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8. Die Wunderstute Niagara.

Altengland befand sich in fieberhafter Erregung. In London, in Liverpool, in allen großen Städten des britischen Inselreiches erhitzten sich die Gemüter, und tief in die Provinz hinein trugen die Zeitungen dieselbe Erbitterung, dieselbe zitternde, nervöse Spannung.

Man sprach von einem Nationalunglück, von einer Demütigung Englands, von einer Katastrophe, wie sie seit Jahrzehnten nicht dagewesen, man seufzte, man klagte, man knirschte mit den Zähnen, man ballte die Fäuste, aber – man konnte es nicht ändern – England ging einer fürchterlichen Demütigung entgegen.

Hatte Indien sich von England losgerissen? Standen die tributpflichtigen Radschas vielleicht im Begriff, sich an die große Vergangenheit ihrer Ahnen zu erinnern, und hatten sie keine Neigung mehr, die in Wollust und Schwelgerei erstickten Vasallen der englischen Königin zu spielen, wollten sie zu den Waffen greifen?

Meuterten wieder einmal die indischen Soldaten, weil man ihnen zumuten wollte, ihre Büchsenläufe mit Schweinefett zu polieren? – Stand ein zweiter Tag von Delhi und Lahore bevor?

Oder hatten die Mächte des Kontinents sich zusammengetan, dem allzu kühnen Wachstum Großbritanniens entgegenzutreten? – Sprach man von einer Kontinentalsperre, durch welche der Welthandel Englands vernichtet werden sollte?

Oder vielleicht noch schlimmer – gingen geologische Veränderungen vor sich? Bröckelten die Fundamente ab, auf welchen die britannischen Inseln mitten im Meere ruhen? – Würde England vielleicht plötzlich in den dräuenden Wogen versinken, das Meer sich über dem gewaltigen Inselstaate schließen, wie es einst die sagenhafte Atlantis verschlungen?

Nichts von alledem! Die fieberhafte Spannung, die von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute wuchs, die alle Gemüter beschäftigte, welche sogar den Herzschlag der Börse zu lähmen drohte, die das ganze geschäftliche Leben Englands auf den Kopf stellte, dieses ungeheure Interesse, das England, Schottland und Irland erbeben ließ, es galt – einem Pferde!

Ja, einem Pferde, einem ganz gewöhnlichen Pferde mit vier Beinen, einem Kopf, einem Schwanz, einem Pferde, welches noch dazu nicht einmal ein Hengst, sondern nur eine Stute war.

Nur eine Stute, aber welch eine Stute – eine Stute, die sich, wie es in der Rennsprache heißt, schon mit goldenen Lettern in das Buch des historischen Sports eingezeichnet, eine Stute, welche bereits siebzig große Rennen absolviert hatte und noch in keinem geschlagen worden war, eine Stute, in ihrem Vaterlande Amerika vergöttert, von ganz Europa bewundert, vor der Altengland gegenwärtig zitterte.

Es war die Wunderstute Mr. Harry Cliftons, es war die Wunderstute Niagara.

Das englische Derby stand vor der Tür. Man schrieb den 5. Juni 18.., und der 7. Juni sollte der ereignisvolle Tag sein, an welchem das bedeutendste und wichtigste Rennen Englands abgehalten ward.

Dieser Tag war immer für England ein Nationalfesttag gewesen. Hatte die Welt bisher doch stets im englischen Derby die Farben Altenglands siegreich gesehen. Noch niemals war es einem Pferde fremder Nationalität, wenn wir so sagen dürfen, gelungen, einem englischen Vollblut die Siegespalme zu entreißen.

Da war in Amerika die unüberwindliche Niagara aufgetaucht, eine Stute von drei Jahren, welche bisher alle ihre Konkurrenten spielend niedergaloppiert hatte.

Sie hatte bis jetzt, wie die Statistik aufwies, ihrem glücklichen Besitzer Mr. Harry Clifton genau 2,300.000 Dollar eingetragen, aber nun wollte Mr. Clifton mit seiner Wunderstute den Trumpf ausspielen, nun wollte er der Welt beweisen, daß seine Niagara überhaupt unüberwindlich sei und in Europa ebensowenig wie in Amerika einen Gegner zu fürchten hätte.

Niagara war auf einem eigens für sie erbauten Schiffe nach Europa herübergekommen, hatte im Fluge den Grand Prix de Paris gewonnen, in Wien in der Freudenau alles geschlagen, was mit ihr konkurrierte, war in Berlin-Hoppegarten und auf dem Hamburger Moor siegreich gewesen – nun war die Wunderstute in London erschienen, um sich den großen Preis des englischen Derby zu sichern.

Aber wer sprach von diesem Preise? Er betrug allerdings 10.000 Pfund Sterling, aber die englischen Sportsmen hätten dem Amerikaner Clifton gern das fünffache ausgezahlt, wenn er darauf verzichtet hätte, seine Niagara am Derbytage mitlaufen zu lassen; denn es handelte sich hier um den Stolz Englands, die englischen Farben wie immer im Derby siegreich zu sehen.

Clifton aber dachte gar nicht daran, den englischen Rennstallbesitzern diesen Gefallen zu tun. Mit dem ganzen Trotz und der ganzen Kaltblütigkeit des Amerikaners hatte er erklärt, daß seine Wunderstute Niagara auch dieses Rennen gewinnen müsse, und man munkelte davon, daß er sich sogar durch Wetten um ungeheure Summen auch finanziell im höchsten Grade für die Sache engagiert habe.

Wie dem auch sein mochte – England fieberte dem diesjährigen Derby zu, und die Zeitungen beschäftigten sich schon seit Wochen mit allen politischen Fragen, mochten sie auch noch so wichtig sein, nur höchst nebensächlich, brachten aber Leitartikel über das bevorstehende Derby und die Wunderstute Niagara.

Leider mußten auch sie nach den amerikanischen Berichten und den Triumphen, welche Niagara bereits in Paris, Wien, Berlin und Hamburg gefeiert hatte, zugestehn, daß der Sieg wohl zweifellos Niagara zufallen werde.

Bis zum 1. Juni hatte man aber doch noch gehofft, daß diese düstere Wolke am nationalen Himmel vielleicht vorüberziehen könnte, noch war Niagara nicht eingetroffen, noch hoffte man, daß der Amerikaner seinen Entschluß, die Wunderstute im englischen Derby laufen zu lassen, nicht zur Ausführung bringen werde. Da traf Englands Hauptstadt wie ein Donnerschlag die am Morgen des 2. Juni von den Zeitungen gebrachte Nachricht:

»Mr. Harry Cliftons Niagara ist gestern abend in London eingetroffen. Sie wurde im eignen Wagen vom Viktoria-Bahnhof nach Newgatestreet in den von Mr. Clifton gemieteten und sorgfältig renovierten Stall geführt.

Den Wagen begleiteten acht von dem glücklichen Besitzer der Wunderstute gemietete Detektivs, welche auch bis zu dem Moment, da Niagara die Rennbahn betreten wird, die Stute Tag und Nacht bewachen werden.

Zugleich mit dem berühmten amerikanischen Renner ist auch Mr. Pit Barker, der in Diensten Mr. Cliftons stehende Jockei, welcher Niagara so oft schon ins Ziel geritten, in London eingetroffen.

Dieser Jockei ist ein ausgesprochenes Leichtgewicht, er soll, wie uns Eingeweihte versichern, trotz seiner zwanzig Jahre nicht mehr als fünfundsiebzig Pfund wiegen.«

 

In einem sehr elegant eingerichteten Zimmer des Royal-Hotels zu London schritt Mr. Harry Clifton, der Amerikaner, von welchem in jenen Tagen in London so viel die Rede war, unruhig auf und nieder.

Von Zeit zu Zeit blieb er vor seinem Schreibtisch stehn und blickte auf den Kalender, von welchem eine große schwarze Fünf ihm entgegenleuchtete. –

»Der 5. Juni,« stieß er mit dumpfer Stimme hervor, dann zog er seine goldene, mit Brillanten besetzte Uhr aus der Westentasche, konsultierte das Zifferblatt und fügte kopfschüttelnd und traurig hinzu: »Zehn Uhr vormittags, am 5. Juni. Es werden also nur noch etwa dreiundvierzig Stunden vergehn, bis das Derby beginnt, und dann – dann werde ich ein ruinierter Mann sein,« rang es sich über seine Lippen, und er sank in den Sessel vor dem Schreibtisch.

»Ja, ruiniert,« fügte er mit hohler Stimme hinzu, »nicht nur finanziell, sondern auch, worauf es mir noch mehr ankommt, man wird mich für einen Renommisten halten, für einen elenden Prahlhans, vielleicht sogar für einen Betrüger – nur er kann mich retten. – Ja, fuhr da nicht soeben ein Wagen vor? Vielleicht ist er es – nein, nein, ich habe mich geirrt, ein Wagen hält wohl vor dem Portale des Hotels, aber ein alter Mann mit weißem Bart und goldener Brille steigt aus, der Portier muß ihn stützen – nein, das ist er nicht, ach, und die Zeit verrinnt, und die unerbittlichen Zeiger der Uhr eilen vorwärts!«

Wenige Minuten später wurde an die Tür des Gemaches geklopft, der Zimmerkellner trat ein und überbrachte auf einer silbernen Platte Clifton eine Visitenkarte.

»Professor Manfred Fresenius aus Heidelberg?« murmelte Clifton, nachdem er einen Blick auf die Karte geworfen hatte. »Bedaure, ich kenne den Herrn nicht, sagen Sie ihm, daß ich nicht in der Lage sei, heute zu empfangen!«

Der Kellner wollte sich zurückziehen, aber in diesem Augenblicke öffnete sich schon die Tür, und der alte Herr mit dem weißen Vollbart, der goldenen Brille und der mächtigen, Ehrfurcht gebietenden Glatze, die eine Fortsetzung seiner hohen Stirn war, trat ein.

»Ja, das ist er – das muß er sein,« rief Professor Fresenius aus Heidelberg in einem gebrochen klingenden, geradezu stümperhaften Englisch, »weisen Sie mich nicht ab, verehrter Herr – ich bin aus Heidelberg eigens um Ihretwillen nach London gereist, da ich als Professor der Zoologie das größte Interesse daran habe, Ihre Wunderstute zu sehen!«

Bei dem Worte ›Wunderstute‹ zuckte Clifton zusammen, seine Züge verzogen sich schmerzlich, das Lob seines Pferdes schien ihn im höchsten Grade unangenehm zu berühren, ja, mehr als das, ihn traurig zu stimmen.

Der Kellner zog sich zurück, Clifton aber wandte sich ein wenig unmutig an den zudringlichen Fremden.

»Mein Herr Professor,« sagte er, »ich bedaure, Ihren Wunsch nicht erfüllen zu können, denn – aber was machen Sie da, warum hängen Sie Ihren Schlapphut über das Schlüsselloch?«

»Damit wir nicht durch dasselbe beobachtet werden können, Mr. Clifton,« antwortete Professor Fresenius mit plötzlich ganz verändert klingender Stimme, dabei richtete sich seine Gestalt, die vorher alle Merkmale des hinfälligen Alters aufgewiesen hatte, straff und elastisch auf, im nächsten Moment flog der weiße Bart zur Seite, die goldene Brille verschwand, die Glatze, welche nur eine Perücke gewesen war, flog im Bogen auf das Sofa, und vor dem Amerikaner, dessen anfängliches Erstaunen in wahres Entzücken überging, stand ein höchst intelligent aussehender, schön gewachsener, junger Mann, um dessen bartlose Lippen ein Lächeln spielte.

»Nobody!«

»Still, Mr. Clifton,« antwortete der berühmte Detektiv, »nennen Sie vor allen Dingen meinen Namen nicht so laut! Um welche Angelegenheit es sich auch handeln mag, es darf in diesem Hotel niemand ahnen, daß ich mich bei Ihnen befinde – im übrigen habe ich ein Telegramm der Redaktion von ›Worlds Magazine‹ erhalten, in welchem man mich bittet, mich Ihnen zur Verfügung zu stellen!«

»Heute morgen um sieben Uhr bin ich auf dem Indienfahrer ›Nena Sahib‹ aus Kalkutta in Southampton angekommen, um neun Uhr fand ich in meiner Londoner Wohnung das Telegramm von ›Worlds Magazine‹, ich legte schnell eine Verkleidung an, und da bin ich, um von Ihnen zu erfahren, womit ich Ihnen dienen kann!«

»Sie können mich vor dem Selbstmorde bewahren, Mr. Nobody,« antwortete Clifton düster.

»Das tue ich nicht gern,« lautete die Antwort des Detektivs. »Leute, die zu feig sind, das Leben zu ertragen, auch wenn es einmal seine Trümpfe gegen sie ausspielt, sind nicht wert, von ihrer Narrheit zurückgehalten zu werden!!«

»O, Mr. Nobody, Sie urteilen zu schnell!« rief Clifton aus. »Wahrhaftig, noch vor drei Tagen ahnte ich nicht, daß ich überhaupt jemals in meinem Leben in einen solchen Zustand der Verzweiflung gelangen könnte!«

»Ich sollte denken, Sie hätten keinen Grund, verzweifelt zu sein, Mr. Clifton,« versetzte Nobody, der sich dem Amerikaner gegenüber in einen Sessel niedergelassen hatte. »Sie sind reich, jung, Ihre Wunderstute Niagara füllt Ihren Geldbeutel und befriedigt dabei Ihren sportlichen Ehrgeiz in hohem Grade!«

»O, diese Wunderstute!« stöhnte der Amerikaner. »Wenn Sie wüßten, Mr. Nobody!!«

»Tot?« rief der Detektiv aus. »Das kann ich nicht annehmen; denn während ich hierherfuhr, kaufte ich mir einige Londoner Blätter und las über Ihre Niagara geradezu Wunderdinge. Sie wird ohne jeden Zweifel das englische Derby gewinnen!«

»Sie wird überhaupt kein Rennen mehr gewinnen,« versetzte Clifton.

»Sie ist also lahm geworden? Das ist sehr bedauerlich für Sie, Mr. Clifton, aber in diesem Falle hätten Sie nach dem Pferdedoktor schicken sollen, ich kann Ihnen da nicht helfen!«

Nobody wollte sich erheben, aber Clifton ergriff seine Hand und hielt ihn zurück.

»Ich beschwöre Sie, bleiben Sie, Mr. Nobody,« rief der Amerikaner aus, »ich will es kurz machen, denn die Enthüllung quält mich selbst am meisten. Bisher kennt das Geheimnis kein andrer, als ich und mein treuer Stallmeister Simon Olden, jetzt aber sollen auch Sie es erfahren!

Ganz London spricht von Niagara, und England macht sich darauf gefaßt, die Ehren des Derby an Amerika abtreten zu müssen; aber man irrt sich, das Pferd, welches in meinem Stalle auf der Newgatestreet steht, wird nicht einmal die Hälfte der Distanz durchstechen können, wenn es überhaupt imstande ist, seine vier Beine zu rühren, kurz, mein Freund, ich bin nicht mehr der Besitzer Niagaras, die Wunderstute ist mir – geraubt worden!«

»Geraubt?« rief Nobody hastig aus; denn mit diesem einen Worte, schien die Verzweiflung Cliftons Interesse für ihn zu gewinnen. »Geraubt, Mr. Clifton?«

»Man hat sie mir vertauscht,« ächzte der Amerikaner trostlos. »Am Abend des 1. Juni traf ich mit Niagara in London ein. Sie wurde auf dem Viktoriabahnhofe unter meiner Aufsicht verladen, ich überführte sie in den Stall, den ich auf Newgatestreet für sie gemietet hatte. Acht amerikanische Detektivs, die ich auf meine Europareise mitgenommen hatte, bewachten sie!«

»Sie sind überzeugt davon,« unterbrach Nobody die Ausführungen des Amerikaners, »daß es noch Niagara war, die sie in den Stall auf Newgatestreet gebracht haben?«

»Ganz überzeugt davon! Am 2. Juni besaß ich noch Niagara. Auch noch am 3. bis zwölf Uhr mittags!«

»Halt! – Woher wissen Sie mit Bestimmtheit, daß es Niagara war, welche sich um diese Zeit noch im Stalle der Newgatestreet befand?«

»Weil Niagara ein Zeichen besitzt, durch das ich sie unter tausend ähnlichen Pferden sofort wiedererkennen konnte. Aus Furcht, wie von einer Vorahnung geleitet, daß das Pferd mir einmal vertauscht werden könnte, hatte ich ihr hinter das linke Ohr ein ›C N‹ – Clifton Niagara sollte das bedeuten – einbrennen lassen!

Dieser Stempel war so klein gehalten, daß ihn niemand entdeckte; auch waren dem Pferde wieder die Haare darübergewachsen, nur ich wußte darum, und wenn ich die Haare auf dieser Stelle zurückstrich, so überzeugte ich mich davon, daß der eingebrannte Stempel vorhanden sei!«

»Was geschah also am 3. Juni um zwölf Uhr mittags?«

»Am 3. Juni um zwölf Uhr mittags bestieg mein Jockei Pit Barker das Pferd, denn es sollte ihm ein guter Galopp gegeben werden!

Die Rennbahn, auf der das Derby ausgefochten wird, befindet sich drei Minuten von meinem Stalle in der Newgatestreet entfernt!

Jockei Pit Barker ritt Niagara dreimal um den Rennplatz, dann kehrte er mit dem Pferde zurück und übergab es den Wärtern. Mein Stallmeister Simon Olden führte es selbst in den Stall!

Am Nachmittag machte ich die Entdeckung, daß es nicht Niagara sei, die sich in meinem Stalle befand, sondern ein fremdes Pferd, welches Niagara allerdings täuschend ähnlich sah!

Nur den eingebrannten Stempel hatte es nicht hinter dem linken Ohre!!

Sie können sich denken, Mr. Nobody, daß ich bei dieser Entdeckung dem Wahnsinne nahe war, jedoch beherrschte ich mich und vertraute mich nur Simon Olden an!

Ich warf mich in einen Wagen und fuhr nach der Wohnung Pit Barkers!«

»Wo befindet sich diese?«

»Pit Barker hat sich für seinen Londoner Aufenthalt zwei Zimmer und ein Kabinett auf Camberwall Lane Nummer 7 gemietet. Dort fragte ich jedoch vergeblich nach dem Jockei. Er war von der Mittagsarbeit nicht nach Hause gekommen. In heller Verzweiflung wartete ich den ganzen Nachmittag auf ihn in seiner Wohnung! –

Er kam nicht, ebensowenig kehrte er am Abend oder in der Nacht zurück! Der Schurke ist spurlos verschwunden – er hat mit seinem Raube das Weite gesucht!«

»Mit seinem Raube? Sie glauben also, er habe Niagara mit sich genommen?«

»Das ist wohl nicht anzunehmen,« versetzte Clifton, »denn mit Niagara hätte er eine schnelle Flucht nicht bewerkstelligen können, aber dieser Halunke hat für sein Verbrechen mindestens 50.000 Pfund Sterling bekommen, wahrscheinlich sogar noch eine größere Summe!«

»Wer sollte ihm so viel Geld eingehändigt haben?« fragte der Detektiv.

»Sie fragen noch, Mr. Nobody? Ah, Sie kennen ihn eben nicht, den Hochmut der englischen Sportsmen. Sie wollten von Niagara nicht geschlagen werden, da haben sie jedenfalls eine ungeheure Summe aufgebracht, um die verhaßte Konkurrentin ihrer Pferde zu beseitigen! Aber auch die Buchmacher, bei denen Wetten im Betrage von zehn Millionen auf Niagaras Sieg abgeschlossen worden sind, hatten ein Interesse daran, mich meines Pferdes zu berauben. Ich bin ja hier in London von Feinden umgeben, sie alle sind vielleicht Hand in Hand gegen mich vorgegangen.

Ich aber, Mr. Nobody, schließe meinen Bericht mit einem Geständnis, das ich eben nur Ihnen mache,« fuhr Clifton mit dumpfer, gepreßter Stimme fort. »Kann ich Niagara nicht am 7. Juni auf die Rennbahn bringen, so daß sie das englische Derby gewinnt, so bin ich ein zugrunde gerichteter Mann, denn im Vertrauen auf die unübertreffliche Kapazität meines Pferdes habe ich mein ganzes Vermögen auf ihren Sieg gewettet, Sie begreifen, Mr. Nobody –«

»Alles,« unterbrach der berühmte Detektiv den Trostlosen. »Vor allen Dingen begreife ich, daß Niagara bis zum 7. Juni um zwei Uhr nachmittags zur Stelle geschafft werden und das Derby gewinnen muß!!«

»Ah, Sie hoffen noch, Mr. Nobody?«

»Vielleicht – ich hoffe übrigens immer. Aber beantworten Sie mir jetzt einige Fragen. Auf welche Summe belief sich das Jahreseinkommen Pit Barkers bei Ihnen?«

»Ich gab ihm ein Fixum von 15.000 Dollar per Jahr,« antwortete Clifton, »außerdem, wie es üblich ist, zehn Prozent von allen Preisen, die er mir errang!«

»Was machten diese im letzten Jahre aus? Ungefähr wenigstens, Mr. Clifton, es kommt auf 1000 Dollar mehr oder weniger nicht an!«

»Ich habe mit Niagara im letzten Jahre allein 700.000 Dollar verdient!«

»Somit hat Jockey Pit Barker 70.000 Dollar von Ihnen erhalten, plus 15.000 Dollar Fixum macht 85.000 Dollar. – Die Summe, welche Sie mir vorhin angegeben haben, und von der Sie annahmen, daß man Pit Barker mit ihr bestochen habe, ist viel zu gering angesetzt, Mr. Clifton!!«

»Weshalb zu gering, Mr. Nobody?«

»Weil ich immer gefunden habe, daß ein Mann, der halbwegs zu rechnen versteht, erst dann zum Schurken wird, wenn man ihm das in ehrlicher Arbeit zu verdienende Jahreseinkommen verzehnfacht. Nach dieser Rechnung müßte also Jockei Pit Barker 850.000 Dollar von Ihren Widersachern erhalten haben. Sie werden mir zugeben, daß das ein wenig zu hoch gegriffen erscheint.«

»Ich weiß nicht!« meinte Clifton achselzuckend. »Der Engländer opfert seiner Begeisterung für den Sport alles!!«

»Gerade der Engländer rechnet, wenn es an den Geldbeutel geht,« versetzte Nobody. »Sie sind und bleiben ein Krämervolk, diese Söhne Albions. Aber was hielten Sie bisher von dem Charakter Barkers?«

»Ich habe ihn für einen rechtschaffenen Burschen gehalten!«

»Hatte er Leidenschaften?«

»Nur die Leidenschaft, zu siegen; er war von glühendem Ehrgeize beseelt!!«

»Besaß er eine Geliebte?«

»Das ist mir unbekannt, indes bin ich niemals so tief in sein Privatleben eingedrungen!«

»Hatte er einen Grund, Ihnen zu zürnen, sich an Ihnen zu rächen?«

»Ganz und gar nicht! Ich stand ihm geradezu als ein guter Freund gegenüber!!«

»Gut! Haben Sie jetzt die Güte, mich nach dem Rennplatze zu begleiten! Kann das geschehen, ohne daß unsre Anwesenheit dort auffällt?«

»Um diese Zeit dürfte kein Mensch auf dem Rennplatze sein! Ich werde einen Wagen nehmen; in einer Viertelstunde werden wir an Ort und Stelle sein!«

Nobody setzte seine Perücke wieder auf, befestigte den weißen Bart und die goldene Brille und nahm die Haltung an, mit der er so virtuos einen alten Mann kennzeichnete.

Auch Harry Clifton hatte Hut und Rock genommen, sie verließen zusammen das Zimmer; wenige Minuten später saßen sie in einem Cab, und bevor noch eine Viertelstunde vergangen war, befanden sie sich auf dem großen Rennplatze von London, wo zwei Tage später das englische Derby entschieden werden sollte.

Nobody blickte prüfend über den weiten Platz, der etwa die Form einer Ellipse hatte; derselbe war mit kurzem Gras bestanden, das ausgezeichnet gepflegt und gut unter der Schere gehalten war.

An der einen Längsseite der Ellipse erhoben sich die Tribünen, die am 7. Juni ohne Zweifel wieder von dem vornehmsten Publikum der englischen Hauptstadt besetzt sein würden; drüben an der gegenüberliegenden Längsseite standen kleine zierliche Gebäude, die Stallungen, in denen die Rennpferde, die an dem betreffenden Tage beschäftigt waren, untergebracht wurden.

Der ganze Platz war vorzüglich zu übersehen, nur dort, wo sich der Scheitel der Ellipse befand, erhob sich eine Anzahl alter Bäume, die jetzt im Hochsommer in vollem Blätterschmucke prangten.

»Mr. Clifton,« sagte Nobody, nachdem er den Rennplatz einige Minuten lang gemustert hatte, »als Pit Barker zum letzten Male Niagara hier ritt, an jenem verhängnisvollen Nachmittage meine ich, waren außer ihm noch andre Jockeis, Trainer oder Rennstallbesitzer auf der Bahn?«

»Es wimmelte damals von Menschen,« antwortete Clifton. »Sie alle bewunderten Niagara und mögen sich eigentlich nur zu dem Zwecke, meine Wunderstute zu sehen und sie bei der Arbeit beobachten zu können, hier eingefunden haben!«

»Hat man mit Pit Barker, nachdem er dem Pferde den Galopp gegeben, noch gesprochen?«

»Nein, Pit Barker ist sogleich nach Hause geritten, das heißt, er hat Niagara nach dem Newgatestalle gebracht; ich hatte ihm ausdrücklich verboten, die neugierigen Fragen derer, die sich an ihn herandrängen würden, zu beantworten!«

»Sind Sie selbst oder einer Ihrer Leute zugegen gewesen, während Pit Barker dem Pferde den Galopp gegeben hat?«

»Ich selbst war einige Minuten lang zugegen!«

»Hatten Sie den Eindruck, daß es damals wirklich Niagara war, die Pit Barker ritt?«

»Niagara und kein andres,« rief Clifton aus, »einen solchen Galopp hätte kein andres Pferd der Welt zustandegebracht!«

»Wievielmal ist Pit Barker diese Bahn geritten?«

»Dreimal; das ist nämlich die Distanz des englischen Derby!«

»Wievielmal mußte er infolgedessen dort hinter den Bäumen verschwinden?«

Harry Clifton dachte einen Moment lang nach, dann antwortete er: »Dreimal!«

»Kommen Sie, Mr. Clifton, wir wollen einmal zu den Bäumen dort hinten gehn; sehr alte, schöne Bäume, wie es scheint, schottische Eichen, wenn ich mich nicht irre!«

Der Amerikaner und Nobody begaben sich über den Rennplatz hinüber zu der Stelle, auf der sich die Bäume erhoben.

»Wollen Sie mir eine kleine Gefälligkeit erweisen, Mr. Clifton?« fragte Nobody. »Dann laufen Sie einmal, so schnell Sie können, aber wirklich so schnell Sie können, hinter den Bäumen über die Bahn!«

Clifton schüttelte verwundert den Kopf; doch er hatte ein so großes und wohlberechtigtes Vertrauen zu Nobody, daß er auch auf eine der alten schottischen Eichen hinaufgeklettert wäre, wenn der berühmte Detektiv es von ihm verlangt hätte.

Dieser zog sich etwa fünfzig Schritte zurück, so daß er in der Rennbahn stand. Dann gab er ein Zeichen, und Clifton begann zu laufen.

Nobody hatte seine Uhr hervorgezogen, welche mit einem ausgezeichneten Stopwerk versehen war.

Er kontrollierte ganz genau die Zeit, welche verging, bis der Amerikaner wieder hinter den Bäumen hervorkam.

»Danke bestens, Mr. Clifton,« sagte er, »und nun wollen wir es umgekehrt machen! Jetzt stellen Sie sich hierher, und ich werde ein bißchen hinter den Bäumen herumkriechen. Kümmern Sie sich bitte gar nicht um mich!«

Sobald Nobody hinter den Bäumen allein war, musterte er mit hellflammendem Auge das ganze Terrain; seine Blicke glitten an den Baumstämmen empor bis zu den Kronen, sie ruhten jetzt wieder auf dem Grasboden.

Plötzlich schien den Detektiv am Boden irgend etwas zu interessieren. Er warf sich ohne weiteres zur Erde nieder und betrachtete angelegentlich einen ganz leichten Erdriß, der fast die ganze Breite des hinter den Bäumen liegenden Terrains einnahm.

Nicht breiter als ein Finger, nicht tiefer als der Nagel eines solchen, verlor der Erdriß sich drüben an der hohen Holzwand, welche zum Schütze gegen das nicht zahlende Publikum an dieser Stelle der Rennbahn aufgerichtet war.

Clifton wartete geduldig etwa eine Viertelstunde; dann kam Nobody langsam hinter den Bäumen hervor und näherte sich ihm. Das Gesicht des Detektivs war ernst.

»Mr. Clifton,« sagte er, »Sie haben einem braven Manne unrecht getan. Pit Barker ist – unschuldig!!«

»Unschuldig!« stieß Clifton mit lauter Stimme hervor. »O, mein Gott, wie wäre dies möglich – denkbar – wer sollte Niagara sonst vertauscht haben, wenn nicht er, und warum verbirgt sich der Elende, seitdem er mir diesen Streich versetzt hat, an dem ich mich verbluten werde?!«

»Pit Barker ist unschuldig!« wiederholte Nobody ruhig und gelassen. »Wo er sich gegenwärtig befindet, kann ich Ihnen im Moment nicht angeben, Mr. Clifton. Es ist sogar sehr leicht möglich, daß Pit Barker sich nicht mehr unter den Lebenden befindet, sondern daß man ihn ermordet hat!«

»Ermordet?!«

»Ja, ermordet! Vielleicht wird er auch irgendwo gefangen gehalten, da es nicht nach jedermanns Geschmack ist, gleich einen Mord zu begehn.«

»Und woraus schließen Sie, daß Pit Barker an dem Raube Niagaras unschuldig ist?« ließ sich der Amerikaner mit stockender Stimme vernehmen.

»Kommen Sie mit, Mr. Clifton!«

Nobody führte ihn hinter die Bäume. »Sehen Sie den Erdriß, der hier beginnt und dort drüben an der Holzwand endet?!«

»Ich sehe ihn,« antwortete Clifton, nachdem er sich tief niedergebeugt hatte.

»Bemerken Sie, daß dieser Erdriß, der übrigens nicht einmal so tief ist, daß Sie das oberste Glied Ihres kleinen Fingers darin verschwinden lassen könnten, ganz geradlinig zur Holzwand hinüberläuft?«

»Allerdings, das ist in der Tat der Fall,« versetzte der Amerikaner.

»So ausgeprägt gerade Linien schafft die Natur niemals,« fuhr Nobody fort, »dieser Erdriß muß also von Menschenhand erzeugt worden sein. Nun haben Sie die Güte und knien Sie einmal nieder, bücken Sie sich noch mehr, betrachten Sie hier den entstandenen Kanal. Sehen Sie, wie über seine ganze Länge dahin eine Auszackung läuft?!«

»Ganz recht, es sieht geradezu aus, als wäre diese Auszackung mit einer kleinen Maschine hervorgebracht worden!«

»Nun, ich behaupte, Mr. Clifton,« ließ sich Nobody vernehmen, »daß diese Auszackung von einem Sporn herrührt, der sich beständig gedreht hat, während der Stiefel, an dem er saß, blitzschnell über den Grasboden hinweggerissen worden ist, mit dem Stiefel natürlich auch der Fuß, mit dem Fuß das Bein und mit dem Bein – Pit Barker!!«

Clifton starrte Nobody an, als wäre dieser ein Seher, ein Prophet.

»Nun können wir aber,« fuhr Nobody mit der Gründlichkeit eines Mathematikers fort, »aus der Art dieser hier am Boden verlaufenden Linie, welche der Sporn gerissen hat, mit Sicherheit darauf schließen, daß die Bewegung des über den Grasboden gezogenen Körpers blitzschnell gewesen sein muß; so schnell reißt keine Hand einen Körper mit sich, das ist nur auf eine ganz bestimmte Art zu bewirken!«

»Auf welche Art?« fragte Clifton mit fast unhörbarer Stimme; seine Ehrerbietung vor Nobodys überlegenem Geiste wuchs von Sekunde zu Sekunde immer mehr.

»Machen wir es kurz,« sagte Nobody, indem er sich erhob, »ich will Ihnen genau beschreiben, auf welche Art das Verbrechen geschah!

Pit Barker ritt zum dritten Male auf der Niagara hier hinter den Bäumen vorüber. Die Schnelligkeit Ihrer Wunderstute war natürlich eine ungeheuer große. Wäre der Räuber einfach auf Pit Barker zugesprungen und hätte versucht, ihn vom Pferde herunterzureißen, so hätte er auch nicht annähernd so schnell zufassen können, wie Niagara ihren Reiter davongetragen hätte!

Aber sehen Sie – dort oben auf der Holzwand saß der Schurke, oder aber er lauerte dort im Gebüsch, welches den Bäumen gegenüberliegt!

In demselben Moment, in welchem Pit Barker hier vorüberkam, sauste plötzlich ein Lasso durch die Luft, wickelte sich um den Hals des Jockeis, und dann wurde der Unglückliche vom Pferde heruntergerissen, über den Grasboden hinweggezerrt, wobei seine Sporen die hier sichtbare Erdrinne aufrissen und dann – nun, Niagara gehörte wahrscheinlich zu den Pferden, welche sofort stillstehn, wenn sie fühlen, daß ihr Reiter sich nicht mehr im Sattel befindet. Infolgedessen konnten die Räuber – denn es müssen ihrer mehrere gewesen sein – sich Niagaras bemächtigen!!«

»Pardon,« rief Clifton, »das Pferd kam ja aber wenige Sekunden später wieder zum Vorschein und alle Welt sah, daß Pit Barker noch im Sattel saß!«

»Was da zum Vorschein kam,« antwortete Nobody, »war nicht mehr Niagara, sondern das Pferd, welches Sie gegenwärtig im Newgatestall haben, auch der Jockei war nicht mehr Pit Barker, sondern ein Komplice der Gauner, welcher Pit Barker ein wenig ähnlich sah und dessen Dreß angezogen hatte!!

So, Mr. Clifton, erkläre ich mir den Vorgang des Verbrechens, und nun leben Sie wohl – ich gehe, Ihre Wunderstute Niagara wiederzuschaffen und, wenn möglich, Pit Barker zu retten!«

Damit drückte Nobody dem Amerikaner die Hand, und bevor dieser noch ein Wort an ihn richten konnte, war Nobody schon hinter den Bäumen verschwunden.

 

Wer hätte noch nicht von Barnum und Bailey gehört, jener großen, in der ganzen Welt berühmten Zirkusfirma, die sich das Goethesche Wort zum Motto erkor: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen!

Weit draußen im Westend Londons hatten Barnum und Bailey seit acht Tagen ihren eisernen Zirkus erstehn lassen.

Die Engländer sind im großen und ganzen doch gewiß praktische Leute, und sie bewundern nicht so leicht technische Fortschritte und Ueberraschungen, aber Barnum und Bailey hatten sie doch verblüfft.

Um sieben Uhr morgens war der Zirkus in London angekommen.

Zweiundsiebzig Waggons hatten Personen, Requisiten und die Menagerie dieses ungeheuren Wanderzirkus nach der englischen Hauptstadt gebracht. Um acht Uhr morgens waren die Waggons bereits von dem Personal des Zirkus ausgeräumt und ihr Inhalt auf bereitstehende Wagen verladen, welche teils von Pferden, teils von Kamelen und Elefanten gezogen wurden.

Um acht Uhr begann der große Einzug durch die Straßen der Hauptstadt, den Millionen von Menschen bewunderten.

Um neun Uhr trafen die Wagen auf dem Platze im Westend ein.

Wiederum begannen die Angestellten von Barnum und Bailey ihre Tätigkeit, und da jeder genau wußte, was er zu tun hatte, und jeder nur dort zufaßte, wo es seines Amtes war, so stand um elf Uhr vormittags der Zirkus bereits fertig da, Menschen und Tiere waren untergebracht, und nun sorgte man für das Mittagsmahl der Angestellten.

Denn Barnum und Bailey lassen nur das Notwendigste ihren Lieferanten zukommen; was sie sich allein verschaffen können, besorgen sie auch allein.

Diese ungeheure Riesenfamilie, aus achthundert Menschen bestehend, speist bei sich zu Hause.

Fünf Ochsen waren in weniger als einer halben Stunde geschlachtet und zerlegt.

Die besseren Fleischteile waren für das Personal bestimmt, die schlechteren für die Tiere.

Auf eignen, transportablen Herden war indes die Suppe gekocht worden, jetzt drehten sich die Bratspieße über dem flackernden Feuer, und nicht lange dauerte es, so verzehrten die Leute von Barnum und Bailey mit gutem Appetit ihr Beefsteak.

Zwei Stunden später begann die erste Vorstellung, welche einen durchschlagenden Erfolg erzielte.

Die Reklame von Barnum und Bailey hatte nicht gelogen: was hier geboten wurde, hatte selbst London noch nicht gesehen.

In der ersten Abteilung wurden die Abnormitäten gezeigt.

Da war der Mann mit dem eisernen Kopfe, der große Steine auf seinem Schädel zertrümmern ließ; da war der junge Indier, dem ein kleiner Bruder aus dem Bauche herauswuchs; da zeigten sich die Wilden von Lwuka; da belustigte das Skelettgigerl durch seine abnorme Magerkeit; da sprangen aus einer großen Muschel vier Männchen, dem afrikanischen Zwergvolke angehörig, hervor; da gab es eine Fülle von Außerordentlichem, Ungewöhnlichem, fast Unglaublichem zu sehen.

Wer Lust hatte, der konnte auch die Menagerie besichtigen, deren Reichhaltigkeit und vorzügliche Tierexemplare alle zoologischen Gärten Europas in den Schatten stellten.

Und dann begann in der großen Arena die Zirkusvorstellung, die entschieden der Glanzpunkt aller Darbietungen war.

Barnum und Bailey hatten vielleicht nicht mit Unrecht behauptet, daß alle ihre Künstler einzig in ihrer Art daständen.

Das Publikum von London war enthusiasmiert, es war entzückt, es war auf das höchste begeistert.

Man wußte nicht, welcher Nummer aus dem überaus reichhaltigen Programm man die Siegespalme zugestehn sollte.

Waren es die Clowns, über welche man Tränen lachen konnte? War es der kühne Radfahrer, der auf seinem Bicycle über 380 steile Stufen heruntersauste, oder waren es die schönen, anmutigen Reiterinnen, die in ihren Mullröckchen durch brennende Reifen sprangen? War es die unübertreffliche Dressur von sechzehn Elefanten, welche die Hauptattraktion des Zirkus werden sollte? Oder war es vielleicht der Indianer Junitu, ein echter Sioux, von schlankem, athletischem Bau, mit schönem, melancholischem Gesicht, das die bis auf die Schultern herabfallenden blauschwarzen Haare umrahmten?

Ohne Zweifel entzückte Junitu das Publikum und errang sich im Sturm besonders die Sympathie der Londoner Damenwelt.

Dieser junge Sioux war aber auch der kühnste Reiter, den man jemals in der Manege gesehen hatte; vielleicht wurden seine equestrischen Künste nur durch seine Leistungen als Kunstschütze mit Pfeil und Bogen und Büchse übertroffen.

Er schleuderte den Tomahawk mit unfehlbarer Sicherheit, kurz, er zeigte alle an das Märchenhafte grenzenden Künste, welche die Jugend in ihren von den Indianern handelnden Lieblingsbüchern so sehr bewundert.

Doch nein, auch Junitu wurde in den Schatten gestellt.

La belle Dolores, die Amazonenkönigin, wie das Programm sie nannte, schoß doch den Vogel ab, und als das Publikum dieser ersten Vorstellung den Zirkus verließ, war man darüber einig: La belle Dolores sei der Stern von Barnum und Bailey.

Die Amazonenkönigin! Sie führte diesen Namen mit Recht, die schöne Dolores, die ihrem Namen nach wohl eine Spanierin sein mußte; nicht nur dem Namen nach, sondern auch, wenn man den Frauen einer bestimmten Nationalität gewisse Schönheitsvorzüge zugesteht, gemäß ihrer berückenden Schönheit.

Diese wunderbaren, dunklen Augen erglänzten in echt spanischem Feuer, dieser Teint, der die Farbe des Elfenbeins besaß, konnte nur unter der Sonne von Granada oder Sevilla entstanden sein, diese schlanke, biegsame Figur mit all ihrer Formenschönheit ließ das Bild einer Andalusierin vor dem geistigen Auge erstehn, und diese braunen Haare, die den Schimmer der Edelkastanie besaßen, findet man nur auf dem Gemälde eines Murillo wieder.

Barnum und Bailey hatten als Schlußtrick ihrer Vorstellungen ein recht hübsches Spektakelstück erdacht.

An der Spitze eines Amazonenheeres – diese in Goldrüstungen gehüllten Frauengestalten berauschten das Auge und die Sinne – hielt La belle Dolores ihren Einzug in die Manege.

Alle waren beritten. La belle Dolores saß auf einem weißen Zelter, ihr Goldhelm endigte in einer kleinen Krone.

Einige Reiterübungen werden ausgeführt, das Amazonenheer ist vortrefflich geschult, es gehorcht seiner Königin auf das Wort.

Aber immer leidenschaftlicher wird die Schnelligkeit des Rittes, es geht über Hindernisse, über hohe Hecken, über Gräben, über künstlich hergestellte Wasserläufe.

Da plötzlich brechen hinter einem Felsen phantastisch gekleidete Soldaten hervor – Männer – Feinde der Amazonen.

Eine Schlacht beginnt. Das scheint kein Spiel zu sein, kein Theatereffekt, es wird ehrlich gekämpft, gerungen, Pferde stürzen und reißen ihre Reiter und Reiterinnen mit sich zu Boden.

Aus silbernen Trompeten ertönen die Signale, Trommeln werden gerührt, Schwerter klingen klirrend aneinander.

Die Amazonen bleiben Sieger, die Königin, die Heldin, die Siegerin, wird mit Rosen bekränzt – das Gesicht mit dem Elfenbeinteint ist vom Glänze der Rosen überflössen. Oder ist es das wild erregte Blut der schönen Spanierin, das unter ihrer weißen Samthaut in rasender Schnelligkeit zirkuliert und auch ihr holdes Antlitz mit rosigem Hauche übergießt? –

Ganz London wallfahrtete zu Barnum und Bailey, um La belle Dolores zu sehen.

Die Jeunesse dorée, die Lebewelt interessiert sich natürlich sofort für die reizende Spanierin, und in den fashionablen Klubs gab es in jenen Tagen nur zwei Gesprächsstoffe, die mit wahrer Inbrunst behandelt wurden: La belle Dolores und die amerikanische Wunderstute Niagara, die das bevorstehende Derby gewinnen sollte.

War La belle Dolores tugendhaft? Würde sie dem englischen Golde widerstehn?

Man schloß Wetten ab; mehrere englische Lords, die noch den ganzen Wagemut der Jugend besaßen, eröffneten die Jagd auf die schöne Spanierin.

Aber sie mußten nach einigen Tagen gestehn, daß es ihnen nicht einmal möglich gewesen war, zu erfahren, wo La belle Dolores in London Wohnung genommen habe.

Das war ein Geheimnis, welches nicht ergründet werden konnte; die Angestellten des Zirkus waren nicht in der Lage, es zu verraten, sonst hätten sie dem Golde der englischen Lords schwerlich widerstanden; selbst Bailey, der Leiter des Unternehmens, zuckte, als man auch ihm diese Frage vorlegte, die Achseln und antwortete, er wisse niemals, wo La belle Dolores wohne, sie verberge sich in jeder Stadt, wohin sie auch immer komme; aber da sie sich pünktlich zu den Proben und Vorstellungen einfände, hätte er gar keinen Grund, sich um die Wohnung seiner schönen Künstlerin zu kümmern.

Die Lords rückten Mr. Bailey eindringlich auf den Leib: »Ist die schöne Spanierin zugänglich? – Würde sie eine Einladung zu einem Souper akzeptieren?«

»Ich habe noch keinen Mann kennen gelernt, mit dem La belle Dolores soupiert hätte,« antwortete Mr. Bailey.

»Sie ist ohne Zweifel das schönste Weib auf Erden, vielleicht aber auch das tugendhafteste, – vielleicht, meine Herren,« fügte der kluge Amerikaner lächelnd hinzu, »auch das schlaueste!«

Damit mußten sich die guten Lords zufrieden geben und vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben gestehn, daß es ihnen nicht möglich sei, bei einem Weibe zum Ziele zu gelangen. –

Am 5. Juni, nachmittags um fünf Uhr, saß Mr. Bailey in seinem im Zirkusgebäude befindlichen Bureau und nahm die Rapporte seiner Managers entgegen.

Sieben Geschäftsführer umstanden den Prinzipal, der ihnen soeben für die nächsten drei Monate seine Pläne entwickelte.

»Sie wissen, meine Herren,« sagte er, »daß wir London in vierzehn Tagen verlassen!

»Wir begeben uns über den Kanal nach Paris, von dort aus durchziehen wir Belgien, wo wir uns acht Tage in Brüssel aufhalten werden, reisen dann den Rhein hinauf, besuchen Berlin, gehn über Dresden und Prag nach Wien, gastieren in Budapest, Belgrad und schließen die Tournee in Konstantinopel ab.«

»Das Programm bleibt dasselbe?« fragte Mr. Windham, der das Amt eines Oberregisseurs versah.

»Ich glaube nicht, daß wir es noch übertreffen könnten,« antwortete Bailey; »zwar hätte ich nichts dagegen, wenn wir eine neue Zugkraft engagieren könnten, denn das Publikum von Berlin und Wien speziell ist sehr anspruchsvoll – aber Sie werden wohl selbst zugeben, meine Herren, daß es auf der ganzen Erde nichts Neues in unserm Fache mehr gibt, und wenn ich auch zugeben muß – Goddam, was ist denn das?!!«

Mr. Bailey schrie die letzten Worte in unverkennbarem Schreck, er war von seinem Sessel aufgesprungen und bis in die Mitte des Zimmers geflüchtet. – Auch der sieben Geschäftsführer hatte sich eine gewisse Unruhe bemächtigt.

Wir dürfen Mr. Bailey und seine Vertreter deshalb durchaus nicht der Feigheit zeihen, wir glauben sogar, daß keiner unsrer verehrten Leser ruhig geblieben wäre, denn – es hatte sich während der letzten Minuten in dem Privatkontor Baileys etwas ganz Ungewöhnliches ereignet.

Die große Fensterscheibe war plötzlich in Scherben gegangen, und durch die entstandene große Oeffnung war mit einem Salto mortale ein Mensch in das Zimmer hereingeflogen, ein Mensch, der jetzt mitten auf dem Schreibtische Mr. Baileys stand und seine zuckerhutförmige Kopfbedeckung höflich lüftete, während sich sein mit Schminke und Puder bedecktes Gesicht zu einem freundlichen Grinsen verzog.

Dieser Mensch trug den Anzug eines Clowns.

Der Anzug war entschieden originell; ganz aus grüner Seide gefertigt, stellte er eine Wiese dar, und diese Wiese wimmelte von Käfern, Schmetterlingen, Eidechsen, Insekten, Vögeln.

»Ein Clown!« stieß Bailey ein wenig unmutig hervor. »Welcher von meinen Spaßmachern ist das, der es gewagt hat, auf so seltsame Weise bei mir einzudringen, wahrscheinlich, um mich auf seine besondern Talente aufmerksam zu machen?!!!«

Die sieben Managers blickten einander fragend an, zogen die Achseln empor, und endlich erklärte Mr. Windham, daß er den Mann nicht kenne.

»Keiner von den Unsrigen, Mr. Bailey!« versicherte er. »Aber wer es auch immer sein mag – der Mensch muß ein kapitaler Springer sein! Mir ist es ganz rätselhaft, auf welche Weise er in das Zimmer gelangt ist, das doch im ersten Stockwerk liegt!!«

»Nichts leichter als das, mein Herr,« antwortete der Clown. »Sehen Sie dort draußen den großen Apfelbaum? Von einem seiner Aeste bin ich durchs Fenster in das Zimmer gesprungen, gerade auf den Schreibtisch Mr. Baileys, und ich bitte zu beachten, daß ich weder die Tinte umgeschüttet, noch auch eins von den kleinen Nippes umgeworfen habe, die hier umherstehn!!«

»Wahrhaftig,« rief Mr. Bailey, »der Sprung ist bewundernswert!«

»Er ist nichts! Jeder Springer muß ihn zustande bringen!« versetzte der Clown. »Aber ich scheine mich doch ein wenig am linken Fuß verletzt zu haben! Wollen Sie mir gestatten, Mr. Bailey, daß ich mir den Schuh ausziehe!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, streifte der Clown seinen grünen Pantoffel vom linken Fuß.

»Ah, natürlich, wenn das im Schuh war,« rief er aus, »dann ist es kein Wunder, daß mich der Pantoffel so sehr drückte!!«

Und er zog aus demselben eine Schlange hervor, welche die stattliche Länge von drei Metern hatte.

»Doch keine Giftschlange?!« rief Mr. Bailey erschrocken aus.

»Sie ist ein wenig giftig,« antwortete der Clown. »Aber was tut's, sie wird sich sehr artig benehmen!«

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als er eine kleine Flöte hervorzog und in seltsamer, fast melancholischer Weise auf derselben zu spielen begann.

Die Schlange, die er auf die Schreibtischplatte niedergeworfen hatte, richtete sich bei dem ersten Tone der Flöte kerzengerade auf. Ihre smaragdgrünen Augen funkelten seltsam, dann aber sank sie langsam in sich zusammen.

Der Clown packte sie am Schwanze und hob sie empor. Sie war so steif wie ein Stock. Er lehnte sie an die Wand und beachtete sie nicht weiter.

»Glauben Sie, meine Herren,« fuhr der Clown in englischer Sprache fort, »daß mich das ein wenig im Schuh gedrückt haben muß, aber ich fürchte, das war nicht alles! – Ah, sehen Sie hier – die Schlange war nicht allein!!«

Er schwenkte den Pantoffel über seinem Haupte, und plötzlich schwirrten vier reizende, buntgefiederte Vögelchen durch das Zimmer.

Es waren Vögel, wie man sie in England niemals sieht. Die gelbe Brust, die grünlich schillernden Flügel ließen auf indische Abkunft schließen.

»Die Schlange muß bei guter Laune gewesen sein, daß sie die vier gefiederten Sänger nicht verspeist hat, aber vielleicht war sie durch den Duft der Blumen betäubt, die ich hier noch in meinem Pantoffel finde!«

Wieder schwenkte er denselben und schüttete wie aus einem Füllhorn frische, blühende Blumen hervor, Rosen, Veilchen, Jasmin, Reseden und herrlichen Flieder.

Der Teppich, der den Boden des Privatkontors Mr. Baileys bedeckte, verwandelte sich in einen Blumengarten.

»Wie gefällt Ihnen das, meine Herren?« lachte der Clown, als er das Erstaunen bemerkte, welches deutlich auf dem Gesicht Mr. Baileys und in den Zügen seiner Managers zu lesen war.

»Dann gestatten Sie mir, daß ich aus Freude über den günstigen Eindruck, den ich auf Sie gemacht habe, ein kleines chinesisches Fest veranstalte, vor allem Feuerwerk! – Vorwärts!«

Ein Schuß krachte, dann blitzte es aus dem grünen Pantoffel auf, rote, grüne, gelbe, blaue Feuergarben schossen in dem Zimmer hin und her, jene kleinen Feuerwerkskörper, welche man Frösche nennt, sprangen in alle Ecken des Zimmers hinein und bis zur Decke empor.

Dann griff der Clown in den Pantoffel hinein und brachte zuerst die chinesische Drachenflagge zum Vorschein, welche zumindest eine Ausdehnung von vier Metern hatte; darauf hißte er die französische Flagge, die spanische, die portugiesische, die englische, die russische, und plötzlich begann in dem Pantoffel ein Spielwerk zu tönen, welches den Starspangled-Marsch wundervoll wiedergab, während aus dem Wunderschuh langsam das Sternenbanner der Union emporstieg.

»Mensch,« stieß Bailey hervor, »Sie sind ein Weltwunder – Sie sind der erste Künstler Ihrer Zeit! Nennen Sie mir die Summe, die ich Ihnen zahlen muß, damit Sie das, was Sie uns soeben hier gezeigt haben, allabendlich in meinem Zirkus dem Publikum vorführen!«

»Ueber die Summe werden wir einig werden,« antwortete der Clown, indem er vom Schreibtisch herabsprang, nachdem er sich seinen Wunderpantoffel blitzschnell wieder angestreift hatte.

»Im übrigen war das nur eine kleine Probe, die ich mir zu geben erlaubte. In Wahrheit kann ich ganz Andres, Besseres, Erstaunlicheres; wollen Sie mich engagieren, Mr. Bailey? – Ich trete schon heute in Ihrem Zirkus auf!!«

»Sie sind engagiert!« rief Bailey aus. »Haben Sie nur die Güte, die Schlange da von meinem Schreibtisch fortzunehmen, und ich werde Ihnen ein Kontraktformular vorlegen, das Sie bezüglich Ihrer Ansprüche selbst ausfüllen können!«

»Wozu einen Kontrakt?! – Unter Ehrenmännern genügt ein Wort! Hier meine Hand! – Mr. Bailey – ich gehöre Ihnen!«

Der smarte Amerikaner beeilte sich natürlich so schnell wie möglich, die dargebotene Hand zu ergreifen.

»Mr. O'Donell,« wandte er sich dann an einen seiner Geschäftsführer, welcher der Chef der Reklame war, »sorgen Sie sofort dafür, daß die Entdeckung dieses Genies in zugkräftiger Weise in den Straßen Londons verkündet wird!«

Mr. O'Donell dachte nur einen Augenblick nach, dann antwortete er:

»Sehr wohl, Mr. Bailey, ich werde zwanzig von unsern Affen entfliehen lassen und auf alle Stadtteile Londons verteilen!«

»Jeder Affe wird einen roten Frack, eine gelbe Weste und eine graue Hose tragen!«

»Auf der Brust aber wird jeder ein Schild tragen mit der Aufschrift:

Das größte Weltwunder entdeckt!!!
Heute abend zum ersten Male im
Zirkus von Barnum und Bailey!!

»Und dann kommt der Name des Herrn! – Wie lautet derselbe?«

»Ja, wie lautet derselbe?« wandte Bailey sich an den Clown. »Sie haben uns Ihren Namen noch nicht genannt!!«

»Mein Name?« versetzte der Gefragte. »Nennen Sie mich Clown Fanfaron – das dürfte wohl genügen!«

 

Eine Stunde später gab es in den Straßen Londons eine wilde Jagd.

Ueberall tauchten Affen in roten Fracks und grauen Hosen auf, welche auf die Laternen hinaufkletterten, an den Mauern der Häuser emporklommen, über die Dächer flüchteten, bis sie schließlich doch eingefangen wurden.

Jeder dieser Affen verkündete dem Londoner Publikum, daß Barnum und Bailey das größte Weltwunder entdeckt hätten – den Uebermenschen Fanfaron!

Fanfaron entzückte das Publikum an diesem Abend.

Nach der ungeheuren Reklame, die für ihn gemacht worden war, hatte man zwar Außerordentliches von ihm erwartet, aber er übertraf noch alle Vermutungen.

Mr. Bailey, der in einer Loge saß, um zu sehen, was sein neuengagierter Stern in der Manege leisten würde, geriet in gelindes Entzücken, und in seinem leichtbeweglichen Geiste berechnete er schon im voraus, welche Unsummen Geldes er mit diesem Manne auf seiner europäischen Tournee verdienen würde!

Das war die Kraft, die ihm noch gefehlt hatte, das war der Glanzpunkt seiner Vorstellungen, dem gegenüber selbst der Stern der schönen Dolores und der des Siouxindianers Junitu erbleichen mußten!

Das Publikum überschüttete Fanfaron mit Beifall. Er zeigte sich aber an diesem Abende nicht nur als der vollendetste Zauberkünstler, als welchen Mr. Bailey ihn kennen gelernt hatte, und der offenbar den indischen Fakiren ihre besten und erstaunlichsten Tricks abgelernt hatte, nein – als Athlet und Kraftmensch verblüffte er geradezu.

Wir können uns nicht darauf einlassen, die Produktionen Fanfarons in allen ihren Einzelheiten zu schildern, wir konstatieren nur, daß er siebzehnmal hervorgejubelt wurde, als er die Manege verlassen wollte.

Das Publikum raste, es tobte, und alle Verbeugungen, mit denen Fanfaron den Beifall quittierte, nützten nichts, man wollte mehr von ihm sehen.

Da umspielte ein seltsames Lächeln das hinter Puder und Schminke verborgene Gesicht Fanfarons.

Er winkte einem Diener, und dieser trug einen kleinen, runden Tisch in die Manege hinein.

Dann zog Fanfaron langsam aus der weiten Tasche seines grünen Clowngewandes eine schneeweiße Elfenbeinbillardkugel hervor und legte sie auf eine silberne Platte.

Mit dieser schickte er den Diener in das Publikum hinein, damit jeder untersuchen könne, daß die Kugel aus Elfenbein gedrechselt sei und infolgedessen so stark und widerstandsfähig, daß sie eigentlich nur durch einen Sprengstoff wie Melinit oder Dynamit zersprengt werden könnte.

Jetzt sprang Fanfaron auf den Tisch, streckte die linke Hand aus und legte die Elfenbeinbillardkugel auf dieselbe.

Dann ballte er die rechte Hand zur Faust, schwang sie über seinem Haupte – die Faust fiel nieder, und – die Billardkugel ward in Atome zertrümmert, die in das Publikum hineinflogen.

In diesem Augenblicke zuckte Mr. Bailey auf seinem Logensitz zusammen.

»Nobody,« rang es sich leise über seine Lippen, »er ist es, denn es gibt nur einen einzigen Menschen, der dieses Kunststück fertig bringt!«

»O weh! Ich werde diesen Fanfaron nicht lange behalten, denn ich fürchte, er wird sich schneller als mir lieb ist, als Nobody, der weltberühmte Detektiv entpuppen!«

Nun, jedenfalls wollte Mr. Bailey wissen, was Nobody veranlaßt habe, sich unter einer Verkleidung bei ihm engagieren zu lassen, sich auf so merkwürdige Weise in seinen Zirkus einzuschleichen.

Er verließ seine Loge und begab sich sogleich nach den Ankleideräumen, wohin Fanfaron sich unter dem brausenden Beifall des Publikums zurückgezogen hatte.

»Wo ist Herr Fanfaron?« fragte er einige seiner Angestellten.

Diese zuckten die Achseln.

»Wir wissen es nicht!«

»Aber ihr müßt ihn doch hier gesehen haben, als er nach seiner Garderobe eilte.«

»Wir haben ihn nicht gesehen!«

»Ah, so wird er wohl in seinem Ankleideraum sein!«

Mr. Bailey klopfte an die Tür, einmal, dreimal, siebenmal – und als ihm noch immer nicht geantwortet wurde, öffnete er dieselbe und trat ein.

Keine Spur von Fanfaron!

Mr. Bailey ließ sogleich sämtliche Ankleideräume durchsuchen.

Fanfaron war nicht zu finden!

Ebensowenig aber hatte er sich durch die für das Personal bestimmte Ausgangstür entfernt, wie ausdrücklich festgestellt wurde.

Wo war also Fanfaron hingekommen?

Der Mann konnte doch nicht die Kunst besitzen, durch eiserne Wände hindurchzufliegen?!

Wo also war Fanfaron hingekommen?!

Wir dürfen es dem geehrten Leser getrost verraten, denn wir werden seine Spuren jetzt ganz genau verfolgen!

Fanfaron, der Uebermensch, hatte sich, nachdem er sich aus der Manege zurückgezogen, keineswegs in seine Garderobe begeben, sondern war in den Korridor geschlüpft, der zu den Ankleideräumen der im Zirkus beschäftigten Damen führte.

Dieser Korridor war lang, schmal und ziemlich schwach erleuchtet.

Fanfaron blieb plötzlich stehn, riß an einem Bande seines grünen Kostümes, und sofort fiel dasselbe von ihm ab.

Mit einem Tuch wischte er sich Puder und Schminke vom Gesicht.

Unter dem grünen Clowngewande trug er nichts weiter als ein schwarzes Trikot, das seine schlanke und prächtig gewachsene Figur bedeckte.

Vor dem Gesicht befestigte er blitzschnell eine schwarze Maske.

So glitt er an der Wand des Korridores entlang, ohne sich von derselben wesentlich abzuheben.

Da wir unsern verehrten Lesern bereits erzählt haben, daß Fanfaron das Zerschmettern einer Billardkugel zum besten gegeben, so werden auch sie bereits davon überzeugt sein, daß der Uebermensch Fanfaron in der Tat niemand anders war und sein konnte, als Nobody!

Er war es wirklich, und gerade deshalb hatte er das schwarze Trikot angelegt; denn dieser weltberühmte Detektiv, der anscheinend alle Geheimnisse der Erde kannte und besonders jeden Kniff und Pfiff, deren sich die Verbrecherwelt bedient, wußte gut genug, daß sogenannte Hoteleinschleicher in der Nacht ihre Zimmer verlassen, um die Korridore der Hotels auf und nieder zu gehn und den Versuch machen, die Türen fremder Zimmer zu öffnen und zuweilen sich mit Vorliebe der sogenannten Schattenkleider bedienen.

Durch das schwarze Trikot vermeiden sie es, selbst von Vorübergehenden gesehen und bemerkt zu werden; wenn sie sich unbeweglich gegen die Wand stellen, so hebt sich ihr Körper von derselben durchaus nicht ab, und treten sie in ein Zimmer ein, so ist es, als fiele nur ein Schatten durch die geöffnete Türe aus dem Korridor ins Gemach.

Nobody näherte sich in seinem Schattenkleide einer Türe am Ende des Korridors. Dieselbe verschloß das Garderobenzimmer der schönen Dolores.

Nobody versuchte die Tür leise zu öffnen – dieselbe war jedoch verschlossen.

Aber das konnte für einen Nobody kein Hindernis sein. Er zog aus einer kleinen Tasche, die unter dem linken Arm in das Trikot eingewebt war, sein kunstvolles Taschenmesser, das den bekannten verstellbaren Schlüssel barg.

Mit Hilfe desselben hatte Nobody die Tür zum Ankleidezimmer der schönen Amazonenkönigin in weniger als zehn Sekunden geöffnet.

Vorsichtig trat er ein, aber er hatte diese Vorsicht nicht einmal nötig, denn die schöne Dolores befand sich nicht mehr in ihrem Garderoberaum. Sie war schon drüben in den Ställen, um den weißen Zelter zu besteigen, auf welchem sie triumphierend allabendlich in die Manege einzog.

Nobody blickte sich blitzschnell in dem ganzen Raume um. Mit diesem einen Blick faßte er alles, was sich hier befand, ins Auge. Aber er sah nichts Auffallendes oder Ungewöhnliches, nichts, was ihn für die Angelegenheit, die er verfolgte, interessieren konnte.

Nachlässig über einen Sessel hingeworfen lagen die Alltagskleider der schönen Dolores, der spitzenbesetzte Unterrock, die seidenen Strümpfchen, ein aus leichtem Stoff gefertigtes graues Straßenkostüm.

Auf dem Tisch, der sich unter einem hohen Spiegel erhob, standen die Toiletterequisiten der Künstlerin, Puderbüchschen, Flakons, kleine Emailletiegel mit Schminken.

An der einen Wand stand ein großer aus Weiden geflochtener Reisekorb, wie Schauspielerinnen und Künstlerinnen ihn mit Vorliebe benützen, um ihre Theaterkostüme von ihrer Wohnung in das Theater transportieren zu lassen.

Auch dieser Korb schien demselben Zweck zu dienen.

Nobody öffnete ihn. Er war mit buntfarbigen Kostümen gefüllt, mit Flitterröckchen, Trikots, Unterkleidern und einigen Waffenstücken.

Nobody zögerte nicht lange, sprang in den Korb, ballte sich wie ein Igel zusammen und vergrub sich unter dem Wust der Kleider, welche den herrlichen Körper der schönen Dolores zu umgeben pflegten.

Er mußte sich in Geduld fassen, denn das Ankleidezimmer der Künstlerin blieb leer, und es ereignete sich infolgedessen rein gar nichts, bis die Vorstellung zu Ende war.

Nobody vernahm in seinem Korbe das Getöse des Beifalls, mit dem sich das Publikum von der schönen Amazonenkönigin verabschiedete, dann wurde plötzlich die Tür des Ankleideraumes geöffnet, und Dolores trat herein.

Ihr folgte eine alte Frau, offenbar ihre Garderobiere.

»Schnell, nur schnell!« rief La belle Dolores. »Befreien Sie mich von dem Brustharnisch, kleiden Sie mich so schnell wie möglich um, ich habe keine Zeit zu versäumen!«

Die Garderobiere regte fleißig die Hände; in fünf Minuten war La belle Dolores entkleidet, dann rieb sie sich die Schminke vom Gesicht, flocht die langherabhängenden, seidenweichen, braunen Haare und nestelte sie in einem kunstlosen Knoten an ihrem Hinterkopfe fest, und dann war die Garderobiere ihr behilflich, in das Straßenkostüm zu schlüpfen.

»Bleibt der Korb heute hier?« fragte die alte Garderobiere.

»Nein, man wird ihn abholen!« antwortete die schöne Dolores. »Die beiden Männer werden kommen, die den Korb bisher immer gebracht und wieder fortgetragen haben.«

In diesem Augenblick wurde leise an die Tür geklopft.

»Es ist Junitu,« rief Dolores, »lassen Sie ihn eintreten, und dann – ich bedarf Ihrer Dienste nicht mehr!«

Die alte Frau öffnete die Tür. Der junge Siouxindianer, der wahrscheinlich auf Wunsch Mr. Baileys, um in den Straßen Londons Reklame zu machen, auch außerhalb des Zirkus seine kleidsame, halb indianische, halb spanische Tracht trug, trat ein.

»Schließe die Tür, verriegle sie!« befahl ihm Dolores.

Der junge Sioux gehorchte wie ein Sklave seiner Herrin, und dieses Verhältnis zwischen ihm und der schönen Amazonenkönigin ging noch klarer hervor, als Junitu sich jetzt zu ihren Füßen niederwarf und einen der kleinen Füße der Spanierin auf seinen Nacken stellte.

Das ist bekanntlich das Zeichen der größten Ergebenheit des Indianers.

Sieht er sich von einem mächtigeren Gegner im Kampfe überwunden, so wirft er sich vor ihm nieder und stellt den Fuß des Feindes auf seinen Nacken, damit hat er sich für besiegt erklärt und bittet um Pardon.

Und besiegt war Junitu – völlig besiegt. In seinen Augen, deren Blicke er jetzt zu Dolores erhob, erglänzte eine wilde Leidenschaft.

»Herrin,« stieß er hervor, »mache mich glücklich, laß mich deine kleine Hand küssen – ah, der Duft der weißen Blume berauscht Junitu!«

Lächelnd streckte Dolores ihm die Hand hin, aber in diesem Lächeln lag eine Herablassung, wie eine Königin sie einem Bauernburschen bezeigen würde, wenn sie ihm gestattete, ihre Fingerspitzen an seine Lippen zu führen.

Der junge Sioux drückte seine Lippen durstig an die weißen, schlanken Finger.

»Wann wird die weiße Blume mir gehören?« fragte er mit sonorem, bebendem Tone. »Weißt du nicht, Herrin, daß ich nicht ohne dich leben kann?«

»Wir werden ja auch immer beisammenbleiben, mein lieber Junitu,« versetzte die schöne Spanierin kokett. »Gestatte ich dir nicht, allabendlich in meine Garderobe zu kommen, um mir die Hand zu küssen? Ist dir das nicht genug, Sohn der Wildnis? Was willst du mehr?«

»Dich will ich, weiße Blume!« stieß Junitu hervor. »Ich will nicht, daß die Blicke der Männer länger noch auf dich fallen! Ich will nicht, daß du dich weiter in der Manege zeigst! Ich verdiene Geld genug, wir können ohne Sorge davon leben! – Werde meine Squaw, mein Weib, wie man hier in diesem Lande zu sagen pflegt.«

»Dein Weib?! – Bist du wahnsinnig, Junitu? – Ich dein Weib?! Haha, diesen Gedanken lasse dir vergehn, guter Junge, denn dieser Wunsch wird sich dir niemals erfüllen.«

»Dann hast du mit gespaltener Zunge zu mir gesprochen!« rief der Indianer zornig aus. »Hast du mir nicht versprochen, mein zu werden, als ich mich erbötig erklärte, deinen Feind zu beseitigen, und habe ich nicht meine Arbeit gut geleistet?

Ha, mein Lasso hat sich um seinen Hals gewickelt, als er blitzschnell hinter den Bäumen vorüber wollte. Da habe ich ihn vom Pferde gezerrt, in den Poncho gewickelt und fortgetragen wie ein Bündel, während du das kostbare Roß mit einem andern vertauscht hast!!«

»Still!« gebot Dolores erschreckt. »Sprich nicht so laut, die dünnen Zirkuswände haben Ohren!«

Dann schien sie einzusehen, daß sie Junitu mindestens noch mit großer Vorsicht behandeln müsse, denn sie ergriff seine Hände und zog ihn zu sich empor.

»Ja, du bist mein lieber Junge,« rief sie aus, »und ich könnte dich liebhaben! Wer weiß, ob ich mich nicht doch noch entschließe, dein Weib zu werden. – Aber nicht hier in London wird es sich entscheiden – du mußt dich gedulden, mein teurer Junitu! – Noch ist der Feind, gegen den du mir geholfen hast, nicht ganz besiegt, noch ist meine Rache an ihm nicht vollendet!!«

»Ist der Reiter dein Feind?« fragte Junitu. »Er ist so mager wie das lange Gras, das sich auf der Prärie erhebt.«

»Bah, an diesem Manne liegt mir wenig, ich mußte ihn nur beseitigen, um dem andern einen Schlag ins Herz zu versetzen – doch nun, Junitu, verlasse mich! – Ich bin angekleidet, ich will nach Hause gehn!«

Sie erhob sich, beugte sich über den Korb, in welchem Nobody verborgen lag, und nachdem sie nachlässig die in der Vorstellung gebrauchten Kleider hineingeworfen hatte, drückte sie den Deckel herab und schloß den Korb zu.

Nobody war gefangen!

Aber dem berühmten Detektiv hätte gar kein größerer Dienst erwiesen werden können als diese Gefangenschaft!

»Warum erlaubst du mir nicht, daß ich deinen Schritten folge?« rief der junge Sioux. »Warum läßt du mich nicht wissen, wo du in dieser Stadt wohnst? Ach, ich will ja nur in der Nacht dein Haus umschleichen, wie die Wildkatze das Lagerfeuer der Indianer – ganz von ferne!!«

»Das würde dir auf die Dauer langweilig werden, lieber Junitu,« versetzte die schöne Spanierin, indem sie ihm die braunen Wangen tätschelte. »Geh ruhig nach Hause und lege dich schlafen. Du wirst ebensowenig wie irgend ein andrer Mensch in London erfahren, wo ich hier meinen Wohnsitz aufgeschlagen habe!!«

»Aber weshalb verbirgst du dich denn, schöne Dolores?« fragte der Sioux.

»Nicht neugierig sein, Junitu! – Ein Indianer verachtet die Neugierde!«

Diese Mahnung wirkte. Der junge Sioux richtete sich stolz auf, einen Moment lang war er ganz der junge indianische Krieger, wie er in den Erzählungen romantischer Schriftsteller zu finden ist, dann drückte er Dolores' Hand noch einmal an die Lippen und verließ das Gemach.

Wenige Minuten später wurde wieder an die Tür gepocht. Dolores öffnete und ließ zwei Männer eintreten, welche ihrer Kleidung nach Hafenarbeiter oder dergleichen sein mochten.

Ohne ein Wort mit ihnen zu sprechen, deutete sie nur auf den Korb. Die beiden Männer hoben denselben empor und trugen ihn mit sich fort.

»Glückliche Reise!« sagte Nobody zu sich selbst, indem er es sich in dem Korbe so bequem wie möglich machte. »Jetzt wollen wir doch einmal sehen, schöne Dolores, ob kein Mensch in London deinen Schlupfwinkel entdecken wird!

Die Verbrecher hätten wir also schon,« fuhr Nobody dann in seinem Selbstgespräche fort, »aber das ist wenig!

Wir wollen die Wunderstute Niagara haben, und deshalb müssen wir uns noch ein wenig in Geduld fassen!

Zum Teufel, welchen Grund mag diese schöne Spanierin haben, sich an Clifton so bitter zu rächen, daß sie ihm den Triumph seines Lebens rauben, daß sie ihn selbst zugrunde richten will?!

Doch weshalb frage ich? Was gibt es zwischen Mann und Weib, das imstande wäre, die rückhaltloseste Ergebenheit und den glühendsten Haß zu erzeugen?!

Es ist die scharfe Ecke, an welcher diese Lebensnarren, die ihr Schiffchen nicht zu steuern verstehn, in Massen zugrunde gehn; es ist das Riff im Leben, an welchem die stolzesten Fregatten und die armseligsten Fischerboote scheitern; es ist – die Liebe, die göttlich große, ewige Narrheit Liebe!«

 

Der Korb, in welchem sich Nobody befand, wurde nur durch einige Gassen, die in der Nähe des Zirkus lagen, getragen, dann merkte Nobody, daß das Behältnis, welches ihn barg, auf einen Wagen gestellt wurde.

Langsam setzte sich derselbe in Bewegung.

Nobody hätte nicht der scharfsinnige Detektiv sein müssen, wenn er sich nicht sofort über die Art des Gefährtes Rechenschaft gegeben hätte.

»Es ist ein kleiner, niedriger Wagen,« sagte er sich, »denn die Räder machen keine großen Umdrehungen. Derselbe ist mit einem elenden Klepper bespannt, denn er kommt nicht nur sehr langsam vorwärts, sondern stößt auch von Zeit zu Zeit an das Hinterteil des Pferdes!«

Nobody konnte natürlich im Korbe nicht die Uhr kontrollieren; aber er schätzte die Zeit seiner Fahrt ziemlich genau auf eine Dreiviertelstunde.

Dann sagte er sich mit Bestimmtheit: »Ich bin in Whitechapel!«

Dieser verrufenste Teil von London, in welchem das Heim des ehrlichen Arbeiters dicht neben dem Schlupfwinkel des Verbrechers oder der Wohnung der Dirnen schlimmster Sorte liegt, war Nobody natürlich so genau bekannt wie seine Tasche.

Er hatte nur nötig, die Düfte einzuatmen, die durch das Weidengeflecht des Korbes bis zu ihm drangen, um nicht im geringsten daran zu zweifeln, daß er sich in den schmalen Gassen von Whitechapel befinde, wo die Häuser ganz dicht zusammenstoßen, und die Sonne an heißen Sommertagen in den Gossen und Rinnsteinen Milliarden von Bakterien ausbrütet.

Jetzt hielt der Wagen. Der Korb wurde von kräftigen Händen heruntergehoben, und Nobody merkte, daß man ihn in ein Haus hineintrug.

»Ich befinde mich jetzt in einem Zimmer,« sagte sich der Detektiv, als der Korb niedergestellt wurde, »und zwar in einem Zimmer, in welchem eine schlecht geputzte, qualmende Petroleumlampe brennt!

Ich stehe neben einem Herde, auf welchem Beefsteak über einem Kohlenfeuer gebraten wird. – Wahrscheinlich das Souper für die Bewohner des Hauses!«

»He, Jim,« hörte er jetzt eine schrille Frauenstimme ausrufen, »kommt sie bald?«

»Ja, Mutter, sie kommt bald,« antwortete die Stimme eines jungen Mannes, eben des besagten Jim. »Ist der Alte schon zu Hause?«

»Er ist soeben gekommen und gibt dem Pferde im Stall Futter!«

»Hat er es heute eingespannt?«

»Natürlich! Er hat mir erzählt, daß er mit der Bestie seine liebe Not gehabt hat, aber der Alte hat eine kräftige Faust, er hat sie im Zügel gehalten!«

Jetzt wurde die Tür geöffnet, deutlich vernahm Nobody das Knarren derselben, dann ertönte ein schwerer Schritt im Zimmer.

»Ist das Supper fertig?« fragte eine brummige Männerstimme.

»Fertig ist es,« antwortete die Frau, welche, wie Nobody deutlich unterscheiden konnte, vor dem Herde stand, »aber wir warten doch auf Maggie!«

»Sie muß jeden Augenblick dasein!« rief Jim. »Heute haben die Leute wieder, als sie sich im Zirkus als Amazonenkönigin hat sehen lassen, stürmisch applaudiert.

»Wahrhaftig, das ist eine Schwester! – Auf die kann man stolz sein!«

»Stolz?« brummte der Alte, der sich dicht neben dem Korbe auf einem Sessel niedergelassen hatte und sich seiner Stiefel entledigte. »Ich sage euch, sie ist die größte Gans, die in ganz London auf zwei Beinen läuft!

»Die Männer sind wahnsinnig verschossen in sie und laufen ihr nach; sie könnte Geld verdienen wie Heu, aber sie will von keinem der vornehmen Lords etwas wissen!«

»Verdient sie nicht genug?« rief die Frau aus. »Hat sie nicht genug für uns getan, hat sie dir nicht einen Melonenhandel eingerichtet, hat sie dir nicht Pferd und Wagen angeschafft, daß du mit den Melonen durch die Straßen fahren kannst, um sie zu verkaufen?!«

»Der Teufel hole alle Melonen!« stieß der Alte hervor. »Als Vater einer solchen Tochter sollte ich überhaupt nicht nötig haben, zu arbeiten!«

»Und dann – in welche Geschichte hat sie uns verwickelt! – Wo ist der farbige Affe, den sie uns ins Haus gebracht hat?!«

»Der bläst oben in seiner Bodenkammer Trübsal,« gab Jim zur Antwort.

»Die Geschichte gefällt mir nicht,« stieß der alte Melonenverkäufer mit brummiger Stimme hervor. »Warum will sie den Kerl durchaus gefangen halten? Nur ein paar Tage, hat sie gesagt, aber wenn die Polizei uns dahinter kommt!«

»Kümmere dich nicht darum!« herrschte die Frau ihn mit keifender Stimme an. »Tue das, was die Maggie dir sagt, wahrscheinlich hat sie mit dem bunten Affen ein Hühnchen zu pflücken!«

»Mag sein!« versetzte das würdige Oberhaupt der Familie. »Aber wenn man schon etwas tut, so soll man es gründlich tun, ich hätte den Kerl schon längst kaltgemacht, wozu ihn noch füttern?«

»Still – da kommt die Maggie, ich habe das Hoftor gehn hören!« rief die Mutter aus.

»Na, Gott sei dank, da wird man wenigstens essen können,« brummte der Alte.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und das jugendlich schöne Weib, welches ganz London unter dem Namen La belle Dolores bewunderte, stürzte in das Zimmer herein.

»Vater, Bruder, schnell,« rief sie, »der Jockei muß fort aus dem Hause! Man ist mir auf der Spur.«

»Goddam,« fluchte der Alte. »Ich habe es mir ja immer gedacht; du wirst uns noch alle in die Patsche bringen!«

»Nur Ruhe – nur den Kopf nicht verlieren!« mahnte die Mutter. »Hast du sichere Beweise, daß man dir auf der Spur ist?«

»Ganz sichere,« stieß Dolores hervor. »Nobody stellt mir nach!!«

»Nobody?! – Wer ist Nobody?!« fragte der alte Melonenverkäufer. »Nobody ist Niemand, und Niemand kann dich nicht beunruhigen!!«

»Nobody ist ein Mann, vor dem alle zittern, die etwas Schlechtes auf dem Gewissen haben,« entgegnete Dolores mit unsicher klingender Stimme. »Hast du denn noch niemals von diesem berühmten Detektiv gehört, der schon so viele der geheimnisvollsten Verbrechen entdeckt hat?!«

»Ah, Nobody!« rief Jim, der Bruder. »Natürlich! Von dem lesen wir ja immer in Worlds Magazine! Na, in Whitechapel ist man nicht gut auf ihn zu sprechen, und es gibt gewiß Leute in diesem Stadtteile, die sich ein Vergnügen daraus machen würden, Mr. Nobody ein frisch geschliffenes Messer zwischen die zweite und dritte Rippe zu stoßen!«

»Du glaubst also, Tochter,« fragte die Mutter mit halblauter Stimme, »daß dieser Nobody Verdacht gegen dich hegt?!«

»Ich glaube es, ich fürchte es,« stammelte Dolores. »Als ich vorhin den Zirkus verlassen wollte, traf ich Mr. Bailey. Er erzählte mir, daß er einen berühmten Clown, Fanfaron, engagiert habe, der auch heute abend mit großem Erfolge aufgetreten ist!

»›Im Vertrauen,‹ sagte er zu mir, ›wissen Sie, wer dieser Fanfaron ist, schöne Dolores? –

»›Erzählen Sie es aber um Gottes willen keinem Menschen weiter. Ihnen vertraue ich es an: Es ist der Detektiv Nobody!!‹

»Da durchzuckte mich sofort der Gedanke, daß er sich um meinetwillen in den Zirkus eingeschlichen habe. Seitdem habe ich keine Ruhe mehr; der Jockei, der oben in der Bodenkammer eingesperrt ist, muß beseitigt werden! Denn findet man ihn bei uns, – wer weiß, ob Nobody nicht schon unser Haus umschleicht –«

»Schlange,« flüsterte Nobody, »er ist schon in deinem Hause und wird dir deine Giftzähne ausziehen!«

»Dann sind wir verloren,« beendete Dolores ihre Rede, »deshalb muß ein Ende gemacht werden mit Pit Barker!«

»Na, dann machen wir ein Ende mit ihm,« ließ sich der Alte vernehmen. »Hättest du auf meinen Rat geachtet, so wäre es längst geschehen. Einen Schlag auf den Kopf, und der Kerl, dem ja der Wind durch die Backen bläst, streckt alle viere von sich, wie eine Kröte, und ist fertig!«

»Nicht hier zu Hause!« rief Dolores hastig und nervös. »Wenn ihr ihn fortbringen und in aller Stille abtun könntet!«

»Nichts leichter als das,« antwortete der Vater der schönen Dolores, der übrigens mit seinem bürgerlichen Namen Tom Smith hieß. »Wir holen den kleinen Kerl vom Boden herunter, stecken ihn da in den Korb hinein und tragen denselben in die Themse! Nicht wahr, Jim, das wollen wir beide tun?!«

Jim antwortete gar nicht erst, er winkte dem Vater, ihm zu folgen, und beide verschwanden aus dem Zimmer.

Nobody hörte sie über seinem Kopfe polternd eine hölzerne Treppe emporsteigen.

»Vortrefflich,« sagte sich der berühmte Detektiv, »Pit Barker hätte ich, – in einer Minute wird er mit mir in diesem Korbe vereinigt sein!«

»Wenn sie nur schon kämen!« rief Dolores aus, von welcher Nobody genau wußte, daß sie an das Fenster getreten war und es geöffnet hatte, denn er fühlte die kühle Nachtluft.

»Heiliger Gott! – Dort schleicht ein Mensch um unser Haus – er trägt zwar den Anzug eines Arbeiters, aber man weiß ja, daß Nobody unter allen möglichen Verkleidungen seine Verfolgungen anzustellen pflegt!«

»Sie bringen ihn schon!« meldete die Mutter der schönen Dolores.

»Er ist ohnmächtig,« sagte Jim. »Wahrscheinlich glaubte er, wir wollten ihm die Kehle durchschneiden; als er uns plötzlich vor sich auftauchen sah, stieß er einen Schrei aus und sank zu Boden!«

»Schnell, jetzt da in den Korb hinein!« befahl Dolores.

»Der Korb ist verschlossen!«

»Hier ist der Schlüssel! Ich will es nicht sehen – tragt ihn fort – werft ihn in die Themse!«

»Oho, in dem Korbe liegen ja Kleider,« schrie die Mutter auf, »die müssen zuerst herausgenommen werden!!«

»Verliert keine Zeit!« drängte Dolores in fieberhafter Angst. »Fort! Fort! Der Mann im Arbeiteranzug schreitet auf unser Haus zu!! Was liegt an den elenden Fetzen, die kann ich mir hundertfach ersetzen, nur hinein und fort mit ihm aus dem Hause!«

Der Korb wurde geöffnet. –

Nobody drückte sich so viel wie möglich zur Seite, dann wurde ein Körper dicht neben ihm in den Korb hineingestopft, und schnell schloß sich der Deckel desselben wieder.

Nobody hatte einen Moment lang geschwankt, ob es für ihn nicht geraten sei, aus dem Korbe herauszuspringen und dem verbrecherischen Gesindel energisch entgegenzutreten. Aber er hatte diese Absicht sehr bald aufgegeben; denn was konnte er sich davon versprechen? Mit Gewalt war hier nichts auszurichten, er mußte sein Ziel ganz erreichen, und dies war nur durch Ausharren und List möglich.

Der Korb wurde jetzt aufgehoben und fortgetragen.

Einige Minuten lang blieb er noch im Hofe stehn, doch nur so lange, bis Tom Smith einen großen Hund vor den Wagen gespannt hatte, auf welchen der Korb hinaufgehoben wurde.

Mit erstaunlicher Schnelligkeit ging es nun vorwärts.

Nobody versuchte jetzt, sich mit Pit Barker ins Einvernehmen zu setzen, denn der Unglückliche war aus seiner Ohnmacht erwacht und stöhnte und ächzte, daß es zum Herzzerbrechen war.

»Fassen Sie Mut, mein Freund,« flüsterte Nobody ihm zu, indem er ihn an der Hand ergriff. »Unsre Lage ist keine angenehme, aber wir werden uns hoffentlich aus derselben befreien!«

»Beim heiligen Patrick!« ächzte Pit Barker, der ein guter Irländer war. »Ist da jemand?«

»Ja, – ein Freund, der Sie retten will; aber jetzt verhalten Sie sich ruhig, denn –«

Nobody konnte seine Rede nicht vollenden, der Korb erhielt jetzt plötzlich einen kräftigen Stoß, dann klatschte er auf eine Wasserfläche auf, und im nächsten Moment schlugen die Wogen über ihm zusammen.

»Wo sind wir denn?« schrie Pit Barker mit versagender Stimme. »Wenn Sie wirklich mein Freund sind, Herr, so sagen Sie mir um Himmels willen – wo sind wir?!«

»In den Wogen der Themse!!« antwortete Nobody mit vollkommener Ruhe.

 

Es war am 6. Juni um sieben Uhr morgens.

Mr. Harry Clifton hatte sich nach einer schlecht verbrachten Nacht soeben von seinem Lager erhoben, und kummervoll ging er daran, Toilette zu machen.

Ach, die Sorge um seine Wunderstute Niagara hatte ihn kein Auge schließen lassen.

Zwar wußte er seine Angelegenheit jetzt in den Händen eines Mannes, der tatsächlich Außerordentliches schon vollbracht hatte, aber Clifton mußte sich selbst zugestehn, daß nur ein Wunder ihm seine Wunderstute wiedergeben könnte.

Nur noch vierundzwanzig Stunden schieden ihn von dem Tage, an welchem das Derby gelaufen werden sollte, und keine Spur von Niagara, keine Spur von Pit Barker, ja, selbst Nobody hatte sich seit gestern mittag nicht wieder bei ihm sehen lassen.

Würde er sein Versprechen halten können? Hatte er nicht zuviel versprochen?!

Ein kurzes Klopfen an der Tür riß den unglücklichen Besitzer Niagaras, der sich noch im Schlafrock befand, aus seinen düstern Träumen und Erwägungen.

»Der Barbier!« rief eine schnatternde Stimme, und in das Zimmer herein sprang ein überschlanker Mann, bekleidet mit einer karrierten Hose, einer weißen Weste und einem kurzen, schwarzen Jackett.

»Hoffentlich angenehm geruht, Mr. Clifton? Sehr erfreut, Sie zu sehen. – Ich bin nämlich der Barbier aus dem Laden neben dem Hotel!«

»Ah, richtig, ich gab den Auftrag, Sie zu bestellen; mit dem Barbier, der mich gestern bedient hat, war ich ganz und gar nicht zufrieden!«

»Wahrscheinlich war es mein Konkurrent von gegenüber,« schnatterte der Haarkünstler, indem er einen kleinen schwarzen Kasten öffnete und Seifenschale und Pinsel herausnahm, »der ist natürlich ein Stümper, aber ich – ich bin Meister in meinem Fach!

»So, darf ich bitten, Platz zu nehmen?!«

Jetzt erst, als Clifton sich in den bereitgestellten Sessel niederließ, blickte er dem Barbier zum ersten Male ins Gesicht.

Dasselbe war von einem sorgfältig gestutzten rötlichen Backenbart umgeben. Die roten Haare lagen mittels Pomade fest am Kopfe, die Nase trat spitz aus dem Gesichte, welches ganz und gar das eines unbedeutenden Menschen zu sein schien.

Der Barbier begann Clifton einzuseifen.

»Morgen findet also das Derby statt,« schwatzte der Barbier nach Art aller dieser Leute, welche der Meinung zu sein scheinen, für jedes Haar, das sie für jedes Haar, das sie aus dem Gesicht ihres Kunden entfernen, ihm eins Geschichte erzählen zu müssen.

»O, ich weiß, wen ich zu rasieren die Ehre habe, Mr. Harry Clifton, den glücklichen Besitzer der Wunderstute Niagara – ah, ich bitte mir stillzuhalten, mein Herr; wenn Sie so zusammengezuckt waren, während ich schon mein Messer über Ihr verehrtes Gesicht dirigierte, so hätte es unfehlbar einen Schnitt gegeben!«

Und jetzt begann der Barbier sein Messer mit dem Streichriemen scharf zu machen.

»Weiß schon alles,« schnatterte er. »Niagara wird alle ihre Konkurrenten leicht schlagen, das liest man ja in jeder Zeitung – eine richtige Wunderstute!«

Mr. Clifton schloß die Augen und stieß einen Seufzer aus.

Der Barbier begann jetzt seine Arbeit, und wenige Minuten später war der unglückliche Millionär rasiert.

»Sehen Sie, Mr. Clifton,« rief jetzt der Barbier mit plötzlich ganz veränderter Stimme, »wenn ich jetzt nicht Nobody, sondern ein Verbrecher wäre, so hätte ich Ihnen in aller Gemütsruhe die Kehle abschneiden können!«

»Nobody?!« schrie Clifton auf und sprang von seinem Sessel empor. »Sie sind –?«

»Nobody und kein andrer,« antwortete der Detektiv. »Ein falscher Bart, eine Perücke verändern den Menschen wunderbar. Im übrigen habe ich mich als Barbier am besten ins Hotel eingeführt, und nur auf diese Weise konnte ich Sie schon unauffällig um sieben Uhr morgens sprechen!«

»Tausend Dank, Nobody, für das große Interesse, das Sie mir entgegenbringen,« flüsterte Clifton. »Aber was führt Sie so früh zu mir?! Sicherlich sind Sie nicht gekommen, um mir gute Nachrichten zu bringen?!«

Nobody lächelte überlegen.

»Ich könnte ihnen mancherlei erzählen, aber das hätte vorläufig keinen Zweck, der Erzählende sollen vielmehr Sie sein, Mr. Clifton!!

»Rasiert sind Sie, setzen wir uns also und berichten Sie mir einmal ausführlich und wahrheitsgetreu über Ihre Beziehungen zu einem Frauenzimmer, das sich gegenwärtig La belle Dolores nennt und im Zirkus Barnum und Bailey auftritt!!«

Clifton schien zu Stein zu erstarren.

Jeder Blutstropfen wich aus seinen Wangen. Mit einem langen Blick schaute er Nobody an, einem Blick, mit dem er auszurufen schien: »Ja, bist du denn ein Zaubermensch, der die geheimsten Gedanken errät?!«

»Ich bitte, Mr. Clifton,« sagte Nobody, »fassen Sie sich kurz, jetzt ist nämlich jede Minute wichtig und sehr kostbar!!«

»Dolores!« rief Clifton aus. »Mr. Nobody, Sie kennen sie?!«

»Natürlich kenne ich die schöne Dolores,« antwortete der große Detektiv. »Ganz London kennt sie, und für wenige Shilling ist sie allabendlich im Zirkus Barnum und Bailey zu sehen!

»Aber – ich weiß auch, daß Sie, Mr. Clifton, in einem intimen Verhältnis zu ihr standen!«

»Wenn Sie es wissen, weshalb fragen Sie mich noch? Ich bitte, erlassen Sie mir die Antwort auf diese Frage, denn sie würde mir sehr große Qualen verursachen!!«

»Nein, Mr. Clifton, ich muß klar sehen, deshalb antworten Sie mir: Wann und wo haben Sie Dolores kennen gelernt?!«

»Vor drei Jahren etwa,« berichtete der Amerikaner. »Ich befand mich damals in New Orleans.

»Da sah ich eines Tages Dolores bei einer Kunstreiterbande untergeordneten Ranges. Ich verliebte mich in sie. Dolores aber war stolz genug, mir zu erklären, daß sie nur dann die Meine werden würde, wenn ich mich vorher mit ihr würde trauen lassen!

»Ich war wahnsinnig genug, auf dieses Ansinnen einzugehn, die Leidenschaft verblendete mich eben – was tut ein verliebter Mann nicht alles, um ein heißbegehrtes Weib zu besitzen?! – Dolores wurde mein Weib!«

»Ah, Ihr Weib – so, so, das ändert ein wenig die Sache, und wie sind Sie wieder auseinandergekommen, Mr. Clifton?«

»Mein Gott,« rief der Amerikaner achselzuckend, »ich kann mich wohl von aller Schuld freisprechen; meine Leidenschaft verflog, dazu war Dolores sehr unverträglich – kurz, eines Tages erklärte ich ihr, daß ich nicht mehr mit ihr leben könne und bot ihr an, sich von mir scheiden zu lassen!

»Niemals werde ich den Blick vergessen, den sie statt jeder andern Antwort auf mich richtete. In diesem Blick lag eine Kriegserklärung!

»›Ich bleibe dein Weib,‹ rief sie dann mit schriller Stimme aus, ›aber von heute an scheiden sich unsre Wege! Ich begehre nichts von dir – behalte dein elendes Geld, aber ich schwöre dir, ich werde dich zugrunde richten!‹

»Mir tat meine übereilte Aeußerung schon leid. Ich stürzte ihr nach; aber sie warf die Tür ihres Boudoirs dicht vor mir ins Schloß und riegelte sie hierauf ab.

»Vor der Tür bat und flehte ich, sie möge mich einlassen, ich wolle alles wieder gutmachen. – Ja, Nobody, in diesem Augenblicke fühlte ich sogar die alte Liebe für Dolores, und es war mir ernst mit dem Versprechen, daß ich niemals wieder von einer Scheidung reden würde! Aber die Tür blieb verschlossen.

»Ich hörte hinter derselben von Zeit zu Zeit ein höhnisches, herzzerreißendes Lachen!

»Als ich endlich die Tür zertrümmerte, war das Gemach leer!

»Dolores war durch das Fenster, welches im zweiten Stockwerk lag, entflohen.

»Sie hatte sich aus den seidenen Borten der Vorhänge ein Seil geknüpft und sich an demselben hinabgelassen!

»Mitgenommen hatte sie nur das, was sie in mein Haus gebracht hatte. Das Kleid, das sie damals getragen, als sie mit mir zur Trauung gegangen war, der kostbare Schmuck, den ich ihr geschenkt, das beträchtliche Bargeld, das ich ihr hin und wieder eingehändigt hatte, alles war zurückgeblieben!!

»Ich stellte Nachforschungen nach der Verschwundenen an, sie waren aber vergeblich! – Dolores war nicht mehr aufzufinden!!«

»Nun, sie hat Wort gehalten!« rief Nobody aus. »Sie ist auf dem besten Wege, ihre Drohung wahrzumachen und Ihren Ruin herbeizuführen, Mr. Clifton, denn niemand andres als Dolores hat Ihre Wunderstute Niagara gestohlen!«

Clifton griff sich mit beiden Händen an den Kopf.

»Ich flehe Sie an, Mr. Nobody, sagen Sie mir alles, was Sie wissen!«

»Ist das nicht genug,« versetzte der Detektiv, »was ich Ihnen soeben mitgeteilt habe? Wir kennen die Diebin, wir wissen, daß Pit Barker unschuldig ist, wir wissen ferner, daß derselbe lebt und wo, aber was wir noch nicht wissen, ist: Wo befindet sich gegenwärtig die Wunderstute Niagara? Allerdings habe ich in dieser Beziehung bereits meine eignen Ideen! Und um diesen nachzugehn, bitte ich jetzt um Entschuldigung. Erwarten Sie mich bis zwölf Uhr nachts hier im Hotel. Ergebener, Mr. Clifton!«

Blitzschnell raffte Nobody das Barbierzeug wieder zusammen, warf es in den kleinen, schwarzen Kasten, den er trug, und bald darauf tänzelte er die Treppe des Hotels hinab als das typische Muster eines Seifenschlägers und Bartkratzers. –

Sobald der lustige Barbier die Straße erreicht hatte, bog er um eine Ecke und sprang in einen bereit stehenden Wagen.

Der Kutscher schien schon zu wissen, wohin er fahren sollte, denn in rascher Fahrt ging es nach dem Hafen von London, dorthin, wo die Themse sich ins Meer ergießt.

Nobody verließ den Wagen, drückte dem Kutscher zwei Geldstücke in die Hand, dann bestieg er ein kleines Boot, das an dieser Stelle des Strandes an einem Pflock festgebunden war.

Schnell war es gelöst, und mit gewaltigen Ruderschlägen trieb Nobody es vorwärts.

Seine Bootfahrt dauerte nicht lange.

Plötzlich stieg aus den Wogen, dicht vor ihm, ein seltsames Fahrzeug auf. Es glich einer großen, schwimmenden Zigarre.

Diese Illusion wurde vielleicht noch erhöht durch den Rauch, der aus einem fast unsichtbaren Schornstein emporstieg.

Nobody fuhr mit seinem Boote dicht an die eisengepanzerte Spindel heran. In demselben Augenblick wurde auch schon eine Luke geöffnet, und er schlüpfte in das Innere des so seltsam gebauten Schiffes hinein.

Unsre verehrten Leser werden nicht einen Moment daran zweifeln, daß dieses Fahrzeug die Wetterhexe ist, jenes großartig eingerichtete Schiff, mit welchem Nobody bereits fast alle Meere der Erde durchfahren hatte, jenes Schiff, das seine geheimen Ankleideräume, seine Laboratorien, seine Bureaus barg.

»Pit Barker wieder all right?« fragte Nobody seinen Freund, den Kapitän Flederwisch, dem er im langen Gang begegnete, welcher zu des Detektivs Arbeitszimmer führte.

»Der Kleine steht wieder vollständig fest auf den Füßen,« antwortete Flederwisch.

»Gut, so schicke ihn zu mir, ich habe mit ihm zu reden!«

Nobody nahm vor seinem Schreibtisch Platz und musterte flüchtig die Briefe, die für ihn eingetroffen waren.

Lächelnd betrachtete er ein Schreiben, über welchem mit großen Lettern ›Worlds Magazine‹ stand.

»Die Redaktion bittet mich dringend, wieder einmal etwas von mir hören zu lassen, das Geschäft müsse aufgefrischt werden – nur Geduld, meine Herren –

Die Enthüllungen über die Entführung der Wunderstute Niagara sichern unserm Blatte in Amerika und England eine Auflage von drei Millionen Exemplaren und eine Reklame, wie sie wunderbarer nicht gedacht werden kann! – Ah, seid Ihr da, Pit Barker?«

Diese Worte galten einem kleinen, hübsch aussehenden, jungen Manne, der die typische Magerkeit der Jockeis besaß, sonst aber von zierlicher, ebenmäßiger Gestalt war.

»O, mein Retter!« rief Pit Barker, indem er auf Nobody zueilte. »Wie soll ich Ihnen danken, was Sie für mich getan haben? Ohne Sie wäre ich jetzt tot!«

»Ich erfüllte nur meine Pflicht, lieber Barker, als ich den mit uns schon sinkenden Korb aufsprengte und Sie schwimmend ans Ufer trug. Daß die Wetterhexe in der Nähe ankerte, war mir ja bekannt.

»Jetzt aber, Pit Barker, eine Frage: Würden Sie Niagara sofort wiedererkennen, wenn sie Ihnen zu Gesicht käme?!«

»Auf der Stelle, ich kenne ja das Pferd wie mich selbst!«

»Sie hätten also nicht nötig, sie hinter dem linken Ohre zu untersuchen, um den eingebrannten Stempel zu kontrollieren?«

»Ganz und gar nicht! Ich kenne Niagaras Kopf, ich kenne ihre Augen, ihre Nüstern, ich würde sie am Wiehern erkennen, und diese unvergleichlichen Pedale – auf solchen Füßen geht nur ein einziges Pferd der Welt, und das ist – Niagara!!«

»Gut, so legt die Verkleidung an, die ich für Euch bringen lassen werde!«

Nobody drückte auf eine elektrische Glocke und befahl dem eintretenden Verwalter seiner Garderobe, die Kostüme Nummer 237 sogleich zu bringen.

Es dauerte nicht lange, so brachte der Verwalter zwei Anzüge, wie die Bauern der ›grünen Insel‹ sie trugen.

»Kleiden wir uns schnell an!« rief Nobody, indem er zuerst in den Bauernanzug hineinschlüpfte. »Ich werde den Vater vorstellen, Sie, Pit Barker, vermöge Ihrer kleinen Gestalt, werden meinen Sohn spielen!«

Bald trugen sie schwarze Samthosen, die in hohen Stiefeln endeten, rote Westen und ziemlich lange Röcke, von denen der Nobodys dunkelgrün gehalten war, während der Pit Barkers eine Schokoladenfarbe aufwies.

Nobody sorgte dafür, daß sie durch Perücken unkenntlich wurden, dann drückte er den flachen Filzhut auf den Kopf, ergriff ein spanisches Rohr und befahl Pit Barker, ihm zu folgen.

Ein Boot trug sie von der Wetterhexe an den Strand hinüber.

»Wohin gehn wir eigentlich?« fragte jetzt Pit Barker.

»Auf den Pferdemarkt von London,« versetzte Nobody. »Wissen Sie, wo derselbe abgehalten wird, Barker? – Drüben in Thruvill-Hall. Es ist gar nicht weit von hier. Bald werden wir den Platz erreicht haben.«

»Und was versprechen Sie sich von dem Besuch desselben?« erwiderte Barker. »Sie glauben doch nicht etwa, daß wir Niagara dort kaufen können?«

»Das glaube ich mit Bestimmtheit,« antwortete Nobody. »Es wäre nur logisch, wenn der alte Tom Smith und sein Anhang Niagara jetzt so schnell wie möglich loswerden wollten.

Ueberdies habe ich die Sache ein wenig unterstützt. Heute morgen habe ich der Familie einen verwegenen Brief geschrieben, welcher ihr ankündigt, daß demnächst eine polizeiliche Durchsuchung ihres ganzen Hauses, den Stall mit inbegriffen, stattfinden werde.«

»Aber wenn Sie glauben, daß Niagara im Stall der Smiths steht, warum sind Sie nicht lieber direkt dorthingegangen und haben das Pferd herausgeholt?«

»Weil in diesem Falle Niagara das Derby sicherlich nicht mehr hätte bestreiten können,« sagte Nobody. »Glauben Sie, daß dieses Weib, das sich an Mr. Clifton rächen wollte, nicht Giftpillen in Bereitschaft hat, und meinen Sie, daß Dolores davor zurückschrecken würde, Niagara eine solche Pille schlucken zu lassen in demselben Augenblick, in welchem sie die Polizei ankommen sähe? – Nein, wir müssen vorsichtig zu Werke gehn! – Aber – da ist Thruvill-Hall erreicht, treten wir ein!«

Durch ein altes Tor betraten sie einen weiten Platz, der ohne Zweifel der interessanteste von London ist. Wer ein Pferd kaufen oder ein solches loswerden will, der begibt sich nach Thruvill-Hall.

Dort gibt es Käufer und Verkäufer in Menge, und jedes Pferd vom edelsten Renner bis zur gemeinsten Schindmähre, der alle Rippen aus dem Leibe stehn, wird hier an den Mann gebracht.

Auf dem weiten Platz wimmelte es durcheinander, Menschen, Pferde, alles bildete einen gewaltigen Haufen, von dem sich ab und zu einzelne Gruppen loslösten.

»Dort ist Niagara,« stieß Pit Barker plötzlich mit leiser Stimme hervor, nachdem er an Nobodys Seite etwa fünf Minuten lang Thruvill-Hall durchwandert hatte.

»Sehen Sie, dort – wo der alte Jude mit dem langen Bart steht!«

»Dieser alte Jude ist keine Verkleidung,« sagte Nobody sogleich. »Tom Smith hat also Niagara bereits an den Mann gebracht, und zwar an diesen würdigen Hebräer, und dieser, der gar keine Ahnung von dem Werte seines Pferdes hat, will es jetzt wieder verkaufen!«

Neben einem wunderschönen Rosse stand ein alter, ärmlich gekleideter Jude. Er rief die Vorübergehenden und pries sein Pferd in allen Tonarten an.

Nobody flüsterte Pit Barker einige Worte zu, dieser nickte, und dann traten sie beide an den Händler heran.

»Was kostet dieses Pferd?« fragte Nobody.

»Es ist ein Gelegenheitskauf, mein Herr,« erwiderte der alte Jude, indem er sich seinen grauen Bart strich. »Wenn der Herr ein Pferdekenner sind, werden Sie wissen, daß dies Tier ist von edelster Rasse!«

»Schon gut, nennt mir den Preis!«

»Fünfzig Pfund Sterling,« antwortete der Jude.

»Ist das Pferd Euer Eigentum?« fragte der Detektiv.

»Warum soll es nicht sein mein Eigentum? Ich habe es gekauft heute morgen von einem Mann, der es mir hat angeboten!«

»Wer ist dieser Mann?«

»Ich habe ihn nicht gekannt; er ist mir gewesen ganz fremd!«

»Würdet Ihr den Mann wiedererkennen, wenn man ihn Euch zeigte?«

»Ohne Zweifel,« versetzte der Jude. »Warum sollte ich ihn nicht wiederkennen? Aber wie steht es mit dem Pferde? Wollen Sie geben fünfzig Pfund Sterling?«

»Da müßten wir doch erst die Fähigkeiten des Pferdes prüfen,« antwortete Nobody; »mein Sohn wird einen kleinen Proberitt machen, Ihr erlaubt doch?«

»Ob ich erlaube!« rief der Jude aus. »Man kann doch nicht kaufen die Katze im Sack! Setzen Sie sich auf, junger Herr, aber nehmen Sie sich in acht, daß das Pferd Sie nicht abwirft!!«

Pit Barker schwang sich blitzschnell in den Sattel.

»Fassen Sie fest die Zügel!« rief der Hebräer. »Gott der Gerechte, Sie werden fallen herunter und sich brechen den Hals, junger Herr – weh mir, was ist das? – Er reitet doch, als wäre er zusammengewachsen mit dem Pferde!!

»Kommen Sie zurück, junger Mann, kommen Sie zurück, es ist schon gut, der Vater hat schon gesehen, daß fünfzig Pfund Sterling sind ein Spottgeld für das Pferd! –

»Was ist das?! Er ist weg?! Er ist verschwunden?!«

»Und wird auch nicht mehr wiederkommen, würdiger Hebräer,« versetzte Nobody. »Ihr aber kommt mit mir, denn – das Pferd war gestohlen!!«

Der Hebräer raufte sich Haupt- und Barthaar, er schwur bei Abraham, Isaak und Jakob, daß er keine Ahnung von diesem Diebstahl gehabt hätte.

Nobody führte den Mann zur Polizei und forderte die Behörde auf, Tom Smith und seine ganze Familie sofort in Haft zu nehmen.

Aber man fand das Nest leer. Die saubern Vögel waren ausgeflogen.

Dolores war verschwunden und mit ihr die ganze Familie.

Auch Junitu, der junge Sioux hatte sich ihr angeschlossen.

Wohin diese Leute sich gewendet, wird aus einer spätern Erzählung hervorgehn.

Die schöne Dolores machte kurz darauf noch viel von sich reden. Aber auch sie wurde von ihrem Schicksal erreicht. –

Am 6. Juni, mittags zwölf Uhr betrat Nobody das Hotelzimmer Cliftons.

»Guten Tag, Mr. Clifton,« sagte er, »ich habe soeben bei meinem Buchmacher eine Wette abgeschlossen, daß Mr. Harry Cliftons Niagara das englische Derby gewinnen wird, und zwar mit dem Jockei Pit Barker im Sattel!«

»Nobody! – Mensch! – Retter!« schrie Clifton auf. »Sie haben sie?«

»Niagara steht bereits im Newgatestall,« antwortete Nobody, »und Pit Barker befindet sich bei ihr und schwört Stein und Bein, daß er bis morgen mittag auf dem Rücken seines Pferdes schlafen wolle, damit es ihm nicht wieder gestohlen werde.«

Keine Feder vermag den Jubel und das Glück Cliftons zu beschreiben.

Er fuhr augenblicklich mit Nobody in den Newgatestall und überzeugte sich davon, daß Niagara tatsächlich ganz wohlbehalten vor ihrer Krippe stand und sich das Futter ausgezeichnet schmecken ließ.

Der überglückliche Sportsman umarmte Pit Barter, dem er ja einen unwürdigen Verdacht abzubitten hatte, und versprach ihm die Hälfte des morgigen Rennpreises als Schmerzensgeld für alles, was er erlitten hatte.

Im übrigen war es Clifton durchaus angenehm, daß Dolores entkommen war und er nicht nötig hatte, sie vor Gericht zur Rechenschaft ziehen zu müssen.

»Das habe ich mir gedacht,« sagte Nobody. »Ich hätte ja die ganze Bande hinter Schloß und Riegel bringen können – aber es gibt Kriminalfälle, bei denen es ebenso wichtig ist, das gestohlene Gut wiederzubringen, wie die Verbrecher entschlüpfen zu lassen.

Aber ich habe diese schöne Dolores zweimal unterstrichen in mein Tagebuch eingetragen – ich hoffe ihr noch einmal zu begegnen!«

Nobody ahnte damals natürlich noch nicht, wie seltsam diese Begegnung sich gestalten sollte!

 

Am 7. Juni, drei Uhr 45 Minuten nachmittags, wurde das englische Derby gelaufen.

Die Wunderstute Niagara gewann es, wie der Fachausdruck lautet, im blödesten Canter, das heißt, sie kam mit ungezählten Längen vor ihren Konkurrenten durchs Ziel.

Mr. Clifton war der glücklichste Rennstallbesitzer der Erde, und er war gerecht genug, zu Nobody zu sagen: »Nicht meine Wunderstute Niagara hat das diesjährige englische Derby gewonnen, sondern Sie, Mr. Nobody!

»O, sagen Sie mir, wie soll ich Ihnen danken, wie soll ich Sie belohnen?«

»Mir genügt es,« erwiderte der Gefragte stolz, »meinem Blatt, ›Worlds Magazine‹, einen interessanten Artikel geliefert zu haben, und ich werde denselben sogleich nach New-York hinüberkabeln!«

Und zum Schrecken aller Londoner Telegraphenbeamten teilte Nobody noch am Derbytage den ganzen Vorfall, der dem Siege der Wunderstute Niagara vorausgegangen, seinem Blatte mit.

Es war die längste Depesche, die jemals über den Ozean dahingeflogen.

Doch was bedeuten die hohen Gebühren für dieselbe gegenüber dem Triumph, den ›Worlds Magazine‹ mit dem Aufsehen erregenden Artikel wieder einmal errang, und gegen das Siegesgeschrei aller Zeitungsjungen der Vereinigen Staaten und Altenglands, welche mit ihren jugendfrischen Lungen an jenem Tage in die Welt hinausbrüllten: »Kaufen Sie ›Worlds Magazin‹!! – Der neueste Nobody! – Wie die Wunderstute Niagara das englische Derby gewann! – Kaufen Sie, Ladies and Gentlemen, kaufen Sie den neuesten Nobody!!«


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