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Notizen

 

Dezember 1912

Gegen eine Vorlesung in Graz, die erst auf den 12. Januar angesetzt ist, wird schon jetzt – natürlich nicht durch das gedruckte, sondern durch das gesprochene Wort – von der dortigen Presse in dankenswerterweise Stimmung gemacht. Die Konzertbureaux haben bereits den Kartenverkauf abgelehnt, eines mit ausdrücklicher Berufung auf einen Wink, den es bekommen habe. Der Saal ist noch nicht abgetrieben. Ein dortiger Herr, der schon einen roten Kopf hat, bevor noch von mir die Rede ist, und der in Feuilletons zu beweisen sucht, daß er viel von mir hält, besonders in jenen, wo nicht von mir die Rede ist, wäre sehr zufrieden, wenn ein unvorhergesehener Ziegelstein mich rechtzeitig zu einer Absage zwänge. Denn anders dürfte die von Interessenten ausgegebene Losung, daß ich diesmal nicht nach Graz gelangen dürfe, kaum zu erfüllen sein.

Gewaltiger Zusammenhang

... Zwischen Konfuzius und Lao-tse, Buddha und Kalidasa, Mose und David, Homer und Aeschylos laufen ununterbrochen die Funken hin und her und blitzen über zwei Jahrtausende christlicher Zeitrechnung hinüber mit völlig unverminderter Kraft, lichtspendend und wärmezeugend, bis in unser eigenstes Zeitalter hinein. Und wahrscheinlich gab es nie ein Zeitalter, das derartig die Summe zu ziehen vermochte wie dieses unser heutiges. Dadurch haben wir einen Herrschaftsbereich von nie gesehener, ja niemals geahnter Ausdehnung.

Was ist denn los?

Ein Buch wie dieses läßt es uns fühlen. Es imponiert ja zunächst durch seine immense Mannigfaltigkeit, durch die Fülle seiner Anregungen und Einzelbelehrungen, durch die Legion seiner scharf widereinander profilierten Charakterköpfe, durch die Fruchtbarkeit des Widerspruches, zu dem es uns von Seite zu Seite aufspornend reizt. Aber gerade darum sei hier vor allem das Einheitliche betont, das solch ein Werk für uns umfaßt; der gewaltige Zusammenhang, der von der ersten zur letzten Seite magisch-rieselnd sich erstreckt; und die hieraus quellende geistig-ethische Macht, die die Lektüre eines solchen Buches zu einem derart fruchtbaren Erlebnis zu gestalten vermag, wie sie sonst fast nur solchen Werken eignet, die selber dem Reiche der Dichtkunst angehören. F. S-s.

Herr Busse hat eine Literaturgeschichte geschrieben und Herr Servaes hat sie besprochen. Und darum dieser Aufruhr in der Natur.

Wie kommt das nur?

Die Halbmonatsschrift › Lacerba‹ (Florenz, I. Jahrgang, Heft 2) bringt eine Übersetzung von Aphorismen aus »Sprüche und Widersprüche« und »Pro domo et mundo«, die recht gut zu sein scheint. Immerhin ist es auch gut, daß als letzter der vierunddreißig Aphorismen – gemäß der Vereinbarung – dieser übersetzt wurde:

Tradurre un'opera di lingua in un'altra lingua significa mandare uno oltre il confine, levargli la sua pelle, e fargli indossare dipoi il costume del paese.

Und erfreulich ist, daß man auch in Italien versteht, daß:

Il parlamentarismo e l'accasermamento della prostituzione politica.

In dem gleichen Heft steht ein Aufsatz »Giorgio Brandes. Una Stroncatura« (von Tavolato), dessen Anfang auch dem Nichtitaliener gut klingen dürfte:

In tutta la sua vita il mezzano letterario Giorgio Morris Cohen Brandes non ha fatto altro che mangiar libri e cacar recensioni.

In › La Voce‹, einer Florentiner Wochenschritt (V. Nr. 7) hat die »Libreria della Voce« der deutschen Literatur eine Rubrik eingeräumt: »Opere die Carlo Kraus«. Das ist nur deshalb auffallend, weil in Florenz vermutlich niemand diese Opere kauft und weil es in Wien keinem Buchhändler einfiele, sie zu annoncieren, und in München, wo sie verlegt sind, keinem, sie in ein Schaufenster zu stellen. Nun wird von der betroffenen Seite auf nichts mehr gepfiffen als auf solche Ehren, aber das italienische Kuriosum muß doch verzeichnet werden, zu Zwecken der Selbstberäucherung, die bekanntlich darin besteht, daß man vor Stummen sagt, irgendwo sei geredet worden. Aber es ist weit über alle Bedürfnisse der Eitelkeit hinaus notwendig, zu erwähnen, daß in einem italienischen Blatt – wieder in der ›Voce‹ – eine Revue deutscher Revuen erschien, in der es heißt:

... e poi – Die Fackel di Karl Kraus.

Mi è cosa gratissima poter segnalare ancora una volta questa rivista e quest'uomo all' attenzione degli italiani intelligenti. Più si legge Karl Kraus e più bisogna convincersi che egli è uno dei maggiori stilisti tedeschi di tutti i tempi. Non gli domandate la ragione dei suoi amori e dei suoi odi: badate allo Stile. E troverete la sua lingua tanto avvincente che il contenuto materiale, l'aneddotico delle sue Satire va perdendo, durante la lettura, importanza e sapore originali; resta, puro godimento, la perfezione della forma e le idee. – Riparlerô di Kraus nella Voce. i.t.

Wie kommt das nur, wie erklärt sich das in dieser Welt der Verbindungen, wofern sie es dem Besprochenen glauben sollte, daß er nie ein Heft nach Florenz geschickt und von der dort erscheinenden Literatur keine Ahnung hatte? Und warum muß es notiert werden? Nur weil wir in Berlin ein sogenanntes ›Literarisches Echo‹ haben, welches auch eine Revue der Revuen hält und wohl die schamloseste Fälschung einer Statistik vorstellt, die je gewagt wurde. Das Totschweigen, das die Kritik ausübt, wenn sie sich nicht anders helfen kann, ist ein heiliges Recht der Notwehr. Die Mißgeburten, die die Erkenntnis eines verpfuschten Lebens zu dem verzweifelten Ausweg geführt hat, öffentlich zu meinen, werden von mir bloß getadelt, weil sie Mißgeburten sind, also dort gepackt, wo sie nichts dafür können. Daraus aber, daß sie sich gegen mich wehren, indem sie kuschen, mache ich ihnen den geringsten Vorwurf. Ich wollte, ich könnte mir's bei ihnen richten, daß durch weitere vierzehn Jahre über mich geschwiegen wird. Wie aber Druckerschwärze zu Schlechtigkeit verleitet, zeigt erst eine Redaktion, die sich das scheinbar harmloseste Amt vorbehalten hat: einfach zu registrieren, was es in der Literatur gibt. Da, müßte man glauben, kann es doch zu keiner Lumperei kommen. Schön, die Konversationslexika werden von Journalisten bedient und lassen sich von denen sagen, wem man die Ehre erweisen soll, für die Welt geboren zu sein. Aber was sagt man zu einer Statistik, die auf die Frage: Weißt du wieviel Sterne stehen, die Antwort hat: Der Sirius paßt uns nicht? Zu einem Echo, das sich den Schall aussucht, auf den es zurückkommt? Das ist mir eine nette Physik! Wie denn, wenn das Fremdwörterbuch das Wort »Echo« ausließe, weil es ihm nicht sympathisch ist? Aber nein, da steht: es war eine Nymphe, die der Gram unerwiderter Liebe zu dem eitlen Narzissus bis zu einem Hauch verzehrte, dem nur noch eine erwidernde Stimme blieb. Ach, sie ging dann nach Berlin und hat sich dort so über mich gegiftet, daß ihr kein Ton mehr blieb. Dagegen, wenn in der ›Grazer Tagespost‹ eine Notiz über Herrn Bartsch erscheint, was sich doch eigentlich von selbst versteht – ruft sie's zurück. Nichts entgeht dieser Nymphe; nur alles, was mit mir zusammenhängt. Kein fremder Beitrag der Fackel – zur Zeit, da sie noch solche hatte –, kein Liliencron oder Wedekind, kein Strindberg oder Przybyszewski ward je an der Stelle verzeichnet, wo jeder launige Reporter auf Verewigung rechnen darf. Meine Nestroy-Feier, die – nicht als literarische Leistung, nur als kritisches Beispiel – jeden weiteren Festartikel als Abklatsch erscheinen ließ, den Dichter zur Auferstehung gebracht und seinen Historikern, die es in Dankbriefen bekundeten, Aug und Ohr geöffnet hat, wurde verschwiegen und was der Stenograph der Neuen Freien Presse in einem Theaterblatt plauderte, zitiert. Das dreihundertste Heft der Fackel – mit den Beiträgen der ersten Menschen Deutschlands – mußte immerhin für eine Revue der Revuen verlockender sein als die Tatsache, daß im Neuen Wiener Journal der Nachdruck eines Waschzettels über die Kritik einer Besprechung der gesammelten Rezensionen eines Journalisten erschienen ist. Echo widerstand. So daß man fast fürchten könnte, der Gram unerwiderter Liebe zu dieser Nymphe könnte einen Narzissus verzehren. Aber dem bleibt noch immer eine Stimme, um das Echo zu ersuchen, es möge ihn gern haben. Er ist eitel; ihm genügt sein Spiegelbild, er kann den Widerhall entbehren. Und ihm bleibt die Hoffnung, daß die kommenden Literarhistoriker – falls die kommenden Hebammen es nicht vorziehen, die Früchte abzutreiben – sich zwar nicht aus dem Literarischen Echo über die Fackel, wohl aber aus der Fackel über das Literarische Echo Bescheid holen werden. Denn obschon ich keine Statistik führe, wird man mir doch nicht nachsagen können, daß ich ein Fälscher bin. Und wiewohl es mir nicht gegeben ist, auszusprechen was ist – im Grunewald ist auch ein feines Echo –, so wird man mir doch das Zeugnis nicht vorenthalten können, daß ich immer gesagt habe, wie's ist. Sollte es aber der Nymphe Echo nicht passen, so werde ich ihr eins auf die Pappen geben, daß sie überhaupt keinen Hauch mehr hervorbringen wird.

Eine Reminiszenz

Nur damit die denkwürdige Tatsache nicht verloren gehe, daß die Wiener Presse sich 1913 an etwas erinnern mußte, was ihr 1905 zu vergessen gelang, sei das Folgende reproduziert:

›Fremdenblatt‹:

... Nicht zum erstenmal. Denn schon vor etlichen Jahren hat Karl Kraus dieses Werk vor einem Kreis geladener Zuschauer auf die Szene gebracht ... wie vor Jahren, bei der ersten (besseren) Aufführung ...

›Wiener Allgemeine Zeitung‹:

... Wedekinds infernalische Komödie ist schon einmal in Wien vor geladenen Gästen gespielt worden. In einer Vorstellung, die Karl Kraus zu danken war. Damals ging es nicht Arm in Arm mit einem verehrungswürdigen Publikum, gegen die Zensur. Sondern für Wedekind gegen ein verachtungswürdiges Publikum. Die gestrige Vorstellung, an tiefen Eindrücken ärmer als die seinerzeitige im Intimen Theater, war durchaus respektabel, gut, wirksam. Aber die »Büchse der Pandora« braucht eine Darstellung, so fern allem Theater-Üblichen, wie das Werk fern allem Literarisch-Üblichen ist ...

›Arbeiter-Zeitung‹:

... Zu dem Eifer der Behörde gesellte sich das feierliche Tamtam, mit dem die Vorstellung seit Wochen eingeleitet wurde. Wir erinnern uns der schlichten ersten Wiener Aufführung, die man Karl Kraus zu danken hatte. Damals gab es nicht soviel Kulturtat, dafür die Tat einer erkannten und erfüllten Pflicht gegen einen Dichter, zu dem sich zu bekennen, dem zu dienen damals noch Mut erforderte. Damals war das Publikum auch nicht gekommen, um dabei gewesen zu sein wie beim Künstlertee irgend eines Wohltätigkeitsvereines, sondern damals kamen Verehrer des Dichters, willig, sein Wort auf sich wirken zu lassen. Damals spürte man die Gewalt dieses scheinbar harmlosen Dialogs, damals ward das Grauen dieser Tragödie gefühlt, der Hohn ihrer Satire verstanden, das Herzleid ihrer Liebe empfunden. Und so war jene alte Aufführung weitaus besser als diese neue, trotz Frau Eysoldt und trotz Friedrich Kayßler (Alwa Schön), weil sie durch Darsteller und Hörer dem Dichter und seinem Werke näher stand ...

›Zeit‹:

... Freilich, die ganze Fülle der Humore und Bekenntnisse müßte von anderen Schauspielern hervorgeholt werden; der geistige Gehalt der Dichtung kam unvergleichlich stärker in jener Vorstellung heraus, die der Wiener Schriftsteller Karl Kraus vor manchen Jahren veranstaltete ...

Herr Zw. in der ›Abendpost‹ ist diskret:

... Das erfolgreiche Gastspiel der Damen Eysoldt und Fehdmer sowie Herrn Kayßlers schuf die Möglichkeit, in der nicht mehr neuen Form einer Vorstellung vor geladenen Gästen die Fortsetzung von Wedekinds »Erdgeist«, in der der Dichter den Lebensgang seiner Heldin Lulu zum Abschlusse bringt, wieder einmal aufzuführen ...

Ich bin auch diskret und will nicht verraten, wie Herr Zw. vollständig heißt. Es ist ein bekannter Historiker, der sich da um die Vergangenheit herumdrückt, um zur Gegenwart zu kommen.

Die Kollegen in der ›Neuen Freien Presse‹ und im ›Extrablatt‹ sind so verschwiegen, daß man ihnen nicht einmal etwas anmerkt. Was das Werk selbst betrifft, so scheinen die meisten offenbar wirklich von nichts zu wissen. Im allgemeinen bestehen Zweifel, ob Wedekind durch die Vorführung des Lasters abschrecken oder diesem huldigen wollte. Manche sind dagegen, daß »die Kanalgitter von den Senkgruben einer hemmungslosen Sexualität gehoben« werden, in welcher Absicht immer es geschehe. Der Sexualtrieb wird fast überall verrissen.

Dichterfeier

Bei dieser Gelegenheit soll nicht ungesagt bleiben, daß die Neue Wiener Bühne, in deren Räumen sich das Ereignis abspielte, Dichter-Matineen veranstaltet. Da werden sie denn alle gefeiert. Zum Beispiel Rilke, der ja das Wiener Theaterpublikum besonders interessiert. Jede Persönlichkeit findet ihren Conferencier. Zu Nietzsche gehört Ewald, auch ein Abgründiger. Zu allen aber paßt Friedell, Vertreter jenes Antiphilisteriums, das aus einer heute schon recht populären Aversion gegen den »Ernst des Lebens« Beethoven anulken könnte, weil er schwerhörig ist, und Homer Maikäfer ins Bett legt, weil er zuweilen schläft. Sein an Stammtischen wirksamer Humor, dessen Niederschrift sich doch schwieriger anläßt, als man ursprünglich geglaubt hatte, könnte viel zur Veredlung der Kneipzeitungen eines philologischen Seminars helfen, strebt aber vom Kolleg zum Kabarett empor und ist die beste Kreuzung einer guten Laune, die in Alt-Heidelberg Moos angesetzt hat, und einer Geschicklichkeit, die dem Wiener Nachtgeschäft zustatten kommt. Der Mann dürfte bei Professor Marcell Salzer belegt und in Kuno Fischers Singspielhalle gearbeitet haben. Ein durchaus schätzenswerter literarischer Habitus. In öffentlichen Lokalen etwas polternd, aber gewiß kein Spielverderber. Bei solchen Übergängen von Gedankentiefe zur Ausgelassenheit, an solchen Stationen zwischen dem Ethischen des Bernard Shaw und dem Dionysischen des Rössler verweilt die renovierte Wiener Gemütlichkeit am liebsten und der neue Dreh, der dem alten Drahrertum zu Hilfe kam, schafft neue Lieblinge. Wenn dann noch die Zuckerkandl ihren kulturellen Segen gibt und, eine Spinne der Fremdworte, einen ausgewachsenen Humoristen in ihre Netze fängt, indem sie ihn durch seine Konferenzen Intellektualität heranzüchten und sich aus der Schule der Nervendressur Elemente holen läßt, welche seiner Kunst, den Geisteswillen dieser Zeit mit aphoristischer Schärfe zu projizieren, etwas Abruptes geben, wobei seine Ausführungen sich gleichsam organisch aus den philosophischen Werten eines Weltganzen in ihrer logischen Kontinuität entwickeln und er einen Extrakt von sich gibt, der den Chok der Empfindsamkeiten und gleichzeitig die Erkenntnis der auseinanderliegendsten Zusammenhänge verdichtet, und wenn die Dame dann noch die Geistesgegenwart hat, den schlichten Satz zu schreiben: »Im Anfang war Friedell« – so ist alles in schönster Ordnung. Die Zuckerkandl nennt es: das »Alles-is-da-Lächeln«, wenn Friedell auftritt. Sie hat Recht, und es muß alles, was da ist, zugegeben werden. Neidlos und unerbittlich. Ohne Rücksicht darauf, daß es ein Herzenswunsch des Humoristen ist, mich zu erzürnen, und eben deshalb. Denn unter der scherzhaften Vorspiegelung, sich durch einen »Angriff in der Fackel« bei der Presse nützen zu wollen, wollen solche Lustigmacher tatsächlich nichts anderes, sie sind Streber unter dem Vorwand es zu sein, und es ist deshalb notwendig, dem Typus, dem heute nichts ernst ist als hinter der Tarnkappe des Nichternstgenommenseinwollens der Erfolg, justament den Gefallen zu erweisen. Das Glück, eine fremde Karriere zu machen, soll nie gescheut, sondern immer versucht werden; ich stelle jeden dorthin, wohin er gehört, denn es mag erträglich sein, daß Wedekind, wie Herr Friedell meint, nur ein steckengebliebenes Genie ist, aber es wäre unerträglich, wenn auch die Talente stecken blieben. Ehrfurcht haben sie nur vor den Vorteilen, die ihren Talenten gebühren, und da Herr Friedell der intelligenteste Vertreter einer Spielart ist, die ganz genau weiß, wann sie wieder nüchtern zu sein hat, so eignet er sich sehr wohl dazu, daß an ihm ihre Züge agnosziert werden. Den unerwünschten Anlaß aber bietet der Einfall der Neuen Wiener Bühne, Wedekind in einer Matinee zu feiern und ihn durch Herrn Friedell anulken zu lassen. Die Lebensnot, die ihn ehedem gezwungen hat, seine Gedichte in Kabaretts vorzutragen, scheint ihn auf Shakespearisch noch heute zu seltsamen Schlaf gesellen zu bringen. Aber kein Spaß, durch den Herr Friedell sich je um die Abende unserer Tage verdient gemacht hat, gibt ihm die Berechtigung, einem Wedekind auf die Schulter zu klopfen, und wenngleich er sicher der lustigste Kommentar ist, den man heute zu einer Weinkarte finden wird, zehnmal besser als der Roda Roda, so ist er doch beiweitem nicht der Mann, der Zufriedenheit das Grauen vor Wedekind auszureden. Wo es zwischen der Gotteswelt und der erotischen eines Dichters nicht stimmt, das zu untersuchen erfordert einen andächtigeren Geist als den des Schalks, der davon lebt, daß man ihm nichts übel nehmen wird, und den die eigene Problematik, die ja in der Humorproduktion einen billigen Ausgleich gefunden hat, darauf anweist, in jedem Größeren einen Zwitter zu erkennen. Mit allem Nachdruck muß aber die Zimmerunreinheit der Idee festgestellt werden, eine Wedekind-Feier mit einer Entwertung eröffnen zu lassen und eine literarhistorische Objektivität zu bewähren, um die man einen Theaterdirektor nicht gebeten hat. Die Entschuldigung, daß Herr Direktor Geyer von der Friedellschen Weltanschauung überrascht wurde, wäre hinfällig. Er hätte den Vorredner unterbrechen, desavouieren und, ein Reformator wie er ist, die Vertreibung des Hanswursts von der Neuen Wiener Bühne besorgen müssen. Wenn anders es ihm wirklich darum zu tun war, die Wirkung der Wedekind-Feier ungetrübt zu lassen, und wenn er schon unterlassen hatte, das Manuskript abzufordern. Die Vielseitigkeit des Friedellschen Könnens und die höchst unziemlichen Bonmots der Schiller-Ehrung hätten ihm zu bedenken geben müssen, daß die Platte nicht zwielichtundurchlässig sei. Der Plan des Herrn Friedell, auf dessen Gelingen er stolz ist: dem Philister Mut gegen Wedekind zu machen, mußte dem Direktor, der sein Podium hergab, in irgendeiner Form ruchbar werden, und nicht zuletzt mußte ihm die Dankbarkeit gegen den Autor des »Erdgeist«, der ihm eben noch das Theater gefüllt hatte, einen würdigeren Festredner empfehlen. Wedekind verfügt ja nicht über allzu viele Theater, die ihm dankbar sein müssen, und er hat die Zensur hauptsächlich als die Ausrede der Direktoren zu fürchten, die ihn nicht annehmen. Sie könnten noch weiter gehen und an seiner Stelle einen Humoristen auftreten lassen, der dem Publikum versichert, es habe nichts verloren. Das fehlte noch zur Ordinärheit des Bühnengeschäfts, daß die Theater, die einen Dramatiker nicht aufführen, dafür die Kritik beistellen und, statt seine Stücke vor die Rezensenten zu bringen, ihn in eigener Regie verreißen. Es gehört ein guter Magen dazu, sich vorzustellen, daß die lustige Person bei offenem Vorhang und zur Einführung in die nun folgende Feier Wedekind einen Knockabout nennt. Wenn das Geschäftstheater des Herrn Weisse den Dichter ins Foyer geladen hat, so hat es wenigstens die Distanz zwischen der verdienenden Schande, die sich am Herd wärmen darf, und der Ehre, die im Vorzimmer eine Bettelsuppe kriegt, ehrlich markiert. Ein Literaturtheater, das einen Dichter in die gute Stube lockt, um ihn anzupöbeln, hat ausgespielt.

Ein Witz

Durch die Witzpresse wird kolportiert, daß die von der Fackel angeregte Sammlung für Else Lasker-Schüler »11 Kronen ergeben« habe. Wenn es wahr wäre, gäb's keinen Grund, witzig zu sein, und trauriger als um die Dichterin stünde es um das deutsche Publikum. Der Witz ist durch die Geschmacklosigkeit einer Berliner Zeitung entstanden, welche die Summe von elf Mark, die ihr für die Sammlung übermittelt wurde, mit einigen pompösen Zeilen besonders ausgewiesen hat, statt den Empfang den Spendern brieflich zu bestätigen. Tatsächlich beträgt das Ergebnis der Sammlung bis zum ersten März 4 660 Kronen. Eine Summe, die freilich noch immer nicht hoch genug ist, um das deutsch lesende Publikum von der Verpflichtung zur Scham loszukaufen.

 

März 1913

Peter Altenberg

(Vor- und Nachwort zum Abdruck von Skizzen)

Ein neues Buch von Peter Altenberg gehört zu jenen seltenen Mitteilungen der Menschenseele, die man ja doch nur hinter dem Rücken der Zeit weitergibt. Sie sieht und hört es nicht und nur darum nimmt sie es nicht übel. Diese von Gott autorisierte Übersetzung des Menschen in die Sprache wird – eine Empfänglichkeit späterer Welten vorausgesetzt – noch zu Menschen sprechen, wenn fast alles, was heute gedruckt wird, nicht mehr mit freiem Auge wahrnehmbar sein wird. Ehren, die die Zeit verleiht, wären imstande, diesen Dichter in die Nähe jenes Kunstwerkertums zu bringen, das seine Popularität exklusiv betätigt und in der Geschlossenheit seiner Leere die Naturfülle verachtet. Es ist seit Jean Paul wieder der erste Fall, daß an einer Anderthalbnatur eben das als Minus erscheint, was den Halben zum Erfassen fehlt, und sie ist so reich, daß man wohl aus dem, was sie nicht hat, ein Dutzend Wiener Dichter machen könnte, aber aus dem, was sie ist, keinen einzigen. In Zeiten, wo nur der Genius vom allgemeinen Stimmrecht ausgeschlossen ist, hat er es ja schwer, sich bemerklich zu machen; zumal, wenn er die Tracht eines Nichtstuers wählt, dessen Horizont scheinbar nicht über eine Hotelterrasse hinausreicht. Aber er, der Genius, ist gottseidank der Intelligenz nicht Rechenschaft schuldig, auf welchem Weg er den Zusammenhang so entfernter Dinge erfahren hat wie eines Dienstmädchens und der Ewigkeit. Dafür läßt er sich gern literarhistorisch bedauern. Denn es ist schade um ihn, daß er nicht darüber hinausgekommen ist, in einer Skizze alles zu sagen, was ein Mensch und die Sprache einander zu sagen haben. Es ist schade, daß einer von einer Landpartie so viel mitbringt und andere vom weiten Land, ja sogar vom weiten Griechenland so leer zurückkamen. Daß dieser Dichter Zeitgenosse ist, mag allen Spott rechtfertigen. Aber der reicht nicht an den Humor hinan, mit dem das Erlebnis solcher Unvereinbarkeit den Dichter selbst begnadet hat. Dieses beste Gelächter aufzubewahren, das Wesentlichste einer Menschlichkeit, deren Falstaffgewand ein gewendetes Martyrium war, über Geschriebenes fortzuführen und von der anekdotischen Plattheit zu säubern, die jetzt durch Jours und Kabaretts die einträgliche Runde macht, wird einst keine leichte Pflicht sein. Etwa erleichtert durch die Erinnerung: wie man das lebendigste Herz einer Zeit dem Publikum zugänglich gemacht hat, in welchem Winkel der Unterhaltung und in welchem Abtritt der Publizität, und wie man so gar nicht die Verpflichtung fühlte, die Würdelosigkeit des Genies für ehrwürdig zu halten und ihr eben jene Obhut zu gewähren, die sie selbst verschmäht hat. Und vergesse, an wem es sein wird, zu erinnern, auch jenes Neue Wiener Journal nicht, das als erstes in der Lage war, die schwere Erkrankung des Dichters zu melden, und hierauf als einziges, den Faschingsulk eines Münchner Kretins nachzudrucken:

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P. A.
« an die Expedition.

Die Denkbarkeit und Druckfähigkeit solcher Auffassungen ist einem Peter Altenberg nie zum Problem geworden. Die Leidensgeschichte eines Dichters ist die Leidensgeschichte der Menschheit. Aber ich weiß, daß die jetzt in täglichen Fortsetzungen erscheint.

 

April 1914


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