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6. Im Zeichen der Schlange.

»Schon wieder was andres?« rief Nobody unangenehm überrascht aus, als ihm ein Depeschenbote ein Kabeltelegramm ins Hotel brachte, das er Mr. World als vorläufige Adresse angegeben hatte. »Am besten wär's wohl, ich ließe es einstweilen ungeöffnet. Was wird es weiter sein als ein Fall, wie der der Miß Wentworth in Hughesberry, der mich drei Tage aufgehalten hat, ohne mir im Grunde genommen jene Schwierigkeiten in seiner Lösung zu bieten, die jede Sache erst interessant machen. Jetzt möchte ich vor allen jenen Mann entlarven, wegen dessen ich hier bin. Es ist ja kaum glaublich, was die Zeitungen von den Gaunertricks dieses Mannes erzählen. Wenn bloß der vierte Teil davon wahr ist, dann bleibt es immer noch genug.

»Holla, was gibt's, Waiter?«

Die Frage war an den eintretenden Kellner gerichtet.

»Eine junge Dame wünscht Sie zu sprechen,« sagte der Mann, und dabei prägte sich auf seinem Gesicht ein Gemisch von Verlegenheit und Neugier aus.

»Wen wünscht sie zu sprechen?« fragte Nobody mit scharfer Betonung, denn er nannte sich hier Alfred Freeman, und da er die Maske eines ehrwürdigen weißlockigen Greises trug, so konnte er sich nicht denken, daß jemand sein Inkognito durchschaut habe. »Hat sie ihren Namen genannt?«

»O ja, Mrs. Grace Hoalford, und sie will zu Mr. Freeman, der seit gestern hier wohnt.«

Nobody sann einen Moment nach, nickte dann und sagte endlich: »Bitten Sie die Dame herein!«

Der Kellner entfernte sich, ließ aber die Tür gleich offen, und alsbald trat eine junge, hübsche, überaus zierlich gebaute Frau herein, in eleganter Straßentoilette, das bleiche Antlitz umrahmt von einer Fülle aschblonden Haares.

Nobody genügte ein Blick, um festzustellen, daß die Besucherin dem gutsituierten Mittelstande angehörte, daß aber eine schwere Sorge gegenwärtig auf ihr laste.

»Sie sind Mr. Nobody, der berühmte Detektiv von Worlds Magazine,« rief Grace Hoalford, aber das klang nicht sicher, sondern ängstlich fragend, und so war auch der Ausdruck der grauen Augen, die sich auf den anscheinend vom Alter gebeugten Greis richteten. Er betrachtete sie allerdings teilnahmvoll. »Miß Ellen Gregham, meine einzige Freundin, sagte mir Ihre Adresse!«

Was Nobody bei dieser Erklärung dachte, das hat er nicht einmal seinem Tagebuch anvertraut, eine Schmeichelei für die Weiber im allgemeinen und für Miß Gregham im besondern war es keinesfalls.

»Was für ein Anliegen hätten Sie denn, wenn ich der Nobody wäre?« fragte er. »Bitte, nehmen Sie Platz! So! Und nun sprechen Sie!«

Die junge Frau aber tat das nicht. Sie zog drei Stücke Papier aus einem Täschchen, das sie am linken Handgelenk trug, legte sie ausgebreitet auf den Tisch.

»Das Leben meines Vaters, meines Gatten und das meine hängen davon ab, daß das Rätsel dieser drei Telegramme gelöst wird. Außerdem – doch davon später!«

Gemächlich setzte der alte Herr eine altmodische Brille auf, nahm die Depeschen eine nach der andern vor und las sie. Ihr Inhalt war an und für sich kein Rätsel bis auf die letzte, die dem Laien zwar unverständlich war, aber nicht mehr als irgend eine andre in verabredeten Chiffern abgefaßte Geschäftsdepesche. Der Aufgabeort war Patterson, und darin allein lag vielleicht schon eine Erklärung. Der Wortlaut der einzelnen Telegramme war folgender:

Nr. 1. Mrs. Hoalford 8 Belghram Square, London. Warum keine Auskunft ob für Geschäft günstig?

Nr. 2. Sofort Antwort oder Folgen auf Sie! Jetzt oder nie, sonst zu spät!

Nr. 3. Unerhört – 1 – 26 – 9 – 2 heute – 50 Lack – bewilligt – 80 – 7 – Japan – 3 – 40 – 9.

Mrs. Hoalford sah, daß der alte Herr das Haupt schüttelte, als wenn er sich nicht zurechtfände; es konnte doch der Nobody nicht sein.

»Was für ein Geschäft betreibt Mr. Hoalford?« fragte der Greis.

»Keins! Er hat seit Jahren nicht mehr gearbeitet. Hier gleich gar nicht, er ist zum Besuch bei mir, zum ersten Male, seit ich heiratete und nach London zog.«

»Warum beantwortete er die ersten beiden Depeschen nicht?«

»Er ist schwer krank, und –« hier brach die junge Frau in Tränen aus – »ich pflegte ihn, hörte seine Fieberphantasien – o, Gott, es ist schrecklich!«

»Was?«

Mrs. Hoalford hob das Antlitz, schaute ihn prüfend an.

»Sind Sie Mr. Nobody?«

»Ich bin's!« erwiderte der Detektiv kurz.

»So kann ich sprechen!« sagte die Dame erleichtert. »Denn mein Geheimnis darf ich keinem andern anvertrauen als Ihnen, ebensowenig wie mir ein andrer helfen kann.« Sie machte eine Pause und fuhr dann schwer atmend fort. »Mein Vater ist Fenier!«

»Bereits tätig gewesen?« fragte Nobody so ruhig, als kenne er die Gefährlichkeit dieses irischen Geheimbundes nicht, der die Rache gegen die englischen Unterdrücker des unglücklichen Irland auf seine Fahne geschrieben hat und sein Ziel durch Pulver und Dynamit zu erreichen sucht.

»Vor zwei Jahren in Chicago,« antwortete Mrs. Hoalford ganz leise.

»Aha! Stimmt! Durch die Bombe wurden gegen fünfzig Menschen getötet.«

»Unschuldige!« ergänzte die junge Frau zusammenschauernd. »Aber er bereut seine Tat so sehr, will den neuen Auftrag nicht ausführen.«

Nobody saß schweigend da, betrachtete die dritte Depesche, und erst nach geraumer Zeit sagte er: »Mrs. Hoalford, ich will Ihnen helfen, wenn ich es vermag, denn bis jetzt habe ich noch keine Ahnung, was das letzte Telegramm zu bedeuten hat. Sie werden von mir hören.«

»Wann?«

»Morgen um diese Zeit!«

Die Dame stand auf, erfaßte dankend die welke Hand des Greises und entfernte sich. Nobody rührte sich, nachdem er schon längst allein war, immer noch nicht, lachte dann auf einmal in sonderbarem Tone auf und rief: »Man kann doch nie sagen, wozu eine Sache gut ist. Hätte man mich nicht abgegangen, so könnte ich jetzt das zweifelhafte Vergnügen genießen, in erlauchtester, allerhöchster Gesellschaft eine kleine Lustreise anzutreten – infolge einer Dynamitexplosion – so aber kann ich die Herrschaften vielleicht doch noch davor behüten. Ueberlegen wir uns die Sache einmal!

Mr. Hoalford ist hier, vom Exekutivkomitee hierhergeschickt, die Vorarbeiten zu erledigen, wird krank, bereut, antwortet nicht. Sie drohen – nützt auch nichts. Unerhört! Jawohl! Das geht ihnen über die Hutschnur. Wem? Den Anführern! Ah, natürlich 1 – 26! Da haben wir es ja, das ist der erste und letzte – Buchstabe des Alphabets nämlich. Nun kommt 9 – 2 heute, was heißt das? 50 Lack? Ein Lack ist eine indische Wertsumme gleich 500 Pfund gleich 10.000 Schilling, also 50 Lack ist eine halbe Million, und diese ist bewilligt zur Ausführung des Attentates. Ein hübscher Pfennig! Dann 80 – 7 – Japan – 3 – 40 – 9!«

Wir können nicht wiedergeben, auf welche verschiedenen Weisen Nobody die Depesche zu entziffern suchte, sicher ist nur, daß es ihm nach dreistündiger Arbeit gelungen war. Der übersetzte Text lautete etwa:

»Unerhört! Die Anführer segeln heute ab mit 50 Lack, die bewilligt sind, das Attentat auszuführen.«

Die Lösung war, das sei noch gesagt, nur möglich gewesen, indem Nobody das in England sehr verbreitete Nuttrals Dictionary zur Hand nahm, Seite 9 aufschlug und in Spalte 2, Zeile 2 das 2. Wort suchte. Es war ›to day‹ also heute. Ebenso verfuhr er mit den übrigen Zahlen.

Nobody wußte, daß die Führer der Fenier in Patterson ein Mc. Gregor und ein O'Neill waren, ließ sich die Schiffslisten kommen und fand alsbald den Dampfer, den die beiden als Kajütpassagiere benutzt hatten. Die ›Primrose‹ war am 3. in New-York abgefahren, konnte also frühestens am 8. in Liverpool sein. Nobody hatte noch reichlich drei Tage Zeit.

Die Depesche des Mr. World lag noch ungeöffnet auf dem Tische, ward auch gar nicht mehr beachtet. Nobody kleidete sich um, legte seine Verkleidung ab, verschloß die Depesche in einer eisernen Kassette und verließ das Hotel, sich zu Fuß nach der Waterloostation wendend, um dort einen Zug zu besteigen.

Gar viele Leute, die dem berühmten Detektiv unterwegs begegneten, erkannten ihn, denn so wie er jetzt aussah, war er in allen Zeitschriften und Tagesblättern abkonterfeit worden, und es genierte ihn nicht weiter, denn sonst hätte er ja nur eine andre Maske anzulegen brauchen.

Eben bog er in eine wenig belebte Seitengasse, um einen Durchgang durch eins der Häuser zu benutzen, da kam aus demselben ein Mann hervorgestürzt, atemlos, mit angstentstelltem Gesicht. Er erblickte Nobody, prallte erschrocken zurück, jagte in entgegengesetzter Richtung davon. Jetzt tauchte ein Polizist auf, jenen verfolgend.

»Haltet ihn auf! Haltet ihn auf!«

Ein gerade des Weges kommender Arbeiter stellte sich mit ausgebreiteten Armen quer über das Trottoir. Nobody war kaum zehn Schritte zurück.

»Mach, daß du fortkommst!« keuchte der Verfolgte, hob den rechten Arm auch schon zum Schlage, schmetterte die Faust dem Gegner zwischen die Augen.

»Verflucht!« schrie dieser, taumelte halb bewußtlos zur Seite, sank auf das Pflaster, über ihn hinweg sprang der Flüchtling, diesem nach der Polizist.

Im Nu verschwanden beide um die Ecke.

Nobody sah ihnen bedächtig nach. Solche Menschenhetzen waren nicht sein Fall; trotzdem interessierte dieser ihn, denn es war offenbar, daß der Verfolgte ihn erkannt hatte und deswegen in andrer Richtung, als beabsichtigt, davongeeilt war, obwohl er hier bekannt sein und wissen mußte, daß die Gasse, in die er einbog, eine Sackgasse war. Dort mußte er sich dem Polizisten ergeben.

Doch auch ein Nobody konnte sich irren.

Als er um die Ecke bog, bemerkte er, daß das letzte Haus rechts abgebrochen worden war; nur die Kellermauern standen noch, freilich die Entfernung von einer zur andern betrug reichlich drei Meter, aber schon schnellte der Verbrecher im Sprunge durch die Luft, kam glücklich drüben an, taumelte einen Moment, gewann jedoch bald das Gleichgewicht zurück, um sofort niederzusinken und dann den linken Fuß krampfhaft mit beiden Händen zu umspannen.

»Der arme Teufel!« murmelte Nobody vor sich hin, während der Polizist an die Tür des die Gasse abschließenden Hauses klopfte, und als geöffnet wurde, sofort darin verschwand.

Der andre hatte sich erhoben, hinkte, so schnell er konnte, weiter, fand aber keinen rettenden Ausweg, eine Art Speicher versperrte ihm abermals den Weg. Verzweifelt schaute der Unglückliche umher. Seine Blicke leuchteten auf. Er hatte eine Leiter entdeckt, legte sie an das Gebäude, kletterte die Sprossen empor, erreichte das Dach, stemmte den gesunden Fuß fest gegen die Wasserrinne und zog mit beiden Armen die Leiter zu sich empor. Nicht eine Minute zu spät, denn beinahe hätte der Polizist sie noch zu packen gekriegt. Jetzt aber stand derselbe ratlos da, denn er durfte sich nicht entfernen, um eine andre Leiter zu holen, und außerdem konnte er sich denken, daß der Mann auf dem Dache ihn mitsamt dieser umwerfen würde, wenn er emporklettern wollte.

Er versuchte zu unterhandeln.

»Lassen Sie sofort die Leiter herab!«

»Ich denke nicht daran!«

»Sie kommen herunter oder –«

»Lassen Sie sich nicht auslachen!«

Wütend setzte der Beamte die Signalpfeife an die Lippen, entlockte ihr den Hilfspfiff, und schon nach kurzer Zeit erschien ein andrer Polizist, den der erstre nach der Wache schickte, um Unterstützung herbeizuholen.

Unterdessen war Nobody an den Keller des abgebrochenen Hauses gelangt, maß mit den Blicken die Entfernung, spannte die Muskeln der Glieder und setzte ohne sichtliche Anstrengung über die Kluft. Dann blieb er in einiger Entfernung von dem Speicher stehn, um vorläufig die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Doch als die beiden Gegner schweigend verharrten, trat er zu dem Polizisten, der noch ganz außer Atem war und den Entflohenen, der sich nicht rührte, zornig betrachtete. Unter den linken Arm geklemmt, hielt der Beamte einen einfachen Holzkasten, wie er von Schulmädchen zur Aufbewahrung des Nähzeuges gebraucht wird.

»Was hat er denn verbrochen?« fragte Nobody.

»Ein Dieb!« antwortete der Polizist, den Frager von der Seite betrachtend.

»So! Was hat er denn gestohlen?«

»Hier! Sehen Sie!«

Der Bobby öffnete den Kasten, und nun zeigte sich, daß derselbe fast ganz mit verschiedenen Schmuckgegenständen gefüllt war, alle besetzt mit herrlich funkelnden Rubinen. Wenn sie echt waren, repräsentierten sie einen bedeutenden Wert; denn bekanntlich stehn fehlerlose Rubinen im Preise den Diamanten fast gleich, obwohl nur der Kenner sie zu schätzen weiß, und Nobody war einer.

Gespannt beobachtete der Polizist die Mienen des Detektivs.

»Sind sie echt?«

»Jawohl!«

»Wertvoll?«

»Ungeheuer!«

»Hurra, dann war das ein guter Fang!«

Nobody lächelte und schaute zu dem Manne auf dem Dache empor. Gerade in diesem Augenblicke richtete derselbe sich auf, stand aufrecht in der Traufe, hielt ein langes Messer in der Rechten und schrie herab: »He, gebt Achtung!«

»Er will springen!« rief der Polizist. Nobody hingegen fragte: »Was wollen Sie?«

»Ich bin unschuldig!«

»So kommen Sie herunter!«

»Nein!«

»Dann werden Sie gezwungen!«

»Lebendig kriegen Sie mich nicht! Ich töte mich lieber selbst!«

»Er will uns einschüchtern,« meinte der Polizist halblaut.

»Nein. Er meint es ernst,« entgegnete der Detektiv.

»Wollt ihr mich ungehindert fortlassen, wenn ich hinunterkomme?« fragte der Flüchtling.

»Nein. Auf keinen Fall!«

»Aber ich bin unschuldig!«

»Wer's glaubt!«

»Nun wohl, seht her!«

Der verzweifelte Mann setzte das Messer an die Kehle.

»Halt!« schrie der Polizist, Nobody aber hatte unbemerkt einen Revolver gezogen und den Hahn gespannt.

»Was soll's?« fragte der Flüchtling.

»Warten Sie ab, bis der Kommissar kommt. Er wird entscheiden, ob Sie fort dürfen.«

Jener lachte höhnisch, schüttelte mit wilder Gebärde den mit dem Messer bewaffneten Arm – ein Schuß krachte – die Klinge fiel klirrend auf das Pflaster. Mit einem gellenden Schrei sank der Mann auf das Dach zurück, raffte sich jedoch alsbald wieder empor, machte Miene herabzuspringen, stieß dabei an die Leiter. Sie kam ins Rutschen, sauste hernieder. Im Nu packte Nobody sie, war mit Blitzesschnelle auf dem Dache, hatte den vor Schreck wehrlosen Mann mit eiserner Faust gepackt und trug ihn, ohne daß es ihm Schwierigkeiten zu machen schien, die Sprossen hinab.

»Verloren!« stöhnte der Gefangene verzweifelt. »Bei Gott, ein andrer als Sie hätte mich nicht überwältigt, Mr. Nobody!«

»Sie kennen mich?« fragte der Detektiv, während er in das blasse Gesicht des Verbrechers blickte. Plötzlich, ehe letzterer noch antworten konnte, kam Nobody die Erinnerung. »Ah, allerdings, jetzt weiß ich, wo wir uns bereits trafen!«

»Dann ist mein Schicksal besiegelt!«

»Na, alter Freund,« sagte unten der Polizist, indem er den Mann an einem Arme packte, »Sie brauchten mich und sich auch nicht so abzuhetzen. Daß Sie mir nicht entkommen würden, konnten Sie sich selber sagen! Wie heißen Sie übrigens?«

»Ich habe nicht gestohlen,« antwortete der Gefangene ausweichend.

»Sie scheinen diesen Mann zu kennen,« wendete der Beamte sich da an Nobody.

Dieser nickte, schaute aber dabei den ganz gebrochenen Menschen fest an.

»Er heißt Caulkins, Fred Caulkins, und ich kenne ihn in der Tat,« sagte er dann und lächelte, denn er merkte, wie der Gefangene aufatmete. »Ich habe ihn früher selbst beschäftigt.«

»Ah, was sind Sie – bless my eyes! – ich muß blind gewesen sein – Sie sind ja der Nobody!«

»Stimmt! Sie werden mir daher wohl gestatten, diesen Mann auf der Wache allein über alles Nähere zu befragen!«

Da in diesem Moment gerade der Kommissar eintraf, so überließ der Polizist diesem die Entscheidung, und nach kurzem Wortwechsel setzte sich der ganze Trupp in Bewegung nach der Polizeistation, wo man dem berühmten Detektiv nicht nur den Kasten mit dem Schmuck übergab, sondern ihn auch mit dem angeblichen Caulkins in einem Zimmer allein ließ.

»Na, mein Junge,« sagte Nobody, indem er dem ermattet Niedergesunkenen freundschaftlich auf die Schulter schlug, »Kopf hoch! Ich bin kein Bobby. Lassen Sie mich hören, was Ihnen in die Quere kam! Aber offen und ehrlich! Mir gegenüber dürfen Sie nicht lügen.«

Caulkins faßte die rechte Hand des Detektivs, schaute ihn dankerfüllt an und rief dann: »Ja, ich weiß, Sie werden mir glauben, denn Sie vermögen alle Rätsel zu lösen, so daß Ihnen nichts wunderbar erscheint. Doch – dort steht der Kasten mit dem Schmuck – würde nicht jeder Polizist lachen, wenn ich ihm sagen wollte, daß ich ihn von einem Unbekannten bekam? Und doch ist es so! Ich spreche die reine Wahrheit!«

Allerdings, was Caulkins nun erzählte, das hätten ihm unter hundert Menschen keine zehn geglaubt, auch wenn sie seine Vergangenheit nicht gekannt hätten, wie dies bei Nobody der Fall war. Der berühmteste aller Detektiven besaß eben einen psychologischen Scharfblick, der ihm auch hier sofort zeigte, daß der Verhaftete gar nicht oder wenigstens nicht in dem Maße schuldig sei, wie es den Anschein hatte.

Caulkins behauptete, er habe sich die letzte Zeit als Arbeiter auf dem Lande sein Brot verdient, habe aber endlich den Entschluß gefaßt, sich in der Stadt eine gutlohnende Beschäftigung zu suchen. Am Tage zuvor hatte er beim Morgengrauen London betreten, war durch die Straßen geirrt bis 11 Uhr abends, hatte sich dann in der Vorhalle irgend eines öffentlichen Gebäudes zum Schlafen niedergelegt, wie dies ja in der Riesenstadt allabendlich viele Hunderte Obdachlose tun, ohne deshalb von der Polizei belästigt zu werden. Höchstens der Portier konnte ihn hinausweisen, und als Caulkins am frühen Morgen wirklich Schritte in der Halle hörte, verhielt er sich regungslos, hoffte, in seinem finstern Winkel nicht gesehen zu werden. Der Mann schien aus dem Gebäude selbst gekommen zu sein. Er schlug die Windfangtüren auseinander, welche die Halle gegen die Straße absperrten, und spähte auf diese hinaus, als wenn er trotz der frühen Stunde jemanden erwarte. Dabei murmelte er Worte vor sich hin, die Caulkins nicht alle verstand. Nur so viel hörte er, daß der Unbekannte ärgerlich war, weil Minute auf Minute, Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich, ohne daß sich jemand draußen sehen ließ. Endlich schien ihm die Geduld auszugehn. Er riß irgend etwas, was er vermutlich als Erkennungszeichen im Knopfloch getragen hatte, heraus, warf es mit einem Fluche zu Boden und entfernte sich.

Den Lauscher hatte er nicht bemerkt, wohl gar nicht für möglich gehalten, daß ein solcher in der Nähe sein könnte.

»Was hatte er denn weggeworfen?« fragte hier Nobody.

»Eine Rosette aus blauen und weißen Bändern, etwa wie eine Ordensdekoration,« antwortete Caulkins.

»Sie hoben das Ding auf und –?«

»Ich hielt es in der Hand, während ich die Straße hinabschritt, dachte nur daran, woher ich etwas zu essen bekommen könnte.«

»Sie haben den ganzen Tag noch nichts zu sich genommen? Na, warten Sie, Sie sollen das sogleich nachholen! Erst erzählen Sie mir weiter!«

Der Gefangene lächelte schwermütig.

»Jetzt kommt das Wunderbare, das vielleicht auch Sie mir nicht glauben werden. Ich bog um die Ecke, prallte mit einem jungen Mädchen zusammen, wunderte mich, was es so zeitig außer dem Hause zu suchen hatte, merkte, wie es auf einmal stutzte – es hatte die Rosette erblickt – im nächsten Augenblick zog es unter seinem Schulterkragen einen Kasten hervor – jenen dort – drückte ihn mir in die Hand und sagte dabei: ›Von Bauer. 'S ist alles in Ordnung!‹ Dann rannte es wieder fort; ich sah den Kasten als Beweis, daß ich nicht geträumt, öffnete ihn, schaute hinein, erschrak furchtbar, wußte nicht, was ich damit beginnen sollte, stand noch unschlüssig da, als ein Polizist die Straße heraufkam. Schnell warf ich den Kasten fort, entfloh, erregte dadurch erst recht Verdacht – das Weitere wissen Sie. Ich bin zu Ende! Nun, und Sie, Mr. Nobody, glauben Sie diese sonderbare Geschichte?«

»Jawohl, ganz gewiß!« antwortete der Detektiv ohne Zögern. »Denn,« setzte er dann noch hinzu, »um ein derartiges Zusammentreffen von Zufällen zu erfinden, sind Sie zu dumm, Mr. Caulkins, und jetzt zeigen Sie mir gefälligst mal die blauweiße Rosette!«

Erschrocken schaute der Mann auf, griff aber schon in die Taschen seiner dürftigen Kleider, ward immer unsicherer, zuckte plötzlich zusammen und brachte im nächsten Moment die Rosette hervor, sie Nobody überreichend.

»Na also!« lächelte der, besah sich das bedeutungsvolle Erkennungszeichen, steckte es ein, winkte dem andern, aufzustehn, und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Kommen Sie, Caulkins, ich habe auch Hunger! Wir wollen essen gehn!« sagte er dabei, als wäre alles andre Nebensache.

»Wird man mich denn fortlassen?« wandte der Gefangene zweifelnd ein.

»Selbstverständlich! Sie sind ja ganz zu Unrecht belästigt worden.«

»Sie glauben mir? O, Mr. Nobody –« Tränen erstickten die Stimme des Mannes, der sich vor dem schönen jungen Manne niederwarf und dessen Hände küssen wollte, und jener beugte sich nieder.

»Seien Sie getrost, Freund! Ich will Ihnen helfen, denn es ist ein Fall, der mich interessieren muß. Ihnen gegenüber erfülle ich jedoch nur meine Pflicht als Mensch. Nun vorwärts!«

Den Kasten mit dem wertvollen Schmuck unter dem Arm, gefolgt von Caulkins, begab Nobody sich zu dem Kommissar, tauschte einige leise Worte mit ihm, zog darauf ein Scheckbuch, füllte ein Formular aus und gab es dem Beamten. Dieser verbeugte sich tief. Nobody nahm aus dem Kasten einen Ring mit einem wunderbar funkelnden Rubin, steckte ihn an einen Finger und verließ freundlich grüßend, unaufgehalten mit Caulkins die Polizeiwache.

Der so unerwartet Befreite war anscheinend noch immer wie im Traume, ging wie mechanisch neben seinem Retter her, faßte ihn an einer Straßenkreuzung plötzlich am Arm, deutete vorwärts und stieß in höchster Erregung hervor: »Dort – dort drüben – das ist sie!«

Nobody verstand sofort. Er sah auf dem jenseitigen Trottoir ein junges, blondes Mädchen mit kurzem Schulterkragen. Es sollte jene Unbekannte sein, die Caulkins den Kasten gegeben hatte.

Nach seiner Gewohnheit hatte Nobody seine Gedanken über den seltsamen Vorgang für sich behalten, aber natürlich sofort seinen Plan zur Aufklärung der hier vorliegenden Geheimnisse gefaßt. Nachdem sie in irgend einer Restauration gegessen, sollte Caulkins ihn zu jenem Gebäude führen, in dessen Vorhalle er geschlafen hatte. Jetzt indes brachte ein Zufall ihnen jenes Mädchen in den Weg, das sonst erst mühsam hätte gesucht werden müssen.

Nobody entschloß sich sofort, der Unbekannten zu folgen, wollte eben seinem Begleiter einen Wink geben, etwas zurückzubleiben, damit jene ihn nicht bemerken und wiedererkennen sollte, da geschah etwas Unerwartetes, das niemand hätte voraussehen können.

Auf der belebten Straße fuhren die verschiedensten Fuhrwerke in fast ununterbrochener Reihe; es war mit Lebensgefahr verbunden, von einer Seite zur andern zu gehn, bevor der dazu hier postierte Schutzmann nicht den Arm hob und dadurch den Wagen für eine Weile Halt gebot. Das blonde Mädchen versuchte das Wagnis trotzdem, huschte gewandt durch jede sich bietende Lücke, kam bis in die Mitte der Straße, wich einem Hansom aus, kam direkt vor die Pferde eines Omnibus, wollte zur Seite springen – zu spät – die starke, eisenbeschlagene Deichsel traf es mit wuchtigem Stoße vor die Brust, einer der Gäule bäumte sich scheu empor, ein Huf schmetterte dabei gegen die Stirn der bereits zusammenbrechenden Unglücklichen – Nobody kam zu spät! Er sah auf den ersten Blick, daß er nur noch eine Leiche in den Armen hielt.

Dem herbeieilenden Polizisten sagte er, daß er die Verunglückte sofort nach dem Leichenschauhause bringen werde. Damit war der Mann zufrieden. Aehnliche Fälle ereignen sich ja in London alltäglich, ja, allstündlich. Nobody hielt ein leer vorüberfahrendes Cab an, stieg ein, die Leiche noch immer auf den Armen haltend. Caulkins folgte, und fort ging's – doch nicht nach dem Schauhause, sondern nach Nobodys Hotel, vor dem der Wagen wartete.

Der Detektiv stieg aus, verschwand im Hause, eilte in sein Zimmer, verweilte etwa eine Viertelstunde darin – als er es verließ, hatte er sich in ein altes, gebückt gehendes Mütterchen, etwa eine Handwerkerswitwe verwandelt und fuhr so mit Caulkins nach der Morgue.

Dort angekommen, belohnte er den Kutscher reichlich, ließ von seinem Begleiter die Leiche ins Haus tragen, wo dieser auch die nähern Umstände des Unfalles zu Protokoll geben mußte, händigte ihm dann Geld ein und sagte ihm, wo er ihn erwarten solle.

Die Beamten hatten nichts dagegen, daß das alte Mütterchen der Leichenfrau behilflich sein wollte. Nobody wurde in eine düstre Kammer geführt, wo die Tote auf einen Tisch gelegt wurde. Hier sollte er warten, bis die Frau käme, und damit hatte er ja nur gerechnet.

Kaum war Nobody allein, so zog er eine kleine Schere hervor, schnitt der Leiche einige Haare im Nacken ab, prüfte schnell den Stoff ihrer Kleider, bemerkte dabei eine Schnur am Halse des Mädchens, öffnete die obern Schließen der Taille und hielt im nächsten Augenblick ein kleines, silbernes Schächtelchen in der Hand, ganz flach, aber im übrigen kunstlos gearbeitet. Was es enthielt, konnte Nobody jetzt nicht feststellen, er schnitt die Schnur durch, schob es schnell in die Tasche, schloß die Taille wieder und war ganz die mitleidige Alte, als die Leichenfrau eintrat.

Geschwätzig erzählte die Witwe alles, was das Unglück betraf, und daß sie glaube, die Tote sei eine Tochter von ihr, die in frühester Kindheit verschollen sei. Sie müsse nur gleich nochmal nach Hause, sagen, wo sie sei, dann würde sie den ganzen Tag bei der Leiche bleiben. Es müsse doch jemand kommen, der ein Mädchen im gleichen Alter vermisse, und dann könnte sie vielleicht die Gewißheit erlangen, ob die Verunglückte ihre verschollene Tochter sei oder nicht.

Nobody entfernte sich also, er konnte ja sowieso nicht dabeibleiben, wenn die Leiche entkleidet und gewaschen wurde. Er ging jedoch nur bis in die Nebenstraße, wartete auf ein Cab, ließ sich wieder zum Hotel fahren, kleidete sich dort als jugendlichen Stutzer um und untersuchte dann erst den Inhalt der Silberkapsel, die sich durch einen Druck auf den üblichen Knopf öffnen ließ.

»Nanu! Was bedeutet denn das? Zwei Glasfläschchen!« sagte er dabei. »Das eine grün, das andre schwarz – ah, da steht auch eine kleine, kaum lesbare Aufschrift auf der einen ›A 1-5 suff‹. Das heißt ›sufficient‹, also genügend. 1-5 Tropfen genügen – wozu?«

Nobody öffnete erst das grüne Fläschchen, dann das schwarze mit der Aufschrift. Beide waren durch eingeschliffene Glasstöpsel verschlossen, mit farb- und geruchlosen Flüssigkeiten gefüllt. Eine Probe, ob sie Gift enthielten, konnte Nobody nicht vornehmen, wenigstens jetzt nicht. Er fertigte mit flüchtigen Strichen Zeichnungen von der silbernen Kapsel und von den Fläschchen an, verschloß diese selbst in einem Fache des Schreibtisches, ließ sich vom Portier die Adresse einer Glasniederlage sagen und begab sich dorthin, wo er ohne weiteres nach der vorgelegten Zeichnung genau derselben entsprechende Fläschchen bekam. Er erstand je ein halbes Dutzend grüne und schwarze, kaufte in einem Juwelierladen sechs Silberkapseln, die ebenfalls vorrätig waren, da sie von Damen häufig begehrt würden, wie der Verkäufer sagte, der im übrigen mit gelegentlichen Seitenblicken immer wieder den prachtvollen Rubinring musterte, den Nobody mit Absicht noch trug.

Letzterer merkte wohl, daß der Juwelier den Ring zu kennen schien, verriet aber nichts davon, sondern zahlte und begab sich in einen Posamentenladen, wo er mehrere Meter schwarze Schnur, ebenfalls nach vorgelegtem Muster kaufte, und kehrte dann in seine Wohnung zurück. Dort füllte er sämtliche Fläschchen mit reinem Wasser, brachte je ein grünes und ein schwarzes in einer Silberkapsel unter und befestigte diese schließlich an einem Stücke der Schnur, das in der Länge genau dem Original entsprach. Ebenso hatte er alle schwarzen Flaschen mit der Aufschrift ›A 1-5 suff.‹ versehen.

Die echte Silberkapsel mit Inhalt wanderte in den Schreibtisch zurück. Nobody verwandelte sich wieder in die alte Frau, steckte eins der unechten Etuis zu sich, ließ sich bis in die Nähe des Leichenschauhauses fahren und begab sich in dasselbe, um sich einige Sekunden später in jener Kammer auf einem Stuhle niederzulassen, wo die Tote lag, durch ein Linnentuch ganz verhüllt. An einem Wandhaken hingen die Kleider der Unglücklichen, nach der, wie Nobody erfuhr, noch niemand gefragt hatte.

Daß noch jemand kommen würde, war allerdings auch nicht anzunehmen, denn der Tag neigte sich seinem Ende zu, und während der Nacht ward das Leichenschauhaus geschlossen.

Doch! Schritte erklangen auf dem Flur. Nobody hörte sofort, daß eine Dame kam, und zwar eine junge, denn sie trat rasch und leicht auf, und – da war sie schon.

»Eine Kreolin oder vielmehr eine Mexikanerin spanischer Abkunft!« sagte sich der Detektiv sofort, war aber im übrigen ganz die ehrsame Witwe, die den größten Respekt vor der vornehm gekleideten Dame bewies.

»Ja, sie ist es!« rief diese klagend. »Du arme, arme Sanna, daß du ein so furchtbares Ende finden mußtest!«

Tränen des Mitgefühls feuchteten die Augen der Kreolin, aber einen Nobody täuschte sie doch nicht. Er sah, daß die Besucherin schauspielerte, und während er schon die Silberkapsel mit dem falschen Fläschchen in der Hand bereithielt, fragte er teilnahmvoll: »War sie Ihre Tochter?«

»Nein, nein! Das verhüte Gott! Sie stand als Hausmädchen in meinen Diensten.«

»Deshalb hat sie so zarte Finger!« sagte Nobody zu sich selber, laut aber: »Kannten gnädige Frau die Eltern der Toten?«

»Ja, sehr gut! Es wird mir schwer werden, ihnen den Tod ihres einzigen Kindes mitteilen zu müssen. Es sind so arme, aber rechtschaffene Leute. Doch was ist Ihnen? Warum seufzen Sie so?«

»Ach,« schluchzte Nobody, »ich sollte mich ja eigentlich freuen, daß sie es nicht ist – meine Tochter nämlich, die im 3. Lebensjahre spurlos verschwand – aber –«

Die Alte konnte nicht weitersprechen, verbarg das faltenreiche Gesicht in den runzligen Händen und weinte still vor sich hin. Merkwürdigerweise sprach ihr die vornehme Dame keinen Trost zu, schien vielmehr recht ungeduldig zu sein.

»Verzeihen Sie, Mutter!« sagte sie endlich. »Die Morgue wird bald geschlossen werden – Sie verstehn – ich bedaure Sie ja sehr – doch – hat man bei der Toten nicht irgend etwas gefunden, was ich den unglücklichen Eltern als letztes Andenken übergeben könnte? Vielleicht ein Schmuckstück? Ein Medaillon? Wenn nicht, müßte ich mich freilich mit einer Haarlocke begnügen.«

Sofort zeigte Nobody die Silberkapsel, sah, wie die Augen der Kreolin beim Anblick derselben aufleuchteten, erwiderte aber ruhig, mit nur noch etwas zitternder Stimme: »Dieses Büchschen trug die Tote an einer Schnur um den Hals!«

»Sie wollen es mir überlassen?« fragte jene hastig, schon die Hand vorstreckend.

»Was soll sonst damit geschehen? Es ist immer besser, die Eltern bekommen es, als daß es der Leiche mit in den Sarg gegeben wird.«

»O, in der Tat, es wird ihnen ein Trost sein!«

Die Dame nahm die Kapsel, steckte sie unbesehen in die Tasche, brachte ein Portemonnaie zum Vorschein.

»Sie sind gewiß arm!«

»Nein, nein, ich nehme nichts!« wehrte die Alte ab. »Aber wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Wohnung sagen wollten.«

»Gern, gern! Gewiß! Man könnte Sie zur Rede stellen, weil Sie mir die Kapsel geben – Mrs. Long – 18 Whitechapel Road – nochmals besten Dank.«

Hinaus war sie! Nobody hätte beinahe laut lachen müssen, bezwang sich aber, trat vorsichtig in den Hausflur, sah einen Wagen fortfahren – es war ein Privatgeschirr. Er dachte nicht daran, ihm zu folgen. Die wirkliche Wohnung, die natürlich in einer ganz andern Stadtgegend lag, wollte er schnell genug herausfinden.

»Sind Sie die Leichenfrau?« fragte da neben Nobody ein hochgewachsener, eleganter Herr mit schwarzem Haupt- und Barthaar, durch die braune Hautfarbe ebenfalls den Südländer verratend, bei der Frage aber immer auf den Ring am Finger der Alten schauend.

Nobody antwortete entsprechend, wollte eben von dem Unglücksfall anfangen, da ließ ihn der Herr brüsk stehn, ging ohne Gruß davon. In einiger Entfernung folgte ihm die krummgehende Alte, ihn nicht aus den Augen verlierend.

Der ursprüngliche Besitzer des Schmuckes war gefunden, ebenso die Dame, in deren Auftrag das unglückliche Mädchen dem Manne mit der Rosette den Kasten übergeben hatte. Nobody konnte mit den in so kurzer Zeit erzielten Erfolgen zufrieden sein. Den innern Zusammenhang der Ereignisse kannte er freilich noch nicht, wollte ihn aber ebenso wie den Zweck der Fläschchen bald herausfinden. Ganz entschieden hatte der erste Besitzer der blauweißen Rosette den ungemein wertvollen Schmuck nicht für nichts und wieder nichts empfangen.

In der Voraussetzung, daß er bald den Schlüssel des Geheimnisses in den Händen halten würde, sollte Nobody sich freilich getäuscht haben. Es lag hier nicht ein einzelnes Rätsel vor, sondern es gab deren eine ganze Menge, und geschaffen waren sie von einer Verbrecherbande, deren Entlarvung Nobody unsägliche Mühe kostete, die ihn mehrmals dem Tode nahe brachte, wie nach den Tagebuchaufzeichnungen des Detektivs weitererzählt werden soll.

Daß der Herr, der jetzt vor Nobody herging, durch den Ring auf ihn aufmerksam geworden war, konnte sich auch ein weniger scharfsichtiger Mann als der Detektiv sagen, aber nicht jeder hätte gemerkt, daß es jenem darauf ankam, die vermeintliche alte Frau geradezu hinter sich herzulocken. Nobody entging das natürlich nicht, er hätte also nur umzukehren brauchen, um einer Befragung durch den schwarzen Herrn zu entgehn, der ihn doch sicher in Verbindung mit den Dieben des Rubinenschmuckes brachte – es fiel ihm nicht ein.

Jetzt verschwand der Mann in einem vornehm aussehenden Gebäude einer im Grünen liegenden Parkstraße, und Nobody, der immer im gleichen Tempo weitergeschlendert war, kam einige Minuten später dort an.

Anscheinend ermattet von dem weiten Weg suchte die alte Frau gerade vor diesem Hause ein Plätzchen zum Ausruhen, fand es nicht und wagte, die Tür zu der Vorhalle zu öffnen, die, wie von außen zu sehen war, in eine Art Wintergarten umgestaltet war. An den Wänden standen Gruppen von Palmen und Blattpflanzen, auch die im Hintergrunde emporführende Treppe ward von ihnen eingenommen. Außerdem waren an mehreren Stellen aus verschiedenen modernen und altertümlichen Waffen gebildete Trophäen aufgehängt.

Die Alte kümmerte sich zunächst natürlich wenig um diese Herrlichkeiten. Sie humpelte zu einer zierlichen Bank und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung darauf niedersinken. Doch lange sollte sie die Ruhe nicht genießen dürfen.

Eine der aus der Vorhalle abführenden Türen ward geöffnet oder vielmehr aufgerissen, jener schwarzhaarige Mann, diesmal mit unbedecktem Haupt, trat vor die Frau, musterte sie mit durchbohrenden Blicken, winkte ihr dann gebieterisch, sitzen zu bleiben, als sie aufstehn wollte.

»Wer sind Sie, und wie kommen Sie zu diesem Ringe?« herrschte er sie an, fuhr aber, ohne ihre Antwort abzuwarten, sogleich fort: »Wissen Sie nicht, daß das ein gestohlenes Schmuckstück ist?«

Nobody hatte sich einen Plan zurechtgelegt, den er diesem Manne gegenüber befolgen wollte. Er spielte zunächst die Rolle der alten Frau weiter, stellte sich auch noch schwerhörig, so daß jener seine Frage wiederholen mußte.

»Den Ring?« sagte er dann. »Ja, Herr, der Ring gehört mir ja gar nicht. Den habe ich mir nur geliehen.«

Eine solche Antwort hatte der Mann nicht erwartet. Erst schaute er die Alte überrascht, dann aber zornig an.

»Nehmen Sie sich in acht!« warnte er sie grollend. »Wagen Sie auf keinen Fall, mit mir Scherz zu treiben, es könnte Ihnen schlecht bekommen. Warum sind Sie mir gefolgt? Antworten Sie!«

»Weil Sie es wünschten,« lautete die prompte Erwiderung, die abermals den Schwarzbart in Verwirrung setzte. Doch er faßte sich bald und rief: »Nun ja, ich wollte, daß Sie mir folgten, ich zwang Sie durch meinen Willen dazu! Gestehn Sie, woher haben Sie den Ring?«

»Lassen Sie sich doch nicht auslachen!« versetzte die Alte in größter Gemütsruhe. »Sie wären der Mann, mich unter Ihren Willen zu zwingen!«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Mann die Sprecherin an. Dann mochte ihm eine Ahnung kommen, daß er selber in eine Falle gegangen war. Er machte unauffällig einen Schritt zur Seite, so daß er in die Nähe einer der erwähnten Waffentrophäen kam. Zugleich aber ließ er einen halblauten Pfiff ertönen, und Nobody merkte, ohne daß er sich umzusehen brauchte, an dem ertönenden leichten Geräusch, daß die Ausgänge der Vorhalle von Dienern besetzt wurden. Der Mann hatte seine Vorbereitungen schnell genug getroffen.

»Sie sind vollständig in meiner Gewalt,« sagte er drohend, »und Sie verlassen dieses Haus nicht eher, als bis Sie mir alles gestanden haben, was diesen Ring betrifft, der mir gestohlen ward!«

»So?« entgegnete Nobody lakonisch. »Das ist allerdings keine angenehme Aussicht! Schließlich aber kommt es doch erst noch auf einen Versuch an, wer von uns beiden der Stärkere ist!«

Solche Worte aus dem Munde einer alten Frau mußten natürlich befremden.

Der Schwarzbart riß im Nu von der Wand ein altes Schwert herab, schwang es drohend über seinem Haupte, prallte im nächsten Moment aber erschrocken zurück; denn die Waffe war ihm entrissen worden, ohne daß er sagen konnte, wie es zugegangen war, und dann flog sie auch schon mitten durchgebrochen in eine Ecke.

»Bitte! Dort hängen noch mehr!« versetzte der Detektiv dabei trocken. »Ich denke jedoch, es wäre schade um die schönen Waffen.«

Mit spöttischem Lächeln musterte er den plötzlich an allen Gliedern zitternden Schwarzbart, dem das Ganze wie Hexerei vorkommen mochte, um so mehr, als Nobody immer noch in Gestalt der alten Frau vor ihm stand. In ganz und gar verändertem Tone fragte er endlich: »Sie sind nicht, was Sie scheinen; sind Sie Detektiv? Ein Mann auf alle Fälle!«

»So zwingen Sie mich doch, es zu gestehn,« entgegnete Nobody. »Ich bin ja, wie Sie erklärten, vollständig in Ihrer Gewalt!«

»O, o! Ich konnte nicht wissen –«

»Jawohl, Sie konnten nicht wissen, daß Sie bei mir an die falsche Adresse gekommen waren, Mr. Bravalla, und ich will Ihnen zum Troste sagen, daß Sie nicht der erste sind, dem das passiert. Jetzt aber bin ich vorn, ich habe die Trümpfe in der Hand. Antworten Sie mir! Sie hörten eben, daß ich Sie kenne – man nennt Sie den Rubinenkönig?«

»Ja!« gab der Schwarzbart zu.

»Sie wohnen in Brasilien?«

Auch das stimmte, aber Nobody hatte den Mann doch nicht gleich anfangs erkannt, erst hier hatte er sich ganz zufällig daran erinnert, daß dieser Portugiese unermeßlich reich war und seine Schätze zum größten Teile in kostbaren Edelsteinen, vor allem aber in Rubinen anlegte und daher in ganz Amerika und darüber hinaus als Rubinenkönig bekannt war. Diesem Manne also waren die Schmuckgegenstände gestohlen worden, die jenes unbekannte, jetzt tote Mädchen Caulkins übergeben hatte, und sofort kombinierte Nobody.

»Die Schmucksachen, zu denen auch dieser Ring gehörte, wurden Ihnen von einer Dame gestohlen, von einer Mexikanerin?« fragte er und beschrieb jene Frau, welcher er im Leichenschauhause die falsche Silberkapsel mit den beiden Fläschchen übergeben hatte.

Das Erstaunen Mr. Bravallas konnte nicht mehr gesteigert werden. Er starrte die Sprecherin fassungslos an.

»Das wissen Sie auch schon? Ich suchte seit zwei Jahren überall nach diesem Weibe, ohne daß ich bisher eine Spur von ihm entdecken konnte.«

»Wie nannte sich die Betrügerin Ihnen gegenüber?«

»Esmeralda Bauer, angeblich die Tochter eines Deutschen und einer Spanierin!«

»Sie heirateten sie?«

»Ja,« erwiderte der Portugiese mit offenbarer Verlegenheit. »Das heißt, ich kann mich heute noch nicht besinnen, daß ich mich mit ihr habe trauen lassen, aber die unterschriebenen Dokumente sind vorhanden, und daß der Priester, der die Zeremonie ausführte, sich zu einem Betruge hergegeben hätte, ist ganz ausgeschlossen!«

»Liebten Sie denn die Dame?«

»Sie ist schön, verstand es, ihre Reize zur Geltung zu bringen –«

»Genug! Es ist die alte Geschichte. Ich brauche nichts weiter zu hören. Sie haben ja inzwischen zu Ihrem Schaden gemerkt, auf was diese Schwindlerin es abgesehen hatte. Im übrigen kann ich Ihnen mitteilen, daß der Schmuck noch vorhanden ist.«

»An ihm liegt mir weniger als an dem Weibe.« Die Augen des Portugiesen glühten verderbendrohend. »Ich muß es in meine Gewalt bekommen, und wer Sie auch sind, ich flehe Sie an, helfen Sie mir, daß ich meine Rache an dieser Dirne üben kann. Verlangen Sie von mir, soviel Sie wollen, ich zahle Ihnen jede Summe, aber überliefern Sie mir diese Esmeralda!«

Nobody stand eine Weile schweigend da. Es war klar, daß Bravalla noch nichts von ihm gehört hatte, denn sonst hätte er sich gewiß schon früher an ihn gewendet, und während der Rubinenkönig glaubte, jener denke über den ihm gemachten Vorschlag nach, dachte Nobody in Wirklichkeit darüber nach, warum Worlds Magazine in Brasilien keine Verbreitung gefunden hatte.

»Wissen Sie was, Senor Bravalla?« sagte er endlich. »Geschäft ist Geschäft. Ich werde Ihnen diese Esmeralda verschaffen, wenn Sie mir versprechen, nicht mehr persönlich nach ihr zu forschen, und geduldig warten, bis ich sie Ihnen bringe. Sind Sie damit einverstanden?«

»Sie werden sie bestimmt bringen?«

»Ich bin Nobody!« versetzte der Detektiv bescheiden und doch stolz.

»Ah! Daß ich nicht gleich darauf kam!« entfuhr es dem Portugiesen, der also doch etwas von jenem gehört haben mußte. »Das genügt! Und was fordern Sie?«

»Vorläufig nichts! Erst die Ware, dann der Preis! Also es gilt?«

»Jawohl, jawohl, ich verspreche Ihnen, was Sie von mir verlangten, ich –«

»All right! Leben Sie wohl!«

Ehe Bravalla noch etwas erwidern konnte, stand er allein in der Halle. Nobody hatte sich entfernt und schritt bereits die Straße entlang. Er durfte Caulkins nicht länger warten lassen und mußte doch auch jede Minute zusammennehmen, wenn es nicht zu spät werden sollte, das vorliegende Rätsel zu lösen.

Daß jene angebliche Esmeralda eine Hochstaplerin sei, bedurfte keines weitern Beweises. Es handelte sich nur noch darum, ihre Wohnung ausfindig zu machen und dann ihre Verbrechergenossen. Ein Mann kam als solcher wenigstens noch in Frage, denn Nobody kannte die Frauen viel zu genau. Nur aus Lust am Schwindeln oder aus bloßer Habsucht hatte dieses Weib den Rubinenkönig nicht umgarnt. Der Plan dazu war entschieden im Hirn eines Mannes entstanden, und diesen liebte Esmeralda. Seinetwegen hatte sie die Verbrecherlaufbahn betreten. Wer aber war dieser Mann, und wo war er zu suchen? Hieß er auch Bauer? Hatte er das unglückliche, blonde Mädchen angewiesen, dem Eingeweihten mit der blauweißen Rosette den gestohlenen Schmuck zu übergeben? Von wem stammten die Fläschchen in der Silberkapsel? Was enthielten sie?

Es war gut, daß die Feniergeschichte nicht so pressierte. Immerhin blieb es eine Riesenaufgabe, innerhalb dreier Tage das Geheimnis des Rubinschmuckes aufzuklären.

Caulkins wartete noch in dem ihm bezeichneten Restaurant und staunte nicht wenig, als er auf einmal zu einer im Hausflur wartenden alten Frau gerufen wurde, und diese ihn mit sich in den einsamen, finstern Hof zog.

»Hier, Mann,« sagte sie dort, »nehmen Sie das und suchen Sie sich damit eine Existenz zu gründen. Ich brauche Sie nicht mehr, und die Polizei haben Sie nicht zu fürchten. Es ist schon gut; zu danken brauchen Sie mir nicht – viel Glück, Caulkins!«

Der einstige Verbrecher, den Nobody heute vor dem Zuchthause bewahrt hatte, stand noch lange, nachdem sein hochherziger Wohltäter schon gegangen war, im Hofe, raffte sich aber dann doch auf, kehrte in die Gaststube zurück und besah sich bei der ersten Gelegenheit die Banknote, die Nobody ihm in die Hand gedrückt hatte. Es waren fünfzig Pfund.

Ob Nobody wohl merkte, daß an diesem Abende ein glücklicher, dankerfüllter Mensch für ihn zu Gott betete?

Er hatte inzwischen in seinem Hotel die Frauenkleider mit einem einfachen, schwarzen Anzug vertauscht, der sauber, aber an den Nähten bereits abgeschabt war. Der fuchsige Zylinder paßte dazu und ebenso das übrige Aeußere, die grauen langen Haare, die buschigen Augenbrauen, die spitze Nase mit der Hornbrille darauf, die schmalen Lippen und die faltigen Wangen, aus denen die Bartstoppeln hervorwucherten. Das war ganz der Mann, der einst bessere Tage gesehen hat, infolge eignen Verschuldens auf die schiefe Ebene kam und tiefer und tiefer sank, von kleinen Betrügereien lebt, jedoch den Schein des Wohlanstandes noch zu wahren trachtet. Man konnte Nobody für einen verpfuschten Rechtsgelehrten, aber auch für einen heruntergekommenen Mediziner halten; es kam darauf an, wie er sich gab.

Der Detektiv kannte London, soweit es für ihn in Betracht kam, genau. Er benutzte die Untergrundbahn nach Whitechapel-Road, bog von dieser in eine Seitenstraße ab, dann wieder in eine andre, aus dieser in ein enges Gäßchen, kurz, er kam in eine Stadtgegend, in die sich um diese Stunde ein anständiger Mann nicht ohne Gefahr wagen kann. Vor den Türen standen überall halbwüchsige Burschen und Mädchen und überhäuften den Alten mit Spottreden, auf die er aber nicht achtete. Als jedoch einer der Rowdies sich von hinten an ihn heranschleichen und ihm den Zylinder eintreiben wollte, wendete Nobody sich blitzschnell um und schmetterte den Bengel durch einen einzigen Boxerstoß in die Magengegend nieder, daß er sich heulend im Straßenschmutze wälzte und außerdem noch die Hohnreden seiner Kumpane über sich ergehn lassen mußte.

Nobody erreichte ohne ferneren Zwischenfall eine Kellerkneipe, die er schon öfter in den verschiedensten Verkleidungen besucht hatte, setzte sich in einen düstern Winkel des von Tabakrauch erfüllten Lokales, bestellte sich zu trinken und versank anscheinend in sorgenvolles Nachdenken, dabei aber verstohlen die Anwesenden musternd. Es war ein Treffpunkt verkrachter Existenzen, doch der, den Nobody suchte, fehlte noch. Er kam erst nach etwa einer halben Stunde, begrüßte Bekannte, setzte sich jedoch nach einem flüchtigen Blick auf den Detektiv neben diesen, wollte eine Unterhaltung beginnen, erhielt nur knappe Antwort, rückte näher und flüsterte ihm endlich zu: »Was hat's mit Euch, daß Ihr so verstimmt seid?«

»Was hat's! Was hat's! Was geht's Euch an?« knurrte Nobody unwirsch. »Laßt mich allein!«

»Oho, nur nicht gleich so grob werden! Ich kann Euch doch vielleicht helfen, wenn Ihr mir nur Vertrauen schenken wolltet. Ihr seid Rechtsanwalt gewesen?«

»Warum?«

»Na, das sieht man Euch doch an! Also wo hapert's?«

»Hier!« antwortete Nobody, indem er auf die Tasche klopfte.

»Dachte mir's!« versetzte der andre. »Geld borgen kann ich Euch allerdings nicht!«

»Ich mag auch gar keins von Euch!«

»So, so! Da könnt Ihr's Euch auf andre Weise verschaffen?«

»Eben nicht!«

»Das verstehe ich nicht!«

»Ganz einfach – Erbonkel – will sich nochmals verheiraten!«

»Ei verflucht! Das ist allerdings ärgerlich!«

Der Sprecher blickte von der Seite mit prüfendem Auge auf den vermeintlichen Rechtsanwalt und fragte dann: »Ist's viel?«

»Dreitausend Pfund!«

»Hoppla, entschuldigen Sie, daß ich Ihr Glas umwarf! Ich bezahle selbstverständlich ein neues. Also 60.000! Hm! Die ließe ich mir nicht entgehn!«

»So! Wie wollten Sie denn das anfangen?«

Der andre zögerte mit der Antwort, schaute aber Nobody vielsagend an.

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Nein,« erwiderte der Detektiv, obwohl er den Frager recht gut kannte.

»Doktor Rowland!« flüsterte dieser geheimnisvoll.

»Ah! Der Giftdoktor!«

»Ja, der! Verstehn Sie nun, was ich Ihnen anbiete? Wieviel zahlen Sie mir für meine Hilfe?«

»Nichts! Ich bin kein Verbrecher!«

»Ich ebensowenig!«

»Sie wollen mir doch aber ein Gift für den Erbonkel verkaufen!«

»Aber kein todbringendes. Doch hier ist nicht der Ort, von solchen Dingen zu reden. Kommen Sie, ich nehme Sie mit in mein Laboratorium!«

Das hatte Nobody nur gewollt. Er ging trotzdem anscheinend nur widerstrebend mit und trat mit dem Giftdoktor in eins der ärmlichen Häuser auf derselben Straße. Dort führte abermals eine schmale Treppe in den Keller, und in diesem befand sich die Wohnung Rowlands, zugleich seine Werkstatt oder, wie er es nannte, sein Laboratorium, in dem es abenteuerlich genug aussah, das aber nicht weiter beschrieben zu werden braucht.

Hier nahmen sie nebeneinander auf einer alten Kiste Platz, und der Doktor begann Nobody seinen Plan auseinanderzusetzen, der darauf hinauslief, den angeblichen Erbonkel ein kleines bißchen verrückt zu machen, so daß er in die geplante Ehe nicht eingehn konnte, und der Rechtsanwalt die 60.000 Shilling erben mußte. Als Preis für das sicherwirkende Mittel forderte der Schurke nur ein Drittel der Erbschaft, erbot sich auch, die unfehlbare Wirkung sofort nachzuweisen, und wollte sich bereits zu einem Wandschrank begeben, in dem er seine Mixturen aufzubewahren schien, da rief Nobody ihm zu: »Nicht nötig, Doktor! Das Mittel, das Sie mir anbieten, besitze ich schon!«

Sofort wendete Rowland sich wieder um und blickte den angeblichen Rechtsanwalt mißtrauisch an.

»Sie haben es schon? Sie wissen doch gar nicht, um was es sich handelt, was ich Ihnen geben will!«

»O, doch! Sehen Sie nur!«

Der Detektiv hielt dem alten Giftmischer die Silberkapsel mit den beiden Fläschchen entgegen, diesmal die echte, und aufs höchste erschrocken prallte dieser einen Schritt zurück. Nobody ließ ihm keine Zeit, sich zu fassen; denn sicher fehlte es in diesem unterirdischen Laboratorium nicht an allerlei Fallen für Besucher, die dem Alten gefährlich zu werden drohten. Ehe dieser sich noch zur Verteidigung anschicken konnte, lag er mit gebundenen Händen auf dem Boden, und Nobody kehrte sich nicht an die tückischen Blicke, die der Ueberwältigte ihm zuwarf.

»So, mein werter Herr Doktor, jetzt werden Sie mir der Wahrheit gemäß einige Fragen beantworten!«

»Niemals!«

»Auch gut! Dann brauche ich mich nicht erst lange mit Ihnen herumzuquälen. Geben Sie acht!«

Nobody hatte bei diesen Worten das schwarze Fläschchen aus der Silberkapsel hervorgezogen und geöffnet. Jetzt machte er Miene, dem ihn entsetzt anstierenden Rowland einige Tropfen der Flüssigkeit ins Gesicht zu spritzen. Er stellte sich wenigstens so.

»Halten Sie ein! Tun Sie es nicht!« schrie ängstlich der Gefesselte.

»So wollen Sie reden? Nein? Doch? Aber dann bitte, etwas plötzlich! Warum fürchten Sie den Inhalt dieses Fläschchens?«

»Es ist – Gift!«

»Nee, so was! Das hätte ich mir freilich nicht denken können. Sie scheinen mich für fürchterlich dumm zu halten. Also, welche Wirkung hat das Gift?«

»Es macht bewußtlos,« gestand Rowland.

»Und die Flüssigkeit im grünen Fläschchen hebt diese Wirkung auf?«

»Jawohl!«

»Wenn man aber mehr als fünf Tropfen verwendet, was dann?«

»Dann ist länger oder kürzer andauernde Geisteszerrüttung die Folge.«

»Diese Fläschchen wurden von Ihnen gefüllt und verkauft?« inquirierte Nobody weiter.

»Nein. Ich weiß nicht, wie sie in Ihre Hände kommen. Ich wollte Ihnen diese Tinkturen zuerst anbieten.«

»Sie lügen, ohne daß Sie eine Ursache dazu haben; denn schon, daß ich die Kapsel besitze, muß Ihnen ein Beweis dafür sein, daß ich mit Mrs. Bauer in Verbindung stehe, und dann, haben Sie denn gar nicht den Ring gesehen, den ich am Finger trage?«

»Ein Rubin?« stotterte Rowland. »Ah, wahrhaftig! Bringen Sie mir den Schmuck?«

»Davon reden wir nachher,« wich Nobody aus, tat, als wenn er die Fläschchen wieder einstecken wolle, spritzte aber in demselben Augenblick mindestens sieben Tropfen vom Inhalt des schwarzen Fläschchens ins Gesicht des Giftmischers.

In geradezu entsetzlicher Angst stierte der Mann ihn noch eine Sekunde an, wollte etwas sagen, brachte aber nur unartikulierte Laute heraus, dann ging ein krampfhaftes Zucken durch seinen Körper, derselbe streckte sich und ward starr wie eine Leiche.

Sofort kniete Nobody neben dem Bewußtlosen nieder, schob ihm die Lider in die Höhe und stellte fest, daß die Pupille sich bis auf ein Minimum verkleinert hatte.

»Es stimmt!« sagte er befriedigt. »Ich dachte mir sofort, daß es jenes mir noch unbekannte Gift sei, dessen Wirkung ich stets bezweifelte. Jetzt bin ich bekehrt – ins Gesicht gespritzt, führt es eine Erstarrung des Körpers herbei und versetzt den Geist in einen Zustand wie bei der Hypnose. In die Adern gespritzt, tötet es in kurzer Zeit, ohne daß es dem Arzt gelingt, eine Vergiftung festzustellen. Das erste werde ich versuchen. He, Doktor Rowland, hören Sie mich?«

»Ja,« antwortete der Mann heiser und krächzend, aber verständlich, und Nobody begann nun ein ausführliches Examen mit ihm, das hier nicht wiedergegeben zu werden braucht, dem Detektiv aber einen Einblick in das Treiben einer Verbrecherbande eröffnete, deren Existenz mit dem Schleier des höchsten Geheimnisses umgeben war.

Ohne sich weiter um den vorläufig unschädlich gemachten Giftmischer zu kümmern, öffnete Nobody den Wandschrank, entnahm demselben eine weitere Silberkapsel, ließ den übrigen Inhalt unberührt und entfernte sich dann ungehindert, um den Rest der Nacht dem Schlafe zu widmen. Am frühen Morgen aber war er schon wieder zum Ausgehn bereit. Er durfte keine Zeit verlieren, wollte er den Schurkenstreich verhindern, der heute vormittag ausgeführt werden sollte. Den tadellosen Gesellschaftsanzug unter einem lichtfarbenen Ueberzieher verborgen, den blanken Zylinder auf dem Haupte, ein Monokel im linken Auge, auf der Oberlippe ein keimendes Bärtchen, so verließ der Detektiv das Hotel und ließ sich durch ein Hansom nach Piccadillystreet bringen.

Das Gebäude, vor dem der Wagen dort hielt, verriet sofort den Wohlstand oder vielmehr den Reichtum seiner Bewohner. Merkwürdig war nur, daß die Straßenpforte nicht verschlossen war, so daß Nobody den Vorgarten durchschreiten und ins Haus treten konnte. Auch hier war niemand zu sehen, erst auf der zum Stockwerk emporführenden Treppe begegnete ein noch junger Mann dem Detektiv.

»Sie sind Mr. O'Brien, der Privatsekretär des alten Herrn O'Donald?« fragte Nobody sofort, und als jener bejahte, fuhr er fort: »Ist Mr. O'Donald zu Hause?«

»Jawohl. Er liegt krank im Bett, darf keinen Besuch empfangen!«

»Führen Sie mich sofort in das betreffende Zimmer. Die Verantwortung für alles, was ich hier tun werde, übernehme ich!«

»Was sind Sie denn?« stieß der Sekretär hervor, dabei den Stutzer mit nicht gerade schmeichelhaften Blick messend.

»Gehorchen Sie! Ich befehle es Ihnen!«

Wenn Nobody diesen Ton anschlug, dann gab es keine Widersetzlichkeit mehr. Eine Minute später stand er an der Tür des Krankenzimmers, öffnete sie ganz unhörbar, schlich sich von hinten an das Kopfende des in der Mitte des Raumes stehenden Bettes und sah in demselben einen alten Herrn mit bereits ergrautem Haupt- und Barthaar, offenbar der alte O'Donald. Der Sekretär war am Eingange stehn geblieben, den Stutzer beobachtend.

Plötzlich sprang dieser vor, packte den erschrocken auffahrenden Kranken mit eiserner Kraft bei den Armen und rief dem ganz entsetzten O'Brien zu: »Rasch! Geben Sie mir einen Strick – dort die Gardinenschnur!« Und anstatt seinem Herrn zu helfen, gehorchte der Mann dem Unbekannten, gab ihm die Schnur und sah zu, wie dem Greis die Hände auf dem Rücken zusammengeschnürt wurden. Allerdings schien der sonst so schwächliche Alte auf einmal recht kräftig geworden zu sein – ah – das war ja gar nicht O'Donald!

Nobody hatte dem Menschen die Perücke und den falschen Bart abgerissen – echtes, schwarzes Haar kam zum Vorschein – der Ueberrumpelte knirschte vor Wut die Zähne aufeinander, versuchte vergeblich die Hände freizubekommen, und dabei hafteten seine Blicke mit finsterer Drohung auf dem Stutzer, der bei dem kurzen Kampfe nicht einmal das Einglas verloren hatte. Derselbe winkte jetzt dem noch immer ganz verblüfften Sekretär, daß er noch eine Gardinenschnur herbeibringe, band mit ihr auch die Füße des Entlarvten, hob ihn dann aus dem Bett, legte ihn auf den Teppich und fragte O'Brien:

»Wo ist Ihr Herr? Hatten Sie nicht darüber zu wachen, daß er das Haus nicht verließ?«

»Ja, doch – er lag ja im Bett, hat mir persönlich gestern abend noch gesagt –«

»Still!« unterbrach Nobody ihn. »Ein Wagen! Das sind sie. Rasch ins Empfangszimmer! Geleiten Sie die Ankommenden dorthin!«

Der Gefesselte bot in diesem Moment noch einmal alle seine Kräfte auf, sich zu befreien. Nobody achtete nicht auf ihn. Die Knoten, die er schürzte, waren durch keinen Uneingeweihten zu lösen. Er blieb im Salon, während O'Brien die Treppe hinuntereilte, um die Ankommenden zu empfangen. Zu seinem Schreck erkannte er dabei seinen Herrn. Derselbe führte am rechten Arm eine noch junge, elegant gekleidete Dame von fremdartiger Schönheit. Der Sekretär kannte sie nicht. Er wagte nicht, seinem ganz sonderbar aussehenden Herrn den Befehl des Stutzers zu übermitteln, hatte es auch gar nicht nötig, denn das Paar wandte sich sowieso nach dem Salon, wohin ihm O'Brien folgte.

Beim Anblick des Fremden stutzte die Dame, musterte ihn hochmütig und fragte den Sekretär, was der Herr wünsche. Nobody antwortete selbst, wendete sich aber an O'Donald.

»Sir,« sagte er mit auffallend scharf klingender Stimme zu demselben, »Sie dürfen diese Dame nicht heiraten!«

»Sie kommen zu spät!« lachte sie ihm ins Gesicht. »Wir waren eben auf der Registeroffice!«

»Sie irren, Esmeralda Bauer,« entgegnete der Detektiv in größter Gelassenheit, »zu spät kommt ein Nobody niemals.«

Kaum hatte er seinen Namen ausgesprochen, da ließ die Frau den Arm O'Donalds fahren, stand wie leblos, aber zitternd da, den Namen des gefürchteten Mannes mit bebenden Lippen nachsprechend; dann aber öffneten sich ihre Augen noch weiter, als sie die Silberkapsel in den Händen des Detektivs erblickte. Doch eben als dieser dem noch immer teilnahmlos verharrenden alten Herrn etwas vom Inhalte des grünen Fläschchens ins Gesicht spritzte, kam wieder Leben in sie. Sie wendete sich im Nu um und stürmte aus dem Zimmer.

Nobody folgte ihr nicht, er bedeutete auch dem Sekretär zu bleiben und beschäftigte sich lediglich mit O'Donald, dessen Augen jetzt wieder klar blickten, der aber die Vorgänge noch nicht verstand.

»Lassen Sie Ihren Herrn jetzt in Ruhe!« flüsterte Nobody dem Sekretär zu. »Er mag vorläufig glauben, daß er das alles nur geträumt habe. Zur rechten Zeit werde ich persönlich ihn aufklären. Inzwischen sorgen Sie dafür, daß niemand ohne Ihre Erlaubnis zu ihm gelangen kann. Eventuell nehmen Sie einige erprobte Wächter ins Haus. Von der Schwindlerin, der ich ihn eben noch rechtzeitig entreißen konnte, haben Sie nichts mehr zu befürchten.«

»Und was wird aus dem Gefangenen? Wer ist es?« fragte O'Brien.

»Mit dem haben Sie ebenfalls keine Sorge, denn der ist in diesem Augenblicke bereits über alle Berge. Seine Frau wird ihn doch nicht im Stiche lassen!«

»Seine Frau? War die denn auch hier?«

»Es war dieselbe, die sich vorhin mit Ihrem Herrn hat trauen lassen. Abgesehen war es natürlich lediglich auf dessen Geld. Der Himmel mag wissen, wie viele Männer dieses Weib schon auf gleiche Weise düpiert und dann gerupft hat!«

Nobody entfernte sich und überließ den alten O'Donald der Pflege des Sekretärs. Er selbst trat noch einmal in das Schlafzimmer, fand darin, wie er sofort richtig vermutet hatte, anstatt des Gefangenen nur noch die zerschnittenen Gardinenschnuren, die als Fesseln gedient hatten und – noch etwas!

An den Teppich war ein Blatt Papier gesteckt. Es war in großer Hast mit einigen Zeilen beschrieben, und diese lauteten:

»Der Privatdetektiv Nobody wird hiermit zum Tode verurteilt. Wer ihn uns lebendig oder tot überliefert, erhält 10.000 Shilling als Belohnung.«

Unterzeichnet war das Schriftstück nicht mit einem Namen, sondern mit einer seltsam aussehenden Linie. Nobody kannte sie, hatte aber nicht geglaubt, daß diese Gaunermarke noch Geltung habe. Es war das Zeichen einer Bankräuberbande – vier in Kreisform ineinandergeschlungene Schlangen.

»Verdammt billig!« brummte er. »Ah, und da steht ja noch etwas! ›Das Urteil ist binnen heute und acht Tagen zu vollstrecken.‹ Eilig haben sie's also auch. Na, ich brauche nicht so lange. Morgen abend muß ich die Kerls samt und sonders haben. Höchstens diese Esmeralda kann ich entschlüpfen lassen; denn wenn sie vor Gericht gestellt würde, käme gewiß so manches zutage, was besser verborgen bleibt. Daß doch die alten Esel immer die verliebtesten sind!«

Das Papier, durch das auf ihn eine Belohnung von 10.000 Shilling ausgesetzt wurde, und das gewiß binnen kurzer Zeit in allen in Frage kommenden Verbrecherkreisen verbreitet ward, einsteckend, begab Nobody sich ins Freie und schlenderte in dem Schritte eines Straßenflaneurs dahin, einem bestimmten Ziele zustrebend. Unterwegs trat er in ein Postamt, gab eine Depesche an Mrs. Hoalford auf und einen Rohrpostbrief an die Detektivstation in Scotland Square, wandte sich dann jener Gegend zu, in welcher Caulkins von dem Polizisten verfolgt worden war, und kam an ein Gebäude, dessen sämtliche Fenster durch herabgelassene Jalousien verhüllt waren. Es war ein sogenanntes Durchgangshaus mit mehreren Innenhöfen und Ausgängen nach vier verschiedenen Straßen, gerade dadurch so recht geeignet als Schlupfwinkel für Gauner und sonstiges lichtscheues Gesindel.

Nobody umschritt es von allen Seiten in einer Weise, daß niemand seine Absicht erkennen konnte, verschwand plötzlich in einem der Eingänge und durchstrich nacheinander alle Teile des weitläufigen Bauwerkes, jede Türe prüfend, ob sie zu öffnen sei. So kam er in das Erdgeschoß des Hinterhauses, wenn man von einem solchen hier reden darf, denn es lag ja ebenfalls an einer Straße.

Hier brauchte er nicht erst zu probieren, denn eine der Türen stand ein kleines Stück offen, und vorsichtig nähertretend, lugte Nobody durch die Spalte. Er blickte in einen vollkommen leeren Raum. Auch dieser Trakt des Hauses schien demnach unbewohnt zu sein.

Geräuschlos schlüpfte der Detektiv in das Zimmer, blieb sofort lauschend stehn, er hatte die leisen Atemzüge eines schlafenden Menschen vernommen, der sich nebenan befinden mußte.

Ja, da lag er und schlief, auf den Dielen liegend, den Schlaf des Gerechten. Es war allem Anschein nach ein Strolch, einer jener fahrenden Bettler, die man in Ländern englischer Zunge als Tramps bezeichnet, und die viel gefährlicher sind als etwa die deutschen sogenannten Handwerksburschen. Zu arbeiten schien der Kerl aber doch zeitweise, denn neben ihm stand auf dem Boden ein Kasten mit Werkzeugen, wie Dachdecker sie brauchen, und um den Leib gegürtet trug der Mann einige starke Stricke.

Nobody brauchte gar nicht erst näherzutreten, er roch es schon, daß der Schläfer einen tüchtigen Rausch hatte. Deswegen war weitere Vorsicht überflüssig. Mit geschicktem Griffe löste der Detektiv einen der Stricke, band in aller Gemütsruhe die Hände des Betrunkenen, ohne daß dieser etwas merkte, richtete sich dann wieder empor, untersuchte erst den Werkzeugkasten, fand aber nichts Verdächtiges weiter als ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen und darin, als er es öffnete – eine kleine Menge Dynamit. Der Pappkasten, in dem es lag, aber trug auf dem Deckel das Schlangenzeichen.

»Es stimmt schon,« sagte Nobody zu sich selber. »Hier pflegen die Mitglieder der Bande sich einzustellen, um neue Befehle entgegenzunehmen. Es ist das Hauptquartier, und ich bin zur rechten Zeit hergekommen. Vor abends wird sich niemand hier einfinden, denn sonst schliefe der Mann nicht. Wo aber steht die Anweisung für ihn? Er ist hierherbestellt worden und hat hier irgendwo eine Notiz gefunden, die ihm das Weitere sagte. Die muß ich finden.«

Er schritt die Wände entlang, sie mit scharfprüfenden Augen betrachtend, entdeckte nicht, was er suchte, kniete nieder, rutschte auf allen vieren noch einmal ringsum, und nun hatte er Erfolg.

Auf dem dunkelgemalten Streifen direkt über der Diele las er in einer Ecke folgendes: »Pünktlich um elf Uhr! Am dritten! Werkzeug!«

Das war alles, doch es genügte reichlich. Nobody suchte nicht weiter, sondern verließ das Zimmer, trat auf die Straße, rief einen Cabkutscher an, hatte eine kurze Unterredung mit demselben, kehrte dann ins Haus zurück, lud sich den Betrunkenen auf die Schulter, trug ihn durch die Höfe nach einem andern Ausgang, brachte ihn in den dort haltenden Wagen und stieg selbst nach. Im Hotel ließ er das Cab in den Hof fahren, schaffte den Mann wieder eigenhändig in sein Zimmer, entkleidete ihn dort, nachdem er ihm die Hände losgebunden hatte, zog die schmierigen Lumpen selbst an, studierte dann eine Weile aufmerksam das Gesicht des Tramps, nahm seine Toilettenmittel zur Hand und stand nach wenigen Minuten als vollkommenes Ebenbild desselben da. Nun schüttete er ihm ein Glas Wasser ins Gesicht, so daß er doch erschrocken emporfuhr, aber immer noch eine Weile brauchte, ehe er halbwegs zur Vernunft kam.

Erst erstaunt um sich blickend, schien er Nobody gar nicht zu sehen, wunderte sich über den weichen Teppich, auf dem er saß. Auf einmal fielen seine Blicke auf den Detektiv, der ihm selber ja Zug um Zug glich. Es war, als ob der Tramp an seinem Verstande zweifelte, er faßte sich an die Stirn, zupfte sich an den Ohren und brummte dann: »Verteufelter Suff dieser Whisky bei dem dicken Fred! Elendes Zeug! Oooo, mein Schädel! Aber aus der Haut kann ich doch nicht gekrochen sein; wo kommt denn der Kerl da her? He, wer bist du? Wo hast du meinen Werkzeugkasten – ah, verflucht – um elf – Himmeldonnerwetter noch mal – das ist mir doch zu dumm – ich weiß doch ganz genau, daß ich im Black Carcaß gewesen bin!«

Die Gedanken des Mannes, der ja sowieso noch unter dem Banne des Alkohols stand, begannen sich zu verwirren. Er mochte schon öfter Wahnvorstellungen, Halluzinationen infolge des übermäßigen Trunks gehabt haben, und glaubte, jetzt wieder daran zu leiden, um so mehr, als sein Doppelgänger schwieg und sich nicht rührte.

Sich mühsam erhebend, merkte er plötzlich, daß ihm sein Anzug genommen worden war. Er stutzte, glotzte Nobody wieder mißtrauisch an und torkelte dann mit unsichern Schritten auf ihn zu.

»Du Hundesohn hast mir die Sachen gemaust!« knurrte er. »Gibst du sie wieder her?«

»Ja, aber jetzt nicht, brauche sie gerade, will dich vertreten, weil du besoffen bist,« lächelte Nobody, dabei ganz genau das Benehmen und die Redeweise des Tramps nachahmend.

»Waaas? Ich bin besoffen? Du – hoppla – du kannst ja selber kaum noch stehn. Meinen Rock her!«

Nobody hatte genug gesehen, er konnte diesen Mann getrost vertreten, und als derselbe sich ihm nun in drohender Haltung näherte, machte er dem Spiel ein Ende, versetzte dem Strolch einen einzigen Boxerstoß, daß er zusammenstürzte, schnürte ihm darauf die Hände zusammen und stopfte ihm ein Tuch in den Mund. Zuletzt fesselte er noch das rechte Bein des Mannes an einen Ring in der Wand, und nun konnte er ihn getrost bis zu seiner Rückkehr liegen lassen.

Warum er den Kerl nicht zwang, zu gestehn, weswegen er nach dem Black Carcaß bestellt worden war, ist ja leicht zu verstehn. Was er im ›schwarzen Gerippe‹ – das bedeutete der Name – sollte, wußte jener vermutlich selber noch nicht, und wenn, dann hätte er es schwerlich gestanden. Was er aber erzwungen aussagte, das konnte immer noch Lüge sein.

Als Nobody das Haus verließ, dessen Besitzer in seinen Diensten stand, und bei der Portiersloge vorüberkam, machte er mit dem einen Arm eine Bewegung, als wolle er sich die Mütze in den Nacken schieben. Sofort öffnete sich das Fenster. Nobody empfing einen zierlichen Brief – er war von Grace Hoalford und meldete, daß am Freitag vormittag zwei Herren aus Patterson in Liverpool eintreffen würden und ihren Vater besuchen wollten. Sie kämen mit der ›Primrose‹! Das Schreiben bestätigte also nur, was Nobody schon tags zuvor gewußt hatte. Die zwei Herren aus Patterson waren Mc. Gregor und O'Neill, die Häupter des Fenierbundes.

Immer den Gang und die Manieren eines Halbberauschten nachahmend, kam Nobody wieder in die Nähe des Black Carcaß, torkelte hinein, ließ dabei aber doch keine Vorsicht außer acht und gelangte in jenes Zimmer, wo der echte Tramp gelegen hatte und dessen Werkzeugkasten noch stand. Sofort streckte der Detektiv sich auf den Dielen aus, blieb natürlich aber wach und sann darüber nach, was für ein Abenteuer ihm hier wohl bevorstand. Eine Uhr hatte der Tramp nicht bei sich gehabt, daher hatte auch Nobody die seinige zu Hause gelassen, und konnte nun die Zeit nur nach Gedanken bestimmen. Jedenfalls lauschte er angestrengt auf das Geräusch, welches die Ankunft des Unbekannten ankündigen mußte, den er hier erwartete.

Es konnte noch nicht ganz um elf sein, da vernahm Nobody Schritte im Flur und wußte sofort, daß anstatt eines zwei Männer kamen, die auch unmittelbar darauf in das Vorderzimmer traten.

»Ist jemand hier?« fragte der eine mit gedämpfter Stimme.

Nobody antwortete nicht. Es konnte ja auch möglich sein, daß die beiden einen andern als jenen Tramp hier erwarteten.

»Damn't!« fluchte der Frager. »Der Kerl ist nicht gekommen!«

»Das glaube ich nicht. Er ist zuverlässig, und Bauer hat ihn uns empfohlen!«

»Ah,« dachte der Lauscher, »da haben wir ja die richtige Fährte.« Er gähnte laut und lange, wie jemand, der aus tiefem Schlafe erwacht, und markierte einen gewaltigen Schreck, als plötzlich die beiden Männer im matten Lichtscheine einer Blendlaterne vor ihm standen und ihn scharf prüfend betrachteten.

»Er ist es,« sagte der erste Sprecher wieder.

»Nu allemal! Haben mich eklig lange warten lassen!« entgegnete Nobody.

»Es ist die richtige Zeit.«

»Soo? Dann kann's ja losgehn!«

»Haben Sie alles Nötige mitgebracht?«

»Hier! Alles da!«

»Sie wissen, was Sie tun sollen? Ja? Wollen Sie uns auch bei dem andern helfen?«

Nobody wußte natürlich gar nichts, nickte aber zu beiden Fragen und hätte sich beinahe verraten.

»Was? Ich dachte, Sie weigerten sich? Bauer sagte es doch!«

»Der Mensch besinnt sich eben manchmal anders,« antwortete Nobody mit großer Geistesgegenwart. »Vielleicht helfe ich Ihnen nachher doch noch!«

»Es ist gut! Folgen Sie uns unauffällig und in genügender Entfernung!«

Die beiden Männer, die anständig gekleidet waren, verließen das Gebäude und schritten die Straße hinunter, ohne sich ein einzigesmal nach dem folgenden, falschen Tramp umzusehen. Ihr Weg führte in das verrufenste Viertel von Whitechapel, und Nobody wurde natürlich immer gespannter auf das, was er in dieser Nacht erleben sollte. An eine ihm persönlich drohende Gefahr dachte er nicht im geringsten.

Endlich machten die beiden an einer Straßenecke Halt, ließen ihn herankommen und gingen mit ihm noch ein Stück weiter, bis an einen morschen Zaun. Sie überstiegen ihn alle drei, durchkreuzten einen mit allerlei Gerumpel angefüllten Hof, kamen an ein niedriges Gebäude, das nur zwei Fenster auf dieser Seite besaß.

»Hier ist es! Der Tote wird nicht bewacht. Sie müssen trotzdem jedes Geräusch vermeiden, und ehe Sie ihn herausbringen, messen Sie ihn nochmals genau. Er muß 1,72 lang sein, sonst nützt er uns nichts!«

Nobody erklärte sich bereit. Er konnte sich jetzt denken, um was es sich handelte. Dieser Bauer war eben ein äußerst vielseitiger Verbrecher, der aber hier einen Haupttrick ausführen oder vielmehr einleiten ließ, durch den er ganz sicher eine beträchtliche Summe zu erbeuten hoffte, und den er gewiß nicht zum ersten Male in Szene setzte.

Ohne eine Frage an die beiden zu richten, stellte Nobody seinen Werkzeugkasten zu Boden, beugte sich zu dem einen Fenster nieder, drückte leicht an einem Flügel, und dieser gab nach. Der Weg ins Zimmer war frei. Schnell noch das Bandmaß, dann hinein. Nach ein paar Minuten war er fertig, erschien am Fenster und rief mit gedämpfter Stimme: »Genau 1,72!«

»All right! Heraus mit ihm!« lautete die Entgegnung, und sofort schob Nobody einen kräftig gebauten, unbekleideten männlichen Leichnam durch die Oeffnung. Er wurde draußen in Empfang genommen. Nobody kletterte nach, zog den Fensterflügel wieder zu und ließ sich dann den Toten aufladen.

»Es ist nicht weit!« sagte einer der Unbekannten. »Der Wagen wird bereits warten!«

In der Tat stand an der Straßenecke ein geschlossenes Cab. Die Männer hatten ihre Vorbereitungen mit großer Umsicht getroffen. Der Leichnam ward hineingehoben – sie folgten.

»Wollen Sie mit?« fragte einer den Tramp. »Oder haben Sie sich wieder anders besonnen?«

»Ja – mir graut vor dem Toten!«

»Hahaha! Jetzt auf einmal? Doch wie Sie wollen. Wir werden auch allein fertig. Hier der verabredete Lohn! Go on!«

Nobody bekam einen Geldschein in die Hand. Der Wagen rollte fort, und hintendran hing – der Detektiv. Es war eine böse Partie, die nur dieser Mann mit den Muskeln von Stahl ertragen konnte, denn das Cab fuhr mindestens eine Stunde dahin, immer in dunklen Nebenstraßen sich haltend, in denen kein Wachmann zu sehen war. Die Gegend, in der der Kutscher endlich hielt, kannte Nobody nicht, aber sie schien von Professionisten und sonstigen ehrlichen Leuten bewohnt zu sein. Mehr konnte er nicht feststellen, denn einer der Männer beugte sich aus dem Fenster und zischte dem Kutscher mit mühsam verhaltener Wut zu: »In den Hof, Esel! Soll uns hier ein Bobby auf den Hals kommen?«

Fluchend trieb der Gescholtene den Gaul von neuem an. Der Wagen rollte um die Ecke, doch Nobody folgte ihm nicht mehr. Er blieb noch eine Weile im Schatten der Häuser stehn, betrachtete das Gebäude, vor dem das Cab gehalten hatte.

»Alle Wetter! Robert Bauer, Drogenhändler!« rief er aus, als er das neben dem Eingange angebrachte Messingschild las. »Es geht also auf seinen Namen!«

Rasch passierte nun auch Nobody die Ecke, fand das Hoftor noch offen, trat geräuschlos ein und sah, daß die beiden Männer eben den Leichnam aus dem Wagen hoben und ins Haus trugen. Dann fuhr der Kutscher davon, und sofort schlüpfte der Detektiv jenen nach.

Ein matter Lichtschein fiel durch eine Türspalte auf den dunklen Flur, den er betrat. Beinahe wäre er über einen auf dem Boden liegenden Gegenstand gestolpert, den er, sich niederbeugend, als den gestohlenen Toten erkannte, dann hörte er jemanden sprechen. Es war die Stimme jenes Mannes, den er im Bett O'Donalds überwältigt hatte – es war der gesuchte Bauer, der sicher bei seinen Nachbarn in gutem Rufe stand, und dessen wahren Charakter niemand ahnte.

Nobody überlegte sich alle Umstände, kam zu der Ueberzeugung, daß der Leichnam nur deshalb auf dem Flur gelassen worden war, weil er alsbald an einen andern Platz gebracht werden sollte, und zwar konnte das nur der Keller sein. Also hinaus in den Hof, und durch eins der Luftlöcher in die Unterwelt! Was die drei Gauner oben miteinander redeten, hatte keinen Wert für Nobody. Er wollte sehen, was mit dem Leichnam geschah. Das war wichtiger.

Der Keller bestand aus einem großen Raume, dem mehrere Nebengelasse angegliedert waren, und in eins derselben trat der wagehalsige Detektiv; denn das war sicher, wenn er durch einen Zufall hier entdeckt wurde, dann galt es einen Kampf auf Leben und Tod. Bauer hatte ja bereits eine Belohnung von 10.000 Shilling auf den Kopf Nobodys gesetzt. Auf der andern Seite war dies hier für letzteren eine ausgezeichnete Gelegenheit, nicht nur die gesamte zivilisierte Welt mit seinem Ruhme zu erfüllen, sondern auch ein tüchtiges Stück Geld zu verdienen, und daran dachte Nobody jetzt.

Da waren zunächst die 500.000 Shilling der beiden Fenier, die er unschädlich machen wollte. Das Geld nahm er ihnen natürlich ab. Dann kam der Rubinenkönig, der ihm für die Auslieferung der schönen und raffinierten Esmeralda auch einen schönen Batzen zahlen würde. Weiter wollte Nobody dem Bauer die 10.000 Shilling Belohnung abnehmen, und endlich kamen die Versicherungsgesellschaften, die er vor schwerem Schaden bewahren wollte, und die sich dafür natürlich in entsprechender Weise erkenntlich zeigen mußten. Er rechnete insgesamt mit einer Bareinnahme von rund einer Million, und dafür kann ein Mensch schon mal das Leben riskieren. Die meisten tun's für weniger.

Nobody brauchte nicht lange zu warten. Die drei Gauner kamen wirklich in den Keller und blieben im Hauptraume, wo Nobody sie beim Scheine eines in einer Laterne brennenden Lichtes bequem beobachten konnte. Er sah, daß sie den Toten auf ein aus Brettern gezimmertes Gerüst legten, hörte sie darauf kurze Zeit flüsternd beraten. Der Hauptmacher Schwarz brachte eine kleine Tasche zum Vorschein, öffnete sie und entnahm ihr mehrere blitzende Instrumente. Was er damit anfing, konnte der Lauscher nicht sehen, es war gar nicht nötig, denn er wußte es auch so.

Jetzt brachen die Gauner der Leiche gewaltsam den Mund auf, zogen ihr einen Zahn oder mehrere aus und setzten dafür andre ein, die besondere Merkmale aufwiesen, Plomben z. B., oder mißgestaltet waren. Daran sollte der Tote als eine bestimmte Person erkennbar sein, selbst wenn der übrige Körper ganz entstellt ward. Wie dies letztere bewirkt werden sollte, war vorläufig Nebensache. Das würde sich schon zeigen. Er konnte ins Wasser geworfen, vor einen Eisenbahnzug geschleudert, aus bedeutender Höhe herabgestürzt werden – auf das, was die Gauner vorhatten, kam Nobody zufällig nicht.

Die Operation mochte etwa eine halbe Stunde in Anspruch genommen haben, Bauer packte seine Instrumente wieder ein, einer seiner Genossen reichte ihm ein Bündel Kleider, und mit diesen ward der Tote bekleidet.

»So!« hörte Nobody einen der Männer sagen. »Nun soll der Leichenbeschauer kommen.«

»Hahaha, und die Reporter, wie werden sie den armen Kerl bedauern, der auf so entsetzliche Weise ums Leben kommen mußte!« lachte ein andrer.

»Wir könnten eigentlich Prozente von ihnen verlangen, da wir ihnen so oft Gelegenheit zu ellenlangen Berichten geben,« fügte Bauer hinzu. »Doch nun faßt mit an! Wir müssen den Kerl emporschaffen!«

Sie entfernten sich mit dem Leichnam, und Nobody überlegte sich noch, was er tun sollte, da hörte er zu seinem nicht gerade freudigen Erstaunen, daß die sämtlichen Kellerfenster und Luftschächte von außen geschlossen wurden. Aber noch dachte er an keine direkte Gefahr. Er konnte ja durch die Tür hinaus, wenn es darauf ankam. Jedenfalls verließ er sein Versteck, durchschritt den Hauptraum, stieg langsam, die Wände mit den Händen betastend, die Treppe empor, die er trotz der ihn umgebenden Finsternis bald gefunden hatte, und – rannte plötzlich mit dem Schädel gegen irgend ein Hindernis.

Er hatte gerade noch Zeit, sich zu sagen, daß es eine Falltür sein müsse, da ward dieselbe aufgerissen. Der volle Schein des Laternenlichts fiel auf Nobody. Ein Ruf des Staunens erklang.

»Der Tramp!« stieß einer der Männer, die Nobody im Black Carcaß getroffen hatte, hervor.

»Verrat!« schrie in demselben Augenblick Bauer. »Er trägt eine Perücke! Es ist der Nobody!«

Ehe dieser noch daran denken konnte, den Keller ganz zu verlassen – das alles spielte sich ja viel schneller ab, als es erzählt werden kann – krachte die Falltür nieder – er mußte einige Stufen hinunterspringen, daß sie ihn nicht traf. Hohnlachend schob Bauer den schweren Eisenriegel vor und rief dabei: »Gefangen! Den haben wir! Jetzt soll der Schuft bei lebendigem Leibe verbrennen!«

»Da muß ich auch dabeisein!« dachte Nobody, schob die durch den Stoß zur Seite gerückte, verräterische Perücke wieder zurecht und lauschte dann. Hatte er sich wie ein Felsenmaulwurf von jener Insel retten können, indem er in achtjähriger Arbeit einen Gang durch das Gestein bis ans Meer grub, so war es doch nur eine Kleinigkeit für ihn, aus diesem von Menschenhänden errichteten Keller zu kommen.

Im Hause selbst schien sich außer Nobody niemand mehr zu befinden – es war kein Geräusch zu hören. Die drei Gauner hatten sich gewiß schon längst in Sicherheit gebracht, frohlockend, daß sie den gefürchteten Detektiv unschädlich gemacht hatten.

Noch sann dieser nach, wie die Schufte den letzten und wichtigsten Teil ihres Versicherungsbetruges, die Unkenntlichmachung der Leiche, durchführen würden, da drangen plötzlich seltsam stechend riechende Dämpfe in den Keller, so stark und in solcher Menge, daß Nobody von der Falltür zurückweichen mußte, wollte er nicht ersticken. Er merkte schon beim Hinabsteigen, daß die Gase ihm folgten und demnach schwerer sein mußten als die Luft. Es konnte nicht lange dauern, dann füllten sie den ganzen Kellerraum an, und dann mußte jedes lebende Wesen in demselben ersticken. Es blieb also auch dem Eingeschlossenen keine Wahl, als daß er den Verschluß eines Kellerfensters oder die Falltür sprengte. Das letztere aber war natürlich schwerer als das erstere, und schon kletterte Nobody an der schräg abfallenden Mauer empor, da ertönte in den Räumen über ihm eine gewaltige Explosion.

Sofort ließ der Detektiv sich zu Boden gleiten. Jetzt mußte er wissen, was da oben geschehen war, und mutig drang er die Kellertreppe wieder empor, indem er den Atem anhielt. Die giftigen Gase drangen ihm so zwar nicht mehr in die Lungen, aber desto schmerzhafter in die Augen. Er konnte dieselben nur ein wenig offenhalten, und so war die Untersuchung der Falltür doppelt schwierig. Freilich, jetzt brauchte er nicht mehr zu fürchten, durch jedes Geräusch, das er verursachte, die Gauner herbeizulocken, und doch –!

Eben stemmte er die kräftigen Schultern gegen die Tür, um sie mit gewaltiger Anstrengung zu sprengen, da gab dieselbe nach, fuhr nach oben und fiel mit dumpfem Dröhnen rückwärts auf den Boden. In demselben Augenblick traf ihn etwas Nasses ins Gesicht – ein abermaliges lautes Hohngelächter erscholl – Nobody blickte, aufschauend, in das vor teuflischem Triumph förmlich strahlende Gesicht Bauers, der also doch noch im Hause geblieben war – und plötzlich sank der Detektiv wie bewußtlos zurück, taumelte rückwärts und glitt zu Boden, wo er mit geschlossenen Augen liegen blieb.

»So, nun ist er unbedingt verloren. Die Flüssigkeit, die ich ihm ins Gesicht spritzte, hat ihn der Besinnung beraubt, und die Gase werden ihn töten. Esmeralda ist gerächt. Jetzt wollen wir den alten O'Donald schon noch rupfen. Aber ich muß nun auch fort. Die Explosion ist sicher weithin gehört worden – ah – da wird schon gegen die Tür geklopft – Polizei!«

Geräuschlos verschwand der Schurke, und in demselben Augenblick richtete Nobody sich empor, sah jenen die Treppe zum Stockwerk emporeilen, stand selber im Nu im Flur, öffnete aber die von innen verschlossene Tür den Einlaßbegehrenden nicht, sondern durcheilte die im Erdgeschoß liegenden Zimmer, soweit dies möglich war, denn fast in allen stand die Einrichtung schon in hellen Flammen, und am schrecklichsten sah es in dem Raume aus, der angeblich als Niederlage für allerlei Drogen gedient haben sollte. Hier war alles über- und durcheinandergestürzt, und am Boden lag mit brennenden Kleidern, schon vollkommen entstellt, die Leiche jenes unbekannten Mannes, die Nobody selber gestohlen hatte.

Dieser wußte nun genug und kehrte eilig durch das Flammenmeer zur Treppe zurück, stürmte sie empor bis unter das Dach, bemerkte an der ihm entgegenströmenden frischen Luft sofort, daß hier ein Fenster offen stand, erreichte dasselbe, schwang sich hinauf und hinaus und kam auf das flache Dach.

Sofort warf er sich nieder, damit er von der Straße aus nicht gesehen werden konnte, kroch auf allen vieren vorwärts, hinter jeden der beiden Schornsteine spähend, obwohl er im voraus wußte, daß Bauer nicht mehr hier oben war, und erreichte endlich die Brandmauer des Nachbargrundstückes.

Hier lag er im Schatten und durfte sich emporrichten, betastete die vor ihm aufsteigende Wand, fühlte, daß in bestimmten Zwischenräumen kurze eiserne Stäbe in dieselbe eingelassen waren, besann sich nicht lange, kletterte daran empor, kam an eine nach oben aufgemachte Luke, die der Flüchtling jedenfalls vor ihm benutzt hatte, und ließ sich durch dieselbe auf den darunterliegenden Boden gleiten.

Wieder verharrte er geraume Zeit lautlos. Der Lärm, der von der Straße heraufdrang, von den zur Rettung herbeieilenden Leuten verursacht, übertönte jedoch alles andre, und eben wollte Nobody sich zur abwärts führenden Treppe tasten, da merkte er an einer kaum wahrnehmbaren Erschütterung der Dielen, daß sich jemand der Luke nahte, und dann hörte er ein halblautes, höhnisches Gelächter.

Nobody wußte genug. In sich zusammengeduckt wartete er auf den geeigneten Moment.

Jetzt war der Mann vor ihm – ein Griff in den Nacken – ein wuchtiger Hieb zwischen die Augen – Bauer lag bewußtlos in den Armen des Detektivs, der ihn zu Boden gleiten ließ, Streichhölzer hervorzog, in Brand setzte und damit umherleuchtete. Er fand bald, was er suchte, starke, feste Wäscheleinen, und band mit ihnen Hände und Füße des Gauners, so daß dieser sich nicht rühren konnte. Dann sann er einen Augenblick nach, hob den Gebundenen empor und trug ihn langsam die Treppe hinunter.

Es war so, wie er vermutet hatte. In dem Hause, das doch durch das Feuer nebenan am meisten bedroht wurde, rührte und regte sich nichts. Es war unbewohnt, wahrscheinlich ebenfalls von den Gaunern gemietet, um von ihnen als Fluchtweg benutzt zu werden; daher erreichte Nobody unaufgehalten den Flur im Parterre, wendete sich dort zur Hintertür und probierte. Sie war verschlossen.

Ohne den Gefangenen aus den Armen zu lassen, visitierte Nobody ihm die Taschen, zog aus einer einen Schlüsselbund, wählte einen der Schlüssel aus, schob ihn in das Schloß, drehte ihn um und konnte nun die Tür öffnen. Er kam in einen schmalen Hof, der bereits durch die aus den Fenstern des Nachbargrundstückes emporlodernden Flammen mit flackerndem Lichtschein übergossen ward. Lautes Geschrei und Schreckensrufe ertönten von drüben. Man hatte offenbar die Leiche gefunden, die man für die des infolge einer Explosion verunglückten Drogisten hielt. Nobody kümmerte sich nicht darum, öffnete mittels des dazu gehörigen Schlüssels das Hoftor, erreichte die Straße, die vollständig einsam dalag, und eilte nun mit seiner Last dahin, bis er an einen Cabstand kam. Der Kutscher staunte zwar etwas über den Mann, der einen Gefesselten auf den Armen trug, fragte aber nach gar nichts, als Nobody ihm eine Marke vorwies und ein Goldstück in die Hand drückte, und fuhr, so schnell das Pferd nur laufen konnte, davon.

Vor dem Black Carcaß hielt der Wagen. Nobody stieg aus, trug Bauer in das Haus und begab sich zunächst in jenes Zimmer, in dem er Stunden vorher mit den beiden andern Gaunern zusammengetroffen war. Hier durchsuchte er nochmals die Taschen des Gefangenen, fand darin die Blendlaterne, deren sich derselbe im Keller bedient hatte, brannte das Licht darin an und leuchtete nun in das Gesicht des Leichenräubers.

Dieser war inzwischen wieder zu vollem Bewußtsein gekommen, schaute jetzt seinen Ueberwinder mit erschreckten und zugleich wütenden Blicken an, knirschte die Zähne aufeinander und stieß dann einen wilden Fluch hervor.

Nobody lächelte und sagte trocken: »Entschuldigen Sie nur, Mr. Bauer, daß ich Ihnen den Gefallen nicht tun konnte, ganz zu verschwinden. Ich habe nämlich noch einige dringende Geschäfte zu erledigen und möchte noch ein paar Shilling verdienen, damit meine Frau auch nach meinem Tode zu leben hat. Im übrigen möchte ich Ihnen raten, mich künftig hier nicht wieder so zu unterschätzen, wie Sie dies heute taten. Freilich werden Sie auch nicht so bald wieder Gelegenheit haben, sich mit mir zu messen, denn ich hoffe nicht, daß ich nach 15 oder gar 20 Jahren noch zu arbeiten brauche.«

»Nach 15 oder gar 20 Jahren?« wiederholte Bauer. »Sie wollen mich dem Gericht übergeben?«

»Natürlich!« entgegnete Nobody gelassen.

»Sie tun das doch sonst nicht!«

»Stimmt, ich mache aber mit Ihnen eine Ausnahme!«

»Was fordern Sie für meine Freilassung?«

»Hm!« Der Detektiv wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. »Was bieten Sie?«

»Tausend Pfund.«

»Also doppelt so viel wie für mich. Das kann ich nicht annehmen!«

»Ich gehe auch noch höher!«

»So? Wieviel denn?« fragte Nobody, während er unter der Bluse, die er dem Tramp abgenommen hatte, die Kapsel mit den echten Flaschen hervorzog. »Ich will mir's mal überlegen, morgen früh erst mal erfragen, wie hoch Sie sich und Ihr Warenlager bei den verschiedenen Gesellschaften versichert haben. Vielleicht zahlen diese mir noch mehr, als Sie mir bieten können, und dann mache ich natürlich mit ihnen das Geschäft.«

»Sie können sämtliche Versicherungssummen einziehen, wenn Sie mich freilassen!« stieß Bauer hervor. Er mußte doch triftige Gründe haben, seine Auslieferung an die Gerichte zu hintertreiben.

»Haben Sie die Policen bei sich?«

»Nein! Aber sobald Sie meine Fesseln gelöst haben, werde ich Sie mit in meine eigentliche Wohnung nehmen und Ihnen die Scheine dort aushändigen.«

»Hm,« machte Nobody wieder, »das läßt sich hören, hat aber noch Zeit. Vorläufig müssen Sie sich schon noch etwas gedulden, und damit Ihnen die Zeit nicht lang wird, will ich einmal den Inhalt dieses Fläschchens an Ihnen probieren, Sie scheinen mit dem Ihren betrogen worden zu sein.«

Jetzt erst bemerkte Bauer die Phiole in der Hand des Detektivs. Sofort glaubte er, nun die Erklärung gefunden zu haben, warum dieser aus der Ohnmacht erwacht war – er hatte eben das Gegenmittel im Besitz. Doch ehe der Schurke noch weiter denken konnte, hatte Nobody ihm mehrere Tropfen aus dem schwarzen Fläschchen ins Gesicht gespritzt, und sie wirkten überaus prompt, denn Bauer schloß sofort die Augen, und sein Körper streckte sich wie im Starrkrampf. Um jeden Betrug auszuschließen, schob Nobody ihm die Lider in die Höhe und stellte sofort die merkwürdige Verengerung der Pupille fest, die er schon an Doktor Rowland beobachtet hatte. Jetzt hätte Nobody aus dem Manne alle Geheimnisse herausbekommen können, die diesen und seine angebliche Frau betrafen; aber er verschmähte es, auf solche Weise hinter das Treiben der Gaunerbande zu kommen. Das mußte ihm auch gelingen, wenn er allein auf seinen Scharfsinn vertraute.

In den untern Räumen konnte Bauer nicht bleiben, denn es lag nahe, daß er dort gefunden wurde, daher hob Nobody ihn auf, trug ihn die Treppe empor und öffnete dort im Gange eine Tür mittels des Schlüssels, der sich mit an dem Bunde befand. Auch hier oben waren keinerlei Möbel aufgestellt, zeigte nichts, daß die Räume noch vor kurzem bewohnt gewesen waren. Der Staub und Schmutz, der auf den Dielen lagerte, verriet im Gegenteil, daß lange kein menschlicher Fuß diese Zimmer betreten hatte, und daß dies wohl auch nicht so bald geschehen würde. Hier würde niemand den Gefangenen vermuten, und übrigens wollte Nobody ihn ja auch bereits in den Vormittagsstunden abholen lassen. Er legte denselben also auf den Boden und entfernte sich, nachdem er die Tür sorgfältig wieder verschlossen hatte. Von dem, was Bauer bei sich trug, hatte Nobody ihm nur die Silberkapsel mit dem Fläschchen abgenommen. Es brauchte niemand von deren Existenz zu wissen.

Im Hotel angekommen, fand Nobody noch den gefesselten Tramp vor, der jetzt aber sichtlich niedergeschlagen war, seit sich der schwere Rausch verflüchtigt hatte. Die Gedanken, mit denen er sein Hirn während des langen Alleinseins zermartert hatte, mochten keine sehr angenehmen gewesen sein, und offenbar hätte er viel darum gegeben, zu erfahren, was der Detektiv in dieser Nacht an seiner Statt getan hatte. Er sah zu, wie Nobody sich umkleidete, nachdem er sich sorgfältig gewaschen hatte, wie er dann im Nebenzimmer verschwand und nach kurzer Zeit in der Gestalt und Tracht eines reichen Gentleman daraus wieder zum Vorschein kam.

Wie erstaunte der Strolch aber, als dieser feine Herr neben ihm niederkniete, ihm den Knebel aus dem Munde nahm und die Fesseln durchschnitt.

»Stehn Sie auf, Mann!« sagte Nobody. »Sehen Sie zu, daß Ihre Arme und Beine die gewöhnliche Gelenkigkeit rasch wiedererlangen. Dort steht Wasser, wenn Sie sich waschen wollen. Dann legen Sie schnellstens Ihre Sachen wieder an. Ich habe einen Wolfshunger, und ich glaube, Sie nicht minder.«

Der Mann gehorchte schweigend, wusch sich sogar, was er gewiß lange nicht getan hatte, kleidete sich an und wartete der weiteren Entwicklung der Dinge. Nobody aber kümmerte sich zunächst nicht weiter um ihn, bestellte beim Kellner ein tüchtiges Frühstück für zwei Personen und winkte, nachdem serviert war, dem verwunderten Tramp, mit ihm am Tische Platz zu nehmen und zuzugreifen.

»Genieren Sie sich nicht!« sagte Nobody lächelnd. »Ich verdanke Ihnen eine höchst angenehme Nacht, ferner die Bekanntschaft mit einigen ehrenwerten Herren, und zuletzt eine hübsche Einnahme. Uebrigens – dort in Ihrer Brusttasche steckt die Fünfpfundnote, die ich für Sie verdiente, und ich hoffe, ich habe meine Sache gut gemacht. Na, warum essen Sie denn nicht?«

»Herr,« stotterte der Tramp, der noch immer nicht wußte, woran er war, »Sie machen sich über mich lustig!« Und während es tückisch in seinen Augen aufleuchtete, setzte er hinzu: »Jetzt können Sie es ja, später –«

»Was Sie später tun, kümmert mich nichts,« entgegnete Nobody. »Jetzt sollen Sie essen, dann rechnen wir ab, und dann können Sie gehn!«

»Sie wollen mich – fortlassen, nicht der Polizei übergeben?«

»Denke nicht daran!« lachte der Detektiv. »Sie verkennen mich, ich sagte es Ihnen schon gestern.«

Der Mann starrte ihn ungläubig an, mochte aber doch in Nobodys Augen lesen, daß derselbe es ernst meinte, und nun ließ er sich nicht länger nötigen, sondern hieb ein und schlug eine so gute Klinge, daß bald auch die letzte Platte leer war.

»So, nun eine gute Zigarre und ein Glas Wein, dann können wir zum Geschäftlichen übergehn!« sagte Nobody, brannte sich eine Importe an, gab auch dem Strolch eine, schenkte ein, stieß mit ihm an und fragte: »Nun, was berechnen Sie mir als Leihgebühr für Ihre Kleider, sowie als Entschädigung für die kleinen Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen leider nicht ersparen konnte?«

»Nochmal fünf Pfund,« versetzte der Tramp, und da lag auch schon das Geld auf dem Tisch.

»Sonst noch was?«

»Sie verraten mich also nicht?«

»Fällt mir nicht ein!«

»Und Sie haben wirklich das getan, was ich tun sollte?«

»Freund,« lachte da Nobody, »das geht Sie nun wieder nichts an. Seien Sie zufrieden, daß Sie in meine Hände gefallen sind, und im übrigen machen Sie nun gefälligst, daß Sie fortkommen. Ja?«

»Na, denn auf Wiedersehen!« knurrte der Mann und ging. Jedenfalls sann er schon jetzt darüber nach, wie er sich an Nobody rächen könne.

Dieser machte sich noch am Schreibtische zu schaffen, steckte mehrere Gegenstände in die Tasche und lenkte, nachdem er das Hotel verlassen, seine Schritte zur nächsten Untergrundstation, kaufte unterwegs von einem Jungen die neuesten Morgenzeitungen, stieg in den heranrollenden Zug und las im Coupé die Berichte über das durch eine Explosion verursachte Unglück im Hause des Drogisten Bauer. Nur einer der Reporter hatte bereits die Versicherungsgesellschaften ausfindig gemacht, die den entstandenen Schaden zu decken und der Witwe des Verunglückten die für den Todesfall ihres Gatten stipulierten Summen auszuzahlen hatte. Der Mann schätzte den Betrag alles in allem auf rund 200.000 Shilling und mochte damit der Wahrheit ziemlich nahe gekommen sein.

Nachdem er den Zug verlassen hatte, nahm Nobody ein Hansom und ließ sich nach dem Hafen fahren. Dort lag dicht am Kai die allen Engländern bekannte Jacht des Kapitäns Flederwisch, die Wetterhexe, und ihr näherte sich der Detektiv, gab sich dem an Deck wachegehenden Matrosen zu erkennen – eine Handbewegung genügte – und verschwand in der Kajüte.

Eine knappe Stunde weilte er unten, nahm dann abermals einen Wagen, gab dem Kutscher einen Zettel mit Adressen und fuhr von einer Versicherungsgesellschaft zur andern, überall eine Unterredung mit dem Direktor verlangend, und wenn er ging, dann geleiteten ihn die sonst so stolzen Herren persönlich hinaus, verabschiedeten sich mit vielen Dankesversicherungen und tiefen Verbeugungen von ihm. Nobody brauchte zu der Tournee etwa zwei Stunden und beendete sie auf der Polizeistation in Bowstreet. Von dort fuhr er mit zwei Konstablern zum Black Carcaß hinaus, übergab ihnen den noch bewußtlosen Bauer und entfernte sich durch einen Nebenausgang, während die Polizisten den Schwindler in sichern Gewahrsam brachten. Nur das eine hatte Nobody sich allerdings überall ausbedungen, daß der wahre Sachverhalt vorläufig noch verschwiegen würde. Die Aufklärung sollte Worlds Magazine vorbehalten bleiben.

»Hoppla, Vorsicht!« rief Nobody und sprang zur Seite, noch gerade zur rechten Zeit; denn aus der Höhe des dritten Stockes sauste unmittelbar neben ihm von dem Hause hernieder, vor dem er eben stand, ein schweres Granitfenstersims auf das Trottoir. Der vorher abbröckelnde Kalk war zum Warner geworden, und als Nobody emporschaute, war es ihm, als wenn er an dem betreffenden Fenster eben noch das Gesicht jenes Tramps erblickt hätte, den er so anständig behandelt hatte.

»Ja, ja! Fünfhundert Pfund sind auch keine Kleinigkeit,« sagte der Detektiv lächelnd zu sich selber, während er seinen Weg so ruhig fortsetzte, als sei nichts geschehen, »aber die will ich mir selber verdienen, und mit mir kannst du ja doch nicht konkurrieren. Doch jetzt dürfte es Zeit sein, erst mal bei O'Donald vorzusprechen, dann kommt Mrs. Hoalford an die Reihe!«

Im Hause des Millionärs fand Nobody einen richtigen Nachtdienst organisiert und erhielt nicht eher Zutritt, als bis der Privatsekretär O'Brien ihm die Erlaubnis erteilt hatte.

»Sie kommen von Mr. Nobody, wie Sie sagen?« fragte O'Brien, als sie in seinem Zimmer Platz genommen hatten.

»Nein, ich bin selbst Nobody. Was macht Mr. O'Donald?«

»So weit geht's ihm gut, nur ist er recht abgespannt, träumt den ganzen Tag fast stumpfsinnig vor sich hin, als könne er über etwas nicht ins klare kommen –«

»Da führen Sie mich mal zu ihm. Ich bin Arzt. Sie verstehn?«

Jawohl, O'Brien verstand, meldete den Herrn Doktor an und zog sich dann zurück.

Nobody trat zu dem Greise, der ihn fast gar nicht beachtete, und sagte mit gedämpfter Stimme ein einziges Wort.

»Esmeralda!«

»Esmeralda!« wiederholte O'Donald, und sofort veränderte sich sein ganzes Wesen. Er ward auf einmal lebendig, wie ein Lämmerschwänzchen, dachte Nobody.

»Esmeralda ist tot!« sagte er dann. »Sie sind frei, Sir!«

»Frei? Sie ist doch meine Frau, ich habe ihr mein Vermögen verschrieben. Sie wollen mich nur belügen, sie verleumden, doch sie hat mich gewarnt!«

»Wo haben Sie die Verfügung betreffs Ihres Geldes deponiert, Mr. O'Donald?« fragte Nobody mit erhobener Stimme.

»Beim Rechtsanwalt Chapin, Waverleystreet.«

»Er darf das Dokument nicht vor Ihrem Tode aus den Händen geben?«

»Nein!«

»Dann ist's gut!«

Rasch zog Nobody die Silberkapsel hervor, tröpfelte aus dem grünen Fläschchen vorsichtig fünf Tropfen auf einen Teelöffel, den er vom Tische nahm, bat den Greis, den Mund zu öffnen, und schüttete ihm die Flüssigkeit auf die Zunge.

»Schlafen Sie jetzt!« sagte er dabei. »Wenn Sie erwachen, sind Sie gesund und wissen nichts mehr von dieser Esmeralda!«

Darin beruhte ja eben die Wirkung dieser Flüssigkeiten, daß sie Gegenmittel waren, und während die aus dem schwarzen Fläschchen einen an Hypnose erinnernden Zustand hervorrief, hob die aus dem grünen denselben wieder auf. Jedenfalls ließen sich beide Mittel schneller anwenden als eine wirkliche Hypnose, und vor allem wirkten sie auch bei Menschen, denen gegenüber sonst jede Willensübertragung unmöglich war. Der Doktor Rowland hatte da tatsächlich etwas zusammengebraut, was für Verbrecher vom Schlage Bauers vom höchsten Werte sein mußte. Wer die beiden Flüssigkeiten nicht kannte, dem mußte z. B. der Fall des alten O'Donald geradezu rätselhaft vorkommen.

Nobody besaß die beiden Flüssigkeiten, sogar jede doppelt, aber er nahm sich schon jetzt fest vor, dieselben außer in der Affäre Bauer ferner nicht mehr anzuwenden. Er brauchte sie nicht; der Schärfe seines Blickes widerstand kein fremder Wille. Um allen Möglichkeiten jedoch ein für allemal vorzubeugen, begab er sich zunächst zu dem Rechtsbeistande des alten Millionärs, um diesen zu instruieren.

Das Bureau des Mr. Chapin in der Waverleystreet war nicht besonders groß, und dementsprechend schien die Praxis des Inhabers zu sein, aber dieser selbst machte einen äußerst vertrauenerweckenden Eindruck, und derselbe ward bestärkt durch die vornehme Zurückhaltung, mit der er die Fragen des ihm unbekannten Herrn beantwortete. Er änderte sein Benehmen sofort, nachdem er erfahren, mit wem er es zu tun hatte, brachte die letztwillige Verfügung O'Donalds herbei, sagte offen, daß er den alten Herrn bei der Aufnahme derselben für nicht ganz zurechnungsfähig gehalten habe. Jedenfalls sei es am besten, wenn das Dokument sobald wie möglich vernichtet würde. Dann kam er selbst mit einem andern Anliegen heraus.

Ob Mr. Nobody wisse, daß Mr. O'Donald eine Tochter habe? Nein? Sie sei nicht etwa mit ihrem Vater zerfallen, halte sich nur gegenwärtig im Süden auf, müsse dort die Bekanntschaft eines Mannes gemacht haben, der großen Einfluß auf sie gewonnen habe; vielleicht solle der Verkehr zur Ehe führen. Ihm, dem Mr. Chapin, käme jedoch bei der Sache etwas nicht sauber vor. Er habe im Gothaischen nachgesehen, einen Grafen von Bauerbach aber nicht darin gefunden, ob Nobody diesen deutschen Adel kenne, er sei ja, wie man höre selbst ein –«

»Lassen wir meine persönlichen Angelegenheiten hier aus dem Spiele, werter Herr,« unterbrach Nobody den Rechtsgelehrten. »Ich kenne diesen Grafen von Bauerbach ganz sicher und sage Ihnen, daß Sie und Miß O'Donald nichts von ihm zu fürchten haben. Lieb wäre mir, wenn Sie die junge Dame telegraphisch nach Hause rufen könnten. Wann kann sie hier sein?«

Mr. Chapin sah im Kursbuch nach, zeichnete eine Weile auf dem Löschblatt und erwiderte dann, daß Miß O'Donald am folgenden Tage um die gleiche Zeit wie heute im Hause ihres Vaters anzutreffen sein werde. Nobody versprach, sich dort einzustellen, verabschiedete sich dann, begegnete, als er die Treppe hinabstieg, einer verschleierten Dame, die bei seinem Anblick etwas zu erschrecken schien, aber sich sofort wieder faßte und in der Kanzlei des Rechtsanwaltes verschwand.

Nobody hatte sie trotz des Schleiers erkannt. Es war dieselbe Dame, die im Leichenschauhause erschienen war, und der er die falsche Silberkapsel ausgehändigt hatte. Was sie bei Mr. Chapin wollte, konnte derselbe ihm am folgenden Tage jedoch auch noch sagen, jetzt mußte Nobody nach Liverpool, um die Häupter der Fenierverschwörung in Empfang zu nehmen und unschädlich zu machen.

In Belghram Square 8 fand er Mrs. Hoalford, sprach ihr noch einmal Mut zu, ließ sich dann zu ihrem kranken Vater führen, fand denselben dem Tode nahe, aber trotzdem bereit, sein Gewissen durch ein Geständnis zu erleichtern. Was Nobody von dem Fenier erfuhr, gehört nicht hierher. Man müßte eine politische Abhandlung allein über das Wesen des Feniertums schreiben. Es sei nur gesagt, daß zur Zeit, als die hier geschilderten Ereignisse sich abspielten, in London aus Anlaß des Regierungsjubiläums der Königin Viktoria eine Menge fremder Souveräne und Fürstlichkeiten eingetroffen waren, und so schien die Gelegenheit zu einem Hauptstreich für die Verschwörer außerordentlich günstig.

Ehe Nobody den reuigen Fenier verließ, gab er ihm ein Papier zur Unterschrift, stützte den Kranken, während dieser unterschrieb, und sicherte ihm dann mit Bestimmtheit zu, daß jener Mc. Gregor und jener O'Neill aus Patterson noch am Abend wieder nach Amerika zurückkehren würden, ohne an eine Ausführung ihrer Attentatspläne zu denken. Wie Nobody das anfangen wollte, sagte er allerdings nicht, und hier sei gleich erwähnt, daß er aus naheliegenden Gründen nicht einmal Mr. World von diesem Abenteuer in Kenntnis setzte, denn die Fenier hätten sicher sofort das Todesurteil über den kühnen Detektiv gefällt, der ihnen solch einen Streich gespielt hatte, und da sie überall, in allen Erdteilen, in allen größeren Städten Verbindungen hatten, so konnten sie Nobody immerhin in seiner Detektivtätigkeit schaden. Wenn hier trotzdem geschildert werden kann, wie er die Verschwörer düpierte, so danken wir das allein dem uns vorliegenden Tagebuche, dem er auch dieses Erlebnis anvertraute.

 

Die ›Primrose‹ war pünktlich zur angekündigten Zeit in den Hafen von Liverpool eingelaufen und hatte ihre Passagiere an Land gesetzt; unter ihnen auch zwei Herren, denen man sofort am rötlichen Haar und dem ganzen Schädelbau die irische Abstammung ansah, von denen dagegen niemand ahnen konnte, mit welch gefährlichen Absichten sie den Boden Englands betraten. Auf dem Bahnhofe trafen sie zu ihrer Freude mit zwei katholischen Geistlichen zusammen und baten um die Ehre, in deren Gesellschaft nach London fahren zu dürfen.

So kamen die vier zusammen auf der Waterloostreet-Station an, von wo aus die Amerikaner in Cabs davonfuhren. Merkwürdigerweise aber folgten die beiden Kuraten ihnen in einiger Entfernung ebenfalls im Wagen, verließen denselben jedoch an der Ecke von Belghram Square, bogen in dieselbe ein, als niemand mehr in derselben zu sehen war, und stellten sich im Hausflur eines Gebäudes gegenüber der Nummer 8 auf. Von hier aus sahen sie, daß hinter mehreren Fenstern des ersten Stockes ein Licht auftauchte, und wußten nun, wo die beiden Iren wohnten. Die Lauscher aber waren Nobody und Flederwisch, der, allerdings erst nach langem Widerstreben, seinen schönen Bart geopfert hatte, um den katholischen Geistlichen vorstellen zu können.

Die beiden Freunde entfernten sich, begaben sich aber nicht ins Hotel, sondern in ein eigens zu diesem Zwecke gemietetes Zimmer, in dem sie bereits von drei Matrosen aus der Besatzung der Wetterhexe erwartet wurden. Von diesen empfingen sie alles, was zu einer neuen Verkleidung nötig war, und nach Ablauf einer halben Stunde hatte Nobody sich in einen Polizeiinspektor, Flederwisch sich in einen Wachtmeister verwandelt, die drei Matrosen waren Konstabler geworden. Ersterer steckte noch einige amtlich aussehende Papiere zu sich, gab seinen Gefährten kurze Instruktionen, und dann begaben sich alle abermals nach Belghram Square.

Am Hause Nummer 8 klingelte Nobody; Mrs. Hoalford öffnete selbst, erschrak, als sie die Uniformen erkannte, ward aber schnell beruhigt und stieg wieder die Treppe empor, da sie sonst durch zu langes Verweilen leicht den Argwohn ihrer mißtrauischen Gäste hätte erregen können.

Langsam und unter Vermeidung jedes Geräusches folgten ihr die Männer, oben begegnete ihnen Mrs. Hoalford; sie deutete schweigend auf eine Tür, ward im nächsten Augenblick durch den Inspektor verhaftet, der ihr sogar Handschellen anlegte, dann riß er die Tür auf. Flederwisch folgte ihm. Auf dem Gange waren die drei Polizisten, mit Revolvern bewaffnet, zu sehen, zwischen ihnen Mrs. Hoalford.

Mc. Gregor und O'Neill hatten plaudernd am Tische gesessen. Sie sprangen natürlich beim Anblick der Uniformen sofort empor, ihre Hände fuhren in die Taschen, sie suchten sich im Rücken zu decken.

»Keine Aussicht, meine Herren,« sagte Nobody ruhig. »Sie sehen, wir haben die meisten Trümpfe in den Händen« – er meinte die Revolver – »das Haus ist umstellt – also!«

»Sie haben kein Recht, hier einzudringen und friedliche Bürger zu belästigen,« rief Mc. Gregor.

»Stimmt, wohl aber die Häupter der Fenierpartei aus Patterson. Mc. Gregor, O'Neill, im Namen Ihrer Majestät der Königin von England, gegen deren Leben Sie sich verschworen haben, verhafte ich Sie! Hier sind die ordnungsmäßig ausgestellten Haftbefehle! Mrs. Hoalford ist, wie Sie sehen, bereits in unsrer Gewalt!«

»Sie irren sich in uns –«

»Durchaus nicht!« lächelte Nobody. »Im übrigen bin ich beauftragt, Ihnen die Wahl zu lassen zwischen sofortiger Ueberführung ins Gefängnis und der sofortigen Rückkehr nach Amerika. Entscheiden Sie sich, aber rasch, bitte! Es ist Ihnen doch wohl vollkommen klar, daß, falls Sie das erstere wählen, die Stricke für Sie schon bereit liegen. Man hat Beweise genug wider Sie!«

Man kann sich denken, wie verwundert und ungläubig die beiden Männer den vermeintlichen Polizeiinspektor anstarrten. Diese Wendung hatten sie nicht erwarten können, aber sie verstanden auch sofort, weshalb man ihnen den sonderbaren Vorschlag machte. Es war am besten, die Gäste der Königin erfuhren nichts von dem Anschlag, und das war nicht möglich, wenn den beiden gefangenen Feniern der Prozeß gemacht wurde.

»Man will uns unbelästigt entkommen lassen?« fragte O'Neill.

»Jawohl, wenn Sie sich bereit erklären, England sofort wieder zu verlassen. Ich selbst würde Sie an Bord eines Schiffes bringen, das in See sticht, sobald Sie an Bord sind.«

»Donnerwetter!« entfuhr es da Mc. Gregor. »Ich hätte wahrhaftig nicht geglaubt, daß die englische Polizei so anständig sein könnte. Wie konnten Sie aber nur erfahren, daß wir hierherkommen würden?«

»Das wußten wir schon, ehe Sie Patterson verließen,« entgegnete Nobody, »und seit Ihrer Abreise sind Sie auf Schritt und Tritt überwacht worden, zuletzt durch jene beiden Kuraten, mit denen Sie von Liverpool aus im Zuge fuhren.«

»Das waren Spione, Detektivs?«

»Jawohl. Was wählen Sie also?«

»Selbstverständlich die Rückkehr nach Amerika!« riefen die beiden Fenier gleichzeitig.

»All right! Dann bitte dies zu unterschreiben! Es ist das Versprechen, niemals wieder englischen Boden zu betreten.«

»Das unterschreiben wir nicht!«

»Auch gut! Konstabler!«

»Halt! Geben Sie den Wisch her!«

Gleichmütig legte Nobody das bereits von dem Kranken unterzeichnete Dokument auf den Tisch, verdeckte dabei aber, wie um es zu halten, die Schrift, und die beiden Fenier unterzeichneten anstandslos. Sie wollten noch wissen, was Mrs. Hoalford bevorstehe, und Nobody beruhigte sie auch über diesen Punkt. Man werde ihr und ihrem Vater Pässe nach Frankreich zustellen und ihrer Abreise dorthin nichts in den Weg legen.

»Entfernen Sie die Posten vor dem Hause!« befahl der falsche Inspektor dem Wachtmeister. »Die Dame wird einstweilen in ihrem Zimmer bewacht, bis weitere Instruktionen eintreffen, und nun vorwärts, meine Herren! Der Dampfer wartet nicht.« Ohne den geringsten Argwohn gegen ihren Begleiter zu fassen, ohne unterwegs auch nur im geringsten Lust zu zeigen, sich desselben gewaltsam zu entledigen, ließen sich die auf so feine Art düpierten Verbrecher an Bord des Schiffes bringen, dessen Kapitän Nobody genaue Anweisungen gegeben hatte, und der Abschied zwischen den dreien konnte fast freundschaftlich genannt werden.

Am frühen Morgen war Nobody bereits wieder in London, begab sich nach der United Kingdom Bank in Oxfordstreet, legte dem Kassierer jenen Schein vor, den die drei Fenier unterschrieben hatten, und erhielt ohne weiteres die 5000 Pfund ausgezahlt, auf welche der Scheck lautete, denn einen solchen hatte Nobody den Verschwörern zur Unterschrift vorgelegt. Er hatte durch sein neuestes Stücklein nicht nur die fremden Fürstlichkeiten vor den Attentätern geschützt, sondern auch Mrs. Hoalford vor deren Rache gesichert und schließlich in wenigen Stunden eine Summe verdient, die für die meisten Menschen schon ein großes Vermögen bedeutet. Was die Herren Mc. Gregor und O'Neill für Gesichter ziehen würden, wenn sie erfuhren, daß ihre Gelder bereits abgehoben seien, das kümmerte Nobody ebensowenig, wie er etwa befürchtete, daß sie ihn ausfindig machen und meuchlerisch ums Leben bringen würden.

Am Vormittage gönnte er sich einige Stunden der wohlverdienten Ruhe, begab sich dann an Bord der Wetterhexe und hatte mit Flederwisch eine längere Unterredung, bei der er wieder seinen Freund nicht ganz gefügig fand.

»Was wird meine Turandot sagen, wenn sie es erfährt!« jammerte dieser in komischer Verzweiflung. »Du weißt ja, damals auf der Insel, als ich von meinen Kindern redete – ach, du heiliger Schubsack, damals ist mir's aber wahrhaftig traurig gegangen. Meine armen Ohrläppchen! Und jetzt soll ich gar den Bräutigam einer schönen und reichen jungen Dame spielen, soll sie womöglich küssen –«

»Natürlich!« versetzte Nobody trocken.

»Siehst du! Nein, nein, dazu kriegst du mich nicht.«

Trotzdem begleitete er Nobody eine Stunde später zu dem Rechtsanwalt Chapin; freilich, jetzt hätte er in Gegenwart Turandots hundert reizende junge Damen küssen können, sie hätte ihn nicht bei den Ohren gekriegt; denn sie hätte ihn nicht erkannt. Durch Nobodys Kunst hatte er sich in einen ganz andern verwandelt, in einen vornehm gekleideten Vertreter der oberen Zehntausend, und er ähnelte nunmehr fast jenem Mr. Bauer, der bereits im Gefängnis saß.

Bei Mr. Chapin wartete der Freunde eine neue Ueberraschung, denn sie trafen dort Miß O'Donald an, und kaum hatte diese den Kapitän Flederwisch in seiner jetzigen Gestalt gesehen, da sprang sie auf, eilte auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch, küßte ihn mit leidenschaftlicher Glut mehrmals, überhäufte ihn dann aber auch mit tausend zärtlichen Vorwürfen, und der brave, tugendhafte Ehemann, der solche Angst vor seiner Frau hatte, ließ sich die Liebkosungen von seiten der jungen Millionärin nicht nur ganz gern gefallen, sondern war auch sofort bereit, mit ihr das Bureau des Rechtsanwaltes zu verlassen und mit in ihr Haus zu kommen. Flederwisch erfüllte allerdings durch diese Bereitwilligkeit einen Teil der ihm von Nobody erteilten Instruktionen, und deshalb ließ dieser ihn auch ohne weiteres fort. Die Hauptsache war, daß der Mann, der Betrüger, der sich als Graf Bauerbach an Miß O'Donald gemacht hatte, identisch war mit dem Leichenräuber und Versicherungsschwindler Bauer. Er schien demnach sich auch auf den Fang reicher Erbinnen zu legen, wie seine Frau, vermutlich aber nur seine Geliebte, alternde vermögende Männer einfing, sie entweder durch Gift oder sonstwie möglichst schnell um den Rest ihres Daseins brachte und dann die ihr laut letztwilliger Verfügung vermachten Summen einstrich. Was diese Esmeralda sonst noch als Nebenbeschäftigung trieb, sollte Nobody bald genug aus eigner Anschauung erfahren.

Jetzt blieb er also zunächst allein mit dem Rechtsanwalt, der ihn aufs höchste erstaunt ansah.

»Und das soll die junge Miß O'Donald noch sein, die sich hier vor meinen Augen Ihrem Begleiter förmlich an den Hals warf wie eine vom Weine trunkene Mänade? Die hätte sich ja ganz und gar verändert, und nicht zu ihrem Vorteil! Sagen Sie mir nur dies einzige Mal, wer war denn der Herr, den sie so wütend abschmatzte?«

»Das wissen Sie nicht, Mr. Chapin?« lächelte der Detektiv. Er trug sich jetzt etwa wie ein Landedelmann, der unter den Bauern und über den ländlichen Sitten noch nicht ganz vergessen hat, daß auch er einst in den Salons der vornehmen Welt zu verkehren verstanden hatte.

»Nein, das weiß ich allerdings nicht,« antwortete der Rechtsanwalt, noch immer den Kopf schüttelnd.

»Das war doch der Graf von Bauerbach, der Verlobte der Dame!«

»Das war er in der Tat? Na, hören Sie, der sieht nicht aus wie ein deutscher Graf. Seine Grafschaft liegt wahrscheinlich auf dem Monde!«

»So?« entgegnete Nobody. »Vergessen Sie denn ganz, daß der Herr in meiner Begleitung hier erschienen ist, und daß –«

»Ach ja, verzeihen Sie nur, Sir, ich bin ganz außer mir, ich kenne doch Miß O'Donald schon so lange, prüde war sie nie, nein, durchaus nicht, aber auch nicht – na, ich will sagen – weggeworfen hat sie sich ebensowenig.«

Die Verzweiflung des alten Herrn war offenbar echt und groß, er konnte sich nicht fassen, und daher hielt Nobody es für richtig, auch ein Wort der Beruhigung zu sprechen. Er kam nicht dazu, denn Mr. Chapin war schon auf ein andres Thema geraten, das aber einige Verwandtschaft mit dem vorigen hatte.

»Haben Sie gestern, als Sie mich verließen, die Dame gesehen, Mr. Nobody? Sie müssen ihr noch begegnet sein!«

»Allerdings, konnte jedoch nicht viel außer der Gestalt sehen, weil sie dicht verschleiert war.«

»Wie gefiel sie Ihnen nach der ganzen Erscheinung? He, war das nicht ein Rasseweib?«

»Um ein solches Urteil über sie fällen zu können, habe ich sie nicht genau genug gesehen. Ihnen scheint sie es aber bereits angetan zu haben!«

Mr. Chapin machte sich in sichtbarer Verlegenheit an seinem Schreibtisch zu schaffen, sagte dabei über die Schulter: »Reine Freude am Schönen ziert jeden Mann; doch wissen Sie, wer sie ist?«

»Habe keine Ahnung, wie sie sich nannte!« erwiderte Nobody, und der Ton, den er auf diese Worte legte, bewirkte, daß der alte Herr sich sofort zu ihm umdrehte.

»Wie sie sich nannte?« wiederholte er. »Das klingt ja beinahe, als wenn Sie behaupten wollten, die Dame führe verschiedene Namen?«

»So dürfte es auch sein. Bitte, unter welchem Namen stellte sie sich Ihnen vor?«

»Aber ich verstehe nicht, sie ist über jeden Verdacht erhaben – ist Frau Esmeralda Bravalla – Bravalla – der Rubinenkönig! Vielmehr die Witwe! Sie brachte mir eine gesiegelte Bescheinigung von der Hand dieses Multimillionärs, daß sie berechtigt sei, das für diesen bei mir deponierte Geld – netto 250.000 Shilling – in Empfang zu nehmen.«

»Den Totenschein hatte sie auch gleich mit?« fragte Nobody ruhig.

»Jawohl, alles in Ordnung! Ich habe sie auf heute wiederbestellt, will ihr den Betrag gegen Quittung in Gegenwart eines Zeugen aushändigen. Wenn Sie derselbe sein wollten? Sie muß jeden Augenblick kommen!«

»Aha, eilig, verdammt eilig hat sie es. Na, Mr. Chapin, ich will Ihnen etwas sagen, ganz im Vertrauen! Verraten Sie es aber ja niemandem weiter!«

»I, Gott bewahre! Was denn?«

»Nichts weiter, als daß Sie Gott dafür danken können, daß ich zu Ihnen gekommen bin. Sie hätten heute 250.000 Shilling eingebüßt!«

»W»s?«

»Jawohl, denn Senor Bravalla lebt, denkt nicht daran, zu sterben. Einen Augenblick! Drehen Sie sich doch mal etwas dem Fenster zu. So! Danke! Es genügt!«

»Aber mein allerbester Mister Nobody –!« begann Chapin zu betteln.

»Gleich, gleich! Bleiben Sie nur ja so stehn! Noch eine Sekunde. All right!«

Nobody hatte plötzlich einen Entschluß gefaßt, zu dessen Durchführung er das Aeußere des Rechtsanwaltes annehmen mußte, und so hatte er mit der nur ihm eignen Fertigkeit die Umwandlung bewirkt. Jetzt griff er gemütlich nach dem Haar Mr. Chapins, zog es ihm vom Kopfe, denn der Alte trug eine Perücke, glaubte jedoch, daß niemand das wisse. Nobody setzte sie sich auf und sagte, ohne anscheinend den Zorn und die Bestürzung des Alten zu bemerken: »Nun geben Sie mir rasch Ihren Rock, hier ist der meine!«

»Ja, aber was wollen Sie denn nur?«

»Ihnen 250.000 Shilling erhalten, Mr. Chapin!«

»Und meine Perücke?«

»Kriegen Sie unversehrt wieder! Jetzt treten Sie gefälligst in dieses Zimmer und rühren sich nicht, was Sie auch hören mögen!«

Nobody schob den Rechtsanwalt, der noch immer nicht wußte, ob das Ganze nur ein schlechter Scherz oder bitterer Ernst sei, in den Nebenraum, verschloß die Tür, deren Glaseinsatz mit einem Vorhang verhüllt war, so daß man jedenfalls von drüben das Bureau vollkommen übersehen konnte, und setzte sich selbst ganz in der Weise des alten Herrn in den Schreibstuhl.

Es war höchste Zeit gewesen, daß er dies tat, denn schon ging draußen die Tür des Vorzimmers, man hörte den dort arbeitenden Clerk einer Dame antworten, dann erschien derselbe im Bureau, stutzte, als er den Fremden nicht mehr darin erblickte, meldete aber dann Senora Esmeralda Bravalla.

Die Dame wurde vorgelassen, rauschte herein, verbeugte sich flüchtig, nahm in dem angewiesenen Sessel Platz, lüftete den Schleier und ließ einen Glutblick aus ihren dunklen Augen über den falschen Rechtsanwalt schweifen. Dazu kam, daß die Frau es auf geradezu raffinierte Weise zu verstehn schien, ihre etwas reife Schönheit zur Geltung zu bringen, und bekanntlich übt auf viele Männer, die sonst gar nicht verliebter Natur sind, gerade ein vollerblühtes, üppiges Weib eine geradezu unerklärliche Anziehungskraft aus. Dessen war sich diese Esmeralda Bravalla offenbar recht gut bewußt. Sie suchte, ohne aufdringlich zu werden, den alten Herrn langsam, aber sicher in ihre Netze zu locken, ahnte freilich nicht, daß sie selbst bereits in einer Falle saß, aus der es kein Entrinnen gab.

»Sie versprachen mir bei meinem gestrigen Besuche, für heute die 250.000 Shilling bereitzuhalten, Mr. Chapin. Haben Sie Wort gehalten?«

»Das Geld liegt zum Auszahlen bereit!« entgegnete der Rechtsanwalt oder vielmehr Nobody langsam.

»Ah, das ist nett von Ihnen!« rief Esmeralda befriedigt und sprang auf, setzte sich aber gleich wieder, zog nur den Sessel dicht neben den Schreibtisch, legte ihre kleinen Hände auf den Arm des alten Herrn, stutzte, errötete über und über und zog sie hastig wieder zurück, als wenn sie sich die Finger verbrannt habe.

Nobody wußte sehr wohl, warum sie das tat. Sie hatte nicht geglaubt, daß der bejahrte Rechtsanwalt noch so stramme Muskeln besäße; das stimmte gar nicht mit seinem faltenreichen Gesicht. Sie schaute ihn mißtrauisch von der Seite an, fand aber nichts, was ihren plötzlich aufsteigenden Verdacht hätte begründen können, und fragte mit berückendem Tonfall ihrer an sich melodischen Stimme: »Nicht wahr, Sie zahlen mir den Betrag jetzt aus, Mr. Chapin?«

»Ja, sobald das Geschäftliche in Ordnung gebracht ist!«

»Ist denn auf diesem Gebiete noch etwas zu regeln?«

»Ich glaube. Sagen Sie mir doch, Mrs. Bravalla – ich habe den Schein nicht hier liegen, müßte erst aufstehn – wann starb Ihr Herr Gemahl doch gleich?«

»Heute wird gerade eine Woche voll, seit er in meinen Armen verschied!« seufzte Esmeralda, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Und wo war das?«

»In der Sonora.«

»Das heißt im Innern Mexikos? In jenen unwirtlichen Gegenden, die nur von Goldgräbern betreten werden?« fragte Nobody.

»Ja, dort war es. Aber warum –«

»Einen Augenblick, Mrs. Bravalla. Ich will nur etwas nachsehen!«

Er erhob sich, trat ganz in der Weise des echten Mr. Chapin zu einer an der Wand hängenden Karte von Nordamerika, fuhr mit dem rechten Zeigefinger über die verschiedenen Staaten von Mexiko, machte auf einem Punkte Halt, sagend: »Da haben wir die Sonora. Wie hieß doch der Ort?«

»Placer Nabogame!« erwiderte die Dame nach kurzem, kaum merkbarem Zögern.

»Das wäre hier! Hm, allerdings mitten in der unwirtlichen Bergwelt. Ein sonderbarer Herr, dieser Senor Bravalla. Sie verzeihen schon! Was wollte er denn nur dort?«

»Wer weiß es! Vielleicht hoffte er neue Edelsteinlager zu finden. Doch bitte, Mr. Chapin, das alles hat ja mit unserm Geschäft nichts zu tun. Meine Zeit ist gemessen!«

»Ach so! Ja, das Geld! Warten Sie, hier ist der Totenschein; das Datum stimmt! Sie sind sehr schnell gereist; ich dachte, man brauchte zu dieser Strecke mindestens vier Wochen, um nach London zu gelangen.«

Nobody sah, wie die Dame ihm schnell einen zornflammenden Blick zusandte, dann aber lachte sie sofort silberhell auf.

»Sie glauben doch nicht etwa, daß ich den Senor Bravalla in die Sonora begleitet habe?«

»Durchaus nicht!«

»Dann kommt doch auch die Entfernung nicht in Frage!«

»Für Sie nicht, aber für dieses Dokument,« entgegnete Nobody kopfschüttelnd. »Es ist heute vor acht Tagen ausgestellt, und gestern schon konnten Sie es mir übergeben. Ich verstehe das nicht.«

Er stellte sich keineswegs mißtrauisch, sondern markierte nur den pedantischen Rechtsgelehrten, bei dem alles stimmen muß. Der wirkliche Mr. Chapin hätte allerdings die hier vorliegende Unwahrscheinlichkeit nicht herausgefunden – aus einem ganz bestimmten Grunde nicht.

»Sie sind heute ein geradezu schrecklicher Mensch!« schmollte Esmeralda, indem sie aufsprang und neben ihn trat. »Was kümmert uns denn nur, wie dieses Schriftstück die Reise so schnell hat zurücklegen können? Das Siegel und die Unterschrift sind echt, das Geld liegt bereit, also machen Sie keine Umstände weiter. Ich werde mich Ihnen aufrichtig dankbar bezeigen!«

Ihre Augen leuchteten ihn verheißungsvoll an, ihr Busen wogte wie unter leidenschaftlicher Erregung, und plötzlich schlang sie beide Arme um Nobodys Nacken, wollte ihn küssen – es krachte im Nebenzimmer – erschrocken wich sie zurück.

»Was war das? Ist jemand da drin?« stieß sie mit veränderter Stimme hervor, war auch schon an der Tür, suchte sie vergebens zu öffnen.

Nobody lachte innerlich. Der arme Mr. Chapin mochte Höllenqualen ausstehn, sich vorkommen wie der selige Tantalus.

»Es wird ein Aktenbündel zu Boden gefallen sein,« sagte er so nebenbei.

»Oeffnen Sie die Tür! Ich will es! Ich muß sehen, ob sich jemand dort verbirgt!« forderte Esmeralda jedoch so ungestüm, daß der alte Herr sie verwundert anschaute. Doch sie kümmerte sich nicht darum, sondern blieb an der Tür stehn, suchte durch den Vorhang in den dahinterliegenden Raum zu blicken. Sie war so erregt, daß sie nicht einmal die Schritte im Vorzimmer hörte, fuhr erst herum, als jemand in das Bureau trat.

»Was – tust – wollen Sie – hier?« stammelte sie, bis in die Lippen erblassend, als sie den Herrn erblickte, der seinerseits ganz betroffen im Türrahmen stehn blieb. Es war der Graf von Bauerbach, alias Kapitän Flederwisch, der Nobody noch hier zu finden gehofft hatte und nicht ahnte, daß er ihn vor sich sah.

»Warum erschrecken Sie so?« wendete der falsche Mr. Chapin sich jetzt an die Dame. »Sie kennen doch sicher diesen Herrn!«

»Ich? Was fällt Ihnen ein? Wer ist es?«

»Merkwürdig!« versetzte Nobody trocken. »Sonst pflegt doch keine Frau ihren Gatten zu verleugnen!«

Sofort richtete die Betrügerin sich stolz empor. Ihre Augen stammten drohend.

»Sie beleidigen mich, Mr. Chapin!« zischte sie wütend.

»Na, ist denn das nicht Ihr Gatte, Mrs. – Bauer?«

Im Nu fuhr die rechte Hand der Entlarvten in die Tasche, brachte die bekannte Silberkapsel daraus zum Vorschein. In demselben Moment aber riß Nobody die Perücke vom Haupte, die Falten in seinem Gesicht verschwanden wie durch Zauberei. Esmeralda prallte fassungslos einige Schritte zurück, mußte sich gegen die Wand lehnen, um nicht niederzusinken.

»Du bleibst an der Tür, läßt sie nicht entwischen!« rief Nobody seinem Freunde zu, wendete sich dann wieder an die Frau, zeigte ihr die echte Silberkapsel und sagte ironisch: »Geben Sie sich keine Mühe, Frau Bauer. Die Fläschchen, die Sie besitzen, enthalten nur Wasser. Ich gab sie Ihnen damals im Leichenschauhause. Wissen Sie noch?«

»Die alte – Frau – waren Sie?«

»Jawohl! Und am selben Tage traf ich seltsamerweise den Senor Bravalla, der vor acht Tagen in der Sonora in Ihren Armen gestorben ist. Am Morgen darauf sahen wir uns im Hause des Mr. O'Donald, mit dem Sie eben von der Registeroffice kamen, frisch getraut! – Nun, meine Dame?«

Kapitän Flederwisch fühlte sich in seiner Rolle als Graf Bauerbach an sich schon nicht wohl. Er hatte außerdem eben eine schwere Stunde erlebt, aber getreulich den einmal übernommenen Auftrag durchgeführt, und als er nun hierhereilte, um Nobody über das Geschehene zu berichten, da fand er diesen schon wieder im Kampfe mit einem betrügerischen Weibe. Zum Teufel, eben noch war er der Verlobte einer Millionenerbin gewesen, jetzt galt er schon wieder als Gatte dieser schönen Frau. Er sah, daß sie eine Weile regungslos dastand, daß nur das heftige Wogen ihres Busens den in ihr tobenden Sturm von Gefühlen und Leidenschaften verriet, plötzlich aber machte sie eine Bewegung, als wolle sie auf ihn zueilen. Durfte er sie hinauslassen?

Die Entscheidung blieb ihm erspart. Ein einziger Ruf Nobodys bannte das Weib an seinen Platz. Mit Augen, die wie glühende Kohlen funkelten, musterte es seine Gegner, und dann erklang die Stimme Nobodys, ruhig, gleichmäßig und doch durchdringend: »Esmeralda Bauer, Ihre Rolle ist ausgespielt, wie Sie sehen. Ihr Helfershelfer sitzt bereits hinter Schloß und Riegel, Ihre eignen Pläne sind von mir durchkreuzt worden und vollkommen mißglückt, so raffiniert sie auch angelegt waren. Es bleibt Ihnen nicht einmal mehr ein Ausweg zur Flucht offen – haben Sie mir noch etwas zu sagen?«

Da knirschte die Entlarvte die weißen Zähne aufeinander, und mit schriller Stimme stieß sie hervor: »Sie haben zwar vorläufig gesiegt, Sie dürfen über meine Unvorsichtigkeit spotten, doch lange sollen Sie sich Ihres Triumphes nicht freuen. Sie werden bald aufgehört haben, ein Schrecken für alle außerhalb der Gesetze Stehenden zu sein. Das Todesurteil ist bereits über Sie gesprochen –«

»Und eine Belohnung von 500 Pfund auf meinen Kopf gesetzt,« vollendete Nobody lächelnd. »Beruhigen Sie sich, Mrs. Bauer, die Summe wird ganz bestimmt in meine eigne Tasche fließen. Ich werde mich selbst in das ›Schlangennest‹ wagen, damit die Herren sich meinetwegen nicht erst die Beine wegzulaufen brauchen.«

»Ah, spotten Sie immerhin, unsrer Rache entgehn Sie doch nicht, denn ich hasse Sie, ich schwöre Ihnen hier zu, daß ich nicht eher ruhen werde, als bis ich Sie gefesselt zu meinen Füßen liegen sehe, und dann will ich Sie auf die fürchterlichste Weise zu Tode martern!«

»Danke verbindlichst, doch da muß ich erst mal den Doktor Rowland fragen, ob das meiner Gesundheit auch nichts schadet,« lachte Nobody.

Die Frau erschrak heftig, als sie den Namen dieses Giftmischers hörte. Sie konnte nicht mehr bezweifeln, daß diesem Detektiv alle ihre Verbrechergenossen bekannt waren. Ihr Gehirn arbeitete geradezu fieberhaft, um eine Möglichkeit zum Entkommen und zur Rache zu finden, und plötzlich sagte sie mit halblauter Stimme: »Sie sind ein Teufel, Mr. Nobody! Lassen Sie uns einmal ohne Zeugen miteinander reden.«

»Gern!« erwiderte er und winkte schon Flederwisch, das Zimmer zu verlassen. Dieser verschwand sofort, denn er wußte, daß sein Freund keines Beistandes bedurfte, um die Betrügerin sich vom Leibe zu halten. Er dachte unwillkürlich, daß dieselbe eine gewisse Aehnlichkeit mit jener Carmencita habe, in deren Netze er einst selber geraten war, und draußen im Vorzimmer murmelte er zum Erstaunen des Clerks eine ganze Weile vor sich hin – die Worte jenes Gedichtes, das ihm lange als Evangelium erschienen war: ›So sei'n verflucht die Weiber –!‹ – –

Esmeralda trat dicht vor Nobody, ihre Blicke bohrten sich in seine Augen, flammend, verheißungsvoll, flehend und zugleich drohend. Ihre Brust atmete ungestüm, die weißen Zähne wurden zwischen den roten, schwellenden Lippen sichtbar, und dann –

»Nobody,« raunte sie ihm zu, »warum verfolgen Sie mich? Sind Sie nicht ein edler Mann, dem es als eine Schmach erscheint, ein wehrloses Weib zu verraten? Doch nein, so will ich nicht sprechen. Ich will Sie auf den Knien anflehen, daß Sie Erbarmen mit mir haben, denn was ich sündigte, das tat ich unter dem Zwange eines dämonischen Menschen, dem ich mich nicht entziehen konnte –«

»Genug!« rief Nobody, sie unterbrechend. »Wir spielen nicht Theater! Sparen Sie sich alle weiteren Worte!«

»Ah, du glaubst mir nicht? So sieh mich hier zu deinen Füßen, höre es von meinen Lippen, daß ich dich liebe, und dann sieh mich an! Bin ich nicht schöner als tausend meines Geschlechts? Dir, dir allein will ich gehören, durch deine Liebe will ich mich läutern lassen!«

Das leidenschaftliche Weib umklammerte mit weichen Armen den Mann, den es betören wollte, aber als es nun die Augen zu ihm erhob, weil er kein Wort erwiderte, da sprang es mit einem wilden Schrei empor. Noch nie hatte es in ein Antlitz geschaut, so voll abgrundtiefer Verachtung, wie dasjenige Nobodys jetzt war, und nun stand Esmeralda totenblaß, zitternd vor Zorn ihm gegenüber.

»Schlange!« sagte er mit schneidender Stimme. »Du also hast euerm Bunde den Namen gegeben! O, daß auch du den Namen Weib führen darfst!«

Er wendete sich ab, wie um die Verbrecherin nicht mehr ansehen zu müssen, da riß diese vom Schreibtisch eine spitze Papierschere, wollte sie dem Verhaßten meuchlerisch in den Rücken stoßen. Eine schnelle Bewegung, und Nobody hatte das Handgelenk des erhobenen Armes erfaßt – mit einem Schmerzensruf taumelte das Weib zurück.

»Schon war ich entschlossen, dich laufen zu lassen, denn bald mußt du ja auch ohne mein Zutun deine verdiente Strafe finden, nun aber will ich selber dich unschädlich machen, die letzte Rücksicht beiseite setzen, die ich deinem Geschlecht schuldig zu sein glaubte!«

»Was wollen Sie tun?« stieß Esmeralda hervor, die auf einmal mit scheuen Blicken den Mann betrachtete, dessen Augen erglänzten wie der harte Stahl einer gezückten Klinge.

»Die Hände her! Doch nein, es bedarf der Fesseln nicht, um dich gefügig zu machen. Vorwärts, geh voran! Du bist die Sklavin meines Willens!«

Machtvoll ruhten die Augen des Detektivs auf dem Antlitz des Weibes. Dasselbe wendete sich schweigend der Tür zu, öffnete sie und schritt an Kapitän Flederwisch vorüber, ohne ihn zu beachten, hinaus auf die Straße. Er folgte beiden, stieg auf einen Wink des Freundes auch in den Wagen und fuhr mit, staunend auf die Frau blickend, die mit starren Augen ihm gegenübersaß, während der Wagen durch die Straßen rollte.

»Wo befindet sich das Schlangennest?« fragte Nobody mit scharfer Stimme.

»Im Black Carcaß!«

»Sind die Genossen dort versammelt?«

»Sie kommen heute um Mitternacht.«

»Du wirst mich dorthin führen. Ich bin dein Gefangener. Du hast dir den Preis verdient, der auf meinen Kopf gesetzt ist, wirst dir die Summe sofort auszahlen lassen und dann deine Genossen auffordern, eine martervolle Todesart für mich zu ersinnen! Wirst du das tun?«

»Ich werde es tun!« erwiderte sie wie mechanisch.

»Gut! Ehe wir den Versammlungsraum betreten, wirst du mir die Hände binden!«

»Ja.«

»Flederwisch,« wendete Nobody sich an diesen, »du hast gehört, um was es sich handelt. Du begibst dich jetzt zunächst zu dem Senor Bravalla, nimmst ihn mit auf die Wetterhexe, brauchst ihm nur den Namen Esmeralda zu sagen. Punkt 12 Uhr erscheinst du dann mit ihm und einem Dutzend unsrer Leute im Black Carcaß. Ihr besetzt die Ausgänge des Raumes, in den man mich bringen wird, und sobald ihr hört, daß ich ›Bravalla‹ rufe, stürmt ihr herein. Wir wollen das Nest gründlich ausnehmen. Ich werde dafür sorgen, daß alle Schlangen darin sind.«

Jeder Einspruch gegen diesen tollkühnen Plan wäre vergeblich gewesen. Selbst vor noch größeren Gefahren war ja Nobody noch nicht zurückgeschreckt. Kapitän Flederwisch nickte also. Er würde auf dem Posten sein.

Nach kurzer Zeit hielt der Wagen vor dem bereits beschriebenen Durchgangshause. Die drei stiegen aus, betraten es, und Esmeralda geleitete sie über Treppen und Gänge in ein abgelegenes, geräumiges Zimmer, zu dem sie einen Schlüssel besaß. Es war ganz genau so behaglich ausgestattet wie das Wohnzimmer einer Bürgerfamilie, nur mehr Stühle waren vorhanden, und große Schränke an den Wänden schienen die Gegenstände zu enthalten, deren sich die Verbrecher bei ihren Verkleidungen bedienten. Nirgends war das Zeichen des Geheimbundes zu bemerken.

Auf einen Wink Nobodys entfernte Flederwisch sich sofort wieder, auf dem Rückwege sich genau über alle Merkmale orientierend, die er zum Wiederfinden des Zimmers benötigte. Esmeralda aber öffnete einen Kasten, nahm einen derben Strick heraus, fesselte mit demselben Nobody und setzte sich dann auf einen Stuhl, nachdenklich den Kopf auf eine Hand stützend. Sie bemühte sich vergeblich, aus dem hypnotischen Zustand zu kommen, in den die Blicke des Detektivs sie versetzt hatten.

»Du kannst mich nicht hier lassen,« sagte dieser da. »Du mußt mich in einem Nebenraum oder sonstwo verbergen, wo mich deine Freunde zunächst nicht sehen. Dein Triumph wird nur größer sein, wenn du mich vor sie führst.«

Sofort erhob sich das Weib, faßte Nobody am Arme, öffnete eine Tapetentür, die zu einem ganz engen Kämmerchen führte, und schob ihn hinein.

»Jetzt rufst du alle Glieder des Bundes auf heute nacht hierher!« befahl Nobody weiter. »Geh und vergiß niemanden!«

Da schloß Esmeralda die Tür, verließ auch den vordem Raum; der kühne Mann war allein im Versammlungslokal einer verrufenen Verbrechergesellschaft, und kaum waren die Schritte der Frau draußen verhallt, da stand Nobody schon im vordern Zimmer. Die Fesseln hatte er ohne jede Mühe abgestreift, obwohl sie fest genug gewesen waren, und nun begann er seine Untersuchung.

»Ob die Kerle wohl etwas Anständiges zu essen und zu trinken dahaben?« sagte er zu sich selber. »Doch wahrscheinlich! Ich habe gerade tüchtigen Appetit.«

Da die Schlüssel an den Schränken steckten, konnte er sie ohne weiteres öffnen und tat das, fand zwar eine Menge interessanter Dinge, aber nicht, was er suchte. Erst ganz zuletzt entdeckte er in einem Kasten einen Korb mit Lebensmitteln und mehrere Flaschen Wein, setzte sich gleich auf den Boden und begann zu schnabulieren – daß es seine Henkersmahlzeit sein könnte, kam ihm nicht in den Sinn, trotzdem er doch keineswegs wußte, wie zahlreich die Mitglieder der Verbrechervereinigung waren, und ob er auch mit Hilfe der bestellten Leute sie zu überwältigen vermochte. Ebensowenig gab er sich Mühe, die Spuren zu beseitigen, durch die verraten werden konnte, daß er hier eine Mahlzeit gehalten hatte. Von den zahlreich vorhandenen Waffen steckte er ebenfalls keine zu sich.

Langsam kehrte er in sein Versteck zurück, legte dort die Fesseln wieder an, kauerte sich gemütlich in eine Ecke und schlief alsbald ein. Er erwachte erst wieder, als die Türe zum Vorderzimmer geöffnet wurde und jemand dasselbe betrat. Von nun an entging ihm natürlich kein Laut mehr, und später, als mehr und mehr Verbrecher sich einfanden, belauschte er ihre Worte. Sie konnten sich nicht denken, aus welchem Anlasse sie alle bestellt worden waren, doch dem Rufe Esmeraldas waren sie ohne Zögern gefolgt, ein Beweis, welches Ansehen sie in dem Bunde genoß. Was Nobody sonst hörte, bewies ihm, daß die Gauner hauptsächlich als sogenannte ›Resurrectionsmen‹ arbeiteten, das heißt, Leichen raubten und sie entweder zu Versicherungsschwindeleien benutzten oder zu anatomischen Zwecken an Institute oder an einzelne Gelehrte verkauften, ein Unwesen, das zu jener Zeit in ganz England, namentlich aber in London arg verbreitet war. Selbstverständlich nahmen die Schufte den Toten die Schmucksachen und Kleider ab.

Mehrmals vernahm Nobody auch seinen eignen Namen, und zwar stets in Verbindung mit Bauer und dem von dieser ausgesetzten Belohnung. Die meisten der Anwesenden bezeichneten es jedoch als eine pure Unmöglichkeit, den berühmtesten aller Detektiven unschädlich zu machen.

Kurz vor Mitternacht entstand draußen eine merkliche Unruhe.

»Jetzt geht's los!« sagte Nobody bei sich selber, und schon ertönte die Stimme Esmeraldas.

»Brüder vom Schlangenzeichen,« rief sie, »ich habe euch zusammenberufen, um euch eine Freudennachricht zu verkünden. Die Stunde der Abrechnung mit unserm gefährlichsten Feinde ist gekommen. Nobody ist in unsrer Gewalt!«

Eine Minute lang blieb alles still. Die Worte mochten geradezu überwältigend wirken, dann aber brach ein Tumult los, daß die Wände bebten, und schreiend, johlend, drohend verlangten alle den Gefangenen zu sehen.

Esmeralda machte eine Handbewegung nach der Tür, sie ward stürmisch aufgerissen, und ein wirres Durcheinander von Händen streckte sich nach dem Detektiv aus, doch keine packte ihn.

Hochaufgerichtet trat Nobody ihnen entgegen, ein verächtliches Lächeln um den feingeschnittenen Mund. Wie wenig kannten die Verbrecher ihn, daß sie glauben konnten, er ließe sich von einem Weibe fangen! Aber so groß war auch diesen verkommenen, rachgierigen Menschen gegenüber die Macht seiner Persönlichkeit, seiner Blicke, daß er unangetastet bis vor den Stuhl schreiten konnte, den Esmeralda einnahm. Die beleidigenden Rufe, die hinter ihm erklangen, hörte er nicht; er selber sagte auch kein Wort, stellte dagegen fest, daß sich fünfundzwanzig Männer in dem Räume befanden.

Während diese ihn umringten und teils neugierig, teils drohend auf ihn blickten, erhob sich die Frau und bat ihre Freunde, genau so, wie Nobody es ihr befohlen hatte, eine Marter fürchterlichster Art für den Gefangenen zu ersinnen.

Es ist hier kein Platz, um alle die Vorschläge wiederzugeben, die von den Schurken gemacht wurden. Es sei nur erwähnt, daß wohl jedem andern Manne an Nobodys Stelle nicht gerade behaglich zumute gewesen wäre. Er aber lächelte nur still vor sich hin, und als die Männer nicht einig werden konnten, da jeder seinen Vorschlag für den besten hielt, bedurfte es nur eines Blickes aus den Augen des Detektivs, und sofort stand Esmeralda auf, um auch ihre Meinung kundzugeben.

Totenstille trat ein. Alle schauten fast ehrerbietig auf das schöne Weib, in dessen formvollendetem Körper eine so niedrige Seele wohnte. Gewiß, sie würde auch hier den Ausschlag geben – und dann die 500 Pfund empfangen.

»Bravalla!« klang es in diesem Augenblick aus dem Munde Nobodys.

Er streckte beide Arme, die eben noch gefesselt waren, nach Esmeralda aus, und während die Eingangstüre krachend in Trümmer zerbarst unter dem wuchtigen Anprall starker Matrosenschultern, während die Getreuen hereinstürmten, an ihrer Spitze Flederwisch und der Rubinenkönig, wich von der betrügerischen Frau der Bann der Hypnose. Sie ward totenblaß, und nicht besser erging es ihren Genossen, denen nun, zu spät, die Erkenntnis kam, daß sie überrumpelt und in eine Falle gelockt worden waren, die Nobody ihnen gestellt hatte.

Einen Moment standen die Gauner regungslos da und starrten wie gebannt in die Mündungen der auf sie gerichteten Revolver, dann ertönte das Kommando: »Die Hände in die Höhe! Wer sich wehrt, ist des Todes!«

Bravalla war bis an den Tisch geeilt, in der Rechten den Sixshooter. Er betrachtete das Weib, das ihn betrogen und bestohlen, mit furchtbaren Blicken, und unwillkürlich richteten sich aller Augen auf die beiden, zwischen denen es im nächsten Moment zu einer tragischen Katastrophe kommen mußte. Selbst die Verbrecher vergaßen die eigne Gefahr.

Langsam hob Bravalla den Revolver.

»Stirb, Elende!« knirschte er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.

Doch der Schuß krachte nicht.

Schattenhaft hatte sich hinter der Frau eine Gestalt erhoben. Ein langes Messer blitzte im Lichte und grub sich sofort in den Rücken Esmeraldas ein.

Die Finger der tödlich Verwundeten tasteten noch eine Sekunde, einen Halt suchend, in der Luft umher, dann stürzte sie rückwärts zu Boden.

»Kameraden, ich habe euch an der Verräterin gerächt!«

Jener Tramp sprach's, dessen Rolle Nobody vor kurzem gespielt hatte. Der Mann mußte sich unbemerkt hinter Esmeralda geschlichen haben. Niemand hatte den Mord verhindern können, und während Bravalla neben der bereits Verschiedenen niederkniete, banden die Leute Flederwischs den Gaunern, von denen keiner sich wehrte, die Hände auf den Rücken. Auch der Mörder ließ sich ohne weiteres fesseln. Er war stolz auf seine Tat.

Nobody sprach einige Worte zu dem Portugiesen. Dieser erhob sich, strich sich mit der Hand über die Stirn, dann faßte er die Rechte des Detektivs und sagte: »Ich erwarte Sie morgen. Vorläufig meinen Dank. Es ist besser so, als wenn ich selber zu ihrem Henker geworden wäre.«

Er ging. Nobody aber trat zu einem Fenster, öffnete es, lauschte hinaus und rief dann: »Holt die Polizei! Sie mag die Schufte abführen!«

Diese Worte sprach er zu derselben Zeit, als die Londoner durch wirres Schreien aus dem Schlafe geschreckt wurden.

»Die Resurrectionsmen gefangen! Das Nest der Schlangenbrüder ausgenommen! Die neueste Tat des berühmten Detektivs Nobody! Kauft Worlds Magazine!«

Die Setzer und Drucker hatten prompt gearbeitet. Bis zum folgenden Mittag mußten sie aber noch drei weitere Auflagen herstellen, und wieder einmal redete die Bevölkerung der Riesenstadt von niemandem und von nichts anderm als von Nobody. Mr. World mochte sich schmunzelnd die Hände reiben. Das war ein Kerl, dieser Nobody!

Die Erzählung könnte hiermit abgeschlossen werden, wenn nicht Nobody in dem vor den Geschworenen gegen die Schlangenbrüder stattfindenden Prozesse noch einmal hätte in Aktion treten müssen, natürlich nicht als Zeuge, denn dazu gab er sich nicht her. Er hütete sich aus naheliegenden Gründen, vor der Jury zu schildern, wie er die Verbrecher entlarvt hatte, ebensowenig bedarf es einer Erklärung, warum er nicht, wie es seine Absicht gewesen, gewartet hatte, bis Esmeralda die 500 Pfund empfangen hatte, die auf seinen Kopf gesetzt waren. Jedenfalls war er bei der Verhandlung zugegen, als einfacher Landarbeiter gekleidet, auf den niemand besonders achtete.

Der Ausgang des Prozesses schien ja unbedingt klar, die Verurteilung unausbleiblich, und um so größer war die Ueberraschung des Publikums und der Richter, als der Obmann der Geschworenen verkündete, daß die Angeklagten freizusprechen seien, da eine Stimme von zwölfen zu ihren Gunsten abgegeben worden sei. Nach englischem Rechte kommt es eben nicht auf die absolute Mehrheit sondern darauf an, daß alle Geschworenen auf schuldig oder nicht schuldig votieren.

Fassungslos sahen die Richter einander an. Auf den Gesichtern der Freigesprochenen war der höhnische Triumph zu lesen, da trat der einfache Landarbeiter vor die Geschworenen, riß im Nu einem derselben die Perücke und den falschen Bart ab.

»So! Nun setzt ihn mit auf die Anklagebank. Es ist der letzte der Bande, der damals bei der Verhaftung auswärts weilte. Den echten Geschworenen wird man im Zimmer des Amtsdieners finden!«

»Der Nobody ist's! Nobody! Nobody!« jauchzte die Menge, da war der Detektiv schon verschwunden, und nun bleibt wohl nichts mehr zu sagen übrig.


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