Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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5. Die jugendlichen Verbrecher.

Unter dem buntesten Wechsel von Hof-, Schul- und Straßenleben war der Sommer vergangen; die Tage wurden frischer, das Laub färbte sich, und aus den Tälern stiegen herbstliche Nebel, die zuweilen die ganze Welt zu bedecken schienen.

In diese Nebelmeere auszulaufen, war unsere Lust. Dann war der Tiergarten ein neues, unbekanntes Land, in welchem man das Vergnügen, sich zu verirren, leichtlich genießen konnte, bis man etwa ans gegenseitige Wildgatter gelangte, an welchem man sich wieder orientieren konnte. Da staunten wir denn hindurch in den alten Hochwald, der sich von hier aus über alle Kämme des Gebirges bis zum Brocken hinzog.

Dieser majestätische Wald, mit uralten Eichen und Buchen bestanden, war für uns ein unbekanntes Thule und ein Paradies, aus dem wir ausgeschlossen waren, denn es war streng verboten, das Gatter zu übersteigen. Wir blickten aber hindurch in die kolossalen Säulengänge und Gewölbe der vom Nebel verschleierten Baumriesen und horchten in feierlicher Stille dem unsichtbaren Fallen der reifen Eicheln oder auch, wenn das Glück uns wohlwollte, dem Schreien der wilden Edelhirsche, deren es innerhalb des Tiergartens keine gab. Schluchzend hob es an und röchelnd, wie ein sterbender Leviathan, dann folgte ein langgezogener, in allen Dissonanzen der Baßskala tremulierender Schrei, haarsträubend und unvergleichlich. Kinder sind glückselige Poeten. Der frische Spiegel ihrer Seele reflektiert noch alle Wunder der Natur mit gleicher Schärfe und überall ist eine Fülle des Genusses.

Eines Sonntags morgens war ich mit meinem Bruder auf solcher Wanderung in einen Teil des Niederwaldes geraten, der die Loden genannt wurde. Ein Luftzug hatte sich erhoben, und die Nebel zogen hin und wieder ihn Schleier ab; einzelne Sonnenstrahlen spielten hindurch und warfen bleiche Lichter auf den grasigen, betauten Fußpfad. Im Vollgenusse sonntäglicher Freiheit durchschritten wir das zartbeleuchtete Gebüsch, nicht ahnend, daß wir wenige Minuten später reif zum Kerker sein würden. Aber man ist nie vergnügter als unmittelbar vor einer begangenen Dummheit.

Siehe! da zeigte sich, eingeklemmt zwischen Zweigen des Gebüsches, ein kleiner, glatter Sprenkel, in dessen Pferdehaarschlinge ein toter Vogel hing. Da er noch warm war, löste ich die Schlinge und versuchte, ihm Luft einzublasen, aber der arme Narr blieb tot. Wohl hatten wir gehört, daß es herzlose Buben gäbe, die Vögeln nachstellten, und hielten jetzt den Beweis in Händen; aber wenigstens sollten sie ihrer Schandtat nicht froh werden. Wir nahmen den Vogel mit, um ihn der Schwester mitzubringen, knickten den Sprenkel ein und ergingen uns in harten Reden über die Brutalität des Vogelstellens.

Wie aber beschreibe ich unsere Empörung, als wir nun weiterziehend einen Sprenkel nach dem anderen fanden und es damit kein Ende nehmen wollte. Alle waren sie mit der Lockspeise der roten Vogelbeeren wohl versehen, und in vielen hingen Vögel. Wir hätten die Kinder, die das getan, ohrfeigen können, bis ihnen die Backen abgeflogen wären.

Unser Spaziergang bekam nun einen praktischen Zweck. Die Nebelträume waren vergessen, und, ergrimmt über die Bosheit vogelstellerischer Mitkinder, beseitigten wir alle Sprenkel und Vögel, die wir fanden, um sie als Trophäen mit nach Hause zu bringen. Und kaum wußte ich, daß mir vor dem Richterstuhle meines Gewissens jemals eine Tat gerechtfertigter erschienen wäre als gerade diese. So auch sah mein kleiner Bruder, der mit Sprenkeln beladen, in seiner runden Jacke vor mir herschritt, wie die Ehrenhaftigkeit selbst aus. Selbst von hinten sah man ihm das gute Gewissen an, und er tat sehr respektable Äußerungen, daß wir's dem Prinzen sagen wollten, und der würde es seinem Vater sagen, und was dann weiter werden würde, sollte uns schon recht sein.

In dieser selbstzufriedenen Stimmung begegnete uns ganz wie gerufen ein Jägersmann, den wir sogleich zum Zeugen des entdeckten Frevels machen konnten. Kaum aber hatten wir den grünen Jüngling – er hieß Krummhaar – angelächelt, um ihn zu grüßen, als er uns auch schon beim Kragen hatte, uns verdammte kleine Strolche nannte und uns fragte, wie wir uns unterstehen dürften, herzogliche Dohnenstiege auszurauben.

Was Dohnenstiege waren, ahnten wir nicht. Wir wußten gar nicht, daß es eine landesherrliche Prärogative sei, zu dieser Jahreszeit Sprenkel oder Dohnen in den Forsten auszustellen, um die heimziehenden Drosseln zu berücken. Wir hatten es ja für bloße Büberei gehalten und sagten dies. Aber unsere Entschuldigungen machten keinen Eindruck, Dohnen und Vögel wurden uns abgenommen und wir mit der Verheißung entlassen, daß man uns schon zu finden wissen werde. Und in der Tat erhielt mein Vater schon am Nachmittage ein forstamtliches Schreiben des freundlichen Inhaltes, daß seine Söhne, weil bei Plünderung des Dohnenstieges Ihrer Durchlaucht der Herzogin betroffen, gesetzlich in Gefängnisstrafe verfallen seien. Auf höchsten Spezialbefehl jedoch solle in Berücksichtigung unserer Jugend und Unerfahrenheit für diesmal von allem weiteren Verfahren gegen uns Abstand genommen werden, was hierdurch ganz ergebenst zur Kenntnis des Herrn Professors gebracht sei.

Damit wären wir denn der väterlichen Rache überantwortet gewesen; doch aber hatte glücklicherweise für den gestrengen Vater sowohl die Natur der Missetat selbst als die Vorstellung von der Einkerkerung seiner kleinen Familie so viel Erheiterndes, daß wir wenig um seinen Zorn bekümmert waren. Sehr schwer jedoch fiel uns die Sache auf, als wir fast unmittelbar nach jener amtlichen Rüge für den Abend aufs Schloß befohlen wurden. Wie sollten wir's denn fertigbringen, gerade heute der von uns geplünderten Fürstin oder gar dem Herzoge in den Wurf zu kommen? Es lag ein Hohn in dieser Einladung, der uns nahezu empörte, und wir fühlten keine Neigung, mit denen zu Tische zu sitzen, in deren Belieben es stand, uns in den Turm zu werfen oder nicht. In ähnlicher Erregung singt Prometheus: »Erhebet ein Streit sich, so stürzen die Gäste geschmäht und geschändet in nächtliche Tiefen«, und solchen Ausgang zu vermeiden, hielten wir es fürs beste, unseren Schloßverkehr ganz abzubrechen. Hatten wir doch Kaskels und die ganze Ortsjugend! Was brauchten wir mit vogelstellerischen Fürsten umzugehen? Wir baten die Mutter, keine Einladung für uns mehr anzunehmen. Aber sie erwiderte, wenn wir Männer werden wollten, so dürften wir uns nicht schämen, die Folgen unserer Taten auf uns zu nehmen, und sagte für den Abend zu.

So blieb nichts anderes übrig, als sich stark zumachen. Ich spreizte meine Stacheln wie ein Igel und sagte meinem Bruder, die Herzogin sei eine Frau, und damit Holla! Was brauche sie auch den Vögeln nachzustellen, und mache sie uns Vorwürfe, so wollten wir die Wahrheit sagen. Mein Bruder war sehr einverstanden und sah fest und böse aus.

In trotziger Stimmung gingen wir aufs Schloß, wo wir inzwischen alles anders fanden, als wir erwartet hatten. Der Krammetsvögel ward gar nicht gedacht, und die unerwartete Huld und Freundlichkeit der Herzogin schmolz uns sehr schnell die Hornhaut von der Seele. Anstatt des gefürchteten Verdrusses fand ich die weichste Freude und wurde um so vergnügter, als sich heute auch die schöne Prinzessin zu unserem Spiel gesellte. Ich war um so mehr in meinem Elemente, als wir Komödie spielten. Wir führten nämlich Sprichwörter auf, welche die Herzogin mit wunderbarer Schnelligkeit erriet.

Da trat zu unserem Schrecken auch der Herzog ein. Aber auch er erwähnte nichts, weder von Dohnenstiegen noch von Ketten und Banden. Er war vielmehr in der allerhumansten Verfassung, und da er hörte, was wir machten, entschloß er sich sogar, auch mitzuspielen, und riß zu diesem Ende sogleich die Direktion an sich. Seine Idee war kurz und gut und fürstlich. Er ordnete uns in eine Reihe, die Kleinsten voran, dann die Prinzessin, er selbst mit seiner Krücke machte den bescheidenen Schluß. So zogen wir ins Teezimmer, einer hinter dem anderen, und defilierten im Gänsemarsche bei der Herzogin vorüber. Was das vorstellen sollte, dacht' ich; aber die Herzogin riet: »Das dicke Ende kommt nach!« und der Herzog lachte hart auf.

Diese liebenswürdige Teilnahme des hohen Herrn versöhnte mich einigermaßen mit seiner Macht, und als wir nach Hause kamen, war ich der Ansicht, daß uns das Forstamt falsch beschuldigt haben müsse, denn hätten wir wirklich am Eigentum der Herzogin gefrevelt, so wäre sie nicht so freundlich gewesen, auch hätte der Herzog nicht gerade heute mit uns gespielt, was er sonst nie tat. Meine Mutter aber sagte, es sei weiter nichts, als daß die Herrschaften zu viel Lebensart hätten, um ihren Verdruß zu äußern, was uns den höchsten Begriff von solcher Lebensart beibrachte.


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