Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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10. Rieseneck und Orlamünde.

Die Mutter war unter der Behandlung des seinerzeit berühmten Hofrats Stark in Jena so weit genesen, daß sie zu nachträglicher Stärkung eine Badereise antreten konnte. Sie wählte die ihr bekannte Radeberger Quelle, und der Vater mit dem Schwesterchen begleitete sie dahin. Warum mein Bruder und ich nicht auch von der Partie sein konnten, weiß ich nicht. Wir blieben in Hummelshain zurück, wo es nun recht einsam ward; denn da nun auch der Oheim sich nach Karlsbald, Herr Bäring aber auf eine Vergnügungsreise begab, so war die Hausgenossenschaft sehr eingeschmolzen. Die liebenswürdige Tante war alles in allem; sie war aber auch Ersatz für alles, sie gab sich uns jetzt gänzlich hin, wir arbeiteten und spielten meist unter ihren Augen und freuten uns den ganzen Tag auf die schönen Exkursionen, die sie des Abends mit uns machte.

Die Lage von Hummelshain begünstigte dergleichen. Ein prächtiger Hochwald, der die ganze Dorfflur einschloß, zog sich bis an den Hetzgarten heran. Dieser Wald war Anfang und Ende unserer Ausflüge. Wir pilgerten aufs Geratewohl durch dick und dünn, durch feuchte Gründe und über würzige Höhen, von denen sich mitunter die schönsten Fernsichten ergaben ins Saaltal hinein und auf die Leuchtenburg. An irgendeinem bequemen Platze ward gelagert. Aus Heidekraut und Moos bereiteten wir der Tante einen Sitz, schleppten Holz herbei, zündeten Feuer an, brieten mitgebrachte Kartoffeln in der Asche oder schmorten Steinpilze, die wir unterwegs gesammelt hatten. Durch Geplauder und Gesang ward das Mahl gewürzt, oder auch die Tante erzählte uns Geschichten aus alter Heldenzeit, die sie zum großen Teil selbst erfinden mochte, die uns aber immer für Vaterland, für Ehre und Manneswürde begeisterten.

Sehr liebten wir alle einen abgelegenen Ort im Walde, da vorzeiten ein im Dreißigjährigen Kriege zerstörtes Dorf gestanden hatte. Noch jetzt zirpten die Heimchen im Dickicht unter versunkenen Feuerstellen. Das Dorf hatte Rieseneck geheißen; jetzt trug diesen Namen eine von Tannen und Buchen umstandene Waldwiese, die mit Heuhaufen und Krippen zum Behuf der Hirschfütterung versehen war. Ein einsames Jagdhaus stand am Rande, aus dessen Fenstern man die Wiese übersah. Von hier liefen unterirdische Gänge aus, dicht vor jener Futterstelle in kleine, mit Schießfenstern versehene Rasenhügel aufsteigend. Diese Vorkehrung hatte den Zweck, das Wild aus nächster Nähe zu betrachten oder auch fürstlichen Personen einen sicheren und mühelosen Schuß zu gewähren. O, welche Lust! wenn nun das Waldhorn seine weichen, langgezogenen Töne in den Forst hinausrief und die Hirsche sich stolz und langsam, einzeln und in Rudeln, der Fütterung nahten, und wir staken mit verhaltenem Atem in den Löchern so nahe, daß wir den Spiegel im Auge der edeln Tiere sahen! Sperlinge, Krähen und Rebhühner habe ich später genugsam und ohne sonderliche Kommiseration erlegt; die Hasen, die ich geschossen, taten mir schon leid; aber auf einen Hirsch zu schießen, hätte ich mich ohne Hungersnot nicht wohl entschließen können, und zwar wegen der näheren Bekanntschaft, die ich damals auf dem Rieseneck mit diesen edeln Tieren gemacht hatte.

Über den Rieseneck hinaus lag eine Höhe, von wo man über Tannenwipfel das ferne Orlamünder Grafenschloß erblickte. Hier lagerten wir eines Abends im Heidekraut um das verglimmende Feuer. Die blasse Mondessichel hing am Himmel, und aus der Tiefe stiegen Dünste. Die Rede kam natürlich auf die weiße Frau von Orlamünde, wie sie im Berliner Königsschloß, zu Weimar und anderwärts bis in die neueste Zeit unzweifelhaft gesehen worden. Und hier im Angesicht der alten Mauern; die sie bewohnt hatte, erzählte uns die Tante etwa die folgende Legende.

Vor alten grauen Zeiten, als in deutschen Landen noch die Faust regierte, lebte in jenem Schlosse eine junge verwitwete Gräfin mit zwei kleinen Knaben, deren Vormund der junge ritterliche Burggraf Friedrich von Hohenzollern war. Der kam bisweilen angeritten, um nach seinen Mündeln zu sehen, und weil er ein gar stattlicher Herr war, von edler Sitte und voll Achtung für die Frauen, so geschah es, daß die Gräfin ihn sehr lieb gewann. Wenn er daher nach Orlamünde kam, bezeigte sie sich so freundlich und demütig gegen ihn, daß sie auch sein Herz gewann und er sie gar zu gern zur Frau genommen hätte. Er war aber ein guter und getreuer Sohn, und da er merkte, daß seine Eltern gegen die Verbindung waren, so schwieg er still und wollte warten, bis die verehrten Alten anderen Sinnes würden. So verlief ein Jahr nach dem anderen – der Graf blieb immer stumm und dem Anschein nach so kalt wie ein Marmorstein gegen die schöne Witwe, die er doch von Herzen liebte.

Da hörte die tiefbetrübte Frau von einem Mönch, der ihr Vertrauter und in ihren Geschäften auf dem Hohenzollern gewesen war, daß der junge Graf geäußert habe, die Gräfin Orlamünde sei die schönste Blume in deutschen Auen; solange sich aber nicht vier Augen schlössen, könne er sie nicht in seine Krone flechten. Damit mochte er seine Eltern gemeint haben, die Gräfin aber deutete die Rede auf ihre Kinder. Da fuhr der Satan ihr ins Herz, daß sie dieselben heimlich erwürgte. Sie beweinte sie aber öffentlich und begrub sie mit Gepränge.

Inzwischen war die Sache ruchbar geworden und vor ein heimliches Gericht gebracht, das bei nächtlicher Weile einen Span aus dem Orlamünder Schloßtor hieb und die Gräfin verfemte. Graf Friedrich aber war Schöffe des Gerichtes und wurde mit der Ausführung des Spruches beauftragt, der auf Tod lautete. Er allein unter allen Richtern mochte den Grund des Verbrechens erraten und sollte nun diejenige opfern, die ihn mehr geliebt hatte als ihre eigenen Kinder. Aber er war ein Mann und pflichtgetreuer Richter. Die Gräfin fiel von seiner Hand. Als ruheloser Schatten durchwandert sie nun, Unheil verkündend, die Häuser derer, die von dem geliebten Mörder stammen.

Die Tante hatte uns diese tragische Geschichte so vorgetragen, daß wir entzückt waren von der Tat des Grafen. Wir sprachen davon noch lange auf dem Rückwege und zweifelten nicht, daß wir uns bei ähnlicher Gelegenheit nicht weniger mannhaft zeigen würden.

Drakendorf.

Jenes trauliche Waldleben wurde durch eine Ortsveränderung unterbrochen, die schon den ganzen Sommer über in Aussicht gestanden und keine geringen Erwartungen angeregt hatte. In der Gegend von Jena nämlich liegt am Fuß der alten Lobdaburg das schöne Drakendorf, damals ein gemeinschaftliches Ziegesarsches Gut, welches alljährlich die verschiedenen Glieder der Familie für einige Sommerwochen zu vereinigen pflegte. Nach Bärings Rückkehr siedelten wir dahin über.

So schön es in Hummelshain gewesen war, so war doch Drakendorf noch schöner, nicht nur wegen der größeren Heiterkeit seiner Umgebungen, sondern besonders, weil es neu und anders war. Ein freundliches, modernes Wohnhaus, ein sonniger, weit ausgedehnter Park, lachende Fluren, von fließendem Wasser durchzogen und umkränzt von Laubholz, endlich die malerischen Räume des alten Bergschlosses mit weiter, entzückender Aussicht, das alles war einladend und schön. Nicht minder erfreute uns hier die größere Geselligkeit. Es fanden sich nämlich mit den Hummelshainschen in Drakendorf auch noch andere Glieder der Ziegesarschen Familie zusammen, nämlich der Bruder des Oheims mit Frau und Kindern und eine jüngere, noch unverheiratete Schwester, namens Silvia. Dazu kamen täglich Gäste aus dem nahegelegenen Jena, Leute guter Art und jeden Standes, deren Namen und Bilder meinem Gedächtnisse leider meist wieder entschwunden sind.

Ich entsinne mich indessen, daß die Frau Erbgroßherzogin eines Tages mit sechs wunderschönen Isabellen vor das Schloßtor sauste. Die hohe Dame verschwand am Arm der Tante im Inneren des Hauses. Mich Draußenstehenden aber nahm die begleitende Hofdame bei der Hand und trug mir Grüße an meinen Vater auf, den sie von Weimar her gut kennen wollte. Weil ich jedoch während dieser mir sehr gleichgültigen Sache weniger die Dame ansehen mochte, als vielmehr die herrlichen Pferde, die mit der leichten Equipage langsam im Hofe kreisten, schärfte jene mir ihren Auftrag wohl zehnmal ein, damit ich's ordentlich begreifen und bestellen sollte. Sie heiße Baumbach, sagte sie, und ganz unmöglich würde ich dies vergessen können, wenn ich an einen Baum denken wollte, der am Wasser sei. Ich bestellte meinem Vater später viele Grüße von Fräulein Weidewasser.

Lebhafter interessierte ich mich für drei russische Kavallerieoffiziere, die zufällig in Drakendorf zusammentrafen und dort längere Zeit verweilten, bildschöne junge Leute, und alle drei untereinander vervettert, wie auch der Tante nahe verwandt. Sie hießen Ferdinand, Frommhold und Fritz von Sivers und schnitten mit einem dreimaligen »F. S.« ihre Namen, einer unter dem anderen, in den weißen Stamm einer Buche im Park. Vierzig Jahre später, während des westmächtlich-russischen Krieges, nannten die Zeitungen den einen von ihnen als Kommandeur des finnischen Armeekorps.

Nicht weniger anziehend erschien mir ein anderer junger Estländer, namens Walther. Er studierte in Jena, kam öfter von dort nach Drakendorf herüber und ist nachmals in seinem Vaterlande zu den höchsten kirchlichen Würden gelangt. Damals hatte er eine tolle Studentengeschichte, welche die Neuigkeit des Tages war, in die pathetische Form eines Epos gebracht, und gern erinnere ich mich des Entzückens, mit welchem ich der Deklamation des jungen Dichters lauschte, wenn er dies Heldengedicht, je nachdem es vorrückte, im Drakendorfer Freundeskreise vortrug.

Der tägliche und gefeiertste der Gäste, die von Jena kamen, war indes der Professor Köthe, nachmaliger Superintendent zu Allstedt, der Jugendfreund unseres geliebten Schubert, und auch unserem Hause aus früherer Zeit von Dresden her befreundet. Er war ein liebenswürdiger Gelehrter, bescheiden, sanft und klug, und gehörte zu den rüstigsten Vorkämpfern des wiedererwachenden Glaubens in der Theologie. Als Gottesgelehrter war Köthe von Gott gelehrt, als natürlich edler Charakter von Gott geadelt, und diesen Adel hatte vor allem Fräulein Silvia anerkannt. Sie hatte sich ihm verlobt, und beide waren entschlossen, ihre Pilgerreise fortan selbander fortzusetzen.

Nach der Rückkehr des Oheims von Karlsbad wurde eine glänzende Hochzeit ausgerichtet. Drakendorf füllte sich mit Freunden und Verwandten. Die reichbekränzte Kirche prangte und duftete vom Schmuck der Blumen. Dahin ging der Brautzug über die breiten, mit Laub und bunten Blüten bestreuten Kieswege des Gartens. Hermann und ich waren Brautmarschälle. Mit unseren weißen Stäben schritten wir feierlich und ernst vor der edeln, weiß verschleierten Gestalt der Braut einher; wir blieben auch am Altar zu ihrem Trost an ihrer Seite und hatten uns vorgenommen, jeden über den Kopf zu hauen, der sich unterstehen würde, ihr auch nur ein Haar zu krümmen. Nichtsdestoweniger aber war sie doch sehr bewegt; sie weinte und, wie mir's schien, recht schmerzlich, was ich mir nicht anders erklären konnte, als weil sie von dem dicht vor ihr stehenden Pastor so angeschrien wurde. Auch würde ich es heute noch für eine Wohltat halten, wenn die Herren Pastoren bedeutet würden, ihre Stimme in nächster Nähe nicht mehr zu erheben, als nötig ist.

Nach beendigtem Gottesdienste war solenne Kirchenparade. Hermann hatte die sämtlichen Bauernjungens des Dorfes zu einer auf Stöcken reitenden Schwadron vereinigt. Er selbst war Rittmeister und zeichnete sich durch eine beneidenswerte Ulanenmütze von rotem Samt wie auch durch einen veritabeln kleinen Säbel vor uns anderen aus, die wir nur mit selbstgemachten Papierhüten und Stöcken armiert waren. Der Sohn des Gerichtshalters, ein ernster Knabe, war freilich noch durch Achselschnüre von gelbem Federbindfaden als Adjutant beglaubigt. Ich war Quartiermeister, als welcher ich, da wir ewig auf dem Marsche waren, mit vielem Hin- und Herjagen von allen die reichlichste Motion hatte.

Als wir aus der Kirche kamen, fanden wir die Schwadron unter dem Kommando des Adjutanten bereits vor dem Schlosse aufmarschiert. Hermann setzte sich an die Spitze, und nun durchrasten wir den Garten wie verrückt, ohne daß das Brautpaar oder sonst jemand weiter auf uns geachtet hätte.

Bei Tafel imponierte mir die Zahl der Gäste, der Kuchen und der große kreisende Familienpokal mit seinen Toasten. Ich gewann von der Würde des jungen Paares eine noch höhere Vorstellung, als ich vordem schon hatte, und fühlte mich nicht wenig geschmeichelt, als der Bräutigam, dem ich gegenübersaß, das Wort auch an mich zu richten geruhte. Er sagte aber nichts Geringeres, als daß er bei Gelegenheit der Kirchenparade bemerkt habe, wie ich ohne eigentlichen Säbel sei, und er wolle mir einen Kosakensäbel schenken, den er von ungefähr besäße.

Vor Freude konnte ich's kaum aushalten bei Tisch und sehnte mich nach Einsamkeit, um ohne zerstreuende Eindrücke der Außenwelt meines zukünftigen Säbels zu gedenken. Ich träumte mich in alle erdenklichen Situationen mit jenem Säbel und dachte, wie er mir als Quartiermeister ziemen würde, und wie sehr als Rückreisendem nach Dresden. Ich dachte an den Kosakensäbel, wachend, schlafend, tagelang, wochenlang, ja monatelang erwartete ich ihn noch in Dresden mit der Post, bis ich mich endlich überzeugte, daß er vergessen war.

Nicht lange nach jenen hochzeitlichen Tagen zogen wir nach Hummelshain zurück und lebten dort in hergebrachter Ordnung, bis etwa um die Zeit der Pflaumenreife die Eltern wiederkehrten, uns abzuholen. Vom Abschiede, von der Reise und der Ankunft in Dresden weiß ich nicht das geringste mehr. Das Ende jener ganzen Lebensperiode wie der Anfang einer neuen ist mir mit Nacht umflossen; immer aber werde ich mit wärmstem Herzen meines geliebten Hummelshains gedenken, seiner dunklen Wälder, seines alten Schlosses und der trefflichen, mir ewig teuren Menschen, die dort hausten. Bis auf einen einzigen, den ehrenfesten Hermann, sind sie nach manchen bitteren Kämpfen und Verlusten, die ihrer harrten, bereits alle in eine bessere Welt gegangen, dahin ihre Hoffnung, ihre Liebe und ihr Glaube schon hier auf Erden stand.


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