Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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4. In Ballenstedt.

Ungefährdet hatten wir das Ziel unserer Reise erreicht und waren im Barduaschen Hause aufs beste aufgenommen. Man hatte uns die ganze obere Etage eingeräumt, einfache, helle und geräumige Zimmer, wie die Mutter sie liebte, mit freier Aussicht nach allen Seiten. Gegen Morgen sah man über Gärten weit in das Land hinaus bis auf die fernen Türme Bernburgs. Nach Abend baute sich das nahegelegene Ballenstedter Schloß hoch und stattlich auf seinem grünen Wallberge auf, und gegen Mittag begrenzten die waldigen Berge des Tiergartens unmittelbar den kleinen, wohlgepflegten Küchengarten des Hauses. Da endlich mein arbeitsamer Vater gleichfalls nach Norden freies Licht zum Malen fand, so entsprach diese Wohnung allen Bedürfnissen und Wünschen aufs allerbeste, und man richtete sich gar behaglich darin ein.

In der unteren Etage hausten unsere Gastfreunde, bei denen wir auch speisten. Der Hausvater Bardua, schon ziemlich hoch in Jahren, war herzoglicher Kammerdiener. Er war ein würdiger, freundlicher und bescheidener Mann, von seinem Fürsten und von jedermann geschätzt. Wir Kinder wurden schnell mit ihm vertraut und nannten ihn Großvater. Da ihn indessen sein Beruf fast unausgesetzt an die Person des Fürsten knüpfte und er wenig zu Hause war, hatte die Sorge für die Familie von jeher vorzugsweise in den Händen seiner klugen Frau gelegen. Diese war in ihrer Art sehr ausgezeichnet. Lebhaft und tatkräftig, hatte sie sich in jüngeren Jahren tüchtig gerührt, und alles, was sie unternommen hatte, war gelungen. Sie hatte den Wohlstand des Hauses geschaffen und ihn durch die Erziehung ihrer sehr begabten Kinder auch für die Zukunft gesichert. Ihr ältester Sohn war bereits in Koswig bei einer Landesbehörde angestellt, der jüngere besuchte noch das Bernburger Gymnasium. Wir fanden somit nur die beiden Töchter vor, die wackere Malerin Karoline und ihre jüngere Schwester Minchen, ein sehr geistvolles, wohlaussehendes Mädchen von etwa 15 Jahren, das sich mit uns Kindern gern zu schaffen machte.

Außer dem obberegten Hausgärtchen besaßen Barduas noch einen großen Obstgarten – von der Bienenzucht, die früher dort betrieben worden, der »Bienengarten« genannt –, welcher als Enklave des herzoglichen Tiergartens mitten im Walde lag. Dieser Garten war seines herrlichen Obstes wegen berühmt, und namentlich war er reich an Pflaumen aller Arten und Gestalten. Hierher brachte Minchen uns vor allen Dingen, und während sie, mit der kleinen Schwester spielend, Puppengärten baute, fraßen wir Knaben uns tief in die Reineclaudenbüsche ein. Auch die gelben Pflaumen mit rotgesprengelten Bäckchen, die großen Eierpflaumen und Muskatellerbirnen schmeckten uns recht sehr. Es ist unglaublich, welche Massen Obstes Kinder vertragen können; wir hatten das früher selbst nicht so gewußt und hielten Göttermahle, die unvergeßlich blieben.

Waren wir satt, so schwand das Interesse an dem Garten, er wurde uns zu eng trotz seiner Größe. Wir zogen dann die nächste Umgebung vor, ein bergiges, mit Niederholz bestandenes Terrain, weite Blicke von den Höhen und in den Niederungen trauliche Verstecke – was konnte es zum Spielen Besseres geben! Mein Bruder und ich gefielen uns so in dieser Wildnis, daß wir beschlossen, uns hier ansässig zu machen. Wir bauten an der Blanke des Bienengartens ein Ding von Steinen, das wir, gelehrt, wie wir waren, »Arx nemorosa«, die Hainburg, nannten. Behufs des Burgfriedens wurden Gesetze erfunden, als deren wesentlichstes ein unverbrüchliches Schweigen galt, nicht nur, damit jeder denken konnte, was er wollte, sondern auch, um Vögel und andere Tiere nicht zu verscheuchen.

Als wir fertig waren, bezogen wir das Schloß, das freilich nur aus Grundmauern bestand; aber wir dachten uns das übrige hinzu. Dort lagen wir regungslos in tiefster Stille, blickten in das grüne Laubdach der überhängenden Birkenzweige, horchten dem Flüstern des Waldes, dem Hämmern des Spechtes und freuten uns des zarten Goldgitters, das die Sonne auf den rasigen Boden malte, wie der bunten Schmetterlinge, die darüber hinirrten. Wer uns so gesehen, hätte uns für tot halten mögen. und vielleicht tat auch dies die schlanke, weiße Hirschkuh, die eines Morgens ganz in unserer nächsten Nähe aus dem Dickicht trat, wenn sie uns überhaupt bemerkte.

Aber im Augenblick waren wir lebendig und sprangen auf das Tier ein, wie die Pardel. Das stutzte, schreckte kurz auf, wandte sich auf den Hinterläufen, und fort ging die Jagd durch dick und dünn. Hatte das Wild seinen Vorsprung, so blieb es stehen und sah sich neugierig um. Dann duckten wir uns ins Heidekraut und suchten es auf allen vieren zu beschleichen, bis es aufs neue flüchtig ward.

Der Großvater Bardua hatte gesagt, daß man mit der Hand gefangene Hirsche behalten dürfe; nur müsse man sie beim Wedel fassen, dann seien sie gleich verloren. Solche Hoffnung gaben wir bald daran, aber wir hatten von unserer Jagd doch den Vorteil, das schöne Tier recht lange in Sicht zu behalten, und dieses vergnügte sich vielleicht nicht minder, mit uns zu spielen, bis ihm endlich die Sache nicht mehr anstand und es auf Nimmerwiedersehen abging.

Der Hirsch war fort und wußte wahrscheinlich, wo er war; wir wußten weder dies, noch wo wir selbst waren. Wir stießen indessen bald auf einen Jagdweg, und siehe da! ein leichtes Fuhrwerk flog daher, auf weichem Rasenteppich geräuschlos hinrollend. Man hörte kaum den Tritt der großen Rappen, nur hin und wieder das Anschlagen des Lederzeuges mit seinen silbernen Schnallen. Im Wagen saß ein stattlicher Herr im grünen Uniformsüberrocke und neben ihm ein Livreejäger, der die Kugelbüchse hielt. Hintenauf war die Beute gebunden, ein schöner Damhirsch.

Wir traten zur Seite und grüßten ehrerbietig, denn darin waren wir einig, daß wir den Landesherrn gesehen hatten, von dem im Barduaschen Hause fortwährend die Rede war. Als wir bei Tisch viel Redens davon machten, wurde unsere Vermutung bestätigt, zugleich verwarnte man uns aber, von unseren Jagden als von polizeiwidrigen Freveln abzustehen. Den Herzog sollten wir bald deutlicher zu sehen kriegen.

Ein Besuch bei Hofe.

Der alte Bardua brachte die Nachricht mit vom Schlosse, es habe ihn der Herzog nach uns Kindern gefragt, und da Se. Durchlaucht nichts ohne Ursache täte, so glaubte er, daß wir in den nächsten Tagen zum Erbprinzen eingeladen werden würden. Das war eine wichtige, fast schreckliche Neuigkeit, die uns in große Spannung setzte. Zwar hatten wir schon mancherlei Potentaten gesehen, den König von Sachsen, Napoleon und andere, aber nur von weitem auf der Straße, wie man Kirchtürme und ferne Berge ansieht, die einen weiter nichts angehen; dergleichen aber ordentlich zu besuchen und mit ihnen zu sprechen wie mit anderen Leuten: ob das ein Vergnügen sein werde? Die Mutter bezweifelte es. Sie fand überhaupt so vornehmen Umgang wenig geeignet für uns und wäre gern ausgewichen; der Vater aber meinte, wenn wir eingeladen würden, so bliebe doch eigentlich nichts anderes übrig, als hinzugehen.

Inzwischen machte uns der Erbprinz erst einen Probebesuch in Begleitung seines Gouverneurs, des Hofrat Beckedorff,Hofrat Beckedorff trat später zur katholischen Kirche über. welch letzterer, sich mit meinem Vater in ein Gespräch vertiefend, uns seinen Zögling überließ. Der Prinz war ein wohlgebildeter Knabe, schlank, von durchsichtig zarter Gesichtsfarbe und hochblond. Er mochte damals etwas über acht Jahr alt sein und stand somit in der Mitte zwischen mir und meinem Bruder. Wir sahen uns ihn genau an, etwa wie einen jungen Vogel Strauß, ohne daß er das Interesse, das wir ihm zeigten, zu erwidern schien. Er zeigte uns vielmehr die aufrichtigste Gleichgültigkeit, bis es gelang, ihn unter die Pflaumenbäume des Gartens zu bewegen. Da wurde er handlicher. Er habe Ziegenböcke, sagte er, und einen Fuchs, und wir könnten ihn am Nachmittag auf dem Schlosse besuchen.

Ziegenböcke und ein Fuchs sind liebenswürdige Eigenschaften. Wir sahen den reichen Prinzen bewundernd an und freuten uns auf die Genüsse des Nachmittags. Als sich die Stunde indessen nahte und wir uns anziehen sollten, fanden wir doch wieder einiges Bedenken. Der Prinz für seine Person zwar war uns nun bekannt, wie wir aber den Herzog und die Herzogin bestehen sollten, falls wir mit diesen hohen Herrschaften zusammenträfen, das stand auf einem anderen Blatte. Wohl waren wir bis dahin nicht in der schlechtesten Gesellschaft aufgewachsen, nach dem Maßstabe der großen Welt jedoch immer nicht in der besten, und wer konnte wissen, was in jenen höchsten Kreisen für seine Sitte herrschte? Wir hatten davon die abenteuerlichsten Vorstellungen und quälten uns mit hypochondrischen Besorgnissen vor möglichen Flegeleien, die wir begehen könnten. Wir erkundigten uns daher ausführlich bei der Mutter, wie wir uns zu benehmen hätten.

Da trat der Vater ein und ließ sich überaus tröstlich vernehmen. Er sagte, wir sollten uns gar nicht benehmen, sondern sein wie immer, und wenn wir etwas weniger ungezogen wären, würde es nichts schaden. Man würde uns fragen, wie alt wir seien, wie wir hießen, wie unsere Schwester hieße, und ob wir sie recht lieb hätten, vielleicht auch, ob es uns in Ballenstedt und bei Barduas gefiele. Die Antworten würden wir wohl auswendig wissen. Im übrigen würden wir mit dem Prinzen spielen und dabei mehr auf sein Vergnügen als auf das unserige bedacht sein.

So ausgerüstet und gestählt, wie auch aufs sauberste gekleidet, gewaschen und gekämmt, folgten wir dem Hoflakaien, der uns abzuholen kam, passierten respektvoll den am Schloßtor aufgestellten Posten und traten so ernst wie Tiere in das Portal ein. Dann wurde eine Türe aufgerissen, und wir traten in ein helles Zimmer mit weiter Aussicht über Berg und Tal. Hier trat uns der Hofrat Beckedorff entgegen und begrüßte uns wie hübscher Leute Kinder, und auch der Prinz erschien und war viel zutulicher als am Morgen. In seinem Gesicht lag ein herzgewinnender Ausdruck von Freundlichkeit, und ungescheut entwickelte er einen neuen Reichtum liebenswürdiger Eigenschaften.

Er führte uns zuvörderst an seinen Schrank und zeigte auf, was er besaß. Da sahen wir Dinge, von deren Möglichkeit sich unsereins nichts hätte träumen lassen, z. B. einen Reichsadler, aus lauter kleinen Muscheln zusammengesetzt, eine mit goldenen Scharnieren versehene Walnußschale, aus welcher sich ein Paar lederne Handschuhe entwickelten, die dem Prinzen paßten, ein Petschaft, welches beim Druck des Siegelns ein musikalisches Ständchen von sich gab, und mehr dergleichen Kuriositäten. Es war ein Vergnügen des Staunens, wie Reisende es beim Beschauen des Grünen Gewölbes zu Dresden empfinden. Auch an eigentlichen Spielsachen war kein Mangel, man sah Bleisoldaten von den schlanksten Proportionen, Kreisel, Federbälle und Kegelspiele. Aber auf meinen gefälligen Vorschlag, damit zu spielen, erwiderte der Besitzer, man besähe das nur.

Dagegen nötigte der Prinz uns bald hinaus in den Schloßhof, den Fuchs zu begrüßen, der in einer Ecke an der Kette lag, gleich einem Hündchen, und Rossel hieß. Rossel stank gewaltig, was besonders interessierte, demnächst war er leichtfüßig und gewandt und vergnügte uns durch graziöse Sprünge, bis ein Wagen vorfuhr, der uns in die Berge führen sollte. Zwar hatten wir eigentlich erwartet, auf den Ziegenböcken zu reiten, aber der Prinz belehrte, die seien im Marstall, und man reite nur des Morgens. So stiegen wir denn in den Wagen, und es war auch zu ertragen, so bequem und leicht durch die waldigen Täler hinzustiegen. Unsere Zuneigung zum Prinzen blieb im Wachsen.

Aber der hinkende Bote kam hinterdrein. Um die Teezeit zurückgekehrt, wurden wir zur Herzogin beschieden. Beckedorff nahm seinen Hut und wandelte vor uns her mit einer Zuversicht, als ginge es zu Tische; wir anderen folgten, und, die langen Korridore durchschreitend, blieb Zeit genug, zu überlegen, wie es anzufangen sei, sich nach der Weisung meines Vaters gar nicht zu benehmen. Das Herz ward immer schwerer, und ziemlich engbrüstig betrat ich Hand in Hand mit meinem Bruder das grünseidene Audienzzimmer der Herzogin, welche mit ihrer Tochter, der Prinzessin Luise, und einer Hofdame allein war. Beckedorff stellte uns als sächsische Refugiés vor.

Die Herzogin war eine Prinzessin aus dem hessischen Kurhause, Tochter des patriotischen, durch Napoleon entsetzten Kurfürsten Wilhelm mit dem Zopf. Sie schwebt meinem Gedächtnisse als eine schöne, hochherzige und gebildete Dame vor. Ihre Gesichtszüge trugen das Gepräge des Adels und der Anmut; aber es spielte ein Anflug der Trauer hindurch, deren Grund teils in dem Jammer des Vaterlandes, teils in persönlichen Verhältnissen liegen mochte, die erst später begriffen werden konnten.

Die hohe Frau empfing uns mit mütterlicher Güte, und da sie obendrein gerade die Fragen an uns richtete, die von der Welterfahrung meines Vaters vorausgesehen waren, so schwand die anfängliche Beklommenheit sehr schnell. Ich atmete freier auf und gewann ein Auge für die vornehme Gesellschaft, in der ich mich befand.

Vor allem gefiel mir die Prinzessin Luise. Sie war erst kürzlich konfirmiert und mochte nicht über sechzehn Jahre alt sein. Zwar sprach sie wenig, sah aber so reizend aus, daß es Mühe machte, sie nicht in einem fort anzusehen. Ihre regelmäßigen Züge hatten den freundlich träumerischen Ausdruck eines Heiligenbildes, und da mein Vater sie bald nachher malte, urteilte Beckedorff von dem sprechend ähnlichen Bilde, daß man es getrost über jeden Altar hängen könne.

Als der Tee getrunken war, wurden wir Kinder in das anstoßende Vorzimmer verwiesen, wo allerlei Spielzeug zur Disposition stand. Unter diesen Dingen zog mich als Sachverständigen besonders ein kleines Puppentheater an mit herrlichen Figürchen und Dekorationen. Der Prinz genehmigte ein Schauspiel. Ich würde mich allerdings heutzutage nicht zu einem solchen Wagnis drängen, aber damals war ich in der Übung und brannte vor Verlangen, mit so auserlesenem Material zu hantieren. Ich fühlte mich in meinem Elemente, und während ich die vorhandenen Mittel überschaute und die Püppchen sonderte, erfand ich nach Beschaffenheit derselben einen Stoff, der mir geeignet schien, den Prinzen zu amüsieren.

Ich hatte nur moderne Figuren vorgefunden, keine Helden, keine Ritter oder Räuber; daher entschloß ich mich, ein Lustspiel aufzuführen. Kasper und Christel, die unverschämten Dienstboten eines kranken Herrn, sollten diesen durch Impertinenz, durch Zank und Widersetzlichkeit so lange reizen, bis er sie im Übermaß des Zornes beide zum Fenster hinauswerfen würde. Ein Schluß, von dem ich mir Effekt versprach.

Der Prinz und mein Bruder saßen bereits auf ihren Plätzen, und ich bat letzteren, die Ouvertüre zu beginnen. Er zeigte aber nach der offenen Tür der Herzogin und traf andere Auskunft, die ihn weniger genierte. Er besaß nämlich die Fertigkeit, mit seinen beiden dicken, kreuzweis ineinandergelegten Händen wie mit einem Blasebalg zu operieren und Töne herauszuquetschen, die dem Prinzen so neu waren, daß er sich vor Lachen fast überschlug. Dadurch kam er gerade in die rechte Stimmung; ich zog den Vorhang, und das Stück begann. Der kranke Herr erschien, klagte seine Leiden und rief nach Christel. Da brach der Prinz von neuem aus. Er hatte jene in seiner Gegend nicht gewöhnliche Abbreviatur noch nicht gehört, und sein Lachen wiederholte sich, so oft der Name genannt ward. Als ich dies bemerkte, sah ich ein, daß ich mir andere Witze sparen könnte, ließ die Christel unaufhörlich von allen Seiten rufen, und der Prinz kam gar nicht aus der Freude. So wohlfeilen Erfolg hatte ich in meiner Komödiantenlaufbahn noch nicht gehabt und nie mit größerem Genusse gespielt – als plötzlich die Flügeltüren nach der Galerie zu auseinanderflogen und, gestützt auf eine schwarze, mit Silber beschlagene Krücke, ein Herr hereintrat, den ich sogleich für den schon im Tiergarten entdeckten Landesfürsten erkannte. Er trug denselben dunkelgrünen Überrock mit Silberknöpfen und Aufschlägen von hellgrünem Samt, kurzgeschorene gepuderte Haare und hohe Stiefel von weichem Leder.

Der Herzog AlexiusAlexius Friedrich Christian, 1796-1834 regierender Herzog von Anhalt-Bernburg und Vater des letzten Herzogs Alexander Carl(1834-1863), der als der »Erbprinz« durch Kügelgens Jugenderinnerungen hindurchgeht und später des Verfassers fürstlicher Herr wurde. war lahm von Kindheit an, und zwar durch einen Sturz, den er, wie man sich erzählte, aus der Wiege getan. Er gehörte aber zu denjenigen Menschen, denen das, was sie sind, wohl ansteht, und die ihn kannten, fanden ihn nicht entstellt durch sein Gebrechen. Vielmehr gab die gestützte Haltung seiner kräftigen Gestalt einen Ausdruck imposanter Ruhe, welcher die festen Züge seines imperatorischen Gesichtes sehr wohl entsprachen. Er war ein ernster, verschlossener, aber wohlmeinender Herr, der sein schönes Land aus angeborener Machtvollkommenheit ganz selbständig regierte und als Landesfürst im In- und Auslande in Achtung stand.

Der Erbprinz war beim Eintritt seines Vaters aufgesprungen, und alle drei standen wir in tiefster Devotion vor dem hohen Herrn, der einige Fragen an mich tat und mir befahl, in meinem Spiele fortzufahren. Die kleine Gesellschaft im Teezimmer war ebenfalls hereingetreten, um den Herzog zu begrüßen, mein Mut aber auf Null gesunken. Dennoch ward ich zur Fortsetzung genötigt. Ich spielte mit Todesverachtung weiter, aber der Prinz lachte nicht mehr bei dem Zauberworte Christel, und da sich die übrigen noch obendrein laut unterhielten, verließen mich alle Gedanken. Ohne irgendeine Entwickelung herbeigeführt zu haben, ließ ich den Vorhang fallen, indem ich dunkelrot und mit brennenden Augen erklärte, das Stück sei aus. Ich hatte unter aller Kritik gespielt, aber dennoch wurde ich von den Damen sehr gelobt, was mir die ungerechte Meinung gab, daß sie wenig von der Kunst verständen. Auch weiß ich nicht, was bitterer ist, unverdienter Tadel oder unverdientes Lob. Am schwersten zu ertragen sind jedenfalls verdienter Tadel und verdientes Lob.

Der Herzog pflegte des Abends für sich allein oder mit einigen seiner Herren zu speisen. Als das Souper serviert werden sollte, verzog er sich daher wieder in seine Gemächer. Ich war damit ganz einverstanden, denn Respekt und Appetit sind ziemlich unverträgliche Gesellen. Gerade weil ich den hohen Herrn so tief verehrte, hob er sich jetzt wie ein Gewicht von meinem Magen, und mit merklicher Erleichterung konnte ich nun dem ersten Fürstenmahl entgegengehen, das mir geboten ward.

Man sagt den russischen Bauern nach, sie glaubten, daß der Kaiser nichts als Schweinebraten äße und geschmolzene Butter dazu tränke. Einen solchen Luxus trauten wir unseren Herrschaften zwar nicht zu, aber wir dachten doch, es würde Dinge geben, die unsereiner weder dem Namen nach noch von Geschmack und Ansehen kenne. In der vornehmen Welt hat inzwischen auch beim Essen die Form den Vortritt vor dem Inhalt. Der Wert fürstlicher Tafeln liegt weniger in goldenen Äpfeln als in silbernen Schalen, weniger in Speisen als in Tellern,, Schüsseln und sonstigem Gerät, und billig hätten wir erstaunt sein müssen über die Menge schweren Silbers, das den kleinen Tisch bedeckte, wenn wir nicht alles für Zinn gehalten hätten, wie das bei Näkens Brauch war. Die Speisen glaubten wir zu kennen. Es waren dieselben, die wir auch zu Hause hatten, nämlich saure Milch, Eier, Fleisch, Kartoffeln und Obst. Wir bemerkten aber dennoch einen anderen, sehr schmeichelhaften Unterschied. Wir fanden nämlich, ein jeder vor seinem Kuvert, ein kleines Kristallfläschchen voll goldhellen Weines, eine Perle, deren Wert wir nicht verkannten. Auch verschmähten wir keineswegs, Gebrauch davon zu machen. Wir schenkten uns fortwährend ein, weniger des Trinkens als des Einschenkens wegen, und nur tropfenweise, damit es länger fließen sollte. Ich bemerkte, daß mein dicker Bruder dabei den Kopf ein wenig auf die Seite legte und den Mund vorstreckte, wie der Vater dies zu tun pflegte, wenn er sich sein Gläschen füllte. Mein Glas war nimmer leer und nimmer voll und ich selbst so sicher im Benehmen wie ein alter Türke, der Opium im Leibe hat.

In dieser meiner selbstvergessenen Stimmung reichte mir der neben mir sitzende Prinz sein Brötchen, es durchzuschneiden. Das Messer war so scharf wie Gift. Ich durchschnitt das Brot, aber zugleich auch das obere Glied meines linken Ringfingers fast zur Hälfte, so daß es hing. So böse war der Schnitt, daß der herzogliche Leibarzt, Hofrat Heinecke, gerufen wurde, der mich schiente und verband; und erst zehn Jahre später bekam der Finger seine frühere Haltung wieder. Da ich viel Blut verloren hatte, ließ die Herzogin uns aus übergroßer Sorge nach Hause fahren.

Als wir, voll der interessantesten Erlebnisse, bei den Eltern eingetroffen waren und ich nach gewohnter Weise Bericht abstatten wollte, schrie mein Bruder mich an: »Heute laß mich erzählen, heute gelingt's mir!«

Schul- und Straßenleben.

Jener nach unserer Meinung in der großen Welt verlebte Abend war der erste unter vielen folgenden. Wir waren von nun an häufig auf dem Schlosse, begleiteten den Prinzen auf Promenaden und Ausfahrten und – was uns besonders vergnügte – nahmen teil an seinen Übungen auf der Reitbahn.

Ich habe noch keinen Knaben gesehen, der nicht gern auf Ziegenböcken gesessen hätte. Die prinzlichen waren schöne, hochbeinige Tiere mit stolzen Bärten und Gebärden; auch fehlte es ihnen nicht an Kräften, weder uns zu tragen, noch auf den Sand zu setzen, was letzteres den Prinzen, der wie ein alter Husar im Sattel klebte, nicht wenig amüsierte. Als wir beiden Neulinge etwas schließen lernten, wurde Karussell geritten: vorweg Beckedorff als Vorbild auf hohem Pferde und hintennach wir Kleinen auf Ziegenböcken, einer hinter dem anderen, mit Degen nach dem Ringe stechend.

Es waren schöne Jugendtage, vergoldet von jener Romantik, die für Anfänger in dem Verkehr mit hohen Personen liegt, und nicht minder gewürzt durch die nebenbeilaufende Plage regelmäßigen Unterrichts, der uns auch hier wie überall verfolgte. Auf den Rat eines trefflichen Mannes, des herzoglichen Oberhofpredigers Starke (Verfasser der »Häuslichen Gemälde«, einer damals viel gelesenen Sammlung kleiner moralischer Novellen), hatten die Eltern uns der Ballenstedter Ortsschule anvertraut und daran jedenfalls sehr wohl getan. Öffentliche Schulen mögen sein, wie sie wollen: wenn die Zucht darin nicht ganz aus Rand und Band ist, sind sie privatem Unterrichte immer vorzuziehen. Sie entkleiden die Jugend jeden äußerlichen Vorzuges, dessen sie sich etwa erfreuen mag, und lassen ihr nichts anderes übrig als Kopf und Fäuste, oder was sonst niet- und nagelfest an einem Knaben ist. Ein jeder steht da allen als seinesgleichen gegenüber, nur persönliche Vorzüge gelten und müssen erstrebt werden, wo sie fehlen. Die Schule und die Wildnis sind die einzigen Orte, wo der Mensch an sich was gilt, allein auf sich gesetzt ist und der Charakter sich entwickelt.

Was nun die Ballenstedter Schule anbelangt, so war zunächst der Rektor Eisfeld ein Mann, dessen Wert nicht vorschnell in die Augen sprang. Korpulent, von gedrungenem Gliederbau und derbgeschnittenen Gesichtszügen, verriet sein Aussehen wenig vom Gelehrten. Das zurückgekämmte Haar, der grobe Überrock und die hohen rindsledernen Stiefel gaben ihm vielmehr einen bäuerlichen Anstrich, dem auch seine Manieren und seine massive Redeweise ganz entsprachen. Er bediente sich durchweg des Dialekts der unteren Volksschicht und trug diese bequeme Nachlässigkeit der Rede sogar auf fremde Sprachen über, indem er z. B. das Schluß-s in pars (der Teil) wie sch aussprach, den Vokal aber langzog und paarsch sagte.

Seine Schüler pflegte dieser Lehrer weder mit Du, noch Sie, noch Ihr, noch Er anzureden. Man sollte meinen, es bliebe nichts anderes übrig; doch half sich Eisfeld mit Der. »Der dekliniere einmal ...!« befahl er mir, als wir uns behufs vorläufiger Prüfung das erstemal auf seinem Zimmer eingefunden hatten. Nach schwach bestandenem Examen führte der Scholarch uns in seine Schule ein. Diese war noch ganz nach altem Zuschnitt und mochte sich seit Albrecht des Bären Zeiten nicht sonderlich verändert haben. Ein einziges sehr großes, von den Jahrhunderten geschwärztes Zimmer vereinigte die Lateiner von mensa bis zum Cornelius Nepos mit einer Anzahl von Seminaristen, aus denen fertige Lehrer für die Kantorschulen hervorgingen. Es gehörte in der Tat Talent dazu, eine so ungleichartige Masse von Kindern und Jünglingen gleichzeitig zu unterrichten und zu regieren. Hat aber einer dies Problem gelöst, so war es der Rektor Eisfeld. Seine Schüler machten ihm in der Regel alle Ehre, wenn sie aufs Gymnasium kamen oder ihre respektiven Schulämter antraten.

Für uns Fremdlinge hatte die öffentliche Schule noch den Vorteil, daß wir auf leichte Weise mit den eingeborenen Knaben des Ortes bekannt wurden und zahlreichen Umgang fanden, der uns verhinderte, auf dem Schlosse zu verprinzeln. Schon gleich am ersten Morgen fiel mir ein schmucker Junge, Adolf Kirchner, auf. Wir saßen nebeneinander, tauschten unser Butterbrot und machten Freundschaft. Dieser Adolf hatte die liebenswürdige Eigenschaft einer eigenen kleinen Ziegenbocksequipage, mittels welcher er sich, namentlich bei schlechtem Wetter, den weiten Schulweg abzukürzen pflegte. Davon hatte er mir schon während des Unterrichtes das Nötige zugeflüstert, mir auch in der Freiviertelstunde die Tiere gezeigt, die im Stall des Rektors, seines Verwandten, standen, und, da wir denselben Weg hatten, sich erboten, uns nach Hause zu kutschieren.

Glückselig wie die Heimchen saßen wir auf dem kleinen Wagen, den zwei kräftige Böcke dahinrissen. Der Regen hatte sich verzogen, blauer Himmel lachte nieder, und das Bild der lieben Sonne funkelte in den Pfützen, die an den eiligen Rädern aufspritzten. Es war herrlich! und nimmer hätten wir gedacht, daß wir schon nach zwei Minuten über neuer Lust den neuen Freund nebst seinen Ziegenböcken vergessen würden. Als wir aber mit unserem Fuhrwerk in die Nähe des an der Kastanienallee gelegenen Gasthauses »Zur Stadt Bernburg« kamen, standen da zwei fremde Knaben vor der Tür, die Hals und Augen nach uns ausstreckten, als hätten sie noch niemals ihresgleichen gesehen. Schon wollten wir böse werden, da riefen sie uns beim Namen – und nun war es aus mit der Fuhre. Wir flogen aus dem Wagen, und während Adolf Kirchner unbeachtet weiterrollte, begrüßten wir aufs tumultuarischste ein paar alte Dresdner Freunde.

Die neuen Ankömmlinge, Julius und Moritz Kaskel, waren die Söhne eines in Dresden sehr angesehenen Mannes, des Bankiers Michael Kaskel. Die Bekanntschaft dieser Familie hatten wir im Radeberger Bade gemacht und in Dresden weiter fortgesponnen. In dem geselligen Kaskelschen Hause auf der Wilsdruffer Gasse, wie im Koselschen Garten an der Elbe, den die Familie im Sommer bezog, hatten wir Stunden reichen Genusses erlebt. Nach Volkmanns und Schönbergs mochten die Kaskelschen Kinder uns am nächsten gestanden haben, und sie daher hier in der Fremde so unerwartet vorzufinden, war übergroße Freude.

Die steigende Kriegsnot in Dresden hatte den Vater unserer Freunde, der selbst sein Geschäft nicht verlassen konnte, veranlaßt, wenigstens Frau und Kinder wegzuschicken, und unser Weg war auch der ihrige geworden. Während wir beim Rektor Eisfeld deklinierten, waren sie sehr unvermutet in der »Stadt Bernburg« eingelaufen. Madame Kaskel mietete sich mit ihrem Häuflein in unserer Nähe ein und hielt gute Nachbarschaft. Namentlich teilten wir Kinder fortan Freud und Leid auf allen Wegen, in Schule, Feld und Wald, beim Spielen auf der Straße wie in den Kämpfen mit der Straßenjugend, die uns oft hart bedrängte. Es waren namentlich die Kantorschüler, die mit uns Rektorschülern und Lateinern in herber Feindschaft lebten. Der ganze männliche Nachwuchs des Ortes war durch die Schulen in zwei Lager geteilt, und es war wunderbar, woher die Händel alle kamen. Ich glaube nicht, daß wir sie suchten, wir mieden sie aber auch nicht; aber wir führten sie mit Eifer und wurden selbst darüber zur Straßenbrut.

Bei diesen Kämpfen konnte ich in eine Leidenschaft geraten, die mich aller Vernunft beraubte. Ich entsinne mich, daß ich den einen meiner Feinde, einen großen, starken Jungen, der mich durch einen wohlgezielten Steinwurf in helle Wut versetzt hatte, bis in das Haus seiner Eltern verfolgte. Ich drang mit ihm zugleich ins Zimmer, schlug ihm meinen Bücherriemen um die Ohren und merkte erst, wo ich war, als sein Vater, ein herrschaftlicher Kutscher namens Westphal, die Hetzpeitsche von der Wand riß. Da prallte ich ernüchtert zurück und war schon auf der Straße, als ich hinter mir den Knall der Peitsche und das Grollen des alten Löwen hörte.

Infolge der ungewohnten Freiheit, die wir genossen, war unsere frühere hausbackene Gesittung wunderschnell in wildes Wesen umgeschlagen. Mit Kaskels, die bis dahin gleichfalls unter informatorischer Zucht gestanden, war es nicht anders. Zwar taten wir eigentlich nichts Böses, aber durch wilde Auftritte, wie der obige, wurden wir so berühmt, daß alle etwaigen Vorkommnisse auf unser Konto kamen und nicht das kleinste Steinchen mehr ins Fenster stiegen konnte, ohne daß die Dresdener Brut, wie man uns nannte, in den Verdacht der Täterschaft geraten wäre. Die Eltern konnten dem nicht steuern, denn Isolierung ist in kleinen Orten ganz unmöglich; auch hatten sie in die Natur und in den außerordentlichen Reichtum unserer Erlebnisse keine Einsicht und tadelten höchstens, daß wir erhitzt aussähen. Ich aber kann nicht leugnen, daß es mir selbst manchmal zu arg ward und ich schon deshalb gern aufs Schloß ging, weil ich mich dort von meiner eigenen Ungezogenheit erholen konnte.

Ich hatte gerade damals viele Ideen zu neuen Stücken, die ich mit dem vorhandenen, durch mich ansehnlich bereicherten Materiale aufzuführen vor Verlangen brannte; aber der Prinz wollte immer wieder Kasper und Christel sehen. Wenn ich ihm sagte, wir wollten heute dies oder das aufführen, erklärte er ganz einfach, es würde doch wohl Kasper und Christel werden. Und so wurde es denn auch immer, denn meine Mutter hatte es mir fest eingebunden, nie zu vergessen, daß ich des Prinzen wegen Komödie spiele, er nicht meinetwegen zusähe.

Mein Vater fand, daß ich im umgekehrten Falle jenes Malers zu Dordrecht sei, der nichts anderes malen konnte als eine Glocke, womit er alle Kneipenschilder seiner Vaterstadt zu dekorieren pflegte. Der einzige Unterschied lag in der Farbe: zur blauen, zur roten, zur gelben Glocke; und anders wußten es die unschuldigen Dordrechter nicht seit Menschengedenken – bis endlich ein junger, von der Wanderschaft heimkehrender Gelbschnabel den tollen Einfall hatte, statt der beliebten Glocke einen spanischen Reiter auf seinem Schilde sehen zu wollen. Der Maler sträubte sich: es würde sich schlecht machen, sei wider die Mode und den guten Ton, die Leute würden sich dran stoßen, sie würden das Bild mit Kot bewerfen, und es sei unerhört und ganz unmöglich. Da aber der junge Gelbschnabel dennoch ganz unerschütterlich auf seinem Willen verharrte, so rief der Künstler endlich ungeduldig: »Nun, wenn Mynherr es denn nicht anders haben will, so kann's ja auch ein spanischer Reiter werden; das aber sage ich ihm, viel anders aussehen als eine Glocke wird's drum doch nicht.«


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