Karl Kraus
Kanonade auf Spatzen
Karl Kraus

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1926

April 1926

Pfleget den Fremdenverkehr

(Fremdenverkehrsförderung durch Schulkinder.) Das Fremdenverkehrskomitee im Gremium der Wiener Kaufmannschaft hat gestern unter Vorsitz des Vizepräsidenten Kommerzialrates Bittmann nach einem ausführlichen Referat über Fremdenverkehrsförderung durch Sekretär Dr. Paneth beschlossen, den Stadtschulrat für Wien zu ersuchen, in den Schulen Fremdenverkehrstage einzuführen. Aus Anlaß dieser Tage hätten die Lehrpersonen die Schulkinder aufmerksam zu machen, wie sehr eine Förderung des Fremdenverkehres im Interesse des Wohlstandes jedes einzelnen, also auch in letzter Linie der Lage der Schulkinder ist. Die Schulkinder seien in der Lage, den Fremdenverkehr dadurch zu fordern, daß sie Fremden bereitwilligst Auskünfte geben und so dazu beitragen, daß jeder Besucher Österreichs gern an seinen Aufenthalt in Österreich zurückdenkt.

Ich freue mich immer, wenn meine Satire, die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war, zur Wirklichkeit heranwächst. Es könnte doch keine Absurdität geben, die dieses absurde Land auf meine Weisung nicht zu liefern bereit wäre. Ja, die Förderung des Fremdenverkehrs, auf die »aus Anlaß dieser Tage« die Lehrpersonen die Schulkinder aufmerksam machen sollen, ist im Interesse des Wohlstandes jedes einzelnen, »also auch in letzter Linie der Lage der Schulkinder«, in der sie sind, ihn zu fördern. In erster Linie aber wird sie zur Verhinderung der deutschen Sprache beitragen, damit die Kleinen, wenn sie den Fremdenverkehr gelernt haben und dereinst ins Leben hinaustreten, im Fremdenverkehrskomitee sitzen und auch so schöne Beschlüsse fassen können. Ob die Fremden an ihren Aufenthalt in Österreich mit besseren Gefühlen zurückdenken werden, wenn die Wiener Schulkinder ihnen bereitwilligst Auskünfte erteilen, um die sie sie kaum angehen dürften, mag dahingestellt bleiben. Offenbar ist geplant, sie beim Betreten des Stock-im-Eisen-Platzes von einer Gruppe attakieren zu lassen, gleich jener, die den Betrachter des Kreidefelsens auf Rügen mit dem gräßlichen Chor erwartet: »Soool ich Ihnen die Sage vom Herthasee erzählen?«, worauf sich der Gast mit Grausen wendet, entschlossen, nie wieder den Fuß auf den Boden dieser schönen, aber unwirtlichen Insel zu setzen. Man muß es einmal dem von einer fixen Idee paranoisch besessenen Österreicher sagen: die Fremden kommen deshalb so spärlich nach Österreich, weil sie hier auf Schritt und Tritt von den Bestrebungen zur Hebung des Fremdenverkehrs belästigt werden und weil ihnen halt gar so wenig außer dieser Zerstreuung geboten wird. Sollte jedoch Österreich trotzdem einmal seinen Fremdenverkehr haben, so wird ja noch immer nicht Ruhe sein. Denn was fängt die Dementia paranoides an, wenn man ihr die Idee entwindet? Ich habe in meinem von Patienten aller Richtungen umstellten Leben ganz entsetzliche Beispiele dieser Art erlebt. Wenn man bedenkt, was dann der Österreicher alles anfangen könnte, so ist es immer noch besser, der Fremdenverkehr hebt sich nicht, damit jener an seiner Hebung fortwirken könne.

 

Juni 1926

Es genügt nicht, alt zu sein

um gescheit zu werden, lautet der Gedanke, den der Präsident der Concordia, der auch Verse macht, durch ein spitzes Epigramm ausgedrückt hat, in einer Reihe von Strophen, betitelt »Alt und Jung«, in denen er das ihm am Herzen liegende Problem gestaltet, daß man mit der Zeit zu gehen und mit der Jugend fortzuschreiten habe:

      Wenn es genügte hier auf Erden,
      Alt zu sein, um gescheit zu werden,
      So wäre die Schildkröt' der weiseste Mann,
      Weil sie zweihundert Jahre alt werden kann.

Hier ist der Beweis insoferne durchaus gelungen, als noch niemand eruiert hat, ob nicht die Schildkröt', die zweihundert Jahre alt werden kann, unter ihren Artgenossen in der Tat die weiseste Schildkröt' ist und ob sie nicht sogar weiser ist als ein Journalist, wenn er zweihundert Jahre alt würde, während unzweifelhaft feststeht, daß sie auch dann noch immer nicht »der weiseste Mann« wäre. Die Zoologie hat ihr Alter feststellen können, aber auf den Grad ihrer Weisheit bisher nicht einmal aus dem Umstand geschlossen, daß sie keine Epigramme macht und gegen die Preßgesetzreform eine mehr zuwartende Haltung einnimmt, gleichmütig und gepanzert gegen jede Drohung, mag sie nun von einem Gesetz gegen Erpressung ausgehen oder vom Erpresser.

 

Eine schöne Erinnerung

auf der das deutsche Auge wohlgefällig ruht, erscheint jetzt in einem deutschen Buch, von einem Geheimen Rat und einem offenen General der Infanterie, betitelt »Der deutsche Kronprinz, ein Stück Weltgeschehen«, angekündigt als »das Buch des ehrlichen Historikers und des unbestechlichen Militärs, ein Buch für Wahrheit und Wahrhaftigkeit«:

Der Kaiser, Fürst Fürstenberg und der österr.-ung. Militärbevollmächtigte im Manöver

Es dröhnt von der Lachsalve. Links das gekrönte Monstrum, das sein eigener Hofnarr war; in seiner Stimme wiehert ein Schlachtroß, heult ein Werwolf. In der Mitte der liebe Schneck von Donaueschingen, von der Quelle des Nibelungenstroms: die beiden Schultern verbindend. Rechts der eo ipso verbindliche Rücken des k. k. Feschaks. Offenbar erzählt er einen Mikosch-Witz, wie ihn die Majestät geliebt hat und wofür sie zärtliche Fußtritte zu verabreichen pflegte. Schon im Manöver war's also zum Schießen. Im Weltkrieg haben sie sich dann totgelacht.

 

Oktober 1926

Angeblich

Zeugenaussagen erfolgen unter Eid, aber der Angeklagte kann sie bezweifeln. Was selbst der Angeklagte nicht bezweifeln kann, ist, daß sie abgegeben wurden. Die Zeitung des Angeklagten hat keinen leichten Stand:

Im Zusammenhange mit einer solchen anonymen Anzeige wurde auch der ehemalige Generaldirektor der Nordisch-Oesterreichischen Bank, Waldegg, vorgeladen, der angeblich deponierte, daß ihm der Prokurist der Inseratenverwaltung der Kronos A. G., Harry Weller O'Brien, eine Verlängerung eines Inseratenauftrages mit dem Hinweis darauf, daß sich sonst die wohlwollende Haltung der »Börse« gegen die Nordisch-Oesterreichische Bank ändern werde, erpreßt habe.

Ein zweiter Zeuge, der geschäftsführende Verwaltungsrat der Nordisch-Österreichischen Bank, van Royen, behauptete angeblich, daß nach dem Zusammenbruch der Nordisch-Österreichischen Bank Harry Weiler O'Brien spät abends bei ihm in der Wohnung erschienen sei und von ihm eine Sicherstellung für die Forderung des Kronos-Verlages, eventuell den Schmuck seiner Frau verlangt habe, mit der Drohung, daß sonst Angriffe erscheinen könnten.

Hier regt sich offenbar ein Mißtrauen des Gerichtssaalberichterstatters gegen das Protokoll des Untersuchungsrichters, wenn man nicht annehmen will, daß die ›Stunde‹ ihrem Gerichtssaalberichterstatter mißtraut. Nicht allein was die Zeugen angegeben haben, sondern daß sie es angegeben haben, wird als »angeblich« bezeichnet, während »bekanntlich« das ist, was erfunden wurde oder worüber nur Gerüchtsakten bestehen. Die ›Stunde‹ kann es gar nicht glauben, daß die Zeugen so etwas über den Prokuristen des Kronos-Verlags behauptet haben sollen. Darum begnügt sie sich nicht, zu sagen, er habe angeblich erpreßt, sondern sagt, daß die Zeugen es angeblich behauptet haben. Der weitere Bericht müßte folgerichtig so lauten:

Die Staatsanwaltschaft erblickt

angeblich

in diesen Äußerungen die Merkmale des § 98 b, über ihren Antrag wurde vor ungefähr 14 Tagen Harry Weller O'Brien

angeblich

verhaftet und gegen ihn die Anklage erhoben. Die Verhandlung hat

angeblich

heute begonnen. – – Gleich nach Eröffnung der Verhandlung kündigt der Staatsanwalt an, daß er gegen O'Brien eine neue Untersuchung wegen eines andern Faktums habe einleiten lassen.

Angeblich. Dagegen scheint festzustehen, daß die Erpressung kein praktisches Resultat gehabt hat, was die ›Stunde‹ nicht ohne Bedauern vermerkt:

Das betreffende Inserat, um das es sich handelte, wurde von der Nordisch-Österreichischen Bank nicht bezahlt. Die Nordisch-Österreichische Bank ist bei ihrem Zusammenbruch 75% ihrer Inseratenaufträge dem Kronos-Verlag schuldig gewesen, von denen seither auch kein Groschen einging.

Das ist allerdings ein Jammer, aber angeblich kann man trotzdem eine Erpressung begangen haben.

 

Samariter in Wien

Wenn Bühnenleute mit dem Auto jemanden überfahren, so ist es eine Pikanterie. Das prominente Schandblatt Wiens, das Selbstmorde als Zugkraft für Kreuzworträtsel erfindet, schrieb von einem Theaterdirektor, der sich hier niederlassen wollte, so ganz beiläufig, er sei früher in der Schweiz tätig gewesen, wo er »das Malheur hatte«, ein Kind totzufahren, was dann auch noch ein »Pech« genannt wurde. Das Neue Wiener Tagblatt schließt sich wie folgt an:

(Schauspieler Treßler als Samariter.) Schauspieler Otto Treßler fuhr gestern mit seinem Privatauto über die Mariahilferstraße. An der Ecke der Zieglergasse lief die 19jährige Marie S . . . . unvorsichtig über die Fahrbahn und direkt in das Auto hinein. Sie wurde niedergestoßen und erlitt eine Rißwunde am Hinterhaupt und eine Quetschung des rechten Knies. Herr Treßler brachte die Verletzte im Auto in die Filialstation der Rettungsgesellschaft und nachdem sie dort verbunden worden war, in ihre Wohnung, Nobilegasse Nr. 26.

Es ist gewiß wahr, daß die Wiener Fußgeher die einzige Qualität, die von ihnen verlangt wird, nicht haben, nämlich gehen zu können. Während der Wiener in allen anderen Lebensverhältnissen zu paktieren gewohnt ist, schaut er auf der Straße nicht nach rechts und nicht nach links, sondern torkelt gradaus aufs Ziel los, glotzend, plauschend, zeitunglesend oder schlechtweg tramhapert. Er geht so für sich hin, um nichts zu suchen als den Tod. Man hat den Eindruck, als ob man unter lauter Selbstmörder geraten wäre, die mit allem abgeschlossen haben und denen die nächste Gelegenheit gerade recht ist. Nie und nirgend haben sie mehr Gedanken im Kopf als auf der Straße, wobei sie das Hupensignal durchaus nicht als Störung empfinden. Paris, von Wienern bevölkert, gliche des Abends einem Leichenfeld nach einem Großkampftag. In Wien müßte man von rechtswegen aussteigen und jeden einzelnen Wiener über die Straße bringen, um ihn der Gefahr zu entrücken und selbst weiter zu können, mag jener auch noch lange stehn und starren. Offenbar trifft also den Herrn Treßler, der, falls er die Tätigkeit selbst ausübt, gewiß mindestens ein so guter Chauffeur wie Schauspieler ist, nicht die geringste Schuld an dem Unfall. Aber hat er ein Verdienst daran? Hätte er die Überfahrene auch liegen lassen können? Konnte er sich, selbst ohne Mitleidsregung, dem Mißverständnis, daß er schuld sei, durch Abfahren entziehen? Immerhin ist es doch eine Selbstverständlichkeit, daß ein Automobil, dessen Lenker ja die moralische Pflicht hat, jeden auf der Landstraße Verunglückten ins nächste Spital zu bringen, den von ihm selbst Niedergestoßenen aufnimmt. »Samariter« wäre nicht einmal der intervenierende Lenker des andern Autos. Aber wenn auf einer Wiener Straße etwas geschieht, so ist es nicht das Unglück des Betroffenen, das in der Lokalchronik verschwindet, sondern der Erfolg des Täters. In Wien wird's halt eine Reklamenotiz. Und hinter ihr wird das glotzende Gesindel sichtbar, das auf der Straße die Funktion erfüllt, den Verkehr zu stören und die Hilfeleistung zu hemmen, zumal wenn der Samariter eine stadtbekannte Persönlichkeit ist. Dem Verunglückten wird höchstens manchmal die Aufmerksamkeit zuteil, daß ihm für alle Fälle das Geldtaschel abgenommen wird. Ältere Leser der Fackel erinnern sich noch an die konfiszierte Notiz über die »Hochgebornen Samariter«, die durch die weit verdienstvollere Intervention des Abgeordneten Masaryk, der mir damals gegen das Haus Habsburg beistand, parlamentarisch gerettet wurde und sofort wiedererscheinen konnte. Es war dargestellt, wie die minimale Pflichtleistung eines Erzherzogs, die kaum mehr als die höchstpersönliche Anwesenheit bedeutet hat, aus der Betrachtung einer servilen Presse als Ruhmestat hervorging, an der doch nichts bemerkenswert war als das Aufsehen und Gedränge der grüßenden Kanaille, die durch einen förmlichen Wall von Devotion die Hilfe erschwert hatte. Man wäre in einem Zustand der Traumverlorenheit gleich dem des Wiener Fußgängers befangen, wenn man wähnte, daß dergleichen in der Republik nicht mehr vorkommt. Abgesehen davon, daß ein Erzherzog seine Zugkraft beiweitem nicht eingebüßt hat – denn man könnte sich ganz gut vorstellen, daß hinter der haushohen Hoheit, wenn sie nicht in Basel lebte, die ganze Innere Stadt wie eh und je einherginge –, abgesehen von der Unveränderlichkeit in diesen Belangen besteht der republikanische Fortschritt auf der Wiener Straße in dem Stehenbleiben vor jedem Fußballer oder Filmfatzken. Die 19jährige Marie S. hat eine Rißwunde am Hinterhaupt, und wenn die Neugierde der Umstehenden dem Interesse für den Samariter und dieses endlich ihm selbst Platz gemacht hat, so fährt sein Automobil durch ein Spalier von Hochrufern zur Rettungsgesellschaft. Falls die Aktion nicht noch durch den Umstand verzögert wurde, daß Fräulein Körmendy und Fräulein Löwenstamm ihre Autographenalbums bei sich hatten.

 

Ein feines Ohr

hat Liebstöckl:

Doch gewahrt das feinere Ohr nicht selten die edlere Linie des alten Burgtheaterlustspielgeistes, der Siebert, Maierhofer, Günther, Huber und Schmidt umweht.

Mein stumpferes Auge würde da den edleren Ton des alten Burgtheaterlustspielgeistes, der Sonnenthal, Meixner, Hartmann, Schöne und Gabillon umweht hat, kaum gewahren.

 

Hungerkünstler da und dort

In Deutschland:

Vor dem Leipziger Schöffengericht hatten sich heute der Hungerkünstler Harry Nelson, alias Reinhold Ilmer, aus Berlin, der Kaufmann Schützenbühel aus Berlin und der Wärter Bernhard Müller wegen Betrugs zu verantworten. Nelson war in Leipzig als Hungerkünstler aufgetreten und wollte fünfundvierzig Tage hungern. Am zweiunddreißigsten Tage kam auf, daß der Hungerkünstler durch längere Zeit in der Früh Biomalz zu sich genommen hatte, das ihm vom Wärter Müller im Einverständnis mit dem Angeklagten Schützenbühel zugesteckt worden war . . . Nelson wurde zu zwei Jahren, zwei Monaten Gefängnis, Schützenbühel zu vier Monaten Gefängnis und Müller zu einer Woche Gefängnis verurteilt.

In Österreich:

In einem Bierkeller des 3. Bezirkes hungert der Hungerkünstler Fred Ellern heute den 46. Tag. Während er bisher gesundheitlich keinerlei Besorgnis erregte, haben sich gestern Herzkrämpfe eingestellt, und auch eine Untersuchung der Lunge hat zu Befürchtungen Anlaß gegeben.

Aus diesem Grunde ist Fred Ellern sowohl von einem Privat- als auch von einem Polizeiarzt untersucht worden und die Polizei will heute oder morgen die Entscheidung treffen, ob der Hungerkünstler weiter hungern darf oder nicht. Die Temperatur betrug heute früh 36.4 Grad, der Puls 94 . . .

Es ist begreiflich, daß Ellern weniger aus Rekordgründen, als vielmehr aus materiellen Ursachen über Pfingsten durchhalten will, um sich die erhöhten Einnahmen infolge des Pfingstbesuches zu sichern. – –

Die völlig verschiedene Art, wie sich da und dort die Bestialität äußert, zeigt die Schwierigkeit des Anschlusses. In Deutschland ist man gegen Hungerkünstler, die nicht durchhalten wollen, weit unerbittlicher als gegen Fürsten, die während des Weltkriegs noch ganz anderes zu sich genommen haben als Biomalz und die Zuschauer noch ganz anders betrogen haben. In Österreich, wo kein Volksbetrüger einer erpresserischen Journalistik zwei Jahre und zwei Monate bekommt, würde man vielleicht nicht einmal einem mogelnden Hungerkünstler eine so bestialische Strafe aufmessen. Natürlich legt man auch hier großen Wert darauf, daß reelle Arbeit geleistet wird, und steht einem, der hungern will, um nicht zu verhungern, noch am 46. Tag mit der Devise gegenüber: Leben und leben lassen! Daß eine Frau, um leben zu können, ihre Körperlust verkauft, wird da und dort von der Sittlichkeit verpönt und bedarf der behördlichen Bewilligung. Der Mann, der seine Körperqual zur Schau stellt, füllt seinen sozialen Beruf aus und bekommt es nur mit der deutschen Justiz zu schaffen, wenn er die Kunden um die Herzkrämpfe verkürzt. Es ist eine Freude, in solchen Gemeinwesen zu leben, wiewohl es in andern auch nicht ungemütlicher herzugehen scheint. Wer möchte zum Beispiel nicht gern der Landsmann der Leute sein, die einander jüngst in New York zu Tode getreten haben, um einem Filmstar, der es vom Kellner zum Frauenbezwinger zweier Weltteile gebracht hatte, die letzte Ehre zu erweisen? Und mit derselben Begeisterung wird dieselbe Herde dort und überall in den nächsten Weltkrieg rennen, wenn ein gebietender Trottel oder ein Parlament von ebensolchen ihrer Blutgeilheit das rechte Phantom vorhält. Indes aber vertrauen sie auf Voronoff.

 

Das gibt es jetzt

Der ›Morgen‹ – mit dem sympathischen »Götz« Vertreter jener Sorte Humor, die in das Schönpflugische und Infanteriezwocklhafte der ›Muskete‹ ein Geschäftsreisendentempo gebracht hat und glücklich so etwas wie die jüdischen ›Wiener Stimmen‹ ergibt – hat eine Rubrik »Dummheiten der Woche«, die aber auch noch die Roheiten des Montags einschließt, wie der folgende Fall beweist:

»Neue Freie Presse«, Abendblatt vom 1. Juli 1926: »Als Ursache der Explosion wird angegeben, daß bei einer Nachtübung die Granate von einem Soldaten gefunden und zur Kompagnie gebracht wurde, die dabei explodiert sei.«

Wer ist also zersprungen? Die Granate, der Soldat oder die Kompagnie?

Der Zerspringhumor muß also, um auf seine Kosten zu kommen, die Übersetzung des Wortes »explodiert« vornehmen, und er muß eigens den »Soldaten« berücksichtigen, der doch von dem stilistischen Fehltritt der Neuen Freien Presse gar nicht berührt ist. Der Beweis, daß diese nicht deutsch kann, hat zunächst die Vorstellung zu rechtfertigen, daß eine Kompagnie, also eine Mehrheit von Menschen »explodiert« sei, was es ja nicht gibt, was sich aber doch irgendwie mit dem Greuel verbindet. Um aber den grammatikalischen Nonsens zu einem Sinn von Unmenschlichkeit zu machen, läßt der Witzkopf die Kompagnie »zerspringen«, und vollends schmackhaft wird die Bestialität durch die Vergegenwärtigung des einzelnen Soldaten, der auch »zersprungen« sein muß, wiewohl sich an ihn der Relativsatz mit »die« nicht anschließt, er also bei der scherzhaften Herstellung einer gräßlichen Wirklichkeit jedenfalls aus dem Spiel zu bleiben hätte. Ist solch übler Humor nicht von noch gefährlicherer Seelenlosigkeit, von einem noch größeren Minus an Phantasie bezogen als das üble Deutsch, das er treffen will? Packt man solche Scherzbolde, so haben sie es nicht so »gemeint«, da sie natürlich keiner Fliege ein Haar krümmen könnten. Aber alle unsittliche Wirkung geht von denen aus, die es nicht so gemeint haben und die sich eben das nicht vorstellen können, was sie nur schwätzen und vor allem schmieren. Die freiheitlichen und freimaurerischen Kreise, denen der ›Morgen‹ nahesteht, sollten aufmerksam werden, welche Humanität sie da tolerieren und welchen Pazifismus einer Journalistik, die die Stofflichkeit des Todes und das »Menschenmaterial« für ihren nichtswürdigen Humor nicht anders einsetzt, als einst die Generalität für ihren nichtswürdigen Ernst. Bei aller pflichtschuldigen Verachtung für das Handwerk vom Anbeginn seiner Existenz muß doch gesagt werden, daß die alte Journalistik ein Tugendbund war neben dem, was es jetzt gibt.

 

Dezember 1926

Gebet der deutschen Jungfrau

Aus den ›Münchner Neuesten Nachrichten‹

Eine Schönheit bin ich nicht

hab jedoch ein freundlich Gesicht, viel Witz u. Geist, auch Humor u. ziemlich dicke hinterm Ohr. – Ich sing u. spiele gut Klavier, schwimme wie ein Wassertier, ich laufe gut auf Eis u. Schnee u. steig auf Berges höchste Höh'; mich freuet sehr Natur u. Kunst, verabscheu aber eitlen Dunst‹. –

Hab dunkle Augen, dunkles Haar, bin flott gewachsen, das ist wahr; bin auch geschäftlich tüchtig, nehm ernste Sache wichtig. – Ich bin kath., religiös, 26 alt u. nicht nervös, leg Wert auf gut Gewand, zum Ekel ist mir öder Tand. – Ich hab Geschick zum Kochen, Nähen u. möchte jetzt den Mann erspähen, der gerade so wie ich, ein warmes Nest ersehnet sich, ein glücklich deutsches nettes Heim, das nie mehr gehet aus dem Leim. – Auch Einheirat in Vaters Geschäft, das brillant geht, wär mir recht. – Ich hab ein Haus u. auch ein Geld, das Nötige für diese Welt.

30-33 sei der Herr, bevorzugt Akademiker, Dr. jur. u. rer. pol. findet sich am Ende wohl. – Er sei kath. u. gesund, von bestem Ruf u. nicht zu rund; ca. 1.70 in der Höh, mit oder ohne Portemonnaie. – Ausschlaggebend kann allein, nur gegenseitige Neigung sein. – Ausführliches mit Bild (retour) erbeten unter AZT 324825 an die Münchner Neuesten Nachrichten. Diskretion beiderseitig Ehrensache.

Auch meinerseits.

 

Die Anekdote

Unter dem Titel »Nachkriegsgreuel« zitiert die ›Arbeiter-Zeitung‹ aus einer Zeitung des Rheinlandes »Feldgraue Erinnerungen«:

Der Engländer.

Der Hotzenloisl hat alleweil Hunger.

Und wenn der Loisl Hunger hat, dann ist er imstand und schießt – sich einen Engländer, der etwas unvorsichtig als vorgeschobener Grabenposten aus der Deckung lugt.

»Krach piff!«

Der Engländer liegt. Und der Loisl setzt über spanische Reiter und Trichterfelder weg und holt sich dessen wohlgefüllten Tornister.

Im Graben kramt er aus: Brot, Konservenbüchsen, Schnäpse.

Neidvolle Augen umlauern ihn. Sagt der Bachlmuck, der auch alleweil Hunger hat: »Geh weiter, laß mich doch auch mithalten.«

Sagt der Loisl saukalt: »Könnt' mir einfallen . . . Schieß dir selber einen!«

Und bemerkt dazu:

Der schmockische Erdgeruch, der der Anekdote entströmt, befreit die deutschen Krieger von dem Verdacht, daß sich unter ihnen dergleichen zugetragen hat. Der Widerwille, den sie hervorruft, kann nur diejenigen treffen, die mit solchen Erfindungen den Kriegsgreuelgeist pflegen wollen, natürlich zur höheren Ehre der Monarchie.

Dazu ist erstens zu sagen, daß der Titel falsch ist, da es sich um rechtschaffene Kriegsgreuel handelt und »Nachkriegsgreuel« sich höchstens auf Begebenheiten aus der Zeit beziehen könnten, wo dieselben Leute, die soeben in der Sphäre des »Abschießens« gevöllert hatten und am Blutbetrug beteiligt waren, sich auf den Raub umstellten. Zweitens haftet der Anekdote kein schmockischer Erdgeruch an, sondern der unverfälscht bajuvarische, und es wird kaum möglich sein, die deutschen Krieger von dem Verdacht zu befreien, daß sich unter ihnen dergleichen zugetragen hat, da unter den unzähligen Tatsachen entfesselter Bestialität in allen Kriegslagern vom ersten Tag ihres Ausbruchs an gerade das »Abschießen« auf bayrischer und österreichischer Seite eine Hauptrolle spielte. Wenn sich die Gesinnung, die dergleichen nicht nur preist, sondern ihm eine humorige Seite abgewinnt, durch zehn Jahre nach Kriegsschluß erhalten hat, so kann man wohl ermessen, wie tief sie in der Stimmung jener Tage verankert war. Erfunden ist an der Anekdote höchstens das Greuel der pointierten Fassung, nicht der Gefühlsinhalt: die mechanische Bereitschaft des Mordens, sei es im Dienst der vaterländischen Phrase oder des durch sie verursachten Hungers; und wenn die Pointe diesen Inhalt herausarbeitet, so wird sie dem psychischen Sachverhalt der damaligen Situation durchaus gerecht, der spontanen Verwandlung des Spießers oder gemütlichen Trottels in eine saukalte Bestie. Drittens aber ist es völlig falsch, zu meinen, daß der Widerwille, den die Anekdote hervorruft, bloß eine politische Tendenz gegen die militärisch-monarchistisch orientierten Erfinder habe. In Wahrheit ist die Publikation, ob sie nun eine wahre oder eine zufällig erfundene Begebenheit betrifft, ein kulturelles Symptom von außerordentlicher Bedeutung und der Widerwille richtet sich leider gegen eine Nation, in deren Sprache derartige Reminiszenz und vor allem das Behagen an ihr möglich ist. Denn völlig undenkbar wäre, daß heute in einem Ghurka-Blatt eine Bluttat von damals in der Perspektive eines »Gut gegeben« der ›Fliegenden Blätter‹ erschiene und daß Farbige, ohne auch schamrot zu werden, mit Schmunzeln bei der Erinnerung an das Abenteuer ihrer Hotzenloisl und Bachlmuck verweilten. Vor solcher Saukälte ginge ihnen denn doch ein Schauer über den Rücken, den die Feldgrauen noch heute nicht spüren. Dagegen scheint also kein Umsturz etwas zu vermögen, und es setzt schließlich eine kulturhistorische Anekdote ab, die den andern beliebten Titel führt: »Immer derselbe«.

 

Die findige Post

Ungewöhnliche Dinge haben sich da begeben:

Ernst Lothar schloß seine Einführung mit der Verlesung eines Briefes, der ihm während seines Vortrages überreicht wurde. Professor Max Liebermann, der Präsident der preußischen Akademie, hat an Heinrich Mann die Mitteilung gerichtet, daß die Sektion für Dichtkunst ihn in ihrer ersten Sitzung zum Mitglied gewählt habe, und fragt vertraulich an, ob Mann die Wahl annehme.

Und da Heinrich Mann annimmt, hatten die Anwesenden Gelegenheit, dem Ausgezeichneten ihre Genugtuung darüber zu bezeugen.

Der Brief mit der vertraulichen Anfrage muß also spät abends eingetroffen und von der Post irrtümlich statt an den Adressaten Heinrich Mann an Herrn Ernst Lothar ausgeliefert worden sein, wiewohl dieser gerade einen Vortrag hielt und schon an und für sich als Pseudonym schwer auffindbar ist; denn während man glauben möchte, daß er Rudolf Lothars Bruder ist und also Spitzer heißt, verbirgt er sich als der Bruder Hans Müllers. Aus dem Brief ging aber noch nicht die Antwort hervor, nämlich, ob Herr Mann annimmt oder ablehnt. Wie erfuhr Herr Lothar dieses? Und vor allem: wie konnte ihm, während er sprach, ein Brief überreicht werden? Das ›Extrablatt‹ ist genauer informiert:

Während der gestern abends im großen Musikvereinssaal stattgefundenen Vorlesung Heinrich Manns traf in Wien ein Schreiben der Deutschen Dichtersektion aus Berlin ein, in welchem Heinrich Mann die Aufnahme in die Deutsche Dichtersektion mitgeteilt wurde.

Ernst Lothar hatte eben einen einleitenden Vortrag begonnen, als ein Diener das Schreiben in den Saal brachte. Daraufhin las Ernst Lothar den Brief vor, der, von Max Liebermann gezeichnet, an Heinrich Mann die Anfrage richtete, ob er die Aufnahme in die Deutsche Dichtersektion annehme. Ernst Lothar konnte gleichzeitig die bejahende Antwort des Dichters dem Publikum mitteilen, das die Nachricht mit stürmischem Beifall aufnahm.

Manches bleibt doch unaufgeklärt. Nehmen wir also getrost an, daß am Abend im Hotel des Herrn Heinrich Mann ein Brief aus Berlin eingetroffen war, den der Portier sofort ins Künstlerzimmer nachgeschickt hat (da er ahnte, daß darin die Berufung in die Akademie enthalten sei). Man entschloß sich, den Brief durch einen Diener aufs Podium zu schicken. Er dachte, wenn er sich schon durch Herrn Ernst Lothar eine »Einführung« in seinen Vortrag besorgen läßt – Lothars Bruder Hans Müller ist offenbar für Thomas reserviert –, so gehe dies in einem. Die Post, das Hotel, der Dichter, der Diener – alles klappte tadellos. Wie aber erfuhr Herr Lothar, daß der Dichter die Berufung annimmt? Da bleibt nur die Vermutung, daß dieser einen Zettel mitgeschickt hat mit den kurzen, aber inhaltsschweren Worten: Sagen Sie, ich nehm' an! . . . Es kommt selten vor, daß während einer Produktion ein Diener auf dem Podium erscheint, höchstens bei Todesfällen oder wenn ein Vortragender das Publikum dermaßen langweilt, daß er abgeführt werden muß, was tatsächlich einmal in Wien geschehen sein soll. Herr Ernst Lothar dürfte erschrocken sein, als der Diener herannahte, aber er bewies eine Geistesgegenwart, die vielleicht im Vortrag selbst nicht so ganz zur Geltung kam. Davon, daß zwischen so ernsten Männern etwa eine Komödie abgekartet worden wäre, indem ihnen Berufung und Annahme schon vor Beginn des Vortrags bekannt waren und nur um die Stimmung des Publikums zu heben, der Zwischenfall mit der Intervention des Dieners inszeniert wurde, davon könnte doch nicht die Rede sein. Kläglich genug bleibt ja die Vorstellung, daß die Akteure selbst überrascht waren und sich keinen anderen Ausweg wußten als die Mitteilung an das Publikum. Die öffentliche Haltung Heinrich Manns hat bisher für solche Vorstellungen wenig Raum gelassen. Aber die Würde eines deutschen Dichterakademikers scheint eben allerlei Konzessionen zu bedingen.

 

Wiener Leben

. . . Frau W.: Unser Haus ist rot, ich aber bin farblos. – Richter: Was sind Sie, farblos, was soll das heißen? – Frau W.: Das soll heißen, daß mich die Politik weniger interessiert als der Radetzkymarsch. Und weil mich die Politik nichts angeht, habe ich am 1. Mai meine Teppiche geklopft, das geht doch niemanden etwas an. Aber die Roten in unserem Haus haben natürlich gleich ein großes Wasser aus der Geschichte gemacht . . . Schließlich versucht der Richter noch mehrmals, einen Ausgleich herbeizuführen . . . Frau W.: Ich bin doch eh bereit, Herr Richter. Mit allen gleich ich mich aus, nur mit dem Alfred und seinem hohen Bildungsgrad nicht. Der soll sich merken, daß man nicht schimpfen darf. Den Goethe haben s', so viel ich weiß, auch eingesperrt, weil er das Götzzitat gebraucht hat. Und der war doch gewiß ein studierter Herr . . .

Ja, ja, dahin mußte es einmal kommen. Was aber das Teppichklopfen anbelangt, so wäre es besser, wenn die Roten nicht bloß am 1. Mai, sondern an jedem Tag ein großes Wasser daraus machten. Und alles, alles wäre anders, wenn sie damals, als es ans große Reinemachen ging, einer Verrichtung, in der sich die wahre hausherrlich-bürgerliche Bestialität austobt – an Teppichen, Dienstbotenlungen und unser aller Ruhe –, ein Ende gemacht hätten. Aber sie haben ja auch den Fußmarsch, der uns von der Straßenseite weckt, beibehalten, und in nichts drückt sich die Nichtveränderung des Lebens besser aus als in dem Fortleben von Geringfügigkeiten, in Wahrheit Privilegien der Tobsucht, die das fremde Lebensgut konfisziert.

 

Was die ›Reichspost‹ mit dem deutschen Dichter sagen kann

. . . Da kann man nur mit dem deutschen Dichter sagen: Und der Gast wendet sich mit Grausen.

Das tut er ganz bestimmt; denn es würde ihm keinesfalls, und wenn er sich noch so sehr anstrengt, gelingen, es mit dem deutschen Dichter zu sagen – es kommt und kommt halt kein Vers heraus. Da ist es eben der ›Reichspost‹ widerfahren, daß sie das »da« bereits konsumiert hatte und nun kopfscheu wurde. (Sie sollte sich von Herrn Hofmannsthal für alle Fälle ein paar »da« ausborgen.) Auch scheint sie geschwankt zu haben, von welchem deutschen Dichter es ist, weil doch sonst gar kein Hindernis bestünde, ihn zu nennen. Es ist aber von jenem, der sich mit Grausen gewendet hat, als der andere das Götz-Zitat gebrauchte, für das er auch, wie eine Leserin der ›Reichspost‹ erzählt hat, eingesperrt wurde. Schrecklich übrigens diese Geschichte mit dem Götz-Zitat. Das kommt davon, daß die ganze Gegend fasziniert ist von dem Humor dieser Berufung, auf den ja ein eigenes tierisches Witzblatt gegründet wurde. Einem Europäer fehlen alle Voraussetzungen für solchen Genuß. Neben mir aber saß einmal ein Hiesiger, von dem ich geschworen hätte, daß er auf die ›Reichspost‹ schwört und »Sie regnet« sagt. Der starrte in den ›Götz‹ und war total verinnerlicht. Plötzlich brachte er ganz trocken die Worte hervor: »Zum Schießen der Götz.« Er skandierte nicht einmal, stellte nur fest, aber in ihm war Ergötzen. Ein Europäer, der keine Ahnung hat, daß Schießen den von Berlin übernommenen höchsten Ausdruck der Lebensfreude bedeutet, hätte nach der Leichenbittermiene, mit der jener es sagte, geschlossen, daß er den Götz erschießen wolle, eine Regung, die ja auch ihm verständlich wäre. Es war die gespenstischeste Auswirkung des Witzblatthumors, die ich je gesehen habe. Und der Gast wandte sich mit Grausen.

 

Ein Opfer der Breitner-Steuern

Totenübel wird einem, sooft man auf das Cliché des Wiener Grolles stößt: »der Breitner«. Wie aber die Dummheit, die es sich zugelegt hat, selber als das Resultat einer Steuerrechnung herauskommt, zeigt der Fall, der dem Neuen Wiener Journal passiert ist, mit einem Originalbericht, der ein anderes Malheur behandeln wollte, nämlich: »Was einem Wiener Vortragsmeister in Wien passiert ist«. Untertitel: »Ein Opfer der Breitner-Steuern«. Da wird erzählt, daß im mittleren Konzerthaussaal ein Filmvortrag stattgefunden habe mit einer Einnahme von 2800 Schilling. Nach Abzug der Kosten durfte ein ansehnliches Reinerträgnis erwartet werden, »zur peinlichen Überraschung des Vortragenden« kam ein Defizit heraus. Und zwar aus dem Grunde, weil der Filmvortrag eben als solcher behandelt, also mit Recht einer höheren Lustbarkeitssteuer unterworfen wurde. Da nun aber auch der Abzug von 28½% noch kein Defizit ergeben würde, so komplettiert das Neue Wiener Journal das Martyrium des Opfers der Breitner-Steuern durch die Warenumsatzsteuer (2%), die der Staat einhebt, die Verkaufsprovision für Karten (10%), die der Veranstalter einhebt, und die Spesen der Saalmiete, die gleichfalls nicht dem Breitner zufließen. Die Liste macht schon den plastischen Eindruck seines Sündenregisters, aber sie ist nicht vollständig. Denn es blieben ja noch immer zirka 45% für den Vortragenden, die sich offenbar und auf geheimnisvolle Weise doch der Breitner anzueignen gewußt hat. Wofür wurden diese 45% von 2800 Schilling – oder noch mehr, da der Vortrag ja ein Defizit ergeben hat – aufgewendet? Der Originalbericht sagt es mit einer schlichten Zeile, über die man getrost hinweglesen mag und bei der sich nur Nörgler aufhalten können:

Dazu die Spesen für Reklame und andere Propaganda.

Man kann also errechnen, daß bei einer Einnahme von 2800 Schilling mindestens 1250 für eine wahrscheinlich wertlose Reklame oder Propaganda dem Vortragenden in Rechnung gestellt wurden. Ob nun diese ganze Summe den Administrationen der Wiener Presse oder ein Teil von ihr dem Konzertveranstalter (für die aufreibende Tätigkeit der Annoncenaufgabe) zufloß, jedenfalls dürfte der Breitner – außer der Annoncensteuer – weniger davon erhalten haben als das Neue Wiener Journal, und sicher reicht die erhöhte Lustbarkeitssteuer, die doch immerhin gemeinnützigen Zwecken zufällt, beiweitem nicht an den Betrag heran, der in diesem Fall an die Wiener Presse abgeführt werden mußte. Er konnte unmöglich in die Liste aufgenommen werden, weil ja sonst die ganze Anschaulichkeit verloren gegangen wäre, indem man sofort erkannt hätte, daß 45% mehr sind als 28½. Da aber doch eine gewisse Aufklärung über den Rest nötig war, so mochte er so beiläufig in einer Nachtragszeile erwähnt werden. Von der Zeitung wird ja keine Genauigkeit im Detail verlangt, wie sie die Originalrechnung bietet, in der gewiß verzeichnet steht, wieviel auf das Neue Wiener Journal entfallen ist, und schließlich handelt es sich ja nicht darum, sondern um den Titel. Richtiger hätte er zwar gelautet: »Was einem Berliner Vortragsmeister in Wien passiert ist. Ein Opfer der Kreuzelnotizen«. (Deren eine gleich in derselben Nummer seinen nächsten Vortrag anzeigt, so daß der Verdacht auftaucht, die Steuerbeschwerde sei eine unbekreuzelte Draufgabe.) Aber einen Originalbericht, der die Wiener Spesen vervollständigt, würde das Neue Wiener Journal denn doch nicht bringen.

 


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