegen die Türe und brummte: »Lassen Sie uns gefälligst schlafen.« Die Männer hinter der Tür wurden zornig. Sie drohten durch die Tür zu schießen und wetterten furchtbar. Ich machte es Kimmelfink nach und legte mich auch ins Bett. Draußen wurde es still. Dann hub einer wieder an: »Hören Sie mal, hören Sie?« Wir schrien beide: »Ja!« – »Na, schön. Es handelt sich nur um eine polizeiliche Einvernahme. Sie können gleich wieder zurückgehen, verstanden?« – »Ja, hören Sie mal«, rief ich, »hören Sie?« – »Ja, wir hören«, erscholl's von draußen. – »Gut. Dann kommen Sie um sechs Uhr wieder!« – »Das geht nicht, Sie müssen mitkommen, oder wir erbrechen die Tür. Wollen Sie, oder wollen Sie nicht?« Jetzt fragte Kimmelfink ganz zart: »Wen wollen Sie denn eigentlich sprechen? – »Nun, einen Herrn Kimmelfink!« – Kimmelfink war starr und flüsterte mir zu: »Dich nicht?« Und denen hinter der Tür schrie er zu: »Nur mich allein?« – Aber die hinter der Tür antworteten nicht mehr. Sie warfen sich gegen die Tür, daß es nur so schmetterte. Da sprang ich mit einem gewaltigen Satz an die Tür, drehte den Schlüssel herum, 228 drückte die Klinke herunter – im selben Moment flog ein schwerer Körper durch die Tür und landete am Fenster. Ich schoß schnell in mein Bett.

»Wer ist Kimmelfink?« Er stierte mich an.

»Ich nicht!« rief ich brutal.

»Na, dann sind Sie es«, wandte er sich an Kimmelfink, »sind Sie's?«

»Na, dann muß ich es ja schon sein.«

Kimmelfink kroch verzweifelt aus seinem Bett. Er hatte traurige leere Gesten, die wie schwere Tränen aussahen. Als er sein rechtes Bein in die Hose stecken wollte, fiel er glatt um. Ich sprang aus dem Bett und wollte ihm helfen. Aber da warf mich der Kriminal zurück und sagte: »Bleiben Sie ruhig liegen und seien Sie froh, daß Sie es nicht sind. Der wird sich wohl seine Hose allein anziehen können.«

Ein zweiter Kriminalbeamter stand vor der Zimmertür und spielte mit einem Revolver. Wäre es nur ein Beamter gewesen, wir hätten uns gewehrt. Aber zwei! Und unten vorm Fenster auch noch einer, das machte drei! Das ging nicht.

Ich beruhigte Kimmelfink, während er sich anzog: »Sei ruhig, Kimmelfink, sei ein Mann. Wenn du bis morgen früh um sechs nicht hier bist, dann setze ich alles in Bewegung. Wäre ja gelacht, wir, he, was haben wir getan!«

»Wir?« brüllte mich der Kriminal an, »wir, wen meinen Sie mit ›wir‹?« – »Oh, nichts!« flüsterte ich erschrocken.

Kimmelfink legte seinen Kragen um und lächelte mir traurig zu, sein Adamsapfel schluckte. Ich fing auch an zu schlucken.

Auf einmal sprach der vor der Türe zu seinem Kollegen: 229 »Ich sehe gerade, ein Ramm wird auch gesucht. Nehmen wir ihn mit, das ist wohl Kimmelfinks Kollege!«

Da lachten mich beide Kriminale hämisch an. Sie lachten so teuflisch und so allwissend, daß ich fast barst vor Wut. »Natürlich«, schrie ich, »das habt ihr gleich gewußt. Aber bange wart ihr, daß zwei Männer zu gleicher Zeit hier in der Bude herumsprangen und sich anzogen!«

Sie lachten allwissend. 230



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