Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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6. Die Erhebung.

Die politischen Stürme, welche, den Anfang eines neuen Tages verheißend, damals schon die größere Hälfte des Vaterlandes durchtobten, hatten die Ballenstedter Gegend noch nicht berührt. Der Herzog war noch Rheinbundfürst, und seine Länder, eingeschlossen von der unnatürlichen Komposition, die man das Königreich Westfalen nannte, lagen noch mit diesem zu Napoleons Füßen. Es lastete daher ein schwerer Druck auf den Gemütern, wenn auch nicht der Schuljugend, doch aller Patrioten, an denen Anhalt nicht ärmer war als andere deutsche Gaue, und mit Verlangen blickte man nach den Wetterwolken aus, die sich im Osten zusammenballten. Da fuhr die Nachricht von der Schlacht bei Leipzig wie ein Blitz durch die Schwüle und reinigte die Atmosphäre mit einem einzigen Schlage.

Die Herzogin Friederike hatte ihrer ganzen Individualität und Lage nach an der Schmach des deutschen Landes besonders schwer getragen. Saß doch ein König Jerome auf ihres erlauchten Vaters altem Stuhle, mit seinen Kreaturen eine Wunderwirtschaft treibend, die sie empörte, und war doch ihr Gemahl so wenig Herr in seinem Lande, daß er genötigt werden konnte, seine Fahne gegen deutsche Freiheit zu entfalten. Fürwahr, am schwersten waren unsere Fürsten von der Fremdherrschaft betroffen, und davon hatte wenigstens die Herzogin Friederike ein lebendiges Bewußtsein. Nun aber nach den Leipziger Tagen gab sich die hohe Frau dafür auch einer ganzen, vollen Freude hin, vielleicht der ungetrübtesten in ihrem freudearmen Leben.

Der Herzog Alexius schloß sich unverweilt den alliierten Mächten an zu Schutz und Trutz. In großer Eile war ein schönes freiwilliges Jägerkorps gebildet, die Landwehr aufgeboten und durch alle Ortschaften des Herzogtums ein Landsturm organisiert. Fröhlicher Waffenlärm erfüllte bald das ganze Land, alle Werkstätten erklangen von kriegerischen Liedern, und alle Kräfte regten sich im Dienste einer guten und gerechten Sache. Ein schöner, frischer Frühlingsmorgen war auch für Anhalt angebrochen.

Es handelte sich jedoch gegenwärtig nicht nur ums Dreinschlagen, sondern auch ums Heilen und um die Pflege zahlloser Verwundeter. Die sächsischen Spitäler waren überfüllt, und ihr Hilferuf drang namentlich ins Herz der Frauen, die in wohltätigen Vereinen zusammentraten, Schmuck, Geld, Kleider, Wäsche und allen Fleiß der Hände mit Freuden opfernd. Binden und Bandagen, Bettwäsche und warme Decken wurden in Fülle angefertigt, und wer nichts Besseres zu tun hatte, tat das Beste und zupfte Scharpie. Diese letztere Art von Handarbeit war epidemisch, in allen Häusern wuchsen Berge von Scharpie an, und besonders eifrig war der Hof. Da saß die ganze Gesellschaft, Kinder wie Erwachsene, um den runden Tisch, ein jeder sein Läppchen in den Fingern und vor sich einen großen Ameisenhaufen von gezupften Fäden. Dazu las Beckedorff die Zeitung oder sonst was vor, und zwischendurch ward Tee getrunken und mit allen Stimmen ein weithin schallendes franzosenfeindliches Lied gesungen.

Das alles war ganz in der Ordnung. Befremdlich aber schien es mir, wenn auch ein französisches Herz genötigt wurde, an solchem Aufschwung teilzunehmen. Die Herzogin hatte vor Jahren das Unglück gehabt, auf einer Reise durch die französische Schweiz den Fuß zu brechen, und war in dem Hause eines Landgeistlichen von dessen Tochter mit so hingebender Liebe gepflegt worden, daß sie dieselbe nicht wieder von sich lassen wollte. Sie hatte daher ihre Nobilitierung bewirkt und sie dann als Hofdame an den Hof gezogen.

Solange nun Napoleons Herrschaft in Deutschland andauerte, hatte das Fräulein vielleicht aus Zartgefühl, und weil ihr eigenes engeres Vaterland ja unter gleicher Knechtschaft seufzte, nichts weniger als französische Sympathien gezeigt; jetzt aber, nach der blutigen Niederlage ihrer Stammgenossen, mochte sie dennoch durch den triumphierenden Jubel der Gebieterin etwas verletzt sein, entzog sich wenigstens der Teilnahme an diesem Jubilieren, wo sie konnte. Nun sollte eines Abends ein ganz neuer patriotischer Hymnus gesungen werden, den die Herzogin besonders begünstigte, weil er in Ballenstedt gedichtet und komponiert war. Wir Kinder waren angewiesen, so recht aus voller Kehle mit allen Registern loszugehen, und umstanden bereits das Instrument – als die Hofdame vermißt ward. Sie ward gerufen, gesucht und fand sich endlich im Nebenzimmer, etwas verschnupft und hoch beteuernd, daß sie dieses Lied nicht singen könne.

Aber die Herzogin wollte keinen Widerspruch ertragen. Sie mochte der Meinung sein, daß, wenn Germanen sieben Jahre lang für französische Triumphe geläutet, kanoniert, illuminiert und bankettiert hätten, sich nun wohl auch einmal eine gallische Stimme in deutsche Freude mischen könne, und zwar um so mehr, als es doch nur eine helvetische und neutrale war. Das arme Mädchen wurde herbeigekrallt und mußte singen. Wenn ich nicht irre, so waren es zwölf lange Verse, die ihr abgemartert wurden. Aber damit schien denn auch die Sünde ihrer Nationalität vollständig abgebüßt, und die Betrübte ward umarmt, geküßt und auf das liebenswürdigste versöhnt.

Ich mache Ernst.

Unterdessen war der Krieg bis in das Herz der Barduaschen Familie eingedrungen. Der jüngere Sohn Louis war von Bernburg herbeigeeilt, um sich als Freiwilliger zum Jägerkorps zu stellen. Sein Vater hatte nichts dagegen, die Schwestern lobten ihn, aber die Mutter war in Verzweiflung.

Der Krieg, zürnte sie, sei für Soldaten, nicht für hübscher Leute Kinder. Der Herzog habe Gesindel genug im Lande, das nichts Besseres wert sei, als totgeschossen zu werden. Sie aber habe ihre Söhne nicht dazu geboren, bestrickt, bestickt und für teures Geld unterrichten lassen, daß sie wie die dummen Töffel Theriaks hinter dem Kalbfell hergehen sollten. Wenn Se. Durchlaucht keine gescheiten Leute mehr im Lande dulden wolle, so könne er sie auch ohne Krieg loswerden; sie aber brauche ihren Sohn, »und du bleibst«, schloß sie, »und marschierst zurück auf deine Schule.«

Louis aber war ganz obstinat, und es gab Gegenreden, Bitten, Streit und Tränen die Fülle, bis der geängstete Vater, der den Unfrieden nicht länger ertragen konnte, sich endlich an den Herzog wandte mit dem Ersuchen, um der Mutter willen den Sohn zurückzuweisen. Aber der Herzog hatte an seine Krücke geschlagen und gesagt, wenn die nicht wäre, so stünde er selbst längst vor dem Feinde. Er wolle dem braven Louis nicht im Wege sein.

Damit war alle Opposition gebrochen. Die treue Mutter fand sich in die Notwendigkeit und besorgte die Equipierung für den geliebten Sohn mit gewohnter Umsicht. Louis aber belebte das ganze Haus mit seiner Kriegslust. Er war ein geistreicher und hübscher Junge, dessen Gesichtszüge lebhaft an Theodor Körner erinnerten. Mein Vater zeichnete ihn für die Zurückbleibenden in feinem Waffenschmucke, und o wie glücklich schien er mir in diesem glänzenden Gepränge für Recht und Freiheit auszuziehen!

Zahlreiche Kameraden kamen öfter ins Barduasche Haus, gemeinschaftliche Angelegenheiten mit Louis zu beraten. Dann träumten sie von Ruhm und Fährlichkeiten, lachten, sangen, führten kecke Reden und verhöhnten die Muttersöhnchen, die zu Hause blieben. Deren waren freilich nur sehr wenige. Fast in allen Häusern wurde gerüstet, wurden Waffen und Lederzeug geputzt, Kugeln gegossen und Tornister zugerüstet. Aus dem ganzen Lande, ja aus aller Herren Länder lief Botschaft ein, wie die Jugend scharenweis zu den Fahnen ströme. Selbst von jungen Mädchen hörte man, die, von der allgemeinen Begeisterung fortgerissen, sich verkleidet in den Kriegsdienst eingestohlen hatten. Die ganze Nation hatte einen mächtigen Aufschwung genommen in allen ihren Schichten, mit Hab und Gut, mit Leib und Leben und mit allen ihren Kräften zu sich selbst zu stehen.

Und ich? Glühenden Auges und klingenden Ohres hatte ich das alles mit angesehen und angehört. Sollte ich nun allein zu Hause bleiben, und zwar aus keinem anderen Grunde, als weil ich erst elf Jahre alt wurde, während andere, die doch ganz vor kurzem auch nicht älter waren, ihre Haut frischweg zu Markte trugen? Durch meine Straßenkämpfe war ich sehr erstarkt, ich fühlte mich fast unüberwindlich, und meine Kugel, dachte ich, würde gerad so weit als eine andere fliegen. Auch besaß ich bereits ein Mordgewehr, nämlich einen alten Stutzen, den ich auf dem Boden gefunden und vom Großvater Bardua zum Geschenk erhalten hatte.

Zwar ähnelte diese Waffe einigermaßen dem Lichtenbergischen Messer, denn sie bestand eigentlich nur aus einem Ladestock und einem Schaft. Das Rohr war weg, und auf dem Schloß konnte sich kein Mensch im Hause mehr besinnen; doch war es eben noch ein Stutzen, so gut als Louis XVIII. damals ein König war, nämlich erstens von Rechts wegen und dann, weil beide nach Umständen restauriert werden konnten. Ich phantasierte mir einstweilen ein Rohr hinzu, putzte die Beschläge am Kolben spiegelblank, und Louis übte mir die Griffe ein.

Durch den Besitz gefälliger Werkzeuge können latente Gelüste, Gaben und Kräfte geweckt werden. Goethe bekannte, durch ein Bund frischgeschnittener Federn allezeit zu dichterischer Arbeit angeregt zu sein, und Achilles ward durch ein Schwert zum Mann und Helden. So mochte es denn zunächst auch jener Stutzer sein, der es mich als meinen Beruf erkennen ließ, etwas Franzosenblut zu vergießen. Die brennendste Begier, den Feldzug mitzumachen, verzehrte mich, und nur ein einziges frommes Bedenken hielt mich noch zurück, der Blick auf meine Mutter. Zwar konnte sie nicht nein sagen, wenn sie gar nicht gefragt ward, und Louis wollte mich »unterderhand« mitnehmen; – aber wenn sie nun geweint hätte, wie Louis' Mutter weinte? Mit meiner Mutter hatte ich mich vor allen Dingen zu verständigen.

Ich erzählte ihr, der Louis würde nun bald abziehen, und fragte, ob sie auch recht traurig sein würde, wenn er ihr Sohn wäre. Sie sagte: freilich wohl; aber noch viel trauriger würde sie sein, wenn er zu Hause bleiben wollte, denn jetzt sei es die erste Pflicht eines jeden Deutschen, für sein Vaterland zu streiten.

Das klang nicht übel, ich faßte mir ein Herz, vertraute mich der edeln Mutter und bestürmte sie um ihre Einwilligung. Sie redete mancherlei dagegen, aber ich wußte alle ihre Einwürfe zu beseitigen. Endlich strich sie mir nach ihrer Weise die Haare aus der Stirn, legte mir den Hemdkragen zurecht und hieß mich mein Heil versuchen. Wenn der Hauptmann von Voß mich annehmen wolle, sagte sie, so habe sie nichts dawider, und dabei sah sie so heiter wie spartanische Mütter aus.

Herz und Füße hüpften mir vor Freude, und im Umsehen war ich auf der Kommandantur. Der Hauptmann hörte mich geduldig an, obgleich ich so weitläufig wie ein Leineweber war, denn ich hielt es für geraten, ihm alle seine etwaigen Einwürfe schon im voraus abzuschneiden. Ich sagte ihm von der Einwilligung meiner Mutter, und wie auch der Vater ja sagen würde, wenn ich nur erst Soldat wäre. Zwar wäre ich noch klein, aber stark und besäße auch einen Stutzen; mit diesem könnte ich bei der Bagage bleiben und hinter dem Packwagen vorfeuern.

Der Hauptmann führte mich unter das Militärmaß, das ich, mich streckend, auszufüllen strebte, und beide sahen wir uns prüfend in die Augen, so ernsthaft wie die Käuzchen. Endlich sagte er das große Wort: »Zum Train nicht untauglich.«

Zum Train! – Recht klar war mir die Sache nicht; doch dachte ich, der Hauptmann werde ohne Zweifel das Richtige getroffen haben. Zur Deckung der Bagage, so verstand ich's. Ich blieb dann bei den Wagen, konnte fahren, wenn ich müde war, und gewissermaßen hinter Schanzen fechten.

Freilich, bemerkte Herr von Voß, komme bei Soldaten auch etwas auf die Bewaffnung an, ich solle ihm daher vor allen Dingen meinen Stutzen holen. Der war geputzt und reichlich eingeölt; er konnte sich wohl sehen lassen und war schnell herbeigeschafft. In weniger als einer Viertelstunde war ich wieder da. Ich fand den Hauptmann schreibend und blieb respektvoll in der Türe stehen. Als das Schreiben kuvertiert und zugesiegelt war, winkte Herr von Voß mich heran, besah das Flintenwrack und schien zufrieden. Schloß und Lauf müßt' ich mir freilich noch dazu erobern, sagte er; ich sei übrigens angenommen, und hier sei das Patent; das möchte ich meinem Vater bringen.

Berauscht von meinen Erfolgen, schwebte ich nach Hause. Im Vorübergehen zeigte ich der Mutter das großgesiegelte Kuvert, das ich dem Vater überbrachte. Als dieser aber das Schreiben auseinanderfaltete, glaubte ich Verse zu bemerken. Der Hauptmann wird doch keinen Spaß mit mir getrieben haben? Ach ja freilich! Die Züge des lesenden Vaters erheiterten sich ja mehr und mehr; dann reichte er das Blatt der Mutter, die mir gefolgt war, und sagte lachend: »Wilhelm ist Trainknecht geworden!«

Bei diesem Titel und der Art, wie mein Vater ihn prononzierte, fielen mir die Schuppen von den Augen; aber anstatt Gott zu danken, wie Don Quichotte und andere Narren, wenn sie zur Vernunft erwachen, war ich vielmehr aufs äußerste verletzt. Ich entwich auf den Boden und erhing mich hier zwar nicht, warf aber meinen Verführer, den Quasistutzen, zurück in den Rummel, aus welchem ich ihn kürzlich erst erlöst hatte, um ihn niemals wieder anzusehen.


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