Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Erster Teil.

1. Der Anfang.

Die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren für das Rheinland verhängnisvoll geworden. Unter den Hammerschlägen der französischen Revolution begannen die Stützen des alten Staatenbaues zu sinken. Unordnung und wüster Streit erfüllten das schöne Land, und mancher Mann, der dort zu Hause war, entfremdete seiner Heimat.

So auch mein Vater. Von Rom, wo er als Maler seine Studien beendet hatte, zog es ihn nicht zurück nach seinem Vaterlande, vielmehr wandte er sich infolge der Einladung eines Freundes dem Norden zu. Da lernte er in Reval meine Mutter kennen, gewann ihre Hand und zog mit ihr nach Petersburg, wo er viel Arbeit fand. Aus dieser Ehe bin ich das zweite Kind, da meine Eltern kurz vor meiner Geburt ein älteres Töchterchen verloren hatten. Nach den Erzählungen der Mutter und noch vorhandenen Bildern glich die verstorbene Schwester einem überirdischen kleinen Wesen, wie man das wohl bei Kindern findet, denen ein kurzes Lebensziel gesteckt ist. Sie ist auf dem ländlichen Gottesacker bei Pawlosky begraben, und auf den kleinen Hügel setzten die Eltern ein Kreuz mit dem Namen »Maria«.

Doch war ihr Gedächtnis nicht mitbegraben und lebte namentlich in der Erinnerung der Mutter so lebhaft fort, als sei sie nie gestorben. Ja, mehr als ihr Gedächtnis: die selige Schwester selbst soll ab und zu noch segnend in den Kreis der Familie eingetreten sein. Wenigstens erzählte meine Mutter des öftern, wie bald nach der Geburt ihrer jüngeren Kinder eine Lichtgestalt erschienen sei und die neuen Ankömmlinge umleuchtet und begrüßt habe. Diese Erscheinung hatte in der sichtbaren Welt nichts Analoges; dennoch erkannte die Mutter ihr heimgegangenes Kind. Sie hatte sich ja die Selige als Schutzengel erbeten für die Kinder, die durch Gottes Gnade etwa folgen sollten, und zweifelte an der Erhörung ihrer Bitte nicht.

Dem sei nun wie ihm wolle, die Mutter hatte nach der Geburt meiner jüngeren Schwester sogar noch eine Zeugin für dieses liebliche Erlebnis, indem die Wärterin, die allein mit ihr im Zimmer war, dasselbe sah. So war denn oft die Rede von der Dahingeschiedenen, und wohl erinnere ich mich, daß ich als kleiner Junge manche Übertretungen mied, um den Engel nicht zu betrüben, der mir beigegeben war.

Als ein sehr unzulänglicher Ersatz für dieses Himmelskind ward ich am 20. November des Jahres 1802 in Petersburg geboren, und zwar zur Unzeit, indem ich dem Programme meiner Mutter um zwei Monate zuvorkam: ein Umstand, der auf meine spätere Entwicklung nur nachteilig influieren konnte.

Getauft ward ich am 9. Dezember desselben Jahres durch den Dr. Hammelmann, Pastor an der lutherischen St. Petrigemeinde. Zwar war mein Vater Katholik; aber vollständig gleichgültig gegen alle Unterscheidungen in Gebrauch und Lehre der christlichen Welt, hatte er bei seiner Verheiratung keinen Anstand gefunden, zu versprechen, sämtliche Kinder dem Bekenntnisse der Mutter folgen zu lassen. Als nun das geweihte Wasser meinen kleinen Kahlkopf überströmte, faltete ich die Hände wie ein alter Christ, zur Erbauung meiner guten Mutter, die hierin ein Amen für die Bitten sah, welche sie für mich zum Himmel sandte. Ich empfing die Namen Wilhelm Georg Alexander, letzteren zum Gedächtnis jenes jugendlich liebenswürdigen Kaisers, welcher kaum ein Jahr vor meiner Geburt den russischen Thron bestiegen und die Hoffnung aller dortigen Menschenfreunde belebt hatte.

Mein Vater hatte unterdessen, den Aufenthalt in der reichen Stadt sowie die Gunst damaliger Verhältnisse gewissenhaft benutzend, in wenig Jahren ein Vermögen erworben, das ihn zum selbständigen Manne machte. Nun aber auch des Treibens müde und der lästigsten Art künstlerischer Tätigkeit, des Porträtierens, herzlich satt, gedachte er der Früchte seines Fleißes froh zu werden und fürs erste mit den Seinigen an den Rhein zu gehen, um seine Mutter zu besuchen, die dort noch lebte. Wo man sich endlich bleibend niederlassen würde, stand in den Sternen: die Umstände sollten es entscheiden.

Das war ein guter Plan, nicht zu weit und nicht zu enge; doch hatte die Trennung von Petersburg auch ihren Stachel. Mein Vater lebte dort in einem Kreise der vorzüglichsten Menschen, unter denen er nicht wenig wahre Freunde zählte; vor allem aber lag sein Zwillingsbruder ihm am Herzen, der ihm aus brüderlicher Liebe nachgezogen war und jetzt allein zurückbleiben mußte, weil er mittlerweile als Kaiserlicher Kabinettsmaler angestellt und für den Hof beschäftigt war. Man hoffte indessen, wenn erst jener gute Plan zur Reife gekommen, sich auf eine oder die andere Weise wieder zu vereinen, und meine Eltern traten ihre Reise an.

So kam es, daß ich meinen Geburtsort schon nach einigen Monaten wieder verlassen mußte und in einem Alter auf Reisen ging, da andere Kinder etwa erst geboren werden.

Das Harmsche Haus.

Zu Schlitten kamen wir nach Estland und langten wohlbehalten in Alt-Harm, einem väterlichen Gute meiner Mutter, an. Hier sollte gerastet werden, um bessere Jahreszeit abzuwarten und meiner angegriffenen Mutter, wie auch mir, der ich ein schwächliches Kind war, Zeit zu geben, für die weitere Reise zu erstarken. Dazu war Harm der Ort. Meine Eltern verweilten hier im Kreise zahlreicher und liebenswürdiger Verwandten weit länger, als sie anfangs wollten; ja, mein Vater fühlte sich durch die Eigentümlichkeit des dortigen Landlebens so mächtig angezogen, daß er zur großen Freude meiner Mutter und ihrer ganzen Familie den Entschluß faßte, sich nach seiner Rückkehr von Deutschland in Estland anzukaufen, um hier zu leben und zu sterben.

So schien der Lebensplan nun fertig, und da noch obendrein der Zwillingsbruder meldete, er werde auch bald bei Vermögen sein und sich am Gutskaufe beteiligen, blickte man befriedigt in die Zukunft, den Segen dessen erwartend, der aller Menschen Schicksal leitet.

Im Harmschen Hause sah es übrigens recht einfach aus. Man hatte weiße Kalkwände, grüne Türen, Strohstühle, und von Gardinen wußte man im ganzen Lande nichts. Dafür aber war das Haus geräumig und bot der zahlreichen Familie und Hausgenossenschaft nicht nur jede erwünschte Bequemlichkeit, sondern in seinen Sammlungen und Werkstätten auch die mannigfaltigste Gelegenheit für Beschäftigung und Unterhaltung.

Mein Großvater hatte nämlich, behufs der Ausbildung seiner Kinder, Lehrer der verschiedensten Art an sich gezogen, Handwerker, Künstler und Gelehrte, die alle unter seinem Dache wohnten und dem Hause das Ansehen einer kleinen Akademie gaben. Neben wissenschaftlichen Disziplinen wurden neuere Sprachen getrieben, man malte, modellierte, kupferstecherte, drechselte, tischlerte, klempnerte und machte ganz vortreffliche Musik. Die schönen Quartette, an Winterabenden von der Familie ausgeführt, haben im Andenken der Nachbarschaft noch lange fortgelebt.

Um endlich der kümmerlichen Natur, wenigstens in nächster Nähe, mehr Reize abzunötigen, hatte der Hausherr sein einsames Gehöft mit einem weiten Park umschlossen, in dem man Gärtnerei trieb oder sich mit Wasserfahrten und auf alle Weise zu belustigen pflegte.

Dort hatte er – meine Mutter zu überraschen – auf künstlichem Hügel eine steinerne Urne errichtet, mit der Inschrift »Maria«. Junge Tannen standen darum herum. Da saß die Mutter oft mit mir in schöner Jahreszeit, sich der Aussicht auf weite Wiesen und fernen Wald erfreuend. Von diesen Stunden hat sie mir oft erzählt, wie sie sich nach langem Aufenthalte in der Stadt der wiederkehrenden Sonne, der erwachenden Natur und meiner Entwicklung gefreut habe, während ich zu ihren Füßen im trockenen Sande wühlte. Vielleicht daß diese ersten unbewußten Eindrücke Grund zu einer fast idiosynkratischen Vorliebe geworden sind, die mir für Tannen, für Sand und für die einfachste Natur geblieben sind.

Ich war indessen in der besten Pflege, obschon sehr langsam, zu einem leidlich gesunden Jungen erstarkt, als meine Eltern sich nach fünfvierteljährigem Aufenthalte endlich zur Weiterreise anschickten. Man schied mit dem Versprechen baldiger Wiederkehr; zwei Jahre längstens, so war's beschlossen, und ich saß bereits im Reisewagen auf dem Schoße der weinenden Mutter, als mein Großvater noch einmal an den Schlag trat und mir eine kleine Tabakspfeife von Bernstein, die er selbst für mich gearbeitet, in die Hand steckte. »Faß zu, Junge!« – sagte er – »und daß du mir brav rauchen lernst!«

Ich faßte damals krampfhaft zu und hielt die Pfeife fest auf der ganzen weiten Reise; ich biß mir die Zähne daran durch, und habe sie auch festgehalten mein lebelang.

Meine Mutter behauptete später, der Großvater habe es mir angetan mit Rauchen; und in der Tat war er ein Mann, der einem wohl was hätte antun können. Nicht daß er das gewesen wäre, was man gewöhnlich liebenswürdig nennt; vielmehr war er schroff und kantig, aber desto siegreicher und bezaubernder, wenn sein gutes Herz einmal hindurchbrach. Gewissermaßen glich er einem Schaltier, das die Knochen auswendig hat, und man mußte ihn genauer kennen, um durch die Herbigkeit und Kälte, womit er sich umgab, nicht verletzt zu werden. Selbst die Liebe zu seinen Kindern war die letzte Eigenschaft, die diese an ihrem Vater zu entdecken pflegten.

Dennoch schien ihm alles zu fehlen, wenn jemand von den Seinigen abwesend war, bis er ihn wieder zurückerwarten konnte. Dann trieb die freudigste Erwartung ihn im Hause um, und er konnte, wenn er nicht bemerkt zu sein glaubte, stundenlang mit dem Fernrohre dem Kommenden entgegensehen; hatte er diesen aber glücklich erspäht, so legte sich die Spannung, die harte Schale klappte wieder zu, und man sah ihn irgend etwas beginnen, das keine Unterbrechung litt. Er goß dann etwa Bleikugeln, nahm irgendeine Kleberei vor oder dergleichen und hatte keine Hand frei, sie dem Eintretenden zu reichen, ja kaum einen Blick für ihn.

Ihn selbst dagegen nach längerer Abwesenheit zurückzuerwarten, hatte die Familie selten das Glück, weil er fast nie verreiste. Er ließ die Leute lieber zu sich kommen und verkehrte im allgemeinen so einsiedlerisch nur mit nächsten Nachbarn und Verwandten, daß, als es ihm einmal einfiel, seinen Sitz im Ritterhause zu Reval einzunehmen, niemand ihn kannte und man sich fragte, wer dieser Italiener sei; denn wider die Art seiner hochblonden Landsleute war er kohlschwarz von Aug' und Haaren mit gelblicher Gesichtsfarbe, und zwar klein von Person, aber doch ein »Teufelskerl«, wie er selbst von sich bekannte.

Schon in der Wiege hatte er eine Weihe eigener Art empfangen. Die Kaiserin Elisabeth bereiste nämlich damals ihre Ostseeländer und übernachtete unter anderem auch in Waiküll, dem Gute, da seine Eltern lebten. Da fand die hohe Frau denn solches Wohlgefallen an dem kleinen runden Teufelskerl, daß sie ihn hoch in die Luft hob und ihm einen herzhaften Kuß auf sein derbes Hinterteil versetzte, eine Auszeichnung, auf die er stolz war, und deren sich sonst wahrscheinlich niemand im ganzen russischen Reiche rühmen durfte.

Damit ließ es die Kaiserin übrigens nicht bewenden, sondern steckte dem beneidenswerten Säugling außerdem noch ein Patent als Gardefähnrich in die Windeln, so daß er mit achtzehn Jahren gleich als Kapitän bei seinem Regimente eintreten konnte. Er verließ indes den Dienst bald wieder, um die Familiengüter anzutreten, die ihm durch den Tod seines Vaters zugefallen waren. Nun heiratete er meine Großmutter, eine schöne, weiche, kindlich fromme Frau, wirtschaftete mit Einsicht und nahm sich besonders tätig seiner Bauern an. Er besuchte sie fleißig, übersah ihre Wirtschaft und griff ihnen mit Rat und Tat, ja, wo es dienlich schien, nach Peter des Großen glorreichem Vorgang, sogar mit höchsteigenhändiger Handhabung des Stockes unter die Arme, und die Erfolge waren glänzend. Das Harmsche Gebiet zeichnete sich bald vor anderen durch Zucht und Wohlstand aus, und der Gutsherr erfreute sich nicht nur des unbedingten Zutrauens seiner eigenen Leute, sondern stand auch weit und breit bei Edelleuten und Bauern in hoher Achtung. Davon gab der folgende Vorfall Zeugnis:

Zu Anfang der neunziger Jahre waren, aus mir unbekannter Veranlassung, die Bauern in mehreren Kirchspielen aufgestanden, hatten sich zusammengerottet und bereits einige Edelhöfe in Asche gelegt. Da füllte sich das Harmsche Haus mit flüchtigen Nachbarn, die bei dem Ansehen des Gutsherrn Schutz zu finden hofften. Als aber die mordbrennerischen Haufen nun dennoch auch gegen Harm heranzogen, die Auslieferung der Flüchtlinge fordernd, und guter Rat teuer war, warf sich mein Großvater aufs Pferd, ritt allein und unbewaffnet der aufständischen Rotte entgegen, und auf sein Wort – er mußte es ihnen angetan haben – zerstreuten sich die Bauern nach ihren heimischen Dörfern. Das Kosakenregiment, welches nächster Tage eintraf, fand nichts zu tun, als ein paar Rädelsführer einzufangen und auszuklopfen.

Der Schreihals.

Die große deutsche Reise ging denn also vor sich, und zwar in einem zweisitzigen, strohgelben Scheibenwagen, den mein Vater aus den Effekten eines abgehenden englischen Gesandten in Petersburg erstanden hatte. Das Reisepersonal bestand aus meinen Eltern, aus mir und meiner Wärterin, einem Harmschen Mädchen, das Leno hieß und auf dem Bock placiert war. Von dieser Reise habe ich natürlich keine Erinnerung mehr, doch mochte sie, wenigstens bis Berlin hin, nicht sehr angenehm gewesen sein, da Gasthäuser und Wege schlecht waren und die Gegend so reizlos, daß meine Mutter nicht begreifen konnte, warum die russischen Verbrecher nach Sibirien geschickt würden und nicht lieber hierher, da Preußen doch so nahe sei. Endlich mochte auch meine jugendliche Wenigkeit nicht allzuviel zu den Agrements der Reise beitragen, da ich viel schrie und weinte und die stete Aufmerksamkeit, die man mir schenken mußte, aller Unbequemlichkeit die Krone aufsetzte.

Wenn ich nicht irre, war's in Landsberg an der Warthe, wo wir eines Abends in ziemlich desolater Verfassung anlangten. Ein böses Wetter tobte auf den öden Fluren, mein Vater war des Fahrens satt, die zarte Mutter sehr erschöpft, Leno in Gefahr, vor Schläfrigkeit vom Bock zu fallen, und ich mußte, trotz meiner Bernsteinpfeife, wohl Zahnweh haben, denn ich heulte wie ein Schakal und wollte mich nicht trösten lassen.

Es schien daher sehr wünschenswert, die Nacht über hier zu rasten, und der Postmeister ward um ein ruhiges Zimmer angegangen. Der aber erklärte bedauernd, daß die einzigen disponiblen Piecen soeben von einem fremden Herrn bezogen seien, sich auch im Orte kein Gasthaus fände, was den bescheidensten Wünschen Genüge leisten könne.

Darüber ward nun hin und her geredet, und meine Mutter war schon halb entschlossen, sich notdürftig im Passagierzimmer einzurichten, als jener Reisende, zufällig unterrichtet, sich persönlich einfand, um auf die zuvorkommendste Weise seine Zimmer anzubieten. Er habe durchaus keine Bedürfnisse, versicherte er, und sei mit jedem Stuhl zufrieden.

Während solcher Rede war meine Mutter aufmerksam geworden, und noch hatte der Fremde nicht geendet, als sie ihm, zum Schrecken meines Vaters, mit dem Ausruf: »Heinrich!« um den Hals flog. Hatte sie doch plötzlich ihren zärtlich geliebten jüngeren Bruder erkannt, der im Auslande seine Studien absolviert hatte, dann längere Zeit gereist war und nun nach langjähriger Abwesenheit ins Vaterland zurückging.

An Schlaf und Ruhe war nun nicht zu denken; aber man bedurfte ihrer auch nicht mehr, da die Freude des Wiedersehens ausreichende Erquickung gab. Man blieb die ganze Nacht im lebhaften Gespräch beisammen, währenddessen mein Vater ein ähnliches, noch in meinem Besitz befindliches Porträt von jenem liebenswürdigen Schwager zustande brachte, den er hier zum ersten und zum letzten Male in seinem Leben sah.

»Wäre Heinrich weniger ritterlich gewesen,« schrieb meine Mutter nach Hause, »so wären wir uns vorbeigereist, obgleich wir unter einem und demselben Dache waren.«

Mir freilich wäre das damals gleich gewesen und Leno vielleicht auch, denn wir beide hatten nichts von dieser Begegnung. Ich war unter dem Gesange des treuen Mädchens bald entschlummert, und da die sehr Ermüdete der Natur nun gleichfalls ihren Zoll entrichtete, konnte es geschehen, daß ich gegen Morgen mit schrecklichem Gepolter aus dem Bette fiel. Da war der Teufel wieder los. Ich schrie wie am Spieße, ward auch schreiend in den Wagen getragen und schrie den ganzen folgenden Tag bis nach Berlin, wo uns der später als politischer Schriftsteller so bekannt gewordene und meinem Vater sehr befreundete Friedrich Gentz in seinem Hause gastlich aufnahm. Daß ich ihm ein sehr erwünschter Zuwachs seiner häuslichen Freuden gewesen, muß ich bezweifeln, denn trotz der Ruhe und sorgsamsten Pflege, die man mir angedeihen ließ, schrie ich doch ohne Unterbrechung, daß die Fenster klirrten. Die sehr besorgten Eltern konnten kaum anders denken, als daß ich mir ein Glied zerbrochen hätte, aber der herbeigerufene Hufeland erklärte tröstend, daß dies Schreien nicht vom Fall herrühre, sondern nur vom Zahnen: ein Ausspruch, der sich bald bewahrheitete, da schon andern Tags drei Zähne dicht hintereinander hervorbrachen. Damit hatte denn der Greuel ein Ende, und die Reise konnte fortgesetzt werden.

Die Königspfalz

Wir langten endlich alle wohlbehalten zu Rhense am Rhein bei der Mutter meines Vaters, in der alten Wackelburg an. So nannte man im Volke mein großelterliches Haus, in dessen Mauern vorzeiten deutsche Könige residiert haben sollen, und auf dessen Territorium auch noch heute der bekannte Königsstuhl steht. Als ich den Rhein sah, entzückte mich der große Strom dermaßen, daß ich, während die andern sich umarmten, mit ausgebreiteten Armen geradeswegs hineinlief. Die gute Leno aber sprang mir nach bis an den Gürtel und rettete mich mit eigener Gefahr.

Sonst weiß ich herzlich wenig von jener Zeit. Die Großmutter besaß Weinberge, Gärten, Feld und Wald. Da ward herumgezogen mit Geschwistern und Verwandten meines Vaters, gegessen und getrunken, gesungen und geklungen. Man machte Rheinpartien und dehnte solche Exkursionen, um alte Freunde zu besuchen, bis Mainz und Köln aus. Außerdem kopierte mein Vater für sich eine Sammlung von etwa zwanzig alten Familienbildern, die sich im Saal der Wackelburg noch fanden, und meine Mutter widmete sich mit demütig kindlicher Unterordnung der Unterhaltung und Pflege ihrer geliebten alten Schwiegermutter.

Etwa dreiviertel Jahre mochte man auf diese Weise in Rhense verlebt haben, als meine Großmutter auf den Tod erkrankte. Sie war bis dahin immer kerngesund gewesen, und meine Mutter bewunderte die Stille und Ergebung, mit denen sie jetzt dem Tode ins Auge sah. Da sie so schwach und sterbend war, brachte ich ihr Schneeglöckchen auf ihr Bett. Sie reichte mir die Hand und sagte: »Gelt, Wilhelm, im Himmel sehen wir uns wieder?« Da schlug ich unbedenklich ein und sagte: »Ja, Großmama!« Ich hoffe auch, daß mein Erlöser sein Fiat unter diesen Kontrakt gesetzt habe.

Nachdem die Lebenskraft der Sterbenden erloschen, schien sie sanft einschlafen zu wollen. Da schrie der Priester, der nach katholischem Ritus die Sterbegebete verrichtete, ihr zu wiederholten Malen und mit gellender Stimme in die Ohren: »Verstehen Sie mich auch noch, Frau Kammerrätin?« wodurch sie wieder aufgeschreckt und, unfähig zu leben und zu sterben, in so peinliche Unruhe geriet, daß ihr Todeskampf um ganze vierundzwanzig Stunden verlängert schien. An dem Eindrucke dieser bornierten Barbarei hatte meine Mutter ihr lebelang zu tragen, und oft pflegte sie zu sagen, wie man bei Sterbenden sich jedes Geräusches, selbst des lauten Weinens, zu enthalten habe, und wie grausam es sei, den Tod zu stören.

Mein Vater war damals nicht gegenwärtig. Er hatte einen Abstecher nach Paris gemacht, um die von Napoleon zusammengeraubten Kunstschätze in Augenschein zu nehmen, als die Nachricht von dem bedenklichen Erkranken seiner Mutter ihn zurückrief. Bei seiner Ankunft fand er sie tot, und da ihm ohnedies sein Vaterland durch die Franzosenwirtschaft und mehr noch durch die französischen Sympathien seiner Landsleute verleidet war, entschloß er sich, für die noch übrige Zeit seines deutschen Aufenthaltes nach Dresden zu gehen, dessen Kunstschätze ihn anzogen.

Er ordnete noch mit den Geschwistern den Nachlaß der Mutter und machte sich dann mit den Seinigen davon. Man weilte längere Zeit in Schlangenbad, das meiner Mutter gut tat, und auch in Weimar, wo interessante Bekanntschaften angeknüpft wurden. Von alledem weiß ich nichts mehr, erinnere mich aber einer Zeit, da ich von dem Totaleindrucke, den jene Reise auf mich machte, namentlich von dem dumpfen Dröhnen des verschlossenen Wagens, noch Bewußtsein hatte, sowie mir auch ein schwaches, aber sehr liebliches Bild von der seligen Großmutter geblieben war, das sich später verwischt hat.


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