Karl Kraus
Kanonade auf Spatzen
Karl Kraus

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1925

März 1925

Ich werde sterben und es nicht erfahren

warum ich – es kostet Lippowitzen & Co. 100 Kronen, eine Drucksorte, ein Kuvert und die Adresseschrift, setzt Postbeamte und einen Briefträger in Bewegung – von Zeit zu Zeit den Mahnruf empfange:

Wenn Sie ein Inserat im

Kleinen Anzeiger

aufgeben und Erfolg haben wollen, so inserieren Sie im

Neuen Wiener Journal

———————————–

Da das Neue Wiener Journal von Hunderttausenden gelesen wird, so müssen Sie Erfolg haben.

Ich will aber gar nicht Erfolg haben, höchstens den, daß das Neue Wiener Journal nicht von Hunderttausenden gelesen wird. Wenn ich bestimmt wüßte, daß ich diesen Erfolg habe, sobald ich das Inserat im Neuen Wiener Journal aufgebe, tu' ichs, wobei ich allerdings wieder Gefahr laufe, daß ich mir die Chancen des Inserats verringere und keinen Erfolg habe. Was soll ich also tun?

 

Der Junggeselle

– wer würde nicht wohlig sich seines Schreibens an mich entsinnen – ist noch immer der Alte. Er plaudert über »Reizlose Frauen« und findet da die glückliche Wendung:

Ein Weib mit vollendeten Tatsachen, aber ohne Pikanterie ist wie ein Feuilleton, dem der Zensor die nahrhaftesten Stellen gestrichen hat. Ein brüstiges Weib ohne einen Schuß Kessheit bleibt eine Nummer, wird aber nie eine Klasse für sich werden . . .

Da ist mal wieder in einem Satz die ganze Natur wie 'n Brötchen mit 'ner Bombe belegt. Und das wundert sich, daß es von der Welt eingekreist war!

 

Unruh

der nun schon etliche Jahre, mit etwas Zuckerkandl bestreut, dem deutschen Publikum mundet, gehört zu den Weltumarmern, spricht aus, was ist, nennt eine Katze eine Katze, sagt zu Barbusse »Barbusse!«, ohne daß Barbusse, schwer leidend, »Unruh!« sagt, und vertritt speziell gegenüber Frankreich, wo man der Anschauung zuneigt, daß »le style c'est l'homme«, den Standpunkt, daß der Mensch auch dann gut sei, wenn der Stil schlecht ist. Aber es gibt nun einmal ein Schmocktum, dem sich das Wort überhaupt erst von diesem Stammler eines neuen Weltgefühls herschreibt, eines Weltgefühls, dessen Erhabenheit nur von den Maßen einer Impotenz übertroffen wird, die im Ausdruck des alten Weltgefühls allerdings deutlicher in Erscheinung träte. Viel zur Bildung dieser geistigen Glorie hat unstreitig das Kriegsleid beigetragen, das Herr von Unruh durchzumachen hatte, nur daß eben die tiefere pazifistische Erkenntnis aus der menschlichen Teilnahme auch zu der Verdammung eines Kriegswesens gelangen müßte, welches nicht nur so viele abscheuliche Literaten des Blutdurstes ermöglicht hat, sondern auch die Dilettanten der Menschenliebe erzeugt und so vielen Opfern die literarische Amnestie erwirkt hat. Man kann aber auf die Dauer weder das Martyrium im Krieg, das ja Millionen gemeinsam war, noch die anständige Gesinnung während der Revolution als geistigen Maßstab aufrechterhalten und einmal müssen selbst in der Beurteilung der pazifistischen Dichter die Friedenswerte wieder zur Geltung kommen, auf die Gefahr hin, daß man den zartesten Gefühlen jener Romain Rolland-Seelen nahetritt, die ohnedies zumeist identisch sind mit den abgedankten Barden des Kriegspressequartiers, und ohne Rücksicht auf die Wallungen der Zuckerkandl, die, wenn man sie nach ihrer Ansicht über Goethe befragt, wie eh und je zu deklamieren anfängt, daß über allen Gipfeln Unruh ist. Ich aber meine: unter der Kanone! In seinem »Reisetagebuch« beschreibt er den deprimierenden Eindruck vom Milieu der Deutschen Botschaft in Paris, und es mag schon so sein, daß diese zwar wieder hörbar ist, aber eben aus ihr sich der Umstand erklärt, daß der Welt der Glaube fehlt. Ich stelle mir den gestärkten Vorhemdton auf einer Deutschen Botschaft etwa so vor wie den Stil der Kunde, die Herr Unruh davon bringt. Es ist eine überaus praktische Sache, welche in allen Lebenslagen eine zeitsparende Verbindung von Dialog und jeglicher Handlung ermöglicht, die die sprechende Person dabei verrichtet.

– – – – Ein eleganter Haushofmeister verneigt sich: »Der Herr Botschafter warten schon«. – – »Aber«, wischt sich der Freund das Brillenglas rein, »ich habe es wieder erhalten«. – – »Bitte«, verbeugt sich der Botschafter vor Victors Frau – – und »bitte, bitte, kommen Sie doch«, nötigt er uns. – – »Gnädige Frau«, verneigt sich abermals der Botschafter vor der Dame, ihr rechts neben sich den Platz anweisend. »Herr«, beugt er den Kopf nach links und zu uns – – »Sind Sie«, erwache ich, als der Botschafter der Frau Salat, Sardinen und gelbklebrige Mayonnaise auf den Teller legt, »mit Ihren Einkäufen zufrieden? – –« Victor, mit einem Salatblatt kämpfend, lenkt ab: »Wie schön Ihr Garten ist, Herr Botschafter.« »Nicht wahr«, winkt der Botschafter dem Haushofmeister, der darauf den Sekt in die Gläser schäumt, »der Garten ist schön! Man vergißt die Stadt.« – – »Weil bei uns«, pafft der andere Herr in die Luft, »jeder gleich ein Gedankensystem erfinden will –« »Das ist unser unausrottbarer Trieb zum Ideellen«, leert der Journalist seine Mokkatasse, »wir sind eben immer noch sehr unamerikanisch –« »Nun«, tritt ein Ministerialdirektor zu mir, »wollen Sie sich nicht setzen oder«, rückt er sich vorm Spiegel die Krawatte korrekt über den Kragenknopf, »sind Sie nicht zufrieden mit uns?« – – »Was machst Du für ein trauriges Gesicht?« folgt mir Victor. – – »Gewiß«, kauft er noch ein paar Gazetten, »und das Essen war ausgezeichnet! – – Außerdem entscheiden die Taten.« »Die Taten?« sehe ich Victor an, »möglich, aber mir scheint, der Boden müßte anders bestellt sein, aus dem Taten wachsen könnten, wie ich sie ersehne fürs Volk.« »Weltverbesserer!« ruft Victor ein Auto und trennt sich von mir.

»Zuckerkandl, euer Fläschchen!« haue ich Unruhs Reisetagebuch um die Erd'.

 

Moissi

empfängt mit »eingebundenem Hals«, sie liegt im Bett, der Inhalationsapparat steht daneben, aber die der Schönheit und Sehnsucht restlos hingegebene Persönlichkeit wirkt stark und rein.

Und die Überzeugung wird geweckt, daß hier hohe Künstlerschaft der lautersten Quelle entspringt: Edlem Menschentum.

Das spielt sich in jeder Saison einmal ab, wie alljährlich so auch heuer, selbstredend kommt er von Moskau, wo sie bekanntlich bloß Revolution gemacht haben, um das Theater zu entfesseln, und dies, um Moissi an Moskau zu fesseln. Als gebranntes Kind fällt er aber nur ein künstlerisches Urteil, welches »durchaus nicht geeignet ist, irgendwie politisch umgewertet zu werden«. Das Gespräch umfaßt, wie es sich gehört, nicht nur die Eindrücke, sondern auch die Zukunftspläne, die er natürlich nicht macht, weil es doch gewöhnlich anders kommt, was aber weder den Interviewer hindert, nach ihnen zu fragen, noch Herrn Moissi, sie zu machen. Unstet wie er ist, plant er im Kaukasus zu spielen, vielleicht aber auch in der Schweiz und sogar in Deutschland. Auch wegen einer Gastspielfahrt durch Amerika schweben Verhandlungen. Er will sich zunächst in Wien niederlassen, wo er sein neues Heim beziehen wird, er freut sich sehr darauf, wiewohl er »den Besitz im allgemeinen nicht als erstrebenswertes Glück« empfindet, nur im besondern. Was sich in ihm dagegen sträubt, »muß wohl ein Rest vom alten Wanderkomödianten- und Vagantenblut sein«. Wahrscheinlich. Moissis Augen leuchten während des ganzen Gesprächs, so daß auch bei hereinbrechender Finsternis gespart werden kann, was beim Hotelzimmerpreis immer im Voraus berücksichtigt wird. Von neuen künstlerischen Aufgaben reizt ihn außer dem Sigismund in Calderons »Leben ein Traum«, den ihm Herr Hofmannsthal bearbeitet – er hat ihm bereits »die drei ersten Bilder vorgelegt« –, der »Timon von Athen«, den ich bearbeitet habe, ohne aber Herrn Moissi etwas vorzulegen. Freilich könnte ich auch den Ansprüchen, die Herr Moissi an Shakespeare stellt, nicht gerecht werden:

Beim Timon erscheint mir die Motivierung für des Helden phantastische Menschenverachtung doch ein wenig zu schwach. Die letzten Szenen dieses Stückes sind wohl das größte, was Shakespeare geschrieben hat, auch hier hoffe ich auf einen neuen Bearbeiter.

Ich kann Herrn Moissi in dieser Hoffnung nur bestärken und freue mich immer, wenn ich sehe, wie diese neuen Theaterleute, insbesondere Herr Reinhardt, sich ihr Repertoire von meinen Vorlesungsprogrammen befruchten lassen, wobei ich nie zögere, mich zu revanchieren und den Aufführungen gleich wieder nachzuhinken, damit doch ein Vergleich möglich sei. Ich würde Herrn Moissi für die Bearbeitung des »Timon« zu Beer-Hofmann raten, von dem er wie alljährlich so auch heuer spricht, nicht ohne daß seine Augen leuchten; wiewohl dieser vielleicht nicht imstande sein wird, die Menschenverachtung des Helden besser zu motivieren. Wenn sich aber Herr Moissi zu diesem Zweck entschließen könnte, die Gastfreundschaft des Timon ein wenig mit Figuren aus den Berliner und Wiener Kunstmilieus zu beleben und als Maler etwa Herrn Oppenheimer und als Dichter Herrn Salten auftreten zu lassen, dann brauchte er überhaupt keine Bearbeitung. Von sonstigen künstlerischen Plänen verrät er noch, daß er Ende März in Wien einen zweiten Vortragsabend »zu volkstümlichen Preisen« geben wird. Der erste litt an deren Unvolkstümlichkeit, war aber trotzdem ganz gut besucht, weil die Unvorsichtigkeit, an demselben Abend, wo im gleichen Hause der »Talisman« vorgelesen wurde, zu sprechen, ein wenig durch den Abfluß der Leute wettgemacht wurde, die eine der beiden Kassen geschlossen fanden und darum mit der andern vorlieb nahmen. Wogegen ich in keinem Falle das geringste einzuwenden habe, während ich umgekehrt auf Besucher verzichten würde, die ich bloß der zeitlichen und lokalen Gelegenheit zu verdanken hätte und etwa dem Wunsche, Herrn Moissi zu hören. Der Wiener Literatur aber würde ich empfehlen, den Glücksfall eines solchen Zusammentreffens eigens herbeizuführen, dann würde es gewiß nicht mehr geschehen, daß zwei Grenadiere herumgeistern und nicht wissen, wo sie ihr müdes Haupt zur Ruhe betten sollen. Ein Gespräch mit Moissi ist immer interessant. Es hat zwei Formen. Die eine gestaltet sich, wenn der Interviewer ihn zufällig im Hotelvestibül trifft, wo husch husch die kleinen Mädchen schwirren: da ist er allegro wie die eine Palpiti, »ganz das italienische Feuer«. Trifft man ihn aber auf dem Zimmer und liegt die Dame im Bett, so ist er mehr Russe, die Züge sind leidverklärt, er hat einen Fedja verschluckt, verzichtet auf den Besitz, den er demnächst beziehen wird, und reines Menschentum entfaltet sich vor den Augen des Interviewers. Immer aber, da und dort, muß es wohl ein Rest vom alten Vagantenblut sein. »Und dabei« – lebt er in Italien oder stirbt er in Polen, was liegt daran –

leuchten Moissis Augen in alle Fernen, so als ob die ganze Welt gerade groß genug wäre, ihre Heimat zu sein.

Und das Licht leuchtet in der Finsternis.

 

De lege ferenda

Ein achtzehnjähriges Mädchen kam um drei Uhr morgens nach Hause, es gab Vorwürfe, Streit, Aufregung, sie wollte sich mit Gas töten, durch das sie die Schlafenden gefährdet hat, und wird zu drei Tagen Arrests verurteilt, mit jener Bewährungsfrist, die eingeführt ist, damit die Richter Zeit haben, über ihre Urteile nachzudenken, die sie aber ungenützt verstreichen lassen. Dem Urteil ging eines voran, das für die Beurteilung des Richters einen erschwerenden Umstand bedeutet:

Der Richter Landesgerichtsrat Dr. Schedy hielt der Angeklagten, die ihre Aufregung schilderte, vor: Ihre Aufregung glaube ich Ihnen. Sie haben für Ihr Nachtschwärmen aber Strafe verdient! Freilich wäre eine Stockstrafe für Sie angezeigter gewesen. Was haben Sie sich denn gedacht, als Sie nach Hause kamen? Man werde Ihnen eine Belohnung geben? – Die Angeklagte blieb still. – Richter: Sehen Sie ein, daß Sie ein Unrecht begangen haben? – Angekl. (leise): Ja.

Alles natürlich nur de lege ferenda, wonach Nachtschwärmen ein Delikt und für dieses Stockstrafe eingeführt sein wird. Solange aber die Herren dafür angestellt sind, nach einem schon gegebenen Gesetz, das ja barbarischen Ansprüchen hinreichend entgegenkommt, zu urteilen, ist es immer wieder verdrießlich, sie aus ihrer Weisheit schöpfen zu sehen und goldene Worte sprechen zu hören, für die man keinen Stüber gibt. Höchstens einen solchen, der die gelindeste Antwort auf den Einfall ist, einem erwachsenen Mädchen mit einem Schilling zu drohen.

 

Ein Unhold

haust im 8 Uhr-Blatt, ich habe rechtzeitig gewarnt. Er plaudert, aber er ist unheimlich. Jetzt ist es zu spät. Jetzt schreibt er über ein Hotelabenteuer – worüber denn sonst –: – –

Er durchwühlte die Kleider. Vergeblich. Er fand nur ein Zettelchen. Kein Liebesbriefchen. Ein Miniaturbittgesuch. Ein Liliputschnorratorium.

Es ist derselbe Mensch, von dem das Wort »Bekotelletete« stammt. Und die Polizei weiß wieder einmal von nichts.

 

Mai 1925

Reiflich Erwogenes

* Die Prothese gestohlen. Ein Dieb hat am 3. d. dem Straßenmusikanten Johann Weininger, Meiselstraße wohnhaft, in der Branntweinschenke, Alserstraße Nr. 7, die Fußprothese, einen Lederfuß im Werte von 300 Schilling, gestohlen. Den Krüppel trifft der Diebstahl ungemein schmerzlich, da er ohne die Prothese ganz hilflos ist. Den Diebstahl begangen zu haben, ist ein Invalide verdächtig.

 

Sie sind bloß am Weltkrieg schuld

Auf seine alten Tage verleugnet Herr Georg Brandes den Schoß, dem er entstammt, und ist sogar zu einem Hinauswurf von Interviewern entschlossen, denen er vorher Rede und Antwort gestanden hat. Seine Stellung zur Presse ist nunmehr am treffendsten so formuliert:

Auf eine Frage stellt Brandes fest, daß er in seinem Berliner Vortrag nicht gegen die Presse im allgemeinen gesprochen habe, sondern nur gesagt, daß ohne Presse der Weltkrieg undenkbar sei.

Er hat also gar nichts gegen die Herren, sie sind bloß am Weltkrieg schuld. Aber da kann ich alter Überschätzer der Presse nur mit der bündigen und in allen Lebenslagen gültigen Frage antworten: Wem sagen Sie das? . . . Und er sagt es den Herren von der Presse.

 

Oktober 1925

Ein teuflischer Plan

40 Jahre Fiakerlied. Die ›Reichspost‹ wird um Aufnahme des folgenden Aufrufes ersucht: Am 24. d. jährt sich zum 40. Mal der Tag, an dem Alexander Girardi anläßlich eines großen von Fürstin Metternich zur Jahrhundertfeier der Wiener Fiaker für die Rettungsgesellschaft veranstalteten Wiener Volksfestes in der Rotunde zum erstenmal das »Fiakerlied« sang. Die »Gesellschaft zur Hebung und Förderung der Wiener Volkskunst« begeht den Vorabend dieses Wiener Gedenktages durch eine große Veranstaltung in Weigls Dreherpark und bittet alle Wiener, den Etablissementsbesitzerverband, den Verband der Lichtspieltheater, den Musikerverband, die Internationale Artistenorganisation, die Kapellmeisterverbände, den »Zwölferbund«, den Bund der Berufssänger, die Schrammelmusiker- und -sängerorganisation, alle sonstigen Musiker und Sänger, am 23. d. um 9 Uhr zur Feier des Tages in allen Wiener Familien, in allen Etablissements und Kinos das »Fiakerlied« zu spielen und zu singen.

Der Gottesfrevel ist auch in der Reichspost im Druck hervorgehoben, wird also von ihr offenbar begünstigt. Man hat keine zuverlässigen Berichte darüber, ob er vollbracht ward. Aber es ist anzunehmen, daß doch in manchen Wiener Familien damals Schlag 9 das Fiakerlied nicht gesungen wurde, da dieses Sodum bis auf den heutigen Tag stehen geblieben ist. Schließlich ist ja auch zu vermuten, daß etliche Wiener Familien durch Verluste im Weltkrieg noch heute so berührt sind, daß sie der Stolz auf zwa harbe Rappen nicht hinreichend entschädigen könnte, und andere wieder schon so weit saniert, daß ein am Graben stehendes Zeugl ihre Phantasie vergebens anregen würde. Eigentlich war aber die faktische Durchführung schon darum nicht nötig, weil der Eindruck, in einer Idiotenanstalt zu leben, auch an solchen Tagen hinreichend stark ist, wo kein Jubiläum des Fiakerliedes gefeiert wird. Der Ausländer versuche sich jedoch vorzustellen, daß ich in einer Stadt wirke, in der auch nur der Plan gefaßt wurde, daß zu einer bestimmten Minute sämtliche Eingeborenen das Fiakerlied anstimmen. Nicht wahr, da staunt der Fachmann und es verwundert sich der Leiermann! Wäre es geschehen, in solcher Nacht hätte sich kein Stern am Himmel gezeigt und ich hätte mich, durch die Straßen irrend, mit einem stillen Kusch zu den Fenstern empor begnügt. Im Namen Girardis! Ganz wie ich zu tun gewohnt bin, wenn ich nach viertelstündigem Schlaf von der vorbeiziehenden Wehrmacht mit dem Fußmarsch getreten werde, den sie, eingedenk der Lorbeerreiser, beibehalten hat und durch keine Weltkatastrophe sich abringen ließe. Aber daß es Krieg und Revolution geben würde, damit die Metropole des Verderbens das Fiakerlied anstimmt, das hatte einer doch nicht reiflich erwogen. Und bedenkt man dazu, daß Text und Musik dieses bodenständigen Liedes von einem Juden stammen, dann mag man erst ermessen, was da die Reichspost einer Bevölkerung angesonnen hat, die schon durch die Abhaltung des Zionistenkongresses unausdenkbare Schmach erleiden sollte.

 

Troglodytisches

In einem Flugblatt »Rassenverschlechterung durch Juda« (1. Auflage für Deutschösterreich, 128. bis 178. Tausend), mit dem Vermerk »Weitergeben!«, wird aus dem Buche »Entdeckung der Seele« von Professor Dr. Gustav Jäger, offenbar dem Manne, der durch die Erfindung der Jäger-Wäsche der deutschen Nation etwas Praktisches geschenkt und infolgedessen viel über Ausdünstung nachgedacht hat, der folgende Brief eines Fachkollegen an ihn zitiert:

Von Jugend auf hatte jeder Jude für mich einen absonderlichen, wenn auch nicht immer unangenehmen Duft und als Junge bekam ich manches Kopfstück, wenn ich ganz ungeniert Besucher unseres Hauses frug, ob sie auch Juden seien?

Diese Erfahrung, die die erwachsenen Rassenforschler leider nicht machen, hielt ihn jedoch nicht ab, seinen Geruchsinn auszubauen und zu vertiefen:

Später erkannte ich durch den Geruchsinn auch solche Personen, welche entweder durch Kreuzung oder durch Spiel der Natur nichts weniger als Juden gleichsahen, die auch niemand im entferntesten dafür hielt, ja, die es vielleicht kaum selbst mehr wußten, daß sie jüdischer Abstammung seien, oder doch nichts davon wissen wollten. 1847, als ich Pio nono in Rom den Pantoffel küßte, war ich der erste, der des Papstes hebräische Abstammung behauptete – die er 1861 selbst den Gebrüdern Cohn aus Lyon gegenüber zugestand –, und ohne daß ich es wußte, daß Kardinal Consalvi schon längst gesagt: ›E un ebreo!‹

Das Flugblatt, von der »Nationalsozialistischen deutschen Arbeiter-Partei« I. Elisabethstraße 9, also in einem österreichischen Regierungsgebäude verfaßt, enthüllt noch den Plan der im Auftrag des internationalen Judentums handelnden Franzosen, durch die Verwendung farbiger Truppen im Rheinland und im Ruhrgebiet eine Schändung, Schwächung und Bastardierung der deutschen heldischen germanischen Rasse herbeizuführen, und schließt mit der Aufforderung:

Die geschändeten Mädchen sollten sich durch freiwilligen Tod für das deutsche Volk opfern.

Gewünschter Opfertod ist der Germanin erspart geblieben, deren Abenteuer gelegentlich des Zionistenkongresses in der deutschösterreichischen Tageszeitung) (auch »Dötz« genannt) packend geschildert wird. Also ein Dötz-Zitat:

Männer, hütet eure Frauen!

Man schreibt uns: Sie veröffentlichten vor einigen Tagen unter dem Titel »Mütter, hütet Eure Kinder«, eine Mahnung, man solle auf seine Mädchen achten, damit sie nicht den grauslichen Wüstensöhnen, welche der Osten in diesen Tagen über unsere Vaterstadt ausspeit, zum Opfer fallen.

Aber auch auf die Frauen müssen wir acht geben! Ich beobachtete in der Badener Elektrischen eine lehrreiche Begebenheit: War da ein weißbärtiger Ostjude in Begleitung eines zweiten, der eine krummnasig, der andere stumpfnasig. Wovon sprachen die beiden Hebräer – von e Prozeß. Und als sie hierüber genug gemauschelt hatten, setzte sich der Stumpfnasige ins Nichtraucherabteil und der Krummnasige ins Raucherabteil.

Dort saß eine Frau in der Blüte der Jahre, zwischen 30 und 35, mit einer Gestalt, wie man sie jetzt wenig findet, üppig, groß, mit einem Wort, der Typ einer Arierin. Der geile, weißbärtige Jude fixierte sie und setzte sich dann in ihre Nähe. Ich beobachtete gespannt, was nun kommen wird. Es vergingen keine vier Minuten, hatte er sie schon angesprochen. Die Frau wurde purpurrot, und hatte so viel Ehrgefühl, auf die Ansprache dieses Halbmenschen nicht zu reagieren. Als er sah, daß ich gespannt hinblickte, da zog er es vor, sich zu seinem Stammesgenossen ins andere Abteil zu begeben.

Daher Männer, hütet Eure Frauen! Auf daß sie nicht eine Beute dieser geilen Judenherde werden.

Aber was nützt alle Vorsicht, entweder hat eine Ehrgefühl im Leib: dann kann ihr ein ganzer Kongreß von Zionisten nichts anhaben, oder ein anderes Gefühl: dann könnte die Obhut doch nur mechanisch verhindern, daß die Arierin, mit einer Gestalt, wie man sie jetzt wenig findet (folgt Gebärde in die Richtung des sogenannten Busams), den Wüstensohn als Oase empfindet und den Halbmenschen dem Vollgermanen vorzieht. Was tut Wodan, ist sie imstand, einen Zionistenkongreß interessanter zu finden als die Vereinssitzung der Cherusker in Krems, und Homolatsch, der Ehrenfeste, säße belämmert da, nachdem er sein Haussprüchlein vorgebracht:

      Mein deitsches Weip – mein Heim – mein Kind –
      Mir das Liebste – auf Erden – sind.

Wodanseidank ist die Gefahr vorüber.

 

A Hur war's

Graz, 28. April.

Der 40jährige Polizeikommissär Dr. Alois Hampel hat sich vor dem Schöffengericht zu verantworten. Er wurde beschuldigt, sich in sehr vielen Fällen Prostituierte, mit denen er amtlich zu tun gehabt hatte, durch Drohungen gefügig gemacht zu haben. Wiederholt, wenn Polizeiorgane eines der umherstreifenden Mädchen beanstandeten, wurde von diesen in dunklen Andeutungen auf Dr. Hampel verwiesen. Diese Gerüchte verdichteten sich immer mehr und schon wurde dem verdächtigten Kommissär nahegelegt, selbst die Anzeige zu erstatten. Er tat das jedoch nicht, was von der Anklage mit als Beweis für seine Schuld geführt wird. Schließlich mußte, da die Anwürfe immer bestimmter auftraten, von Amts wegen gegen den Polizeikommissär eingeschritten werden. Die Untersuchung bei der Polizei ergab sofort so viele Verdachtsmomente, daß Dr. Hampel vom Dienste suspendiert werden mußte.

Heute war er wegen Mißbrauchs der Amtsgewalt und wegen Verführung zur Unzucht von Personen, die ihm anvertraut waren, angeklagt.

Die Verhandlung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt.

Die Anklage wirft ihm vor, er habe nachweislich in neun Fällen die Verbrechen, deren er beschuldigt ist, begangen, und zwar habe er den Mädchen, die entweder vorgeladen oder auf seinen Befehl aus der Polizeihaft vorgeführt wurden, zuerst auseinandergesetzt, daß von seinem Ermessen allein eine milde oder strenge Bestrafung abhänge, und sie auch mit dem Arbeitshaus bedroht, wenn sie ihm nicht zu Willen seien. Die so eingeschüchterten Mädchen habe er dann auf den Schoß genommen, sie unsittlich berührt, mit mehreren direkten Verkehr gepflogen und sie zu Perversitäten gezwungen. Das alles habe er in seinem Dienstzimmer getrieben. Die Anklage führt dann neun Namen von Mädchen an, die auf diese Weise von Dr. Hampel behandelt worden sein sollen und heute als Zeuginnen geladen sind.

Der Angeklagte leugnet und erklärt sich als Opfer der Rachsucht der Prostituierten. Einige der Zeuginnen sind nicht erschienen, weil sie wegen Geschlechtskrankheiten im Spital liegen.

Trotz der schweren Belastung sprach das Schöffengericht den Sittenkommissär frei, da es den Aussagen von Prostituierten nicht Glauben schenken könne.

Also eine kleine Aufmerksamkeit zum Geburtstag des Verfassers von »Sittlichkeit und Kriminalität«, der sich ja schon immer vorgestellt hat, daß die steirische Themis eine Binde vor dem Kropf trägt. Aber so sympathisch hatte ich mir die Dame doch nicht gedacht. Der Grazer Sittenkommissär – denn man hat Revolution gemacht, um diesen Beruf dem Vaterland zu erhalten – ist angeklagt, seine Amtsgewalt gegenüber Prostituierten mißbraucht zu haben. Anders kann er ja seine Amtsgewalt gar nicht mißbrauchen als durch den Gebrauch der Prostituierten, da eben nur Prostituierte seiner Amtsgewalt unterstellt sind. Zeugen für diesen Mißbrauch der Amtsgewalt können wieder nur Prostituierte sein, da sich solcher Mißbrauch der Amtsgewalt nur vor jenen zu begeben pflegt, an denen er begangen wird, also vor den Prostituierten. Da man aber Prostituierten keinen Glauben schenken kann, so können Sittenkommissäre weiterhin Mißbrauch der Amtsgewalt begehen. Sie können aber auch, wenn außer ihrer eigenen Aussage keine andere Zeugenschaft dem Schöffengericht zur Verfügung steht, wo sie möglich wäre: ausgeraubt und überhaupt die Opfer aller sonst strafbaren Delikte werden; wenigstens in Graz. Denn zwischen den Leitmeritzer Geschwornen, die einst den Mörder einer Prostituierten wegen Übertretung des Waffenpatents verurteilt haben, und den Grazer Schöffen, dehnt sich ein schönes Stück Kulturwelt, zwischen damals und heute hat sich nichts zugetragen als ein Weltkrieg und eine Revolution, und ein Ruf wie Donnerhall braust ungeschwächt durch veränderte Zeiten und Staaten: A Hur war's!

 

Aus einem Dr . . . blatt

Sein Urteil war so drastisch, daß man es wörtlich kaum wiedergeben kann. Er sagte, die Maschin sei ein Dr . . .

Und wenn man ein Preisrätsel ausschriebe, kein Mensch würde erraten, daß diesen Akt von Selbstüberwindung die – ›Stunde‹ getätigt hat. (Der Gedankenstrich müßte von rechtswegen so lang sein, daß sämtliche Prostituierten Wiens Platz fänden.) Was mag das Dreckblatt nur angewandelt haben? Ich könnte mich nicht so zusammennehmen!

 

Die Antwort paßt nicht!

Gleich neben dem Vergleich Reinhardts mit Goethe war zu lesen:

»Die Antwort paßt.« Goethes Zorn konnte nicht mehr erregt werden, als wenn ein Schauspieler während der Probe die Rolle, die er gelernt haben konnte und sollte, ablas. Als Unzelmann mit der Rolle in der Hand probierte, rief Goethe aus dem Dunkel des Parketts, in dem er sich aufhielt: »Ich bin es nicht gewohnt, daß man seine Aufgabe abliest!« Unzelmann trat an die Rampe, entschuldigte sich: seine Frau sei krank gewesen, und er hätte mehrere Tage nicht lernen können. Goethe antwortete, hartnäckig-widerwillig, darauf: »Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet.« Unzelmann: »Ew. Exzellenz haben vollkommen Recht! Aber wie der Staatsmann und der Dichter seiner Nachtruhe bedarf, so auch der arme Schauspieler.« Starre Angst über die entschiedene Anklage unter allen Mitgliedern. Kurze, bedeutungsschwere Pause, dann Goethes ruhige Stimme: »Die Antwort paßt! Weiter!«

Wenn es überhaupt wahr ist, so ist es von Reinhardt. Denn man kann schwerlich annehmen, daß Goethe sich von der Logik des Schauspielers verblüffen ließ, von dem er doch nur verlangt hatte, daß er zur Leistung und nicht zur Fortsetzung der Berufsarbeit die Nacht zu Hilfe nehme, also nicht, daß er nach einem Arbeitstag noch die Nachtruhe opfere. Goethe hätte replizieren müssen, daß auch der Staatsmann und der Dichter, wenn sie am Tag durch Privatangelegenheiten verhindert waren ihre Arbeit zu leisten, sie eben des Nachts leisten müßten; denn sonst hätte sein Vorwurf an den Schauspieler überhaupt keinen Sinn gehabt. Nur wenn Goethe von diesem die Fortsetzung des Rollenstudiums über den Tag hinaus verlangt hätte, hätte die Antwort gepaßt. Da dies nicht der Fall war, wäre die passende Antwort gewesen, sich, ohne Berufung auf den Beruf, mit menschlichen Argumenten, mit der plausiblen Müdigkeit und Arbeitsunfähigkeit nach geleisteter Krankenpflege oder mit dem benommenen Gemütszustand zu entschuldigen. Denn nicht der »arme Schauspieler« hat der Nachtruhe bedurft, deren Berechtigung ja nicht erst verteidigt werden mußte, sondern der Mensch und Gatte. Es ist also zu vermuten, daß sich der Vorfall auf einer Probe im Josefstädter Theater abgespielt hat, und die Goethische Färbung des Ausspruchs erklärt sich hinreichend aus der bekannten Wesensverwandtschaft der beiden Theaterdirektoren. Ich hüte mich einfach aus dem Grund, einer dortigen Shakespeare-Aufführung – denn der Gereifte findet ja hin und wieder zu Shakespeare zurück – beizuwohnen, weil ich bei solchen Gelegenheiten zu zischen pflege und nicht riskieren will, daß mir aus der Direktionsloge der Ruf entgegentönt: »Man schweige!« Diese Antwort würde mir schon gar nicht passen.

 

Das Sittlichkeitsverbrechen

New-York, 11. August. (Tel.-Komp.)

In dem Badeort Exzelsior Springs stürmte vorgestern eine Menschenmenge von etwa tausend Personen ins Gefangenhaus, überwältigte die Wärter und schleppten den jungen Neger namens Walter Mitchell heraus, welcher am Tage vorher an einem weißen Mädchen ein Sittlichkeitsverbrechen begangen hatte. Der Neger wurde geteert, gefedert und rittlings an einer Stange durch die Straßen der Stadt geschleppt, um schließlich an einem Baum auf dem Hauptplatz der Stadt gehenkt zu werden. Die Erker des vornehmen Badehotels auf dem Hauptplatz waren während dieses Schauspiels von einer großen Anzahl reicher Badegäste besetzt, die dem Akt der Lynchjustiz behaglich zuschauten.

Es kann natürlich auch vorkommen, daß ein Neger ein Sittlichkeitsverbrechen an einem weißen Mädchen begeht wie umgekehrt auch ein Weißer an einer Negerin. Aber selbst wenn dies der Fall war und nicht, wie es häufiger der Fall ist, ein Sittlichkeitsverbrechen vorliegt, das eine Weiße von einem Neger begehen läßt, so dürfte es wohl kaum an das Sittlichkeitsverbrechen des weißen Pöbels hinanreichen und schon gar nicht an das der weißen Hautevolée, deren weiblicher Teil mit der Lust des Grausens auch seine Eifersucht befriedigen konnte. In Ozeanweite von solchem Mißwuchs der Natur, empfindet man doch das Unlustgefühl, mit ihm die Luft desselben Planeten zu atmen, und kann die Generallynchung einer von Giftgasen erhaltenen Zivilisation durch eine naturüberlegene Rasse gar nicht mehr erwarten.

 

Also sprach Keyserling

»Die bloße Tatsache des Lebens ist überall dieselbe sowie die 25 Buchstaben des Alphabets. Wert oder Unwert hängt davon ab, ob man mit diesen 25 Buchstaben den ›Faust‹ schreibt oder Unsinn redet.«

 


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