Karl Kraus
Kanonade auf Spatzen
Karl Kraus

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1920

November 1920

Ein Vorschlag

29. Oktober 1920.

An die

Friends' Relief Mission
(Englisch-Amerikanische Hilfsmission der Gesellschaft der Freunde)

Wien, I. Singerstraße 16

Ew. Wohlgeb.

Sie teilen dem Herausgeber der Fackel mit, Ihre Mission beziehe viele Spenden »von ärmeren Leuten in England und Amerika, das heißt von denjenigen, die einen sozialen Sinn haben«, und viele von diesen sagten jetzt, »sie würden schon gerne weiter mithelfen, wenn Österreich auch etwas tut, um sich selbst zu helfen«. Daran knüpfen Sie die einigermaßen rhetorische Frage: »Was tun eigentlich die Wiener und Wienerinnen für ihre eigenen Kinder?«, und sind, um doch eine Antwort darauf zu finden, entschlossen, eine Sammelwoche in Wien zu veranstalten und den Ihrem Brief beigelegten Aufruf in allen Cafés, Restaurants, Theatern usw. zu verbreiten. Auch die Presse habe schon versprochen, »recht viel über die Sache zu veröffentlichen«, also von dem kostbaren Raum, der der Förderung von Nachtlokalen gewidmet ist, einiges zu opfern. »Nun ist uns«, so schließen Sie, »gesagt worden, daß so etwas unbedingt nicht ohne den Beifall des Fackel-Kraus gemacht werden könne, und so schreibe ich Ihnen hiemit, um zu wissen, ob ich vielleicht doch durch die eiserne Wand durchdringen könnte, die Sie zu umhüllen scheint, und mit Ihnen die ganze Sache besprechen«.

Die Besprechung ist aus dem Grunde überflüssig, weil wir Ihnen auf diesem Wege mitteilen können, daß der Beifall des Herausgebers der Fackel zu Ihrem Projekt nur bei jenem Wiener Gesindel zweifelhaft sein kann, von dessen Sitten Sie schon an dem Ausdruck »Fackel-Kraus« eine Vorstellung haben, ohne doch als Ausländer – sonst würden Sie's ja nicht nachsprechen – die verachtende und verächtliche Gesinnung spüren zu können, die sich in solcher nur hier möglichen Prägung manifestiert. Seien Sie versichert, daß es dieselbe ruchlose Gesellschaft der Feinde ist, die nichts zur Unterstützung Ihrer edlen Absicht beitragen wird, die Sie aber vermutlich für die eigene Passivität durch einen falschen Ratschlag entschädigen wollte, indem sie Ihnen einredete, der Herausgeber der Fackel, der prinzipiell alles angreift, werde durch einen Appell an seine stadtbekannte Eitelkeit ausnahmsweise zu einer organisatorischen Mitwirkung zu haben sein. Nun ist eine solche ganz und gar nicht seine Sache und was er in der Ihren tun kann, ist, daß er den Teil des Ertrags seiner Vorlesung vom 1. November, der wie immer einem wohltätigen Zweck vorbehalten ist, Ihrer Aktion zuwendet. Wir haben den Betrag schon am 28. Oktober an Ihre Adresse abgesandt. Der Herausgeber der Fackel ist aber bereit, in diesem Fall, in dem es sich erweisen soll, ob das Beispiel der ärmeren Leute in England und Amerika von den reicheren Leuten in Wien befolgt wird, wo es sich doch um die ärmeren Leute von Wien handelt, noch ein Weiteres zu tun. Er empfiehlt Ihnen, nach der Sammelwoche ein Verzeichnis aller jener Bewohner der Inneren Stadt wie der eleganteren Straßen der andern Bezirke herstellen zu lassen, die sich an Ihrer Sammlung nicht oder in offenbar unzureichendem Maße beteiligt haben. Er ist gern bereit, es zu veröffentlichen, so umfänglich es auch ausfallen mag, da ja zu erwarten ist, daß sich nur wenige die Ehre entgehen lassen werden, in der besten Gesellschaft zu erscheinen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Der Verlag der Fackel.

 

Empfang durch die Kriegsberichterstatterin

Doch in diesem Klima gedeiht selbst dies zur Operette. Sie kehren zurück. Sechs Jahre lang hatte das Vaterland, der Schuft, sie von der Heimat getrennt. Sie kehren zurück und viel hundert erwartende Herzen klopfen so laut, daß kein fremdes Wort sich hören ließe. Was ist alles Ekrasit jenes Kriegs gegen die Sprengkraft dieser Gefühle! Wann hätte je ein Bahnhof so viel schmerzliches Glück umfaßt! Wann gab es ein Wiedersehn, so in allen Falten des Gesichts betränt von dem unbegreiflichsten Abschied? Dies Unsägliche, wer verstummte nicht davor? Dies Unbeschreibliche, wer wollte es beschreiben? Wer, der nicht zugehörig ist, wagte dabeizustehn? Wer träte zwischen ein Mutterherz und den Wiedergeborenen mit dem Vorrecht auf seine Empfindungen? Die Kriegsberichterstatterin! Sie, die Soldatenleichen photographiert hat, empfängt die aus dem Grab Erstandenen. Das Feuilletongespenst, das durch alle Höllen dieses Abenteuers geschritten ist, erscheint nun an der Pforte der Erlösung, mit der in Not und Tod, in allen Lagen und Gelegenheiten dieser heroischen Aktion, zu Land und Wasser und in der Luft, in Stürmen, Gefahren und Unternehmungen aller Art, beim Ausputzen von Schützengräben und beim Champagnisieren in Offiziersmessen unerbittlich gestellten Frage: Was empfinden Sie jetzt, was denken Sie sich dabei, Sie müssen sich doch etwas denken! – Ich weiß ja längst, daß man der Meinung ist, die Dinge, die wir in diesen Jahren, seit jene in Sibirien waren, gelebt und gelesen haben, seien von mir erfunden. Fast glaubte ich es selbst, wenn ich's nicht auch gelebt und gelesen hätte. Und so habe ich, meinen abgehärteten Augen nicht trauend, dennoch in der Neuen Freien Presse, der Unverwüstlichen, gelesen, wie die Schalek sich darüber beklagt, daß sie gar nicht zum Ausfragen eines Heimgekehrten gelangen konnte, weil sie zwar rechtzeitig zwischen ihn und seine Mutter getreten war, aber dann leider doch die Mutter zwischen ihn und die Schalek trat. Wer's nicht glaubt, höre:

Nun kommt der Augenblick, wo sich Mütter, Väter, Kinder und Bräute um die Heimkehrer scharen . . . Freilich, es gibt auch hier noch Leid. Der eine erfährt, daß seine Mutter schon seit zwei Jahren begraben ist, einen hat überhaupt niemand abgeholt und die zwei weinen jetzt wie ganz kleine Kinder. Die meisten aber haben sofort ihre Lieben um sich, in den Armen der Mutter versinkt manch einer für schier endlose Zeit. Und sofort belegt sie ihn eifersüchtig mit Beschlag, versucht man, ihn etwas zu fragen, doch ein kleines ganz verschrumpftes Frauchen kommt treuherzig zurück: »Nein, er soll nur erzählen, daß es viele erfahren, was er erlebt hat. Ich dachte, es sei nur neugierige Ausfragerei

Das treuherzige Frauchen sah, daß sie die Schalek vor sich habe, und ward sogleich andern Sinnes, da es sich eben nicht um Ausfragerei, sondern um Psychologie handelt und zwar nicht für eigenen Gebrauch, sondern für das Blatt. Die Mutter selbst war leider beiweitem nicht so einsichtig. Als der Sohn für schier endlose Zeit in ihren Armen versank und die Schalek doch nicht so lange warten konnte, trat sie dazwischen und legitimierte sich: Bitte, mir schütten Sie Ihr Herz aus! Was haben Sie in den letzten sechs Jahren empfunden? Sie müssen Furchtbares durchgemacht haben! Und was empfinden Sie jetzt, da Sie nachhauskommen und mich wiedersehn? Erkennen Sie mich nicht? In der Schlacht bei Lemberg, knapp bevor Sie in Gefangenschaft gerieten, war ich bei Ihnen und hab Sie gefragt, was Sie empfinden, was Sie sich dabei denken, Sie müssen sich doch etwas dabei denken, also was denken Sie sich dabei? . . . Der Heimgekehrte schweigt wie einst. Er blickt nach der Mutter aus. Die nähert sich sofort und belegt ihn eifersüchtig mit Beschlag.

 


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