Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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2. Warum es wieder nach Lausa geht.

Ich habe jetzt in meiner Erzählung um einige Monate zurückzugreifen, da mich ein anderer Verlust betroffen, der weher tat als der von Rock und Haaren. Die fortwährend kränkelnde Mutter hatte den Wunsch gehabt, zu ihrer Hilfe ein junges Mädchen ins Haus zu nehmen, und in dieser Beziehung an eine rheinische Verwandte, die sechzehnjährige Helene X., gedacht, für welche sie sich, als für ihr Patenkindchen, sehr lebhaft interessierte. Helenes Eltern hatten eingewilligt, und im Spätherbst des Jahres 1818 konnten wir der Ankunft dieser uns allen bis dahin völlig unbekannten Cousine entgegensehen. Sie wurde von jung und alt mit einiger Spannung erwartet, zumeist vielleicht von mir, da ihr der Ruf von Liebenswürdigkeit und Schönheit vorauslief, ich aber gerade in dem Alter war, wo einem die Augen für dergleichen Vorzüge aufzugehen pflegen. Aber so günstig meine Vorstellung auch sein mochte, so wurde sie doch noch übertroffen, als die Ersehnte endlich anlangte und, aus ihren winterlichen Hüllen ausgeschält, so frisch und lieblich wie ein Maienmorgen vor mir stand.

Ein gleich schönes Äußere hätte mich bei einer Fremden vielleicht verschüchtert und entfernt gehalten; aber Helene war nichts weniger als fremd. Sie war eine nahe Verwandte, mit der man gleich von vornherein auf du und du stand, die einem zur Begrüßung um den Hals flog und sich so zutraulich bezeigte wie eine Schwester. Den Umgang einer Cousine hatte ich noch nie gekostet: ich fand ihn allerliebst und freute mich, daß er so leicht vonstatten ging. Wir waren gleich die allerbesten Freunde, gingen Arm in Arm spazieren, sangen miteinander und konnten ohne Ende miteinander kosen. Helene war ein frisches, heiteres Mädchen, das man gern sprechen hörte, und wenn sie heimische Schnurren in niedlichster Mundart erzählte und selber dazu lachte wie ein Glöckchen, dann tanzte mir das Herz im Leibe vor Vergnügen. Am liebsten hätte ich die ganze Person gleich aufgegessen.

Die Eltern hatten freilich nicht beabsichtigt, durch die Anwesenheit eines so reizenden Wesens Kohlen an ein Pulverfaß zu legen; geschehen aber war es so. Sie mochten ihrem ältesten Sohne kälteres Blut zugetraut haben, als er besaß, denn ich war allerdings bis dahin so erfüllt von meinen Gipsköpfen gewesen, daß ich die lebendigen Köpfe kaum angesehen hatte und an den teilweise sehr hübschen jungen Mädchen unserer Dresdener Bekanntschaft ganz teilnahmlos vorübergepilgert war. An Helene aber war nicht so vorbeizukommen: sie saß ja immer da, und wo ich hinsah, war sie, und ich ward nicht müde, sie anzusehen. Auch redete ich mir natürlich ein, daß das arme Mädchen bei der Unreife und Schulbelastung der Geschwister mit ihren Ansprüchen an Geselligkeit ganz vorzugsweise auf mich angewiesen sei; daher ich alle meine freie Zeit mit ihr verbrachte, sie zu erfreuen suchte, wo ich konnte, und dabei wie ein trunkener Nachtfalter der Flamme, die ich umschwärmte, immer näher kam. Von Liebe war dabei zwar nie die Rede, es schien alles Freundschaft und Verwandtschaft, doch hatte mich der kleine Knabe Amor schon beim Schopfe, und immer tiefer ward ich in die Netze der allgewaltigsten Leidenschaft verstrickt, deren verborgenen Stachel ich noch nicht kannte. Ich fühlte mich anfangs nur beseligt und sah die ganze Welt in einem Rosenschimmer, so glanzvoll und so farbig, als sei sie noch der schöne Garten Eden, da unsere ersten Eltern sich umarmten.

Leider aber ist unsere arme Welt kein Paradies mehr, und die Kränze, die sie noch bietet, sind unter Umständen der bedenklichsten Verwandlung fähig. Mein unerfahrenes Herz war allgemach auf jene schiefe Ebene geraten, da es keine Haltepunkte der Ruhe mehr gibt, wo sonst beglückende kleine Konzessionen nicht mehr befriedigen und die heitere Illumination des Herzens in zehrende Glut umschlägt. Ich erschrak jetzt vor mir selber, denn je unverdorbener ich wirklich war, je heißer kochte mein Blut auf, und wie ein Verrückter hatte ich bald nur noch einen einzigen Gedanken – der hieß: Helene. Sie war das einzige Element, in dem ich leben konnte, und außerdem war nichts mehr da und alle Interessen fort an Natur und Kunst, an Eltern und Geschwistern und Freunden. Ich war zur Marionette in eines Mädchen Hand geworden.

So war es, und daß es nicht so bleiben durfte, war mir klar, nicht aber, wie es anders werden sollte. Weder wollte es gelingen, den Herzpfeil wieder auszureißen, noch könnte ich ihn stecken lassen, am allerwenigsten aber an Heirat denken, welche der nahen Verwandtschaft wegen mit der überdies katholischen Helene ganz unmöglich schien. Zwar kämpfte ich nach besten Kräften, wie ich glaube, versuchte zu meiden, was ich liebte, schloß mich meinem Bruder mehr als vordem an, besuchte meine Freunde und führte über mein Verhalten ein Journal; aber alles war vergebens, und die Folgen meiner Anstrengungen warm nur Verdrossenheit und üble Laune. Ich ward ungerecht und kränkend sogar gegen diejenige, die ich am liebsten auf Händen durchs ganze Leben getragen hätte, und während sie weinte, rannte ich mit scheußlichem Gewissen einsam bei Nacht und Nebel durch die Heide wie ein alberner Werther.

Als ich nun eines Abends, nachdem die anderen längst gegessen hatten, abgejagt und müde nach Hause kam und stracks zu Bette gehen wollte, trat mein Vater mit besorgter Miene bei mir ein. Er legte mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Du hast was auf dem Herzen!« Ja freilich hatte ich das. Ich flog ihm um den Hals und bat um eine Unterredung.

Der Vater nahm mich mit sich auf sein Zimmer, stellte sein halb niedergebranntes Licht auf eine Konsole und entfernte einen Haufen Mappen von dem kleinen, zwischen Skelett und Gliedermann stehenden Diwan. Da saßen wir, umgeben von allen den tausend Utensilien der Werkstatt, unter denen es mir von Kindheit an stets am heimischsten zumute war. Die Beichte ward erleichtert durch entgegenkommende Fragen, und es entspann sich ein Gespräch, das mich gegen meinen Väter mit unaussprechlicher Dankbarkeit erfüllte, da er mir nicht als Richter, sondern als teilnehmender Freund entgegentrat, übrigens möchte er sich Schlimmeres gedacht haben, als ich zu gestehen hatte denn allgemach schwand alle Sorge aus seinen Zügen. In solchen Fällen, sagte er, dürfe man sich nicht schämen, das Hasenpanier zu ergreifen, da der einzige mögliche Sieg hier in der Flucht sei. Helene müsse ich vorderhand nicht wiedersehen und morgen mit dem frühsten fort zum Pastor Roller. Niemand, der mich kenne, würde sich wundern, daß mich die Lust habe anwandeln können, einmal zu ungewohnter Stunde in Lausa einzusprechen, und ebensowenig, wenn ich berichte, daß Roller mich nach seiner Weise nicht sogleich wieder entlassen wollte. Das übrige wollten wir Gott befehlen.

Ich ging zu Bett. Die Unterredung mit meinem Vater hatte mich mit neuen Banden der innigsten und ehrerbietigsten Liebe an diesen meinen besten Freund gekettet und mich gekräftigt. Ich stand dem Feinde in meinem Herzen nicht mehr allein gegenüber wie vordem, sondern hatte einen Bundesgenossen gewonnen, und in diesem Bewußtsein schlief ich ruhig ein.

Am anderen Morgen, als noch alles tot im Hause war, trieb mich mein Vater aus dem Bette, übergab mir einen Brief an Roller und hatte es sehr eilig. Ich stob vor Tagesanbruch fort, zum Haus und Tore hinaus, hinein in den Wald. Es war ein frischer Morgen, und um warm zu werden, lief ich wie ein Bürstenbinder, aber es war mir zu Sinn, als trabte ich über lauter Gräber, und in allen lag Helene. Ich war so traurig, daß das Herzwasser mir aus den Augen ging und mir die Backen mit Glatteis überzog; doch sah es still und friedlich in mir aus. Wenn der Tote erst begraben ist, so zieht der Trost ein.

Helene machte mir keine Sorge, Wohl dachte ich, daß sie ihren Kameraden vermissen würde, wenn er am Abend nicht, auch morgen und übermorgen nicht zu ihr zurückkehre; doch war ich nicht unbescheiden genug, anzunehmen, daß ihr Gefühl dem meinigen auch nur im entferntesten gleiche – und überdem, so wußte ich, daß meine Eltern, die sie wie eine Tochter liebten, sie nicht entgelten lassen würden, was sie am wenigsten verschuldet. Die Hausväter.

Als ich bei Roller eintrat, verzehrte dieser gerade seine Morgensuppe, wie gewöhnlich in Wasser aufgeweichtes Schwarzbrot mit fetter Milch. Ich hatte angeklopft und er Herein gerufen, doch schien er meinen Eintritt nicht zu beachten. Ich konnte warten. Als er endlich aufblickte und mich gewahrte, legte er den Blechlöffel aus der Hand und starrte mich wie einen Geist an. Darauf entspann sich folgendes Gespräch.

Roller: »Unde?«

Ich: »Dresdis.«

Roller: »Bene!« Und jetzt in Lachen ausbrechend, schritt der alte Freund unter mehrfach wiederholten Benes auf mich zu, schloß mich in seine Arme und sagte: »Du bist ein früher Mann, aber jederzeit willkommen! Hast du gefrühstückt?«

Auf meine Verneinung stieß er das sogenannte Gatter mit dem Fuße auf und schrie hinunter: »Holla! Schwimm ist da! Bringt Kaffee! – Und nun, mi fili! wie lange bleibst du?«

Ich übergab meinen Brief, und Roller trat ans Fenster, um zu lesen. Es war ein peinlicher Augenblick. Mir grauste vor allen weiteren Auseinandersetzungen, namentlich mit diesem Manne, von dem ich annahm, daß er von Herzensangelegenheiten die bäuerischsten Begriffe habe. Er las langsam und bedächtig, schloß den Brief dann weg und zündete sich eine Pfeife Tabak an. Endlich begann er: »Dein Vater,« sagte er, »hat mir alles geschrieben. Es ist dir gegangen wie anderen Leuten auch, und brauchst dich deshalb weder zu schämen noch zu grämen. Jonathan soll noch heute nach der Stadt und deine Sachen holen, denn daß du bei mir bleibst, steht fest und ist zugleich das Beste bei der Sache.« Übrigens, fügte er hinzu, käme ich ihm heute gerade recht, denn nachmittags habe er die Hausväter, und da könne ich auch mit nach dem Rechten sehen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich wußte nun, daß Roller über diese Angelegenheit nie wieder ein Wort verlieren werde, und setzte mich sehr erleichtert an meinen Kaffee, hielt auch den Moment jetzt für den rechten, das Gebot des Vaters einmal zu übertreten und eine Pfeife übers Maß zu rauchen. Roller war derselben Ansicht und erteilte mir sogar Dispens für alle weiteren Überschreitungen, da man in seinem Hause nach seiner Regel lebe und Nichtraucher ihm lästig seien.

Mit den obenberegten Hausvätern aber hatte es folgende Bewandtnis. Roller pflegte nämlich die sämtlichen Mitglieder seiner Gemeinde regelmäßig zweimal im Jahre bei sich zu sehen, und zwar in einzelnen Abteilungen. Hausväter, Hausmütter, Junggesellen, Jungfrauen und Schulkinder: jede dieser Klassen ward besonders eingeladen. Im Sommer ging man ins Freie, im Winter war Zimmerunterhaltung, welche letztere denn auch heute mit den Hausvätern stattfinden sollte. Zu diesem Zwecke richteten wir schon am Vormittage die große Unterstube her. Alle transportabeln Möbel wurden ausgeräumt, rings um die Wände Schulbänke gestellt und ein Fäßchen Bier mit angestecktem Kran auf Böcke gelegt. Inmitten des Zimmers aber stand ein großer Tisch mit diversen Holzschachteln, über deren Zweck sich Roller nicht erklärte.

Zur festgesetzten Stunde fanden sich die Gäste in Fülle ein: Bauern, Gärtner, Handwerker und Arbeitsleute, alle in langen Röcken, hohen Stiefeln und mit runden Kämmen in den Haaren. Der Hausherr hatte für jeden ein paar joviale Worte der Begrüßung, einen deutschen Händedruck und eine Tonpfeife. Dann wurde Platz genommen: obenan die Bauern und so weiter nach Stand und Ansehen. Was mich anlangte, so schien es mir, daß ich in dieser geschlossenen Gesellschaft nur als Bierzapfer Zutritt finden könne, daher ich mich ans Faß placierte, allwo ich zapfte und kredenzte, die vollen Krüge weitergehen ließ und die leeren zurückempfing. Der Pastor aber saß am Tische und trug vorerst das neueste aus der Missionsgeschichte vor. Dann fragte er einzelne nach ihrer Meinung oder forderte sie je nach ihrem Gewerbe zu technischer Erläuterung auf, so daß bald ein allgemeines, sehr lebhaftes Gespräch im Gänge war, das Roller mit Geschick zu leiten wüßte. Dazu floß und schäumte immerdar mein Bierquell, und die Seltsamkeit der ganzen Sache unterhielt mich dergestalt, daß ich meines Herzenskummers kaum gedachte. Ja es hätte heute für mich nichts Besseres erfunden werden können als diese Bauerngesellschaft, die zwar nichts von Goethe und von Shakespeare wußte, beide aber und namentlich den letzteren gewißlich mehr befriedigt haben würde, als manche belletristische Reunion der Hauptstadt. Es steckte damals noch eine Fülle guter und gesunder Anschauungen im deutschen Landvolk, eine ehrenfeste Gesinnung und salzvolle Ausdrucksweise, die in dem Aufkläricht der Neuzeit immer mehr dahinschwinden.

Endlich war mein Fäßchen ausgelaufen, und es erfolgte der zweite Akt der Ergötzlichkeiten. Roller hatte sich ein Vergnügen ausgedacht, von dem man schwerlich glauben sollte, daß es dem Geschmacke so ehrbarer und massiver Gäste zugesagt hätte. Die Schachteln auf dem Tische wurden jetzt geöffnet und ein paar Hundert hölzerner Soldaten herausgelangt, die ich nach Rollers Anweisung in Schlachtordnung aufzustellen hatte. Danach schoß oder warf man mit einer Bleikugel, die zu meiner und der Bauern stiller Verwunderung von Anfang an wie eine Kreuzspinne an einem Faden über dem Tische geschwebt hatte. Zwei Partien spielten gegeneinander, und zwar um gebackene Pflaumen, deren ein halber Scheffelsack voll zur Disposition stand. Die Finessen dieses Spieles sind mir in der Länge der Zeit entfallen, das aber weiß ich noch, daß man sich über die Maßen belustigte und die Bauern derben Witz entfalteten, an jedem ungeschickten Wurf Veranlassung nehmend, sich gegenseitig zu persiflieren. Roller selbst nahm als Kombattant nicht teil an diesem Kriege, sondern begnügte sich, an einem Strohhalm kauend (wie Wellington bei Waterloo), die Schlacht zu kommandieren und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Nach einem halben Stündchen waren die Soldaten alle tot, und, die Taschen voll gebackener Pflaumen, zogen die Hausväter, sich sehr bedankend, wieder ab.

»Sie haben sich gefreut,« sagte Roller, »daß du ihnen Bier zapftest, und wo sie dir begegnen, wird's im guten sein, da Stadtleute auf dem Lande sonst nicht wohl angesehen sind wegen ihres Hochmutes.«

Roller und seine Gemeinde.

Man sollte meinen, daß ein Verkehr des Pastors mit seinen Pfarrkindern, wie der eben geschilderte, den Respekt gefährden müsse, und allerdings möchte das auch überall der Fall sein, wo einer es sich beikommen lassen wollte, dergleichen zu kopieren. Roller aber war ein König, dem trotz seiner vielfachen Auffälligkeiten niemand die Achtung zu versagen wagte, die er beanspruchte. Seinen Bauern war er zudem in allen Stücken überlegen, nicht bloß an Charakter, Geist und Bildung, sondern, was sie besonders respektierten: er hatte auch das Zeug, sie in ihrer Wirtschaft zu beraten, und zwar bis auf die kleinsten Handgriffe ihrer Arbeit. Wenn er durchs Dorf ging und bemerkte, daß einer etwas nicht ganz richtig angriff, etwa beim Schnitt des Weinstocks oder der Obstbäume, beim Setzen eines Zaunes, dem Decken eines Strohdachs usw., so legte er auf der Stelle Hand an und zeigte, wie man's besser mache. Endlich wußten es die Leute, daß ihr Pastor auch in Gefahren stets voran war. Der erste bei der Spritze oder auf der Feuerleiter, hatte er schon mancherlei Unglück gemindert und verhindert und während des legten Krieges mehr als einmal durch entschlossenes Dazwischentreten die Brutalität fremden Volkes im Zaum gehalten.

Als Theolog war Roller, soweit dies ohne Engherzigkeit zu denken ist, von entschieden orthodox-lutherischer Gesinnung und jeder modernen Neuerung in Lehre und Kultus abgeneigt. Er war stolz darauf, daß seine Kirche sich durch den Einfluß ihrer Patrone noch das alte Dresdner Gesangbuch mit den Originalliedern des 16. und 17. Jahrhunderts erhalten hatte, und die Agende, deren er sich bediente, mochte ebenfalls noch aus Luthers Zeiten stammen, daher die Gottesdienste in Lausa noch die volle Würde uralt angeerbter kirchlicher Sitte hatten. Vor allem aber war Roller ein rechter Pastor, unverbrüchlich treu in seinem Amte, das er in Kirche, Schule und Haus mit hoher Lust verwaltete, und dessen Ansehen er kräftig aufrechtzuerhalten wußte. Seine Gemeinde liebte er wie eine angetraute Braut, war hilfreich gegen jedermann ohne Ansehen der Person, niemals in Konflikten wegen Mein und Dein, und wer einen Freund brauchte, wußte, daß er im Pfarrhause zu finden sei.

Einem solchen Manne wird es nie an Achtung fehlen, selbst nicht von seiten seiner Feinde, an denen auch unser Pastor selten Mangel hatte, weil er jedem ins Gesicht zu sagen pflegte, was er dachte, und dies war bisweilen nichts weniger als verbindlich. Er wußte seinen Widersachern aber stets zu imponieren, und so sehr sie ihn hinterrücks verlästerten, hätte sich doch keiner unterfangen, ihm Stirne gegen Stirne zu widerstehen; nicht einmal wagten sie es, seine Einladung abzulehnen, und indem sie mit ihm wie gute Kinder um gebackene Pflaumen spielten, wurden sie meist wieder versöhnt. Prinzipielle Feinde, d. h. solche, die ihn des Evangeliums wegen haßten, hatte er in der Gemeinde schwerlich, außerdem aber in allen Klassen der Gebildeten und Rohen, und zwar je weiter ab, je reichlicher. Bekannt war er seiner isolierten Glaubensstellung wegen durchs ganze Land, gekannt nur wenig, und wo man ihn nicht kannte, hielt man ihn für einen Heuchler oder Schwärmer, wie jeden, dessen Gedankengänge nicht die der Menge sind. Aus diesen Gründen war ihm die geistliche Behörde nichts weniger als hold, aber da weder sein Leben noch seine Amtsführung bemerkliche Blößen boten, seine Predigt auf dem Grunde des zu Recht bestehenden Bekenntnisses fußte und keine Klagen aus der Gemeinde eingingen, so mußte man ihn schon unangefochten lassen. Ihm selber war es gleichgültig, was die Welt von ihm urteilte; ein jeder Beweis von Liebe aber seitens seiner Kirchkinder oder Freunde konnte ihn sehr hoch erfreuen.

Überaus lieblich war der Verkehr dieses anscheinend harten Mannes mit den Kindern, die ihm durchaus verständlich waren, und er ihnen. Ihre Art, zu denken und zu empfinden, stand der seinigen viel näher als die der meisten Erwachsenen. »Wenn ich ein Kind sehe,« sagte er, »so geht mir ein süßer Pfeil durchs Herz.« Er liebte alle Kinder, die häßlichen wie die schönen, und betrachtete sie mit einer gewissen Ehrfurcht, weil ihre Engel allezeit das Angesicht des himmlischen Vaters sehen. Daher trieb er auch keine Albernheit mit ihnen, neckte sie nicht und wurde gegen sie nie ärgerlich oder heftig, sondern hatte mit ihnen die Geduld und Nachsicht einer Mutter, wofür sie ihrerseits mit der zutraulichsten Zärtlichkeit an ihm hingen. Wenn er zur Feierabendzeit mit seinem hohen, aus einer gewaltigen Weinrebe geschnittenen Stabe durchs Dorf spazierte, um diesen oder jenen heimzusuchen, schossen die Kleinen aus Häusern und Gärten hervor, küßten ihm die Hände, liebkosten ihn und ließen sich von ihm liebkosen. Häufig begleitete ihn ein ganzes Völkchen weithin auf seinen Wegen, indem er sich so ruhig und vernünftig mit ihnen unterhielt wie mit Erwachsenen.

Es war daher ein Fest für alle Kinder, größere wie kleinere, wenn der Herr Pastor mit der Dorfschule spazieren ging. In Reih' und Glied ward ausgezogen, mit Fahnen und Gesang, nach irgendeinem schönen Punkt am Wasser, und während hier die Mädchen Holz zusammentrugen, Feuer machten und das vom Pfarrhaus gelieferte Brot in gleichmäßige Stücke schnitten, durchfischten die Knaben den Bach auf weite Distanzen hin mit Angeln, mit Hamen oder auch mit der bloßen Hand, wie es jeder konnte. Dann wurde der Fang, gewöhnlich ansehnliche Massen von kleinen Schmerlen, Weißfischchen und Gründlingen, in die bereitstehenden Töpfe mit siedendem Wasser geschüttet und mit Zwiebeln, Butter und Salz vollständig zu Brei gekocht. Die größeren Mädchen waren die Köchinnen, der Pastor selbst verteilte das fertige Gericht in der Art, daß jedes Kind eine tüchtige Brotschnitte mit einem Löffel voll daraufgekellter Fischlatwerge erhielt. Wie gut das schmeckte, ist nicht zu sagen.

Nach getaner Mahlzeit wurden von Roller selbst auf bekannte Melodien gedichtete Kinderlieder gesungen und zwischendurch erbauliche oder belustigende Geschichten erzählt, wie es gerade paßte. Man konnte kein heitereres Bild sehen als diese frischen Bauernkinder bunt durcheinander, im sonnigen Heidekraut um ihren stämmigen Pastor gelagert, die kleinsten ihm zur Seite, sich zärtlich an ihn schmiegend, und alle an seinem Munde hängend oder andächtig die Augen niederschlagend, wenn sie sangen.

Wie es weiter in Lausa herging.

Während meines damaligen Besuches konnte von Landpartien freilich nicht die Rede sein, sie waren mit und ohne Schulkinder unmöglich, denn es war kalter Winter, und aus diesem Grunde ruhten auch die vielfachen Arbeiten, welche Roller sonst so unablässig in Hof und Garten zu betreiben pflegte. Ich war mit alledem sehr einverstanden, da es mir Muße zum Zeichnen und Malen gewährte, was mir doch noch über Hacken und Graben ging. An Objekten fehlte es auch nicht, denn alles wollte gemalt sein, vom Pastor und seinen Geschwistern bis zu den Hauskindern hinab. Ich zeichnete die ganze Gesellschaft mit bunten Stiften, und Roller hatte seine Freude daran; ja er schenkte dieser Arbeit eine Aufmerksamkeit, als säße Tizian an meiner Stelle und zaubere wunderbare Schildereien. Oft unterbrach er sich in seinen eigenen Geschäften, um meinem Werke zuzusehen, und nicht immer gelang es ihm, sein Lob zurückzuhalten. Wenn Leute zu ihm kamen, Bauern, Knechte, Mägde und sonst jemand, der irgend etwas zu fragen oder zu bestellen hatte, so wurden meine Bilder vorgelegt, fertige und unfertige, und zwar wie Rätsel, zum Raten, wer es sein solle. Manche waren augenblicklich mit der Antwort da. »Ein Mann,« sagte einer, als ihm Jonathans Bildnis vor die Klotzaugen gehalten wurde; ein anderer sagte nach einigem Besinnen: »Das soll wohl was Gemaltes vorstellen?« – Auf solche Bemerkungen pflegte Roller mit mitleidigem »O weh!« die Blätter stille wieder wegzulegen. Aber auch mit den lakonischen Antworten der besseren Kenner, welche die dargestellten Personen zwar richtig nannten, sonst aber gar nichts hinzuzufügen hatten, war er nicht zufrieden. Man sollte seiner Meinung nach Kunstwerke nicht wie das liebe Vieh ansehen, das weder Freude noch Schmerz dabei empfindet und weder A noch B dazu sagt. Die Leute sollten wissen, ob ihnen was gefiele oder nicht, und auch warum, daher er ihnen oft sehr hart zusetzte, sich weiter zu explizieren. So gedrängt, erlaubten sich ältere Männer dann wohl zu sagen, der Herr Pastor sähe recht natürlich aus, als wenn er sich gleich ereifern wolle, und daß Mamsell Charitas schwarz unter der Nase sei, das werde wohl so sein müssen, und die Rhode hätte einen dicken Backen, denn man könne sich bei solchem Wetter leicht was holen, und was dergleichen mehr war.

Roller legte solchen Urteilen großen Wert bei, weil sie unbestochen seien und von Leuten kämen, welche ohne alle künstlerische Präokkupation die Natur gerade so ansähen, wie sie wäre. »Keiner von meinen Leuten,« sagte er, »wird finden, wenn er die Charitas selbst ansieht, daß sie schwarz unter der Nase wäre, oder die Rhode, daß sie einen dicken Backen habe, es sei denn, daß die eine sich nicht gewaschen und der anderen hinter die Ohren geschlagen hätte, was niemals vorkommt. Dem spüre nach, du Lieber!«

Übrigens war mein Pastor der Meinung, daß ich es dem Landvolk hoch anrechnen müsse, wenn es meiner Kunst eine so reiche Teilnahme schenke, da der gemeine Mann sonst an allem, was nicht zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehöre, nur wenig Geschmack zu verraten pflege. Endlich hielt er mir vor, daß, wenn ich auch sonst keine Vorteile hätte von meinem Aufenthalt in Lausa, so doch den: ich lerne Lob und Tadel ertragen, und das sei etwas Großes.

Aus alledem ist abzunehmen, daß ich meine Tage nicht ohne Nutzen hinbrachte, und nicht weniger ersprießlich vergingen mir die Abende. Ich will hier gar nichts sagen vom Pulverisieren und apothekermäßigen Verpacken verkohlter Elstern, vom Netzestricken, Angelschnurflechten und anderen derartigen häuslichen Beschäftigungen, die Rollern vergnügten, und zu denen er auch mich heranzog. Mehr hatte es zu bedeuten, daß ich jetzt des öfteren gewürdigt ward, die Abende mit in Hermsdorf zuzubringen.

Das Schloß allein schon wäre eines Besuches wert gewesen. Es war ein großer, mit seinen Nebengebäuden durch einen Wassergraben vom Wirtschaftshofe und Parke isolierter dreitürmiger Prachtbau aus älterer Zeit. Nachdem man eine Zugbrücke passiert, gelangte man mittelst eines tiefen Tores auf den inneren Schloßhof, der zur Sommerzeit, mit Springbrunnen geziert, den reizendsten Anblick darbot. Weiterhin empfing den Eintretenden im Erdgeschoß des Schlosses eine weite steinerne Halle, durch welche man zu einer Wendeltreppe gelangte, die, im mittleren Turme auflaufend, nach den oberen Gemächern führte. Da war's so schön, so still und geräumig. Nichts erinnerte an die Beschränkungen des gemeinen Lebens und nichts an Augenlust, an Weichlichkeit und Hoffart. Es fand sich alles, was zum wirklichen Komfort eines behaglichen Lebens gehört, aber nichts Unnützes und nichts, was geblendet oder geprahlt hätte.

Dem befriedigenden Eindruck dieser Häuslichkeit entsprachen denn auch die Personen, die hier hausten. Der Graf und die Gräfin waren beides Menschen, wie man sie sich zum vertrautesten Umgang wünschen möchte, einfach, wahr und wohlwollend und dazu niet- und nagelfest in ihrem ganzen Wesen. Von der großen Welt zurückgezogen, lebten sie jedoch nichts weniger als einsam, denn ihr Haus war nach und nach ein Sammelplatz geworden für Glaubensbrüder aus allen Kirchen und Konfessionen der Christenheit, ein richtiges hospitium ecclesiae dei, da sich mancher wackere Pilgersmann im Vorübergehen für fernere Wallfahrt Kraft und Segen holte. Was an hervorragenden, für die Ausbreitung des Reiches Gottes tätigen Männern nach Dresden kam, das pilgerte auch hinaus nach Hermsdorf, sich das hospitium und seine Wirte anzusehen. Da sah man Brüder aus England, Frankreich, Rußland und Amerika, Missionare von den fernsten Orten der Erde, Lutheraner, Reformierte aller Denominationen, selbst Katholiken, und alle fühlten sich verbunden durch einen Glauben, eine Liebe und eine Hoffnung. Es bestand damals eine in hohem Grade erbauliche Herzensunion unter den Offenbarungsgläubigen aller Kirchen, welche freilich mit der eben zu jener Zeit erfundenen königlich preußischen Kirchenunion nicht das geringste gemein hatte, vielmehr in dieser nur ihr Zerrbild und ihren Untergang fand. Immerhin ist es auch ein Unterschied, ob man sich mit einzelnen über den Zaun hinweg die Hand reicht und gute Nachbarschaft mit denen hält, die jenseits wohnen, oder ob man den Zaun ganz abträgt und damit Mein und Dein vermischt und verwischt. Graf Dohna und sein Pastor waren entschiedene Widersacher jener preußischen Gleichmacherei, die jeder inneren Wahrheit bar und ledig ging; sie erkannten jeden, der Jesu Christo angehören wollte, als mit sich auf einem Wege, und wenn er auch ein Quäker oder Wiedertäufer gewesen wäre; zugleich aber hielten sie das lutherische Bekenntnis für das allein korrekte und wollten es dem lutherischen Volke ungetrübt erhalten wissen. Der Rationalismus war zwar in die lutherischen Hürden so gut eingebrochen wie in alle anderen, faktisch herrschte er sogar darin, doch aber stand das Bekenntnis in Sachsen noch unter dem Schuhe des Rechtes, und diese Position mutwillig aufzugeben, schien gefährlich. Auf solche und andere geistlichen Materien kam an jenen Abenden viel die Rede, und ich achtete auf das Gespräch der Alten und hatte davon wenigstens den Vorteil, mit den theologischen und kirchlichen Fragen der Zeit einigermaßen bekannt zu werden.

Das Dohnasche Haus war übrigens nicht das einzige, das wir besuchten. Die trefflichste Schlittenbahn und vielleicht auch das Verlangen, seinen Gast zu unterhalten, verlockten meinen Pastor auch zu weiteren Exkursionen, und der Ackergaul Peter, zum beschellten Schlittenpferde transfiguriert, führte uns in seinem muntersten Hundeträbchen weit in die Runde herum zu den benachbarten Pfarreien. Die Geistlichen, die wir besuchten, waren zwar als Rationalisten Rollers theologische Gegenfüßler, persönlich aber schienen sie ihm nicht abgeneigt und behandelten ihn mit achtungsvoller Auszeichnung. Auch waren es selbst meist achtbare Leute, bei denen es einem recht wohl werden konnte, wie z. B. in Seiffersdorf bei dem sanften, kunstliebenden Hilliger oder bei dem Pastor Richter in Ottendorf, welcher als würdiger Patriarch inmitten einer blühenden Familie lebte.

Einer von diesen geistlichen Herren, ein alter knochendürrer Mann, der, ohne alle Angehörigen, nur von einer Magd bedient, als Junggeselle lebte, zeichnete sich vor anderen durch eine höchst auffällige Originalität aus. Seinen Namen habe ich vergessen, vielleicht nie gehört, da er gewöhnlich nur nach dem Orte, wo er Pfarrer war, »der Bernstorfer« genannt ward. Die meisten Amtsbrüder flohen ihn wegen seiner unbequemen Sonderbarkeiten, und er sie, weil sie ihm zu altklug und zu gewöhnlich sein mochten; mit Roller aber konnte er sich vertragen, und letzterer schätzte ihn vielleicht schon deshalb, weil er nicht wie andere Leute war, jedenfalls aber seiner umfassenden naturgeschichtlichen Kenntnisse wegen, welche zu vermehren er sich trotz seines Alters immer noch angelegen sein ließ.

»Du mußt den Mann doch kennen lernen,« sagte mir mein alter Freund, und wir machten uns auf den Weg nach Bernstorf. Als wir am Pfarrhause vorfuhren, flatterte uns der Pastor im Schlafrock und Pantoffeln, mehr einer Vogelscheuche als einem Menschen ähnlich, mit lautem Freudengeschrei entgegen, umarmte auch mich, den Fremdling, noch ehe ich ihm vorgestellt worden, und führte uns in die einzige bewohnbare Piece des wüsten Hauses, in sein Studierzimmer.

Die vier Ecken dieses großen, saalartigen Raumes waren dergestalt durch Schirmwände verkleidet, daß er fast rund erschien. Hinter dem einen Schirm befand sich die Bibliothek nebst Käfersammlung und anderen Naturalien; hinter dem zweiten stand das Bett des Hausherrn; der dritte diente zum Abschlag für Milch und Brot und sonstige Viktualien, während der vierte gewisse Bequemlichkeiten barg, die in anderen Pfarrhäusern auf den Hof verlegt sind, und von denen wir Gebrauch zu machen sogleich eingeladen wurden. In der Mitte des Saales endlich stand ein ungeheurer Familientisch, bepackt mit Büchern, Skripturen, halb ausgerauchten Tonpfeifen, Kaffeegeschirren und den Überresten eines frischsezierten Rattenkopfes. Mit dem Schlafrockärmel ward dieser Schutt beiseite geschoben, um für einen aus dem Speisewinkel hervorgeschleppten, in Brotteig eingebackenen Schinken Platz zu machen. Davon sollten wir vor allen Dingen kosten, was nicht ganz leicht war, denn die Umstände, unter denen angerichtet, sowohl als der Anblick des Anrichters erregten nichts weniger als Appetit. Indes gestand man sich stillschweigend, daß in anderer Umgebung und zu anderer Tageszeit ein derartiger Schinken gewiß nicht zu verachten sein möge. »Ein Götterfleisch!« versicherte der Wirt und ginge ihm niemals aus.

Als darauf eine Pfeife Tabak folgte und das Gespräch im Gange war, so weiß ich nicht, durch welche Wendung unser Wirt auf seine amtlichen Verhältnisse kam. Er ergoß sich aber in den bittersten Klagen über die sämtlichen Elemente seiner Gemeinde, die Alten und Jungen und alle miteinander, mit verdoppelter Schärfe aber über den Herrn Schulmeister, welche letztere Bestie die ersteren aufhetze, ihm alles gebrannte Herzeleid anzutun. So habe dieser Ketzer noch ganz vor kurzem zwar nach unsäglichen Studien und Mühen, für welche der Teufel ihn begeistert, eine höchst verdammliche Zauberei, einen sogenannten Morgenstern, an der Orgel zustande gebracht, ein veritables Bildnis Luzifers, so groß als die Sonne, das mit der Vehemenz eines Mühlsteins oder Kreisels rotiere und ein so hirnverwirrendes Geklingel mache, daß kein Mensch wisse, ob er in der Kirche oder im Schlitten sei. Für einen Groschen ließe der Schlingel das Ding ein ganzes Lied durchschnurren, und für kein Lied fehle der Groschen, welchen die gottlosen Burschen des Unfugs wegen mit Freuden zahlten. Zwar tue er das Seinige, er predige gegen Morgensterne und reibe dem erbärmlichen Künstler die Ohren zur Zeit und Unzeit, aber es sei in die Luft gesprochen, und werde er noch ans Konsistorium gehen müssen.

Roller hatte unterdes den Rattenkopf besichtigt, der ihn anscheinend lebhafter als die Jeremiade seines Amtsbruders interessierte. Jetzt sagte er ziemlich zerstreut, er wolle, er hätte auch so einen Morgenstern an der Lausaer Orgel.

Da sprang der andere auf, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare und schrie: »Er weiß nicht, was er redet, der Mann, er weiß es wahrhaftig nicht!«

Aber Roller gebot mit ruhiger Würde: »Setzt Euch hierher, Herr Bruder! Hierher auf Euren Stuhl, und hört mich an: Ihr sollt wissen, Mann, daß es an vielen Orten Morgensterne gibt, sogar in großen Städten bei den feinen Leuten. Das hat an Dank- und Jubeltagen etwas Festliches und Aufmunterndes für die Gemeinde, die gleich um so viel kräftiger singt. Deswegen ...«

»Aber an Buß- und Bettagen!« rief der Bernstorfer dazwischen.

»Ich bin nicht taub,« fuhr Roller fort, »daß Ihr so schreien müßtet; und wenn mein Kantor auf seiner Orgel wollte jubelieren, klingeln und posaunen, wo ich nicht wollte, so würde ich ihn mit dieser meiner Faust ersticken wie einen Floh. Aber Ihr habt keinen Respekt, und daran ist nicht Euer Schulmeister schuld. Ihr seid zu poltrig, Herr Bruder, zu fahrig, und tut zu viel mit der Zunge; das ist nicht gut! – Und überdem. Mann, wie sieht es in Eurem Hause aus! Was ist das für eine Kaffernwirtschaft da mit den Schirmen! O weh, o weh! – Und wenn Leute zu Euch kommen, so will ich nicht gesagt haben, wie Ihr ausseht, aber viel respektierlicher als heute wird's wohl selten sein.« Und damit lachte er laut auf.

Unser Wirt grinste mich an wie ein alter Waldteufel.

»Ob der Herr Amtsbruder die Schmeicheleien von Ihnen gelernt hat, junger Herr? – Hört, Roller, wenn sich die Leute vor Euch scheuen, so dankt Ihr es wenigstens nicht Eurer Feinheit. Was mich anbelangt, so bin ich viel zu alt und leberkrank, um mich noch sehr zu ändern; auch fehlen mir die vornehmen Leute, die bei Euch aus- und eingehen und Euch ein Ansehen geben. Daß übrigens meine Magd ein Igel ist,« setzte er lachend hinzu, »das gebe ich zu, Herr Bruder! Das gebe ich zu!«

Auf diese Weise kosten die beiden, bis das Gespräch sich wandte und unser Wirt uns eine ganz interessante Vorlesung über Art und Natur der Ratten hielt. Hier war er in seinem Elemente, sprach sehr gut und fließend, und sein häßliches Gesicht nahm jenen gewinnenden Ausdruck an, der gescheiten Männern eignen kann, wenn sie von etwas reden, das sie verstehen. Darüber trat die Dämmerung ein, und wir brachen auf. Mit herzlichen Umarmungen und einem derben, in den »Dresdener Anzeiger« gewickelten Stück Backschinkens für Rollers Schwestern wurden wir entlassen.

»Dieser Pastor«, äußerte ich, als wir im Schlitten saßen, »müßte jemand haben, der ihn und das Seinige in Ordnung hielte. Es ist ein Fehler, daß er nicht geheiratet hat.«

»Ein Fehler?« sagte Roller. »Würdest du ihn denn genommen haben, wenn du ein Weib wärst?«

»Nein, ganz gewiß nicht!«

»Richtig!« erwiderte jener. »Und ganz ebenso mögen andere auch gedacht haben. Zum Heiraten gehört vor allen Dingen eine Frau, und die man möchte, kriegt man nicht, die man aber kriegen könnte, mag man nicht.« Und damit seufzte der alte Junggeselle tief auf.

Der arme Bernstorfer wurde übrigens noch vor Jahresfrist vom Amte suspendiert. Die Gemeinde hatte sich entschieden geweigert, bei ihm zur Beichte zu gehen, und mancherlei Gründe dafür angeführt, unter anderen auch den, daß er bei der letzten Abhaltung des heiligen Abendmahles Kuhmist am Chorrocke gehabt. Er zog nach Dresden, wo er bald darauf verstorben ist.

Nach meinem lieben Dresden zog ich nun auch zurück, doch nicht, um da zu sterben. Fünf Wochen etwa mochte ich in Lausa gewesen sein, als mein Bruder Gerhard mit einem Knotenstocke angewandert kam und mir einen Brief überbrachte, der mich zurückrief. Mein Vater schrieb mir, daß Helenens Eltern diese zurückverlangten, da ihr Vater, welcher schwer erkrankt sei, sich nach der Tochter sehne. Er selbst werde sie begleiten und, wenn ich diese Zeilen erhielte, bereits über alle Berge mit ihr sein.

Ob meine Eltern diese Entwicklung provoziert hatten, oder ob sie zufällig eingetreten war, habe ich nie erfahren, weil ich nicht fragen wollte. Helenens Vater starb allerdings bald darauf; sie aber reichte ihre Hand einem trefflichen Manne, mit dem sie bis an ihr Ende glücklich lebte.


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