Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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3. Die Konfirmation.

Am Palmsonntag war ich früh aufgestanden und hatte die neuen Kleider angezogen, die meine Mutter tags zuvor geschickt. Des Fracks zwar schämte ich mich, weil ich bis dahin nur Jacken getragen hatte, aber weil die jungen Stolbergs in Eskarpins sein würden, sagte Roller, so sei der Frack das Geringste, was ich tun könne.

Mich an mich selbst zu gewöhnen, ging ich in den Garten. Es war ein herrlicher Morgen. Die Frühsonne strahlte festlich durch das knospende Gesträuch und funkelte in den geschwollenen Fruchtaugen der Obstbäume. Die Stachelbeeren hatten sich bereits in grüne Florschleierchen gehüllt, die Weiden trugen gelbe Kätzchen, Erlen und Nüsse ihre wunderlich geschwänzten Blüten, die Lerchen tremulierten in hoher Luft, und aus den Wipfeln der alten Linden pfiff die Drossel. Die Natur beging ganz augenscheinlich ihren Geburtstag.

Ich Ärmster aber war im Frack und sollte öffentlich vor der ganzen Gemeinde examiniert werden. Letzteres lag mir besonders schwer im Gemüte wegen des Katechismus, der, wo er nicht in früher Kindheit überwunden wird, schwer ins Gedächtnis eingeht. Ich hätte den Frack darangegeben, wenn ich das Examen losgewesen wäre.

In dieser Stimmung trafen mich Herr Mann und Benzig. Sie sahen in ihren Kniehosen und mageren Beinen auch nicht zum Verlieben aus, doch waren wir allesamt zu feierlich gestimmt, um uns mit Lächeln aufzuhalten. Etwas durchfröstelt von der kalten Morgenluft, überhörten wir uns den Katechismus unter reichlichem Schneuzen und versammelten uns dann mit allen Bauernkindern zum letzten Male in der stillen Stube. Hier trat Roller zu uns im vollen Ornat und führte uns unter dem Geläute der Glocken in feierlicher Prozession über den Kirchhof, zwischen Gräbern hindurch und hinein in die festlich bekränzte Kirche. Mein erster Blick fiel auf das andächtige Gesicht meiner Mutter. Sie war in aller Frühe mit meiner Schwester, Marien und Mariannen ausgefahren und in Hermsdorf abgestiegen, von wo sie mit Graf Dohnas zur Kirche kam. Die Orgel intonierte prächtig, und unter dem Begrüßungsgesange der Gemeinde scharten wir uns um den Altar, welcher mit ein paar hohen Palmenzweigen, einer Spende meiner Mutter, dekoriert war.

Vor uns stand Roller. Es war an diesem Menschen nichts Modernes, nichts Gesetztes und Gemachtes. Er sah wie ein Felsen aus vom ersten Schöpfungstage, wie ein Denkstein aus uralter Zeit. Die feste Gestalt, das unwandelbar edle Gesicht, die ruhige Haltung, die objektive Rede, aus der nicht die Zerrissenheit menschlicher Meinungen, Vermutungen und Gefühle, sondern die majestätische Gewißheit ewig unwandelbarer Wahrheit sprach: das alles hatte etwas Apostolisches. Sein dunkles Auge lag auf uns mit dem Ausdrucke – nicht des Stolzes, sondern der sorgenden Liebe, und als er nun aus der Tiefe seines Herzens zu uns sprach, stahl sich eine Träne nach der anderen über das steinerne Gesicht. Diese innere Bewegung eines Mannes, der seine Empfindung sonst unter Schloß und Riegel hielt, ergriff mich mehr noch als die Worte, die er sagte, und sehr bald fand ich mich so tief eingetaucht in die Feier jener heiligen Stunde, daß ich auf Worte kaum noch hörte.

Zu einigem Aufmerken kam's erst wieder, als ich, kniend auf den Stufen des Altars, meine Hand in Rollers rechter, seine linke auf meinem Haupte, den Segen der Kirche empfing.

»Gibst du dich dem Herrn Jesu mit Leib und Leben zum Eigentum hin?« So fragte mich Roller, und ich sagte: »Ja!« und meinte es aufrichtig und ehrlich.

Darauf sprach er weiter: »Selig sind, die reines Herzens sind! – Soll mir's hart ergehen – laß mich feste stehen – und selbst in den schwersten Tagen – niemals über Lasten klagen – denn durch Dornen hier – geht der Weg zu dir.«

Roller pflegte sich auf die Sprüche und Verse, die er seinen Konfirmanden bei der Einsegnung sagte, nicht vorzubereiten, sondern sich dabei ganz dem zu überlassen, was der Augenblick ihm zuführte. Er wußte daher nachträglich selbst nicht, was er gesprochen hatte, aber Angehörige und Freunde schrieben solche Worte, die wie Orakel angesehen wurden, nach, und so waren denn auch mir jene Sprüche erhalten worden, die mir durch mein langes Leben vielfach mahnend und stärkend zur Seite gestanden haben.

Ich war nun eingetreten in die Reichsritterschaft der Kirche und, ihrer Gnadengüter teilhaftig, hatte ich am Grünen Donnerstage mit der ganzen Gemeinde und unter Absingung des Liedes: »Schmücke dich, o liebe Seele« zum ersten Male das Sakrament des Altars empfangen. Auch hatte ich an Erkenntnis zugenommen, gelernt, was recht und falsch sei, gut und böse; im übrigen aber war ich unverändert geblieben, das heißt, ein lieber, guter Junge in meinen eigenen Augen, und wenn etwas von der Aussaat aufgegangen sein sollte, die ein treuer Lehrer damals in meine Seele legte, so würde dies doch erst einer viel späteren Periode meines Lebens angehören, da ich aus eigener Erfahrung mit dem heiligen Antonius bekennen lernte, daß der wesentlichste Fortschritt, dessen wir als Christen fähig sind, in der fortschreitenden Erkenntnis unseres eigenen inneren Verderbens liegt.

Die Nachlese.

Meine Mutter war mehrere Tage im gastfreien Hermsdorf verblieben, um an der Kommunion mit teilzunehmen. Danach war sie nach Dresden zurückgegangen; ich aber sollte noch in Lausa bleiben, bis im Mai der Vater von Berlin zurück sei und eine längst projektierte Familienreise zum Bruder Gerhard angetreten werden könne. In Ballenstedt sollte dann mit Beckedorff und Starke über meine nächste Zukunft beraten werden, namentlich über die Wahl eines Gymnasiums, das meine Eltern aus vielfachen Gründen in der Nähe des Bruders wünschten.

Ich war in Lausa völlig eingebürgert und erfreute mich überdem seit kurzem der Gesellschaft eines jugendlichen Genossen, daher ich desto lieber zurückblieb. Mein neuer Freund, nur wenig Jahre älter als ich, hieß Otto von Löben. Frühzeitig verwaist, war er Roller übergeben worden und in dessen Hause verblieben, bis er die St. Thomasschule in Leipzig beziehen konnte. Roller sah ihn daher wie einen Sohn an, und wie gewöhnlich verbrachte Otto auch diesmal seine Ferien bei dem Pflegevater.

Dieser Otto war ein frischer, bildschöner Bursche, der von nun an Freud' und Leid, Vergnügen und Arbeit mit mir teilte. Wissenschaftlich ward freilich damals nichts getan. Roller hatte seine Arbeit hinter sich, Otto verfeierte seine Ferien, und uns alle umgab das Jauchzen des anbrechenden Frühlings – wer konnte da studieren! Wir gruben, pflanzten, angelten und krebsten, schlämmten den Gartenteich mit weitaufgestreiften Hosen und fuhren mit dem alten Peter Holz aus dem Busche, das wir selbst geschlagen, und dampfenden Dünger aufs Feld. Es waren dies lauter Vergnügungen nach Rollers Ansicht, für uns mitunter böse Klippen, da leicht ein ungeschicktes Anfassen oder andere Versehen vorkommen konnten, die bei der aufbrausenden Gemütsart unseres Herrn und Meisters unangenehme Auftritte zur Folge hatten. Aber in Gemeinschaft trägt sich alles, und Otto verstand es so prächtig, Verdrießlichkeiten abzuschütteln und wegzulachen, daß ich die Meinung von ihm faßte, er sei durch gar nichts weder zu kränken noch zu betrüben.

Auf meinen Vorschlag sollte bisweilen auch spaziert werden, wovon ich mir mehr Vergnügen und bessere Unterhaltung versprach als vom bloßen Düngen oder Holzhacken; aber Roller hatte davon so wenig einen Begriff als seine Bauern, daher diese Art von Naturgenuß auch nie so recht gelingen wollte. Wohl machten wir uns öfter auf den Weg, kamen aber selten weiter als fünfzig Schritte über den Pfarrhof hinaus, weil es überall soviel zu sehen gab.

So wie mein lieber Pastor sich nämlich für Menschenwerke jeder Gattung interessierte, so daß der ebensowenig bei einem am Fenster ausgestellten Holzpantoffel als bei dem Belvederischen Apoll ohne die umständlichste Besichtigung vorbeigegangen wäre, so und noch viel lebhafter für alle Werke Gottes, und zwar – vielleicht weil er Myops war – zunächst für die kleinsten. Während ich, ins Weite schweifend, mich an Totaleindrücken ergötzte, übten auf jenen Sandkörnchen, Staub, Schimmelpflanzen, Blattläuse, Erdflöhe und dergleichen Kleinigkeiten die größte Anziehung. De minutis rebus – pflegte er zu sagen – denke mein Unverstand viel zu gering. Weil aber diese Scheidemünze der Natur überall so verschwenderisch verstreut ist und stets genauester Prüfung unterlag, so hemmte sie uns auf Schritt und Tritt, und was man einen Spaziergang nennt, der nichts zum Zwecke hat, als sich aus der Stelle zu bewegen und die Herrlichkeit der Schöpfung aufs Gemüt wirken zu lassen, kam nie zustande.

Mehr nach meinem Geschmacke waren gewisse Gänge, die bei Nacht unternommen werden mußten. Otto und ich pilgerten nämlich jeden Abend gegen zehn Uhr in Begleitung der beiden Hofhunde nach Hermsdorf, um unseren Pastor abzuholen, der, wie schon gesagt, dort allabendlich verkehrte. Wir gingen dann aber weder ins Schloß noch auch nur in den Hof hinein, sondern warteten bescheiden draußen, unter alten, unbelaubten Pappeln auf dem Erdboden liegend, der Kühlung wegen ein jeder mit einem Hunde zugedeckt, bis der schwere Schritt des Pastors und das Aufstampfen seines ungeheuren Knotenstockes vom Hofe her erschallte.

Roller hatte stets eine laute Freude, uns vorzufinden, nannte uns Fledermäuse, Finsterlinge, Nachtgespenster und trat den Rückweg in bester Laune an. Im Dunkeln war er am genießbarsten. Wenn ihm die Außenwelt entschwand mit ihren minutis rebus, die ihn zerstreuten, dann offenbarte sich erst der Reichtum seines inneren Lebens, und seine Rede wurde oft erbaulich. Zu sehen gab's zwar auch im Dunkeln; aber es ist doch nicht ganz gleich, was wir ins Auge fassen, den Orion oder eine Käsemilbe. Der Glanz des nächtlichen Himmels tat uns stets das Herz auf, und Roller wußte gut Bescheid dort oben, kannte die Sternbilder mit Namen, den Gang der Planeten und den höchst sonderbaren Lauf des Mondes. Das waren schöne Gänge, und wenn wir uns drauf niederlegten in Rollers dunkler Kammer und er den Abendsegen betete, da war mir's oft zumute, als sei die Seele durch ein frisches Bad gegangen. Die einfachen Worte des Gebetes hallten fort in meinem Herzen, bis ich einschlief.

Als meine Zeit in Lausa abgelaufen war und ich die Tauben noch einmal gefüttert, dem Bruder Jonathan, den Schwestern und allen Hausgenossen die Hand gereicht und den Hunden über die Schnauzen gestrichen hatte, fuhr mich Roller selbst in seinem Planwägelchen nach Dresden, indem er mich unterwegs vom Raupenfraß und den Mitteln dagegen unterhielt. Im »Gottessegen« angelangt, wollte er sich nicht aufhalten, verlangte aber von meiner Mutter ein Glas Bier; »denn,« sagte er, »wenn junge Leute voneinandergehen, so tun sie einen Trunk.« So schieden wir.

Mein lieber Pastor Roller glich einer Shakespeareschen Dichtung, aus derber Laune und schwerem Ernst gewoben, deren vielfache Ungehörigkeiten wir über dem unerschöpflichen Interesse vergessen, das uns das Ganze einflößt. Wenn mich die harten Kanten seiner primitiven Natur auch oft verletzten, so übte diese andererseits doch wieder den größten Reiz auf mich. Ich hatte mich daher schon während dieses unseres ersten Zusammenlebens dem seltsamen Manne recht eng angeschlossen. Ich hatte ein Verständnis für seine Besonderheit, er für die meinige, und trotz aller Verschiedenheit der Jahre umschlang uns bald ein Band gegenseitigen Wohlgefallens und Vertrauens, das nachmals zu fester, unwandelbarer Freundschaft wurde. Dreißig Jahre lang haben wir miteinander persönlich und brieflich im zutraulichsten Verkehr gestanden, dem erst der Tod des alten treuen Kirchenmanns ein Ende machte.

Zum Schlusse dieses Abschnittes mögen hier noch zwei Gedichte und ein Brief des seligen Roller stehen, in denen sich die ganze Eigentümlichkeit des Mannes nach allen Seiten ausprägt. Die ersten beiden Strophen in Knittelversen hat Roller noch als Kandidat gemacht, vielleicht um seinen Schülern den Nutzen der Gestalt unserer Erde klarzumachen. Es lautet:

»Die Welt ist rund,
Und das ist gesund.
Denn hätte sie Ecken und Spitzen,
Könnten wir nicht so bequem drauf sitzen.
So kann auch das Wasser herunterlaufen,
Sonst müßten wir alle darunter ersaufen.
Daß sie aber rund ist und wir länglich,
Darüber sei ja niemand bänglich.
Denn – wären wir nur einerlei Statur,
So kugelten wir durch die ganze Natur.
So aber trotzt man der ganzen Welt,
Wenn man die Beine der Quere stellt.«

Die nachfolgenden reizenden Verse schickte mir mein alter Freund mit einer kleinen Dedikation im Jahre 1823 zu meinem Geburtstage.

»Ich möchte dir zum Morgenliede singen
Mit tausend Stimmen meinen Dank!
Die Seele fliegt mit Adlerschwingen –
Und war' sie müde, matt und krank:
O Jesu! deine Siegeskraft
Mir Freude, Mut und Kräfte schafft.
Was füllt mir sonst mein Herz bis oben,
Daß es von Frieden überfließt
Und sich in Danken, Lieben, Loben
Als wie ein Tränenstrom ergießt?«

Der Brief endlich ist an mich und meinen Bruder gerichtet, da wir im Jahre 1843 auf einer gemeinschaftlichen Reise unsere Vaterstadt Dresden besuchten und von hier aus durch einen expressen Boten bei unserem alten Lehrer angefragt hatten, ob wir ihn anderen Tages besuchen dürften. Er lautet:

»Lausa bei Dresden, den 21. Martii 1843.

»Du Mann! Du Mann! Kinder Gottes!

Halt! werde ich Euch noch umfangen können in meiner natürlichen Dürftigkeit? Ihr seid über das Maß gewachsen, länder-, völker-, wälderkundige Leute! Da stehe ich noch an meiner Schwelle und wundere mich über die Fliege an der Wand, daß sie ruckweise geht und fein summet, und haben jede Gattung ander Geäder in den Flügeln, darüber sich ihr gläsernes Pergament spannt. – Holla! ihr Fliegen an der Wand, irret mich nicht!

Ihr seid morgen, Ihr Brüder, unaussprechliche Male willkommen, wöllkommen, wohlgekommen. Bis um zehn Uhr habe ich nur die Konfirmandenseelchen, doch wird wieder um zwölf Uhr ein entsetzlich kleines Kind unter die Erde gebracht, abgesungen mit drei Versen, hinausgewiegt bis auf den Gottesacker, dort nach dem Morgensegen mit Sand und Rasen und Heidekraut zugedeckt, bis es wieder warm wird.

Vier Arten Blumen blühen Euch in meinem Garten entgegen: Helleborus drei Arten, Galanthus eine, desgleichen meine Hauskinder in mühseligen Gewändern, aber ameisig. Meine Schwestern strecken Euch treue mütterliche Hände entgegen. Esset ihr Schinken?

Das Zeichen am Himmel, als ein Lichtstreifen unter dem Riegel des Orion vom Kopf des Hasen ausgehend, schräg ab nach dem Horizont, deutet mir. Forschet fleißig nach, wie es Verständige ansehen; es ist mir was Ungesehenes in meinem ganzen Leben auf diesem Rund. Drei Abende ließ es sich sehen, gestern nur schwächer und breiter.

Mehr nicht heute. Gott zum Gruß und Abschied. Schon höre ich das Rauschen Eurer Füße! Kommet und bleibet, sobald und lange als möglich.

S.D. Roller.«


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