Karl Kraus
Kanonade auf Spatzen
Karl Kraus

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1922

März 1922

Aus dem DeutschenVorgelesen nach »Aus dem Ungarischen«

Dieses war die ungarische Kultur. Nun folgt die deutsche. Ich werde in Deutschland doch schon ziemlich geschätzt. Da habe ich z. B. im Jahre 1919 den folgenden Brief erhalten.

Berlin, den 7. Februar 1919.

Sehr geehrter Herr Kraus!

Gestatten Sie mir als Bewunderer Ihrer Kunst, wenn Sie auch leider in Berlin sehr selten zu sehen sind und Ihre Zeitschrift »Die Fackel« selten nach Berlin gelangt, daß ich mich mit einer Bitte an Sie wende.

Im Verlage Wilhelm Borngräber erscheint eine Zeitschrift für den gebildeten Herrn mit dem Titel »Der Junggeselle« in Bälde, wenigstens die Probenummer, wozu ich unbedingt Ihre Mitarbeit gebrauche. Da ja der Verkehr nach Österreich sehr erschwert ist, so möchte ich Sie gleich heute um eine bestimmte Zusage für uns bitten und möchte für unsere erste Nummer Aussprüche, Splitter oder ein kurzes Essay über die Lebensweise des Herrn, gerade über die banale, lebensdumme Art des heutigen snobistischen Herrn haben, und würde Sie bitten, mir doch umgehend, da Sie schon in der ersten Nummer erscheinen sollen, einen Kostenanschlag zu schicken. Auch möchte ich Sie als ständigen Mitarbeiter für mindestens eine Nummer im Monat, wenn auch nur mit ein paar Zeilen, bitten. Denn ich weiß, was für einen großen Leserkreis Sie gerade bei uns in Berlin hätten, doch kommen wir leider nie auf unsere Kosten, da scheinbar nie etwas von Ihnen über die Grenze kommt. Herr . . . . ., unser Beauftragter in Wien, wird sich erlauben, bei Ihnen vorzusprechen (Anm. Ist wohlweislich unterblieben, obschon ich parterre wohne.) Mitarbeiter wie Bernhard Kellermann, Dr. Karl Hauptmann, Georg Kaiser, Alice Salomon, Professor Pazaurek, sind schon für die Mitarbeit gewonnen. Sie sehen also, Sie sind in nicht allzu schlechter Gesellschaft. Beiliegendes Exposée setzt Ihnen etwas den Charakter unseres Blattes auseinander.

Ich hoffe möglichst bald trotz der Postkalamität von Ihnen, sehr geehrter Herr Kraus, Antwort zu erhalten.

Ergebenst
– –    

1 Anlage.

Das Exposee:

Es gibt in Deutschland über 400 Zeitschriften, welche die Interessen und Ansichten der Frau oder der Dame vertreten, doch heute keine, die dem Mann oder dem Herrn gehört. So schritten wir zur Gründung des Blattes und nannten es

»Der Junggeselle«
Wochenschrift für den gebildeten Herrn.

Wenn vielleicht auch manche, und auch Sie sogar der Titel »Der Junggeselle« abschreckt, so werden doch die meisten ein Schmunzeln, Lächeln haben, wenn ihnen der Name des erste Mal begegnet. Und das wollen wir. Es soll kein Blatt sein wie die »Elegante Welt« oder »Die Dame«, eine Modezeitschrift, zusammengestellt in althergebrachter Weise . . . Nein, alles was um uns geschieht und in uns lebt, in geistreicher, quirlender Form herausbringen, jedes Gebiet soll behandelt werden: Das Buch, die Kunst, Wissenschaft, der Roman, die Novelle, das Theater, das Leben um den Herrn, die Wohnung und Annehmlichkeiten, Sport und Reise. Ja Börse und Politik sogar. Doch alles in kultiviertester Form und vergeisteter Art. Der alte, leider so entschwundene geistreiche Witz, die lächelnde Satire, die heute leider zur Zote geworden ist, sollen in vollendetster Form neu erstehen. Doch dazu brauchen wir einen Stab erster Mitarbeiter, und da glauben wir, bei diesem noch nicht erschlossenen Gebiet wird so mancher etwas oder sogar viel zu sagen haben. Der Götze Zensur liegt ja in Trümmern.

Nur von erstklassigen Malern und Illustratoren sollen die einzelnen Nummern ausgestattet werden, jede Nummer von einem Künstler. Der literarische Teil soll sich der Eigenart des Illustrators anpassen, so daß jedes Blatt einen eigenen Charakter trägt, z. B. wird bei einem Heft, das von einem Karikaturisten illustriert ist, nicht gerade ein tiefgründiges Essay Platz finden und bei einer Slevogt-Nummer nicht gerade eine spielende Plauderei. So soll die Zeitschrift jedem etwas bringen:

Dem Mann, der im hastenden Leben steht, der flüchtige Zerstreuung auf der Elektrischen in dem Blatte sucht, dem Herrn, der im weichen, tiefen Sessel beim heimelnden Licht mit seiner Freundin sitzt, dem geistig Hochstehenden, der die Kultur auch in leichter Form gern mal genießt, (doch auch ernsteste, seriöse Kunst soll gepflegt werden), dem Provinzler, der mit Röllchen und geklebtem Schlips sich in seiner Stadt als »der« Lebemann vorkommt, wenn er Abonnent des »Junggesellen« ist, dem alt gewordenen Mann, der schon völlig resigniert leicht lächelt im Lesen des »Junggesellen« und nicht zuletzt der Frau. Denn auch die Frau wird den »Junggesellen« im geheimen lesen und sehen wollen, wie er lebt, was ist seine Kost.

Glauben Sie mir, wenn die Frau in die Wohnung des verheirateten Mannes gehen soll, so denkt sie an die abgeklapperte Alltäglichkeit, aber die Wohnung des Junggesellen »Donnerwetter, da gehst du hin!«

Ich hoffe, ich habe Sie überzeugt, wir wollen kein Familienblatt sein, kein Philisterblatt. Mal Wein-, mal Bierstimmung, mal Beethovenmusik, mal Fledermaustöne. Doch alles voll Kultur und nicht abgedroschener konventioneller Alltäglichkeit.

»Machen Sie mit??«

Jawoll!

Und dieses Volk wollte siegen! Versailles ist hart. Aber man male sich aus, was im gegenteiligen Fall aus Europa geworden wäre!

 
Juli 1922

Hatte er auch das reiflich erwogen?

Dienstag vormittag wurde die 28jährige Marie Schidl, Trubelgasse Nr. 7 wohnhaft, am Gehsteig des Hauses Trubelgasse Nr. 9 von einem herabstürzenden Blumentopf am Kopf getroffen und derart schwer verletzt, daß sie binnen wenigen Minuten ihren Verletzungen erlegen ist. Während sie noch im Sterben lag, wurden ihr 9000 Kronen entwendet.

 

Und darum Räuber und Mörder!

Hierin ist aber die Identität der Person, die den Blumentopf so gestellt hatte, daß der Ausgang tödlich war, und des Leichenräubers enthalten:

[Die Verlegerhonorare für Exkaiser Wilhelm.] Unser Berliner Korrespondent meldet: In diesen Tagen hält sich der Direktor des amerikanischen Verlagshauses Harper Brothers das die Erinnerungen des ehemaligen Kaisers Wilhelm erworben hat, Brainard, in Berlin auf. Der diplomatische Mitarbeiter der »B. Z. am Mittag« hatte eine Unterredung mit ihm. Es ist Tatsache, daß der Exkaiser von dem amerikanischen Verlage für die Zeitungs- und Buchausgabe ein Honorar von 250.000 Dollar, also 80 Millionen Mark bezieht, das macht 600.000 holländische Gulden. Außerdem erhält der Kaiser eine hohe Tantieme von der Buchausgabe, die vielleicht eine halbe Million Dollar ergeben wird. An Ludendorff hat seinerzeit dasselbe Haus für seine Memoiren 40.000 Dollar gezahlt und 15 Prozent Beteiligung an der Tantieme, an Hindenburg 30.000 Dollar und ebenfalls 15 Prozent Tantiemen. Das Kaiserbuch wird zuerst in 16 großen amerikanischen Zeitungen erscheinen.

Nur daß es drei sind und der Raub erst bei eingetretener Leichenstarre erfolgte. Die drei sind also zusammen 320.000 Dollar nebst Tantiemen wert. Unter Brothers! Wenn man sie ihnen vor dem August 1914 gegeben hätte – wie sicher ginge heute die Menschheit ihrer Wege! Die ganze; nicht bloß jener Teil, der ausging, den Platz an der Sonne zu suchen, und bei stockfinsterer Nacht nachhause kam. Es ist wohl das sinnfälligste Sinnbild dieser Glorienpleite: der Sieger führt nicht mehr die Besiegten im Triumph auf, sondern kauft ihnen ihre Erinnerungen ab. Über dem Wasser, wo Menschen, Tiere und Tonnen versenkt wurden, langen jetzt Manuskripte unversehrt an. Der Friede konnte nicht mit eiserner Faust und blitzendem Schwerte diktiert werden: so werden Memoiren diktiert. Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! Das hätte sich aber nicht einmal der Herr der Heerscharen, auf den das deutsche Volk sich doch bombenfest verlassen hat, erwartet, daß die Sache im Westen, die ja schon immer gemacht wurde, so günstig ausgehen werde. Die Kriegsentschädigung ist respektabel. Wie nur werden sich jene Deutschen dazu stellen, die an ihr keinen Anteil haben und die im Gegenteil all die Verluste, die eigenen und die fremden, tragen müssen, die jetzt mit solcher Verlagsrechnung abschließen? Was meint der den Weltkrieg überlebende Kretinismus, der noch immer mit Gott, Kaiser und Vaterland rechnet, wiewohl jener längst aus der dubiösen Kompagnie ausgeschieden, dieser desertiert ist und nur ein armseliges Vaterland zurückgeblieben, das von seinen ausgesuchtesten Heroen schon beschissen wurde, ehe sie den Feinden ihre Erinnerung an seine Schicksalsjahre verkauften. Gewiß, nur eine ganz hoffnungslose Minderheit von jenen Deutschen, die nicht alle werden, wohl aber alldeutsch, dürfte sich heute noch über die Herren Wilhelm und Ludendorff heldische Illusionen machen. Was sagen sie aber zu diesem fest und treu stehenden Wachtmeister am Rhein, den ins Napoleonmaß avancieren zu lassen sie kein strategischer Rückzug abhalten konnte und nicht einmal die offenkundige Subalternität eines Kopfes, der sich einst in österreichischer Uniform unverkennbar als der jenes Hauptmanns Schanderl von Schlachtenfern entpuppt hat, der, und wenn die Welt voll Teufel wär', im Kaffeehaus von St. Pölten aufs Avancement wartet. Nicht Not und Tod, nicht das Gedenken hingemordeter Millionen konnte die Deutschen einer Panoptikumfigur abwendig machen, unter deren Auspizien getötet und geboren, gekegelt und gesoffen, gehaßt und geliebt, gelogen und gewahrzeichnet wurde. Wer zählt die Nägel, die auf einen Kopf getroffen wurden, der damit gewiß schon versehen war, und die, so allen Zweck verfehlend, die Nägel zu Deutschlands Sarge geworden sind! »Walhalla ist ein Warenhaus«: war je ein Wort erfüllter als jenes, das mein Wahnschaffe singt und wonach der Deutsche für Ideale und von ebendenselben lebt? »Gebt Blut – habt ihr das nicht gewußt? – für Mark: das ist kein Kursverlust!« Viel Feind, viel Dollar, und made in Germany ist wieder weltbeliebt. Und es sind Selfmademen. Denn ohne ihre persönliche Tätigkeit würde es ja heute gar nicht so viel ausmachen. Es wirkt nur so zauberhaft auf dem dunkeln Hintergrund der durch sie bewirkten Pleite. Aber erfährt nicht der Heroenkult immerhin dadurch eine abschwächende Tendenz, daß der Hauptheros am wenigsten kriegt? Wenn man noch dazu bedenkt, daß die Voraussetzungen zu diesem Geschäft zwar von den Autoren der Not geschaffen sind, aber doch jedenfalls ein großer Betrag für jene in Abzug zu bringen sein wird, die ihnen die Bücher geschrieben haben. Immerhin, Deutschland erlebt die Genugtuung, daß den schmerzlichsten Reparationen und allen Blutsaugereien der Besatzungsbordelle doch eine Aktivpost gegenübersteht: seine Heerführer finden in Amerika Anwert wie seine Hanswurste, und wie nur ein Lehar-Ensemble sind die Librettisten der tragischen Operette begehrt. Sie haben ein einzig Volk von Brüdern so lange zum Durchhalten gezwungen, bis sie selbst sich den Brothers verschreiben konnten. Wir, die ein kurzes Gedächtnis langer Leiden tauglich macht, sie wieder zu erleben, möchten vergessen, was jene getan haben. Sie aber haben es gut: sie können sich erinnern!

 

Wie sie heiraten

Zu Aachen in seiner Kaiserpracht oder vielmehr in Tagen, wo die kaiserlose, die schreckliche Zeit noch nicht geendigt war, doch immerhin auch in einer stark katholischen Gegend, ist im dortigen Anzeiger das Folgende erschienen:

Heirat! Junger Kaufmann, 28 Jahre, hier fremd, sucht passende Lebensgefährtin – Alter 25 bis 30 Jahre – mit Vermögen. Es wird jedoch mehr Wert auf vorhandene Räumlichkeiten gelegt, da beabsichtigt ist, hierselbst ein Engrosgeschäft zu übernehmen. Damen, auch Witwen, die über drei Räume verfügen, bitte um vertrauensvolle Zuschriften. Diskretion Ehrensache. Gefällige Angebote u. s. w.

»Solche Geschäfte werden alle Tage und überall abgeschlossen, und sie werden dann in der Kirche eingesegnet. Ob diese Ehen wohl auch ›im Himmel geschlossen‹ und ›heilig und untrennbar sind‹, Herr Piffl?«

fragt ein Neugieriger. Die Frage ist zu bejahen, solange diese katholische Menschheit einen besseren Magen hat als ihre Kirche, indem sie sich diese schmecken läßt. In jenem Falle aber und in den jetzt so zahlreichen Fällen, wo sie den Segen dazu gibt, daß der eheliche Beischlaf soviel wie Beiwohnen bedeutet, kurz in allen den Fällen, wo der Mieterschutz geheiligt ist, könnte füglich nicht nur von einer Untrennbarkeit, sondern geradezu von einer Unkündbarkeit der Ehe gesprochen werden.

 

Ein Brief

der schon an dem Tag, an dem er abgeschickt werden sollte, den Adressaten verfehlt hätte und dessen Inhalt wohl immer unbestellbar bleiben wird:

An den Bundeskanzler Schober.

Hochgeehrter Herr!

Von einer Auslandsreise heimgekehrt, beeile ich mich, Ihnen als dem Leiter des Finanzministeriums zu versichern, daß noch viel hoffnungsloser als die wirtschaftliche Misere des Vaterlands das Benehmen der Finanzorgane ist, die den Heimkehrenden als die Repräsentanten der österreichischen Staatshoheit an der Grenze empfangen. Nicht daß sie sich als Vertreter eines Bettlerstaates auf das halbe Kilo Zucker oder die fünfzig Zigaretten stürzen, die sie mit begreiflichem Mißtrauen im Koffer vermuten und mit berechtigtem Eifer suchen, ist das Verdrießliche. Wohl aber der Ton, der in jedem, welcher die österreichische Grenze zu überschreiten wagt, einen Delinquenten anzusprechen scheint. Es ist doch unerträglich, daß zu den Besitztümern, die der Reisende unbedingt nicht hinübernehmen darf, die Menschenwürde gehören soll, und es mag dahingestellt bleiben, ob es für den Ruf dieses Staates im Ausland abträglicher wäre, daß der Fremde den Eindruck empfängt, in ein Land der schlechten Manieren zu geraten, oder dem patriotischen Gefühl unangemessener, daß der Inländer nur mit Widerstreben ein Territorium betritt, an dessen Schwelle er bloß dafür, daß es ihm einfiel, zurückzukommen, angeschnauzt wird. Auf Wunsch kann Ihnen mit genaueren Daten über das Betragen eines österreichischen Gepäcksrevisors gedient werden, der der Meinung zu sein schien, daß das Öffnen des Koffers eine militärische Übung sei und im Ton der Abrichtung verfügt werden müsse. Die Widerlichkeit der Szene wurde womöglich durch die Schüchternheit gesteigert, in die er gegenüber einem Passagier umschlug, der mit ironischem Gleichmut antwortete und in dem er, schon allein dadurch verwirrt und umsomehr, als der Koffer statt Zucker Manuskripte und Bücher darwies, einen »Redakteur« vermutete. Die Frage »Is der Herr vielleicht a Redakteur oder so was?« wurde nur als ein weiterer Beweis des Mißtrauens abgewiesen, wiewohl es unschwer gewesen wäre, durch die Bejahung ein Wunder der Liebenswürdigkeit zu bewirken. Da nun nicht lauter Redakteure die Grenze passieren, sondern auch solche Reisende, die sich selbst einschüchtern lassen, etwa Frauen, so wäre wohl eine Weisung dringend geboten, durch welche den Leuten, denen die Suche nach Zucker und Tabak obliegt und die infolgedessen einen Machtrausch produzieren, der uns noch von den Kriegszeiten in grauslichster Erinnerung ist, eingeschärft wird, daß sie sich anständig zu benehmen haben. Bei Inländern, die ohnedies schon abgehärtet sind und im Umgang mit dem Kasmadertum in seinen schwersten Formen bereits einige Übung haben, kann die Sache ja nicht zu bösen Weiterungen führen. Aber die Fremden, nach denen dieser Staat lechzt, sollten doch nicht schon an der Grenze erkennen müssen, daß er sich der untauglichsten Mittel bedient, um sie anzulocken, und es kann der Hebung des Verkehrs derselben keineswegs zustattenkommen, wenn, wie ich es einmal in Lundenburg gehört habe, einem Amerikaner von einem ziemlich lauten Kontrollorgan der Rat widerfährt: »Gengan S' nach Amerika zruck, wann Ihna was net recht is!« Gegen diesen Rat wäre gewiß nichts einzuwenden, wenn sich hierin ein volkswirtschaftliches Bedenken gegen den Zustrom von Aufkäufern unserer armen Reste geregt hätte, es war aber im Gegenteil Größenwahn und gewiß wäre es verhängnisvoll, wenn etwa auch die Abgesandten des Herrn Morgan solchen und ähnlichen Fatalitäten, wie sie sich tagtäglich ereignen, ausgesetzt wären. Aus allen diesen Gründen und weil es doch einleuchtend ist, daß sich mit solchen Grenzhütern nicht Staat machen läßt, wäre es endlich angebracht, sie, die ja heute zum Glück nicht mehr die schon seinerzeit faule Ausrede haben, die militärische Sicherheit des Vaterlandes schützen zu müssen, darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich nicht wie die Feldwebel auf den reisenden Feind oder den reisenden Eigenen zu stürzen, auch nicht wie die Berserker die Koffer in Unordnung zu bringen und daß sie jede Unhöflichkeit zu unterlassen haben wie jeden unziemlichen Scherz, der an und für sich und umsomehr durch die vorgestellte und so wenig behauptete Würde der Staatsrepräsentanz verletzen muß. Da der Reisende beim geringsten Widerspruch Gefahr läuft, am Weiterreisen verhindert zu werden, und lieber jede Demütigung über sich ergehen läßt, so erscheint das Betragen solcher Repräsentanten als die vollkommenste Ausnützung jener Wehrlosigkeit, die im Shakespeare'schen Satz »Dem Hund im Amt gehorcht man« als die Beziehung des Bürgers zur Autorität endgiltig bezeichnet ist, wobei ich freilich als Hundefreund zweifeln möchte, ob das Tier je durch Machterhöhung die Harmonie der Natur verletzen könnte. Dagegen bin ich durchaus überzeugt, daß gerade Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, der schon als Polizeipräsident die Veredlung der in ihren Sitten so rauhen Sittenpolizeiorgane angestrebt hat, sich ein hinreichend lebendiges Gefühl für die Unleidlichkeit bureaukratischer Ausartung bewahrt haben, um ihr wenigstens jene Grenze zu setzen, die sich mit der Landesgrenze deckt.

 

Was man alles auf Lager haben kann

Schadchen, welche

Wiener Kaufleute auf Lager haben, wollen ihre Adresse bekanntgeben. Unter »Glückbringend 23902« an die Exp.

Das stand im Neuen Wiener Tagblatt, das von jenen kommerziellen Kreisen gelesen wird, die hier für das Angebot sowohl wie für die Nachfrage in Betracht kommen dürften. Es gelangt ja gewiß etwas wie eine höhere Gerechtigkeit darin zum Ausdruck, daß Wiener Kaufleute einmal auch selbst auf Lager gehalten und vielleicht sogar in Zeiten der Knappheit versteckt und dann hinaufnumeriert oder auch freibleibend sofort greifbar offeriert werden und was dergleichen Usancen mehr sind, die sie nun am eigenen Leib erfahren können. Aber es handelt sich noch um eine ganz andere Ware, um eine, die so sehr versteckt wird, daß von ihr gar nicht einmal die Rede ist. Es handelt sich um andere, dem Plan der Schöpfung noch nicht so entrückte Lebewesen, die etwas an ihrem Leib erfahren sollen. Es handelt sieh nicht nur um einen Handel, der auf Erden, sondern auch um einen, der im Himmel geschlossen wird, und sich auf der Spitze dieses Dreckhaufens noch den Priester vorzustellen – und es könnte ja hinter dem Schadchen ausnahmsweise auch ein Gottesmann walten, der auf der Unlösbarkeit des Unternehmens besteht –: da möchte man doch in das hinterste Dschungel fliehen und die Jaguare und Hornvipern fragen, ob sie sich für die gewiß auch ihnen unerläßliche und immerhin wünschenswertere Fortpflanzung so schäbiger Mittel bedienen wie die Abonnenten des Neuen Wiener Tagblatts. Wofern man aber genug schmerzliche Phantasie hat, sich die soeben noch ahnungslosen Wesen vorzustellen, die, wenn die Annonce gewirkt hat und vom Schadchen das Glück gebracht ist, jene Wiener Kaufleute, eben dieselben, auf Lager haben werden – so möchte man ihnen schon jetzt zurufen: Laßt es nicht zu! Lasset euch, Ware der Ware, nicht begehren! Verschmähet das Glück! Eher mögen euch Leib und Seele verdorren, bevor ihr so zu Blüte und Frucht gelangt! Dienet und helft nicht, daß die Wiener Kaufleute sich fortpflanzen! Lieber ein Leben im Hurenhaus als eine Nacht im Warenhaus! Verbraucht euch selbst! Lebet euch selbst! Tötet euch selbst! Alles, nur eins nicht: Seid nicht auf Lager!

 
November 1922

Wilde Sachen

Müller, dessen »Vampir«, als er fortsetzungsweise in der Neuen Freien Presse erschien, uns das Blut in den Adern stocken machte – so stark wird da alles, was Brünn an Dämonie bietet, fühlbar –, scheut seit dem Erfolg der »Flamme« vor Kraßheiten des Ausdrucks nicht zurück, die ein Blatt nicht bringen kann. Er selbst würde baß erschrecken, wenn ers an solcher Stelle gedruckt fände, und sagen, es sei starker Toback. Die Zeitung, die nur andeutungsweise von einer H . . . zu sprechen wagt, nämlich die Neue Freie P . . . ., gerät vor den Arbeiten Müllers, den zu fördern ihr eine künstlerische Ehrenpflicht ist und in dem sie neben Schönherr unsere stärkste expressionistische Begabung erkennt, oft in arge Verlegenheit. Am leichtesten kann man sich noch helfen, wenn es sich bloß um ein Wort handelt. Man ersetzt es entweder durch Punkte oder durch ein gelinderes Wort, was man, selbst wenn der Dichter telephonisch nicht zu erreichen wäre, in Anbetracht der Fülle von Worten, die noch übrig bleiben, getrost riskieren kann. Da steht zum Beispiel gleich nach der Stelle, wo von Muhme Rotwang die Rede ist, etwas, was im Druck der Neuen Freien Presse folgendermaßen lautet:

Potz Altersschnee . . . jetzt werd ich selber wild!
Wirf dich auf ihn! Ich finstre dir das Haus
Und lösch dazu (zeigt auf die Jünglingsgestalt) den blassen Leuchter aus –
So hat doch jeder auf der Welt sein Teil!

Es ist die überaus gewagte Lockung des sogenannten »Männchens«, dessen Funktion nicht ganz klar ist, das aber sogleich als der stärkste Dämon in Erscheinung tritt, den je ein Brünner auf die Szene gebracht hat. »Potz Altersschnee« ist noch, ähnlich wie »Muhme Rotwang«, eine Wendung aus der romantischen Periode Müllers, die Punkte dahinter sind ein vom Dichter beabsichtigter Ausklang und nicht etwa von der Redaktion. Dagegen hat sie offenbar noch in derselben Zeile eingegriffen. Man kann sich vorstellen, was sich getan hat, wie sie im letzten Moment in der Fahne bemerkt haben, daß dort ausgerechnet jene Regung bezeichnet steht, die seinerzeit die ältesten Biachs erfaßt hat, wie sie gelesen haben, die Nase der Kleopatra war eine ihrer größten Schönheiten. Der junge Biach las den Vers, schüttelte den Kopf und sagte: Das ist Verderbtheit. St–g, jene einzige Abkürzung, die dort nicht aus Schicklichkeit, sondern aus Bescheidenheit geübt wird, ist für die Innere Stadt verantwortlich und sprach: Es hieße eine Binsenwahrheit aussprechen, wollte man sagen, daß wir erhaben sind über den Verdacht, eine redaktionelle Keuschheitskommission gegen Mitarbeiter zu etablieren und durch die Begünstigung hypermoralischer Tendenzen die Freiheit des Wortes unter ein caudinisches Joch beugen zu wollen – aber »geil« geht nicht! Auernheimer trat hinzu und lächelte. Am andern Morgen sah es der Dichter und es gab ihm potz einen Stich ins Herz. Er rief sofort an, warum man ihn nicht angerufen habe, er wäre fürbaß in die Redaktion geeilt, denn wenn schon »wild«, so müßte doch jeder auf der Welt wenigstens sein Bild haben und nicht sein Teil, wo bleibt sonst der Reim? Der Herausgeber antwortete: Das ist Ausgelassenheit. St–g sagte: Wir vermeiden grundsätzlich jede Bevormundung des Lesers und wollten ihm ermöglichen, cum grano salis die ursprüngliche Fassung wiederherzustellen. Da es nicht unsere Sache ist, uns in die Toga puritanischer Strenge zu hüllen und das Amt eines publizistischen Cerberus auszuüben, so haben wir uns mit einem Obolus der Milderung begnügt, um der Muse den Eintritt in unsere Spalten zu ermöglichen. Den Canossagang einer Berichtigung werden wir nicht antreten, getreu unserem Grundsatz »Cui bono?« Auernheimer trat ans Telephon und lächelte. Der Dichter war beruhigt, und ich kann ihm sagen, die Neue Freie P . . . . hat die einzig richtige Lösung gefunden und das Wort, das den Zustand der Erregung ganz zutreffend bezeichnet. Wenn sie irgendwo liegt – potz Altersschnee, da werd ich selber wild!

 

Kommen Sie mal 'raus und überzeugen sich selber, was los ist

Die Unentbehrlichkeit der Zeitungen erweist sich bekanntlich nicht so sehr durch ihr Erscheinen als durch ihr Ausbleiben, denn in diesem Fall werden sie zwar durch die Gerüchte ersetzt, die authentischer sind und gleichfalls von keinem Verbot der Kolportage behindert, die aber doch den Nachteil haben, daß einem da nichts schwarz auf weiß gemacht wird. Am empfindlichsten hat man überall den Ausfall des Neuen Wiener Journals gespürt, nicht allein darum, weil man sich ohne Hermann Bahrs Zwiesprach mit seinem Gott und ohne den sonstigen Theatertratsch behelfen mußte, sondern weil man dadurch auch um den Inhalt der ganzen Weltpresse kam. Da es wieder erscheint, kann es mit Recht auf den Notstand jener Tage hinweisen, der sich dadurch ergab, daß das Publikum auf die ungedruckten Lügen angewiesen war; wobei freilich ein gewisser Neid auf eine gerüchtbildende Phantasie mitsprechen mag, die in solchen Tagen Sensationen erfindet, die gemeinhin weder einer Feder noch einer Schere erreichbar sind. Der idealste Zustand wäre eigentlich, wenn in einer zeitungslosen Zeit, wo dem Tratsch Tür und Tor geöffnet ist, auch das Neue Wiener Journal erscheinen könnte, um ihn zu drucken. Aber das ist eben nicht zu haben, und so bleibt nichts übrig als hinterher sich zusammenzunehmen, das Versäumte nachzuholen wie auch durch die Feststellung der Schäden, die das Publikum erlitten hat, seine Unentbehrlichkeit darzutun. Denn die Wüste, die Hindenburgs Armeen in Nordfrankreich zurückgelassen haben, ist nichts gegen die Zerstörungen, die der Setzerstreik im Weichbild Wiens angerichtet hat. Mit der ihr eigenen Prägnanz beschreibt die Neue Freie Presse das Schauspiel, das Wien in jenen Tagen bot, wie folgt: »Handel und Wandel waren einer vollständigen Anarchie preisgegeben«; wobei sie sich jeder Ausschmückung enthält und sogar auf die bekannten Einschaltungen wie »Kommentar überflüssig« oder »Was soll ich Ihnen sagen« verzichtet. Waren aber einmal Handel und Wandel bei uns in Unordnung geraten, also just das eingetreten, was man in den Zeiten, wo es noch eine Tagespresse gab, nicht für möglich erachtet hätte, so gab es auch kein Halten mehr. Die Festsetzung der Preise für die lebensnotwendigsten Bedarfsartikel war rein in das Belieben der Verkäufer gestellt und in den Kaffeehäusern tauchten sogenannte Schieber auf, Leute, die Waren anboten, die sie selbst nie gesehen hatten. Auch wurden Fälle von Gesetzesverletzung bekannt und insbesondere ließen sich Versuche der Hinterziehung von Steuern beobachten. Wegen der Kredite machte sich ein stärkerer Pessimismus geltend als bei einem fortgesetzten Erscheinen der Zeitungen möglich gewesen wäre, wo die Not am größten, floß der Champagner in Strömen, Wien übte zwar noch seine alte Anziehungskraft auf die Fremden aus, die sogar da und dort ein- und ausgingen, um einander die Türklinke in die Hand zu drücken, aber die wildesten Umsturzgerüchte durchschwirrten die Stadt und man kann nur von Glück sagen, daß die disziplinierte Wiener Bevölkerung ihrer Gewohnheit, Gruppen zu bilden, treu geblieben war, sonst würde eine Tatarennachricht wie die, daß die Ungarn bereits ein Lauffeuer verbreitet hätten, Panikkurse erzeugt haben. Was ist das aber alles gegen die schlichte Wahrheit, die das Neue Wiener Journal den Wienern, jetzt kann man's ihnen ja sagen, über die Tage, die sie überstanden haben, erzählt:

Das Publikum wußte in seiner Mehrzahl nichts davon, daß im Burgtheater eine Neuinszenierung des »Götz von Berlichingen« zu sehen war, daß Reinhardt inzwischen schon sein Gastspiel mit »Clavigo« im Redoutensaal eröffnet hat, daß Moissi im Deutschen Volkstheater auftrat, das Raimundtheater unter der Regie Karlheinz Martins den »Othello« mit Kortner in der Titelrolle spielte und daß im Akademietheater nunmehr die Mitglieder des Burgtheaters Vorstellungen geben.

Das ist aber noch gar nichts. Was hier versäumt wurde, konnte nachgeholt werden und insbesondere was die Herren Reinhardt und Moissi betrifft, macht sich der Setzerstreik schon so gut wie gar nicht mehr fühlbar. Gewiß, ein Ereignis wie die Neuinszenierung des »Götz« im Burgtheater mit Herrn Reimers, dem namentlich ein Satz der Titelrolle auf den Leib geschrieben sein soll, kann gar nicht genug gewürdigt werden, jedoch alles in allem hat die Presse getan was sie tun konnte, und auch manchen Premierenautor, der sie in jenen Tagen vermißt hat, als wär's ein Stück von ihm, reich entschädigt. Aber was so bald nicht ausgeglichen werden kann, ist die Nervosität des Publikums, die nachzittert und die noch heute, wo doch schon zum Glück die Zeitungen wieder erscheinen, zur Gerüchtbildung neigt. Es sind Luftblasen, Hirngespinste, Ausgeburten einer fiebrisch überhitzten Phantasie, der auch in zeitungslosen Tagen das Neue Wiener Journal erscheint, und man möchte, daß das ganze Publikum nur eine Stirn hätte, damit man die Hand auflegen könnte und sprechen: Is schon alles gut, das Neue Wiener Journal erscheint ja eh wieder! Denn es ist bezeichnend, daß diese Gerüchte den Zeitungsstreik überdauert haben, sei es, weil eben die allgemeine Erregung nachzittert, sei es daß der Tratsch sich gerade durch das Wiedererscheinen des Neuen Wiener Journals angeregt fühlen mag. Immerhin hat dieses doch endlich Gelegenheit, Nachrichten, wie sie sonst nur in zeitungsloser Zeit entstehen, aus erster Quelle zu erfahren. Ein wildes Gerücht durchschwirrt die Stadt. Man erzählt – doch wird es besser sein, anstatt die Leute noch mehr aufzuregen, gleich das Dementi des Neuen Wiener Journals zu zitieren:

(Ein Brief der Tänzerin Anita Berber.) Seit einigen Tagen ist in Wien das Gerücht verbreitet, daß die bekannte Tänzerin Anita Berber schwer nervenkrank sei und nach Steinhof übergeführt werden mußte. Nun meldet sich Fräulein Anita Berber in einer Zuschrift an einen unserer Redakteure zu nachstehendem lustigen Dementi. Sie schreibt: »Lieber Herr Redakteur! Wenn ich nur wüßte, wie ich das anfangen soll? Schon seit einer halben Stunde halte ich die gräßliche Kratzfeder in der Hand und habe mir schon das ganze Bett voller Tintenflecke gemacht – aber schließlich und endlich – – – na, also – – – Glauben Sie, daß ich verrückt bin? Sagen Sie es mir offen und ehrlich! Sie müssen es doch wissen – denn Ihr »Journal« weiß doch alles. – Da – nun hören Sie zu, verehrter Herr Redakteur: Alle Leute sagen, ich wäre verrückt geworden und säße tobend, eingesperrt in Steinhof! Ist das nicht schrecklich? – Und dabei liege ich ganz vergnügt im Sanatorium Dr. Loew, sogar in der Frauenabteilung (aber natürlich nicht das, was Sie nun wieder denken werden) und erhole mich nur von einer kleinen Bauchfellentzündung! Und die habe ich mir beim Filmen geholt, draußen im Schönbrunner Park! Und nun behaupten alle Leute, ich wäre verrückt geworden!! – Darum, lieber Herr Redakteur, berichten Sie den vorlauten Leuten, daß alles gar nicht wahr ist, sondern daß ich quitschvergnügt und puppenlustig bin, in acht Tagen aufstehen darf und in vierzehn Tagen mit meinem Partner Sebastian Droste nach Italien, Spanien und Paris auf eine Tanztournee fahren werde! Wenn Sie aber selber glauben, daß ich übergeschnappt bin, kommen Sie mal 'raus und überzeugen sich selber, was los ist. Herzlichst Ihre Anita Berber.«

Wer aber zufällig nicht zu jener kompakten Majorität gehört, die da behauptet, die bekannte Tänzerin Anita Berber sei verrückt geworden (während sie in Wahrheit quitschvergnügt und puppenlustig ihrem Geschäft nachgeht, Tänze des Grauens, des Lasters und der Ekstase aufzuführen), ja wer nicht einmal gewußt haben sollte, daß es ein solches Gerücht gibt, lernt auf diese Art wenigstens die bekannte Tänzerin Anita Berber kennen. Und es ist gewiß lohnend, sich die Individualitäten, die, uneingeholt von all unsrem Verhängnis, tanzen, filmen, schreiben und sich das ganze Bett voller Tintenflecke machen, vorstellen zu lassen und dazu die Herren Redakteure, die es interessant und belustigend finden, diese Tintenflecke aufzunehmen, und nur so schalkisch zwischen den Zeilen lächeln, wenn jene denken, was sie nun wieder denken. Denn die Frauenabteilung, wo sonst Frauen wirklich Kinder zur Welt bringen – da kann man nur kichern! Es ist halt, und wenn die in Rußland Leichen fressen, eine Welt voller Miezikatzi, Mausi und Schlankeln. In vierzehn Tagen, wo hier mehr Tränen sein werden als Brot, um es damit zu essen, wird jene mit Sebastian Droste – der schon zu hüpfen beginnt – nach Italien, Spanien und Paris auf die Tanztournee fahren. Denn die unserm Jammer verschlossene Welt öffnet sich den Sendboten unserer Fröhlichkeit und erscheint uns als ein Neues Wiener Journal, das uns wieder erscheint. Die im Steinhof können von Glück sagen; sie toben ganz mit Unrecht. Sie brüten Hirngespinste aus von einer vernünftigen Welt. Kommen Sie mal 'raus und überzeugen sich selber, was los ist!

 
Dezember 1922

Fundertag

Das fünfzigste Wiegenfest Dr. Friedrich Funders. Anläßlich des 50. Geburtstages des Herausgebers der »Reichspost«, Chefredakteur Dr. Friedrich Funder, langten bei dem Jubilar eine überaus große Anzahl von Glückwunschschreiben hervorragender Persönlichkeiten und aus weiten Kreisen der Bevölkerung ein, darunter viele drahtliche und briefliche Kundgebungen aus dem Ausland, vorzugsweise aus Italien, aus der Tschecho-Slowakei und aus Ungarn und Jugoslawien. Um 8 Uhr abends zog die stramme Musikkapelle des Josefstädter Jugendbundes vor dem Gebäude der Verlagsanstalt »Herold« auf und brachte dem Jubilar ein Ständchen dar. Im Nu hatte sich eine große Menschenmenge in der Strozzigasse angesammelt. Obmann Arzmüller und Stadtverbandsobmann Stein übermittelten dem Jubilar die Glückwünsche der katholischen Jugend Wiens. Vor dem Ständchen hatten sich Vertreter aller Abteilungen der Verlagsanstalt bei Chefredakteur Dr. Funder zur Gratulation eingefunden. Der Redaktionsstab begab sich geschlossen zum Jubilar, den der Obmann des Redaktionsausschusses, Redakteur Otto Howorka, in einer kurzen Ansprache namens der engeren Mitarbeiter beglückwünschte.

Also sich vorzustellen, wie Herr Dr. Funder in der Wiege liegt, würde schon jene Phantasie erfordern, die die Reichspost die orientalische nennt. Leichter und mehr den Wiener Maßen angepaßt ist die Vorstellung, daß sich im Nu eine große Menschenmenge ansammelt, wenn das Verkehrsleben durch ein Ständchen unterbrochen wird, und es beweist weniger für die Popularität des Herrn Funder, als es auf den ersten Blick den Anschein hat, wie ja auch eine Ansammlung um ein gefallenes Pferd nicht so sehr von der Tierliebe als von der Neugierde der Wiener zeugt, die eben zu jedem Fall oder Ständchen gern ein Umständchen bilden. Also davon Aufhebens zu machen ginge so wenig, wie sie von dem fünfzigsten Wiegenfeste Aufhebens machen, obschon sie die Strozzigasse füllen. Wenn Kralik zum Fundertag ein Wiegenlied gesungen hätte, würde ihnen wahrscheinlich die Neugierde vergehen. Interessant ist eigentlich an der ganzen Angelegenheit – nebst der unbestreitbaren Fülle von Obmännern, welche bei Wiegenfesten etwa die Funktion haben, die bei Geburtstagen den Kommerzialräten zufällt – interessant ist, daß sich das Ausland so intensiv eingestellt hat und daß vorzugsweise aus Italien und der Tschechoslowakei, woselbst man die Wirksamkeit Funders in dankbarer Erinnerung hat, Kundgebungen eingelaufen sind. Auch Jugoslawien ließ sich nicht lumpen und daß Ungarn Anteil nimmt, entspricht nur dem primitivsten Gebot der Menschlichkeit. Aber den Vorzug genießen doch Italien und die Tschechoslowakei. Die Katzelmacher können der Reichspost nun einmal nicht vergessen, was sie für sie getan hat, und auch die Tschechen wissen, daß sie ohne sie nicht so bald in den Besitz ihrer Freiheit gelangt wären. Die Nationen bleiben ihr treu von der Wiege Funders bis zum Grabe der Monarchie. Wenn der Jubilar und sein Redaktionsstab, der so lange geschlossen dem Generalstab gefolgt ist, bis er ihn überleben konnte, die überaus große Anzahl von Glückwunschschreiben hervorragender Persönlichkeiten Revue passieren lassen, mögen sie eines schmerzlich vermissen, nämlich von Lammasch, den sie so lange für einen der ihren gehalten hatten und dem es nicht mehr vergönnt sein sollte, die Tage Kraliks und Funders zu erleben. Aber ich kann ihnen nach meiner genauen Kenntnis der Belange versichern, daß sie nichts zu vermissen haben. Lammasch hätte nicht gratuliert. Er hatte seine Korrespondenz mit Herrn Funder endgiltig mit der Erkenntnis abgeschlossen, daß es mindestens bis zur Niederlage nicht möglich sein würde, die Reichspost zu einer menschheitswürdigen Haltung im Kriege zu bestimmen. Über den Fall Lammasch muß sie also jenes Kreuz machen, das ausnahmsweise einen Verlust bezeichnet.

 

Bravo Wowes!

Die Reichspost ist doch scharfsinniger als man geglaubt hätte und geradezu das Organ des intelligenten Kerls von Wien. Sie polemisiert gegen die Neue Freie Presse wie folgt:

Sie spricht dann von »Beschränkungen«, die das Amt des Rektors diesem auferlege und gibt als eine dieser Beschränkungen die an, daß ein Rektor nicht »als antisemitischer Parteimann auftreten« dürfe. Folgt aus einer solchen Aufstellung nicht das Recht zur Forderung, daß ein Jude nicht als Rektor auftreten dürfe?

No eigentlich nicht. Nicht einmal zu der Forderung, daß ein Rektor nicht als Jude auftreten dürfe. Er darf es ebenso, wie er als Christ auftreten darf. Aber ich habe ja den Gedankengang unterbrochen und wie sagt doch Wowes, gewiß ein Reichspostleser, dieser »gefinkelte Kampl«, dem sie beim Liebesmahl (in der letzten Szene) schon nach der ersten Strophe applaudieren: »Is noch nicht aus!«

Wenn schon das Amt »Beschränkungen« auferlegt, warum sollte es den Semitismus nicht mindestens ebenso beschränken, als den Antisemitismus?

Ja, das ist allerdings schlagend. Bravo Wowes! »Der unterhaltet eine ganze Gesellschaft.« Wie entwirrt sich durch die Einführung des Begriffes »Semitismus« das ehedem Verworrene! Denn Antisemitismus ist vorweg etwas Positives, sei es das Bekenntnis zum Christentum, sei es das Bewußtsein arischer Abstammung. Wenn aber nicht und wenn er vielleicht doch ein Angriffsprogramm wäre, nun, so hätte er doch mindestens das gleiche Recht wie die jüdische Abstammung, denn diese ist doch gewiß etwas Negatives, nämlich ein Angriff auf das Christentum, beziehungsweise Ariertum. Die Juden sind nicht allein Semiten, sondern sie treiben auch Semitismus. Was ist aber Semitismus? Semitismus ist nicht allein, wie schon aus dem Wort selbst hervorgeht, die Bekämpfung des Antisemitismus, sondern auch die Bekämpfung des Christentums, des Ariertums. (Wiederhole das Gesagte!) Jetzt ist es klar, daß wenn ein Jude als Rektor auftritt, damit auch der Rektor als Jude auftritt, und was das bedeutet, wissen wir. Der jüdische Rektor ist ein Semit, er treibt als solcher Semitismus, er würde infolgedessen selbstverständlich coram publico seinem Bedauern Ausdruck geben, daß in der Wissenschaft vorläufig noch die Befähigung und nicht die jüdische Abstammung maßgebend sei, und den Wunsch aussprechen, daß die Bodenständigen zum Lehramt nicht zugelassen werden, sondern ausschließlich die Landfremden. Wenn man das noch klarer machen müßte als es eh schon ist, könnte man sagen, der Fall liege etwa so, wie wenn sich ein Jagdklub und ein Verein von Hirschen gegenüberständen. Die Hirsche machen ihr Recht am Leben geltend und wollen, welchen Schaden immer sie sonst anrichten mögen, nicht geschossen werden, und wenn es sich gar um die Vertretung der Humanität handelt, so halten sie sich dazu für ebenso berufen wie einen Jäger, dem es wenigstens an solcher Stelle nicht zieme, einer zu sein. So, sagt die Jagdzeitung, wenn schon das Amt Beschränkungen auferlegen soll, warum sollte es das Hirschsein, das ja den Jäger bedroht, nicht mindestens ebenso beschränken wie das Jägersein? Findet man aber in die Wirklichkeit zurück, so mag man immerhin zugeben, daß der Semitismus sich schon darum eine gewisse Beschränkung gefallen lassen kann, weil ja der Antisemitismus ohnedies beschränkt genug ist.

 

Jargon

meint man, sei, wenn einer von »Tam« spricht. Falsch. Ich spreche davon, wenn der Leitartikel über die Rede eines sozialistischen Abgeordneten mit dem hochdeutschen Satz beginnt:

Wien, 6. November.

Die Feststellung einer Begabung ist das einfachste Gebot der Gerechtigkeit.

Das ist Jargon. Denn da ist die Hand im Spiele, da wackelt ein Kopf und die Kandelaber zittern vor Ehrfurcht, weil jenner »eine Begabung« feststellt. Aber was gar vorgeht, wenn der Titel über einem Leitartikel gegen die Sozialdemokraten, wo nur ganz zum Schluß ein leises Grollen gegen den Bundeskanzler vernehmbar wird, weil er von der christlichen, bodenständigen Bevölkerung gesprochen hat, das ist der Dank – wenn also der Untertitel, nicht der Haupttitel, nein nur der Untertitel lautet:

Fehler auf beiden Seiten.

– also was da für eine Pantomime sich in vier scheinbar hochdeutschen Worten abspielt, das ist gar nicht zu sagen!

 

Der Auftrag

Richter zum Angeklagten: Sie scheinen ja das reine Ebenbild des Schalanter im »Vierten Gebot« zu sein. Vater und Sohn, die gemeinsam sich dem Trunke ergeben. – Der Richter verurteilte den Vater zu vierzehn Tagen strengen Arrestes bedingt und trug ihm auf, sich des Trinkens zu enthalten. Ferner trug er ihm auf, lieber von dem Gelde, das er sich vom Trinken abspare, sich einmal das »Vierte Gebot« anzusehen, damit er aus dem Vorbilde, dem Schalanter, ersehe, wohin dieses Treiben von Vater und Sohn führen kann.

Seitdem stehen Vater und Sohn vor dem Deutschen Volkstheater und warten, bis das »Vierte Gebot« gegeben wird, schon jetzt geläutert und entschlossen, fortan nur mehr tief ins Opernglas zu gucken.

 

Der Ausgleich

Das Ehepaar Turek hatte schon wiederholt gehört, daß die über ihm wohnende Frau Draschinsky ihr fünfjähriges Mäderl schlug, so daß das Kind laut weinte. Am 9. Oktober um ½10 Uhr nachts hörten die Turek und ihr bei ihnen wohnender Neffe, der Industrieangestellte Karl Rogel, wieder lautes Geschrei. Das Kind rief: »Ich bitte, Mama, nicht mehr hauen, es ist schon genug!« Die Turek klopften zuerst an die Zimmerdecke; da dies nichts nützte, ging Rogel hinauf, läutete bei Draschinsky an und forderte die Frau auf, das Kind nicht zu mißhandeln, da er sonst die Anzeige erstatten werde. Doch diese antwortete: »Schaun Sie, daß sie weiter kommen, Sie blöder Kerl, sonst schütte ich Sie an.« Es kam zu einem heftigen Wortwechsel, bei dem Frau Draschinsky noch gesagt haben soll, sie werde »die Turek-Bagage ausheben lassen«. Infolgedessen gegenseitige Ehrenbeleidigungsklage beim Bezirksgericht Margareten. Der Richter Landesgerichtsrat Dr. Etz suchte einen Ausgleich zustande zu bringen. Doch Frau Draschinsky wollte zunächst nichts davon wissen, da sie empört war, daß Rogel sich »in ihre Familienangelegenheiten eingemischt« habe. – Richter: Wenn ein Kind mißhandelt wird, so geht das jedermann an. – Schließlich zogen doch beide Teile ihre Klagen zurück.

Und das Kind?

 


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