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3. Die Todeskarte.

Ganz London befand sich seit Wochen in größter Erregung, und zwar aus einem doppelten Grunde, und am meisten war die vornehme Gesellschaft davon betroffen, ja, selbst der Hof blieb nicht verschont. Und welche Ursachen lagen dieser Aufregung zugrunde?

Mr. World reichte seinem Kompagnon Nobody, der eben erst aus Australien zurückgekommen war, wo er eins der schwierigsten Probleme gelöst hatte, die es für einen Detektiv geben kann, die letzten Nummern der ›Daily News‹ sowie mehrerer andrer großer englischer Zeitungen. Blaue Striche bezeichneten die betreffenden Artikel. Nobody las die Ueberschriften, den Inhalt selbst würdigte er keines Blickes.

»Also um zwei Personen dreht sich das alles,« sagte er, mehr zu sich als zu Mr. World sprechend. »Ein Engländer, der nach jahrelanger Abwesenheit nach London zurückgekommen ist und dort den Nabob spielt, ist die eine, die andre ein geheimnisumgebener Dieb, der die Herren und Damen des Hochadels aufs frechste geplündert, ohne daß die Polizei auch nur eine Spur von ihm zu entdecken vermochte. Beim Herzoge von Ormont hat er sämtliches Gold- und Silbergeschirr mitgehn heißen. Die Lady Merryman vermißt ihren kostbaren Diamantschmuck. Seiner Herrlichkeit dem Lord Carring ist sogar ein wertvolles Rennpferd aus dem Stalle gestohlen worden. Hm, da fehlt bloß noch – ah, da ist sie schon – eine Jacht hat der Kerl auch gemaust – die ›Stormy Petrel‹ der Marchioneß of Dukefield! Teufel, der Mann versteht's!«

Nobody schwieg, legte die Zeitungen weg, stand auf, dehnte sich seufzend.

»Na, denn mal los! Dem alten Freunde wollen wir schleunigst auf die Finger kloppen! Aber wissen Sie, Mr. World, hübsch ist das nicht gerade!«

»Was denn? Daß der Mann wie ein Rabe maust?«

»Nee, daß er es gerade jetzt tut! Himmelsackerment, was muß denn nur meine Frau denken! Ich werde wahrhaftig nicht mehr warm zu Hause! Am besten ist's, ich komme ihr gar nicht erst zu nahe, fahre gleich ab. Weiter wär's also nischt? Nee? Na, dann leben Sie wohl, Mr. World!«

Hinaus war er, und zwei Stunden später dampfte der ›Great Star‹ von New-York nach Osten, an Bord unter andern Passagieren auch einen würdevoll aussehenden alten Herrn mit weißen Locken, sorgfältig rasiertem Gesicht, ganz in Schwarz gekleidet, der echte, rechte Professor, wie er im Buche steht. ›Professor Wischnu‹ nannten ihn die Mitreisenden erster Kajüte, denn bei jeder Gelegenheit hielt der alte Herr den Herren und Damen langatmige Vorträge über die Mythologie der Indier, und vor allem über die dreieinige Gottheit Brahma, Wischnu und Schiwa, das schaffende, erhaltende und zerstörende Prinzip, und erwähnte dabei auch, daß er nur zu dem Zwecke nach London reise, um jenen Engländer aufzusuchen, der kürzlich aus Indien zurückgekehrt sei und so viel von sich reden mache. Die unerreicht vollständigen Sammlungen an indischen Altertümern, Manuskripten und dergleichen, die dieser Nabob besaß, lockten den gelehrten Sanskritforscher wie das Licht die Motte.

Viel konnten die Mitreisenden dem Professor Wischnu auch nicht über den reichen Engländer erzählen. Was sie wußten, das hatten sie aus den Zeitungen, und die meisten interessierten sich weniger für die Antiquitäten, die jener besaß, als für seine immensen Reichtümer.

Der ›Great Star‹ erreichte Liverpool ohne Zwischenfall. Die Passagiere zerstreuten sich nach allen Richtungen. Der alte Gelehrte wanderte nach dem Telegraphenamt, nannte dem Beamten seinen Namen und empfing eine Depesche.

»Geheimnisvoller Mord in Hughesberry. Sofort aufklären. Andres nebenbei – später. World.«

So lautete das Telegramm. Der alte Herr steckte es aus Versehen in den Regenschirm anstatt in die Rocktasche, nahm dann den etwas unmodernen Zylinder ab, zog ein mächtiges rotseidnes Taschentuch hervor und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

»Ein Hansom, Sir?« ward er angeschrien.

»Hm, ja! Ich danke! Wo haben Sie es denn?« fragte Professor Wischnu.

Der Kutscher guckte den Herrn vielsagend an. Die Sorte kannte er schon. Daher packte er ihn ohne weiteres beim Arm, zog ihn mit sich und schob ihn in das Cab.

Merkwürdig, daß der Mann seinen Fahrgast nicht fragte, wohin dieser wolle. Es ging eben fort, durch Haupt- und Nebenstraßen bis in ein einsames Square. Vor einem Gartenhause hielt der Wagen. Der Gelehrte stieg aus, vergaß das Bezahlen, der Kutscher mahnte ihn auch nicht, blieb aber da, als wenn er im voraus wüßte, daß jener bald wiederkommen würde.

In dieser Erwartung sah er sich freilich betrogen, denn der Professor kam nicht wieder zum Vorschein, wohl aber ein brünetter junger Mann mit schwarzem Haar und einem ebensolchen Bart nach der Mode Heinrich IV. Auch sonst wies das ganze Aeußere, das Benehmen auf die französische Abstammung hin, am entschiedensten jedoch der Akzent, als er den Kutscher auf englisch fragte, ob er frei sei.

Der Schwarze wartete die Antwort nicht ab, stieg gleich ein, brachte eine Zeitung aus der Tasche und versenkte sich in die Lektüre. Ein Ziel nannte auch er nicht. Das Cab fuhr nach dem Bahnhof, der Franzose stieg aus, nickte dem Kutscher zu, begab sich in das Gebäude, trat zum Billettschalter, verlangte eine Karte zweiter Klasse nach London und suchte sich ein leeres Abteil in dem bereitstehenden Zuge. Gemächlich in die Polster zurückgelehnt, rauchte der Reisende eine feine Zigarre, dabei immer lesend, und so verging die Zeit.

»Hughesberry!«

Der Franzose stieg aus. Er war der einzige Passagier für diesen Vorort gewesen; er hatte ja auch das Billett bis London.

Auf dem Perron stand ein Gepäckträger, musterte mißvergnügt den Reisenden, der nicht einmal einen Koffer bei sich hatte, ward aber sofort umgestimmt, als der Schwarzbärtige zu ihm trat und sagte: »Ich möchte zum Boardinghouse der Mrs. Angeline Bourne. Können Sie mich führen?«

»All right, aber« – der Dienstmann kratzte sich hinter dem Ohre. »Wollen Sie etwa dort mieten?«

Der Fremde bejahte.

»Da gehn Sie lieber anderswohin, zu Fredericks oder Kinlochs.«

»Warum?«

»Hm, da ist – Sie sind wohl von weither gekommen?«

»Allerdings! Direkt aus New-York!«

»Na, freilich, da können Sie nichts wissen. Die Sache ist die, daß überhaupt niemand mehr bei Mrs. Bourne wohnen will. Es hat eben jeder nur einen Hals.«

Jetzt stutzte der Reisende.

»Sie sprechen in Rätseln, Mann! Was meinen Sie? Erklären Sie sich!«

Der Gepäckträger zog eine Flasche aus der Tasche, hielt sie gegen das Licht, schüttelte betrübt das Haupt, steckte sie wieder ein, mit ihr zugleich einen Sixpence, der ihm irgendwie in die Hand geraten war.

»Man kann bei Mrs. Bourne ums Leben kommen. So!«

Eine Bewegung, als wenn er einen um seinen Hals gelegten Strick zusammenzöge, der Mann steckte die Junge weit heraus und verdrehte die Augen. Nobody verstand.

»Wer?« fragte er kurz.

»Miß Kate Worthwent!«

»Wann?«

»Gestern nacht.«

»Gestern nacht?« wiederholte der Fremde, und bei sich fügte er hinzu: »Das ist verflucht schnell gegangen! Ich wünschte fast, es gäbe kein Kabel von England nach New-York. Was kümmert mich die alte Schachtel, der irgend jemand die Luft abgedreht hat?«

Nun, Nobody – er war der Franzose, wie er auch der Professor Wischnu gewesen war – täuschte sich hier doch einmal. Der Fall, den er in Hughesberry aufklären sollte, war ganz und gar einer von der Art, wie der berühmte Detektiv sie sich wünschte, und wie nur er sie lösen konnte. Jetzt freilich war er noch recht ungehalten über Mr. World, weil dieser ihn hierherschickte. Eine kurze Schilderung des Mordes hatte Nobody bereits in der Zeitung gelesen, aber daraus nur wenig entnehmen können.

In der elften Stunde der vergangenen Nacht waren die Bewohner der Narrowstreet – wie schon der Name besagt, eine enge Gasse – durch den schrillen Ruf einer Frauenstimme aus dem Schlummer geschreckt worden, dem sie sich nach Kleinbürgerart spätestens um zehn Uhr abends überließen.

»Mörder! Zu Hilfe! Mörder!«

Aus den aufgerissenen Fenstern fuhren die Köpfe der Neugierigen.

Gott sei Dank, da war ja schon Mr. Peppercorn, der eine der beiden Polizisten, die unter Leitung eines rotnasigen Wachtmeisters, der sich aber Inspektor nennen ließ, darüber wachten, daß kein Bettler die Bewohnerschaft von Hughesberry belästigte. Einen Dieb hatten die drei noch nicht hier zu sehen bekommen, und nun sollte gar ein Mord – i wo – das Frauenzimmer mußte oben nicht ganz richtig sein.

Mr. Peppercorn verwies die Ruhestörerin energisch wegen ihres Geschreis, er wollte es vielmehr, er kam nämlich nicht dazu. Die ehrenwerte Mrs. Bourne sank ihm ohnmächtig in die Arme. Ja, und da stand Nehemia Peppercorn wie betöppert da, wußte sich nicht zu helfen und war heilfroh, als die Dame vernünftig genug war, von selber einzusehen, daß ein Schutzmann kein Frauenarzt ist.

»Hilfe! Mörder!« kreischte sie gleich wieder.

»So schreien Sie doch nicht so! Sie verjagen ja bloß den Mörder!«

Dieser großartige Einfall verfehlte seine Wirkung nicht. Mrs. Bourne verstummte, zog aber den Policeman mit sich fort bis zu ihrem Hause, sich immer verzweifelt an ihn anklammernd. Es ging durch die Hintertür, die Dienstbotentreppe hinauf, in die Küche. Dort lag auf dem Boden lang ausgestreckt Mary Wood, das Hausmädchen.

»Ich sehe ja gar kein Blut!« brummte Nehemia Peppercorn.

»Dort! O, mein Gott!« wimmerte Mrs. Bourne, auf eine Tür deutend, die weit offen stand.

Der Polizist nahm all seinen Mut zusammen, ging hin und sah nun allerdings ein schreckliches Bild.

In einem Lehnstuhl saß mit ausgestreckten Gliedern eine alte Dame, um den Hals eine geflochtene Schnur, die starren Augen weit aufgerissen, den Mund offen, auf dem entstellten, blassen Antlitz den Ausdruck furchtbaren Entsetzens. Daß hier ein grausamer Mord vorlag, konnte ein Kind sehen, und obwohl Nehemia Peppercorn keine große Lust dazu hatte, mußte er doch den Tatbestand feststellen, Mrs. Bourne und die Dienerin, die inzwischen wieder zum Bewußtsein gekommen war, über ihre Wahrnehmungen befragen. Er erfuhr nicht viel. Sie waren gegen halb elf Uhr nach Hause gekommen, hatten noch Licht im Zimmer der alten Dame gesehen, das hatte sie stutzig gemacht. Hinauf! Das Weitere läßt sich denken. Vom Täter keine Spur! Die Türen verschlossen, kein Fenster offen. Der Arzt konstatierte, daß die Unglückliche gegen zehn Uhr gewaltsam erdrosselt worden war. Das war alles. Die weitern Ermittlungen waren einem aus der City herbeigerufenen Kriminalkommissar übertragen worden. Die Zeitungen wußten nichts weiter, verbreiteten sich nur über Nebensachen, namentlich über die Persönlichkeit der Ermordeten, ihre Lebensgewohnheiten. Diesen Klatsch hatte Nobody gar nicht gelesen, er hielt es nicht für der Mühe wert.

»In der Narrowstreet wohnt Mrs. Bourne?« fragte er den Dienstmann. »Ich werde mein Glück doch mal versuchen. Das Boardinghaus ist mir warm empfohlen, und abergläubisch bin ich nicht, fürchte mich auch nicht vor dem Geiste der Ermordeten. Lassen Sie nur! Ich finde den Weg schon. Der Ort ist ja nicht groß!«

Nobody grüßte, ging die Straße hinunter, als wenn er in Hughesberry bekannt sei, und stand nach zwei Minuten vor dem Hause, in dem der Mord verübt worden war.

Mrs. Bourne empfing den Wohnungsuchenden mißtrauisch, taute aber auf, als er sich auf eine gute Freundin von ihr berief, bedauerte freilich, daß sie ihn nicht aufnehmen könne, sie selber möchte am liebsten heute fort anstatt morgen. Der Detektiv wußte sie zu überzeugen, daß ein männlicher Schutz im Hause nicht zu verachten sei, und durfte nicht nur bleiben, sondern die Dame gab ihm auch den Schlüssel zum Mordzimmer.

»Miß Worthwent befindet sich noch drin,« sagte sie dabei schaudernd. »Nicht einmal von der Leiche befreit man mich!«

»Desto besser!« dachte Nobody, laut aber entgegnete er: »Das wird seine guten Gründe haben, vielleicht sucht man noch nach Angehörigen, die die Tote rekognoszieren sollen – jedenfalls werde ich mir das Zimmer einmal ansehen. Solche Sachen interessieren mich, ich habe schon als Junge am liebsten Mordgeschichten gelesen.«

Die englische Polizei hat in Kriminalfällen eine besondere Praxis, die schon an andrer Stelle in diesen Erzählungen ausführlich geschildert worden ist. Nobody kannte sie genau, wußte aber auch, daß die Erfolge, die durch sie erzielt wurden, mit wenigen Ausnahmen nur ganz unbedeutend, oft sogar geradezu kläglich gewesen waren. Vor allem aber liegt die Schuld, daß so viele Verbrechen – auch bei uns – ungesühnt bleiben, daran, daß jeder Fortschritt in der Untersuchung, jede neu aufgefundene Spur sofort durch die Zeitungen brühwarm den Lesern mitgeteilt und dadurch den Tätern natürlich auch zugänglich wird, so daß sie immer genau wissen, ob sie sich in Sicherheit bringen müssen.

Nobody schloß die Tür auf, trat über die Schwelle, blieb erstaunt stehn. Die Leiche beachtete er zunächst nicht, die Ausstattung des Zimmers fesselte seine ganze Aufmerksamkeit. Die Tote mußte bei Lebzeiten etwas exzentrisch gewesen sein.

Der Raum war in einem lichten Meergrün gehalten. Diese Farbe zeigten nicht nur die Gardinen an den beiden Fenstern, sondern auch die Wände waren unter meergrünen Vorhängen verborgen, die Möbel wiesen ebensolche Ueberzüge auf, die beiden Kronleuchter waren bis zu den Brennern mit grüner Seide verhüllt, trugen grüne Lichtschirme und grüne Glasprismen, die Holzteile der Stühle waren grün angestrichen, die Bilderrahmen grün lackiert. Der den Boden bedeckende kostbare Teppich hatte natürlich auch keine andre Farbe, und als Nobody nun nach der Toten hinüberblickte, da wunderte er sich nicht im geringsten, daß sie ein meergrünes Seidenkleid trug, darin aber einen grotesken Anblick bietend, denn die Ermordete, die mindestens fünfzig Jahre zählte, und deren Haar bereits ergraut war, war in großer Toilette. Der magere Hals und die eckigen Schultern waren ebenso entblößt wie die spindeldürren Arme. Das Gesicht mit dem bereits beschriebenen Ausdruck hatte infolge des durch die grünen Gardinen strömenden Lichtes eine geradezu gespensterhafte Farbe, und es gehörten die starken Nerven eines Nobody dazu, um sich ungeniert zu der Ermordeten zu begeben und sie genau betrachten zu können.

Auf einem Tische vor der Toten lag ein Spiel Karten ausgebreitet, immer acht Blätter nebeneinander ohne Rücksicht auf die Farbe und den Wert, so, wie man die Karten bei Patiencen zu legen pflegt oder wie Kartenschlägerinnen sie ausbreiten.

In der dritten Reihe fehlte eine Karte. Sie lag im Schoße der Ermordeten.

Nobody stutzte.

»Schellenaß!« murmelte er vor sich hin. »Die Todeskarte!«

Er kannte also die abergläubischen Bräuche, die beim Kartenlegen gelten, wo jedes zählende Blatt eine besondere, ganz bestimmte Bedeutung hat.

Nobody zählte nach: Sieben, acht, neun, zehn, Unter, Ober, König, Daus, wiederholte das zweimal – als er zum dritten Male aufs Daus kam, war das an der Stelle, wo die Karte fehlte – der Zufall hatte gewollt, daß es das Schellendaus war, und wer es zuerst zog, dessen wartete nicht nur ein baldiger, sondern auch gewaltsamer Tod.

Dort lag die Ermordete – in ihrem Schoße die ominöse Karte!

War hier wirklich nur ein Zufall in Betracht zu

Der Detektiv betrachtete die übrigen Karten, beugte sich plötzlich nieder und drückte mit einem Zeigefinger etwas ganz feine Asche breit, die am Rande des Tischchens lag. Auf den Teppich darunter war auch noch welche gefallen.

Nobody hielt sich nicht weiter dabei auf, warf nur einen flüchtigen Blick auf die Schnur, die noch um den Nacken der Toten geschlungen war, trat zum Fenster. An einer der Gardinen fehlte die haltende Schnur, und zwar an der, die das Fenster hinter der Leiche verhüllte. Der Mörder hatte das Werkzeug zu seiner schaurigen Tat an Ort und Stelle genommen, wo er es gerade fand.

Unweit davon lag auf dem Teppich eine halb aufgerauchte Zigarette, die Nobody aufhob, genau betrachtete und sorgfältig in einem silbernen Etui unterbrachte. Auf einem Tischchen stand eine Weinflasche mit zwei Gläsern.

Ins Nebenzimmer führte eine Tür, die offen stand. Er warf einen Blick hinein, es war das Schlafgemach. Das Bett war abgedeckt, aber unbenutzt. Die Ausstattung war die gewöhnlich in England übliche. Hier hatte Miß Worthwent ihre Vorliebe für die meergrüne Farbe nicht betätigt.

»So,« sagte Nobody, indem er sich auf einen der Stühle niederließ, »jetzt wäre der Anfang gemacht. Er ist zwar vielversprechend, aber das hier vorliegende Rätsel läßt sich damit noch lange nicht ergründen. Der Fall ist wahrlich interessanter, als ich glaubte. Mr. World hat auch mal eine feine Spürnase gehabt.

»Also die Sache liegt so. Miß Worthwent ist eine alte, kokette, abergläubische Jungfer. Sie pflegt sich die Karten zu legen, wollte wissen, ob sie noch einen Mann kriegt. Ein solcher war gestern bei ihr, ein guter Bekannter, sonst hätte er nicht rauchen dürfen, sie hätte sich umgedreht, als er hinter ihren Stuhl an jenes Fenster trat. Sie zog das Schellenaß, die Todeskarte, lehnte sich erschrocken zurück, und ihr Freund machte das Orakel wahr, indem er sie erdrosselte.

»Vor allem, wer verkehrte bei Miß Worthwent? Wer war sie selber? Ist sie bestohlen worden? Mrs. Bourne wird es mir sagen können.«

Nobody begab sich zu seiner jetzigen Wirtin, bat sie, ihm zu erzählen, was sie von der Ermordeten wisse. Der Fall interessiere ihn.

»Ich weiß nichts von ihr, weder, woher sie kam, als sie sich bei mir einmietete, noch ihre sonstigen Verhältnisse, noch ob sie mir ihren wahren Namen nannte.«

In England kennt man allerdings keine polizeiliche Anmeldung der Mieter, nicht einmal bei den im Hotel absteigenden Fremden ist dieselbe vorgeschrieben. Es ist ihre Sache, ob sie dem Wirte einen falschen oder ihren wahren Namen nennen. Das gehört eben mit zur persönlichen Freiheit. Der Engländer wird nicht wie der Deutsche fortwährend behördlich beaufsichtigt und mit all dem Wust der Meldevorschriften belästigt. Nobody konnte also nicht etwa zur Polizei gehn und dort für fünfundzwanzig Pfennig Auskunft holen, woher Miß Worthwent gekommen sei, wo sie zuletzt gewohnt habe. Das mußte er auf andre Weise herausfinden.

»Seit wann wohnte sie bei Ihnen, Mrs. Bourne?«

»Seit 1. Juli.«

»Sie brachte die Ausstattung des Wohnzimmers mit?«

Jawohl, das stimmte.

»Welche Firma stand an dem Möbelwagen?«

»Keine. Er gehörte ihr, war ganz meergrün angestrichen.«

Holla, das war wieder sonderbar! Wer sich einen eignen Möbelwagen hielt, der mußte ja ein förmliches Nomadenleben führen. Außerdem sagte der Detektiv sich, daß die Ermordete schwerwiegende Gründe gehabt haben müsse, dadurch, daß sie einen eignen Wagen benutzte, jede Nachforschung nach ihrer letzten Wohnung unmöglich zu machen. Nur den Kutscher konnte die alte Dame nicht selbst spielen.

»Haben Sie den Mann, der die Möbel brachte, nicht ausgefragt? Es mußte doch in Ihrem Interesse liegen, etwas über Ihre neue Mieterin zu erfahren.«

»Der Mann war taubstumm!« erwiderte Mrs. Bourne prompt.

»Da hört aber doch der Gurkenhandel auf!« sagte Nobody zu sich selber. »Die hat es ja geradezu raffiniert verstanden, ihre Geheimnisse zu wahren. Hat sie schließlich selber was auf dem Kerbholz gehabt? Oder hatte sie Feinde, vor denen sie auf der Hut sein mußte, so daß sie gezwungen war, oftmals die Wohnung zu wechseln? Geld hat sie jedenfalls genug besessen, sonst hätte sie sich nicht einen eignen Möbelwagen halten können.«

»War Miß Worthwent geizig?«

»Nein. Ich könnte mich wenigstens nicht beklagen. Sie zahlte mir doppelt so viel, wie ich für die beiden Zimmer verlangte.«

»Unter der Bedingung, daß sie dieselben nach ihrem Geschmack einrichten dürfte?«

»Ja, und außerdem sollte stets die Haustür verschlossen sein. Ich mußte Miß Worthwent alle Hausschlüssel übergeben.«

»So öffnete sie ihren Besuchern selbst?«

Die Frau sah den Frager groß an.

»Die Dame empfing überhaupt keinen Besuch, verließ auch ihre Wohnung nie.«

Das wurde ja immer rätselhafter! Jetzt wußte auch Nobody beinahe nicht mehr, was er denken sollte.

»Miß Worthwent rauchte Zigaretten?« fragte er dann.

»Nie! Ich hätte das auch nicht geduldet. Ich mag keine emanzipierten Frauen!«

Wenn das stimmte, so war also doch ein Mann bei der jetzt Ermordeten gewesen.

»Die Tote trägt große Toilette, als wenn sie jemanden bei sich erwartet hätte!«

Mrs. Bourne deutete mit dem Zeigefinger auf ihre Stirn.

»So, so! Sie hatte also ein Rädchen zuviel, wie man zu sagen pflegt,« meinte der Detektiv nachdenklich, »deshalb war sie auch so abergläubisch. Was wollte sie denn eigentlich aus den Karten erfahren?«

Diese Frage hatte Nobody nur so nebenbei gestellt, er hoffte nicht etwa durch die Antwort eine neue Spur zu entdecken, daher war er um so mehr überrascht, als Mrs. Bourne sofort erwiderte: »Sie wollte wissen, ob sie eines gewaltsamen Todes sterben würde.«

»Nu nee!« rief Nobody unwillkürlich.

»Haben Sie denn die Todeskarte in dem Schoße der Miß Worthwent nicht gesehen?«

Der angebliche Franzose antwortete nicht. Sein Geist arbeitete fast fieberhaft an der Lösung des hier vorliegenden Rätsels. Die Ermordete fürchtete, daß sie durch Gewalt sterben würde, legte deswegen die Karten, hatte angeblich mit niemandem verkehrt, und doch war jemand bei ihr gewesen, dem sie volles Vertrauen geschenkt, und der sie darauf kalten Blutes umgebracht hatte. Zu welchem Zwecke? Aus welchem Anlasse?

»Ist die Tote bestohlen worden?« fragte Nobody endlich nach längerer Pause, während der Mrs. Bourne ihn scharf beobachtet hatte. Jetzt antwortete sie ihm nicht sogleich.

»Sie sind Detektiv?« wollte sie wissen.

»Nicht berufsmäßig und in Staatsdiensten,« entgegnete Nobody, »ich beschäftige mich lediglich zu meinem Vergnügen mit der Aufklärung schwieriger Kriminalfälle, bin auch nicht wegen des Mordes allein zu Ihnen gekommen. Ich hätte mich nicht im geringsten um die Tat gekümmert, wenn nicht ein Geheimnis mit derselben verknüpft wäre.«

»Jawohl, ein Geheimnis ist dabei,« bestätigte Mrs. Bourne, »und bestohlen worden ist sie auch.«

»Schmuck?«

»Diamanten, kostbare Steine in alter Fassung, Erbstücke vermutlich. Sie trug sie jeden Abend, nachdem sie sich auch sonst festlich geschmückt und sämtliche Lichter angezündet hatte.«

»Das tat sie jeden Abend?«

»Jawohl.«

»Und wo waren Sie gestern?«

»Im Theater. Miß Worthwent schenkte mir und Mary die Karten.«

Aha! Das war endlich etwas. Sie hatte also die Wirtin und das Dienstmädchen aus dem Hause haben wollen, um ungestört Besuch empfangen zu können.

»Schenkte Miß Worthwent Ihnen öfter Billetts zu Vergnügungen?«

»O ja! Ich sagte ja, geizig war sie nicht.«

»Als Sie gestern nach Hause kamen, waren alle Türen und Fenster wie gewöhnlich sorgfältig verschlossen?«

Mrs. Bourne nickte.

»Auch die vordere Haustür?«

»Die erst recht. Dazu hatte ja niemand einen Schlüssel außer Miß Worthwent. Der, den sie immer benutzte, muß noch in ihrer Kleidertasche stecken.«

Nobody war schon aufgestanden, in das grüne Zimmer geeilt, griff in die Tasche der Toten, nahm den Hausschlüssel heraus und probierte ihn unten an der Tür. Gerade als er sie öffnete und auf die Narrowstreet hinausschaute, kam der Briefträger mit der Abendpost.

»Für Mrs. Bourne!« sagte er, Nobody vier Briefe übergebend. Dieser sah sofort, daß sie sämtlich von Damenhand adressiert waren, stieg die Treppe wieder hinauf, nachdem er die Tür verschlossen hatte, und händigte die Post der Dame aus. Sie bat ihn, noch zu bleiben, öffnete die Schreiben, reichte eins nach dem andern schweigend dem Detektiv. Fast alle hatten denselben Inhalt.

»Die Dame mit dem grünen Zimmer wohnte von – bis – bei mir unter dem Namen –«

Die Zeitangaben differierten selbstverständlich, aber sie stimmten darin überein, daß stets nur sechs Monate angegeben waren. Die jetzt Ermordete hatte nirgends länger gewohnt. Stets unter anderm Namen, stets das Doppelte des geforderten Preises bezahlend. Die Vermieterinnen hatten sie erkannt, weil in den Zeitungen das grüne Zimmer genau beschrieben war.

Nobody zog ein Notizbuch hervor, schrieb die verschiedenen Daten, Wohnorte und die angenommenen Namen der Ermordeten genau der Reihenfolge nach auf und sagte dann: »Vor zwei Jahren begann sie die Wanderung unter dem Namen Wentworth. Wentworth – Worthwent – Wenthrow – Throwten – Twenworth – immer die gleichen Silben, nur umgestellt! Wie hieß sie wirklich? Vermutlich Wentworth.«

Mrs. Bourne hatte ruhig zugehört. Jetzt sagte sie: »Wentworth heißt ein Gut in der Nähe von Townsend.«

»Hm!« brummte der Detektiv. »Kann sein! Also ausgerissen ist sie vor jemandem! Sie hat gefürchtet, ermordet zu werden – durch wen?«

Er entschuldigte sich bei der Wirtin und zog sich in seine Zimmer zurück, kam auch nicht wieder zum Vorschein, als in der Nacht noch eine Gerichtskommission eintraf, nochmals eingehende Untersuchungen anstellte, die Leiche fortschaffen ließ, das Mordzimmer versiegelte. Dagegen war er bereits vor Tagesanbruch auf dem Bahnhof, fuhr nach London, verschaffte sich ein Verzeichnis sämtlicher Pfandleiher, die auch Juwelen kauften, und begann seinen Rundgang bei Isac Natanson. Jawohl, der Jude hatte tags zuvor ein altertümlich gefaßtes Diamantenkollier gekauft, von einem jungen Manne, blond, mit kleinem Barte. John Kennedy hatte er sich genannt, wohnte in dem Temple.

Nobody wußte vorläufig genug, sagte aber nichts von dem Raube in Hughesberry, fuhr vielmehr nach Townsend. Unterwegs dachte er über den Fall nach.

»Allem Anschein nach ist dieser Kennedy der Mörder. Dann ist er aber ein Stümper in seinem Handwerk, muß noch viel mehr lernen – ein erfahrener Verbrecher hätte die Diamanten einzeln verkauft und auch nicht in London, hätte sie nach Holland oder nach Frankreich gebracht. Herrgott, sind diese Polizisten Dummköpfe! Die brauchen voraussichtlich noch Wochen, ehe sie eine Spur finden.«

Von Townsend bis Wentworth waren zwei Meilen, also etwa eine Stunde zu gehn. Nobody brach sofort auf, kehrte im Dorfwirtshaus ein und rauchte gemütlich eine Zigarre.

»Wenig Leben hier,« sagte er, zum Wirt gewendet. »Man sieht ja keinen Menschen.«

»Leider! Ihr seid der erste Fremde seit vielen Wochen. War früher besser!«

»Wieso?«

»Als der gnädige Herr noch lebte! Gott hab' ihn selig, den armen Mann! Den Mörder haben sie heute noch nicht!«

Nobody horchte auf, ließ sich aber äußerlich nichts anmerken.

»Den Mörder?« sagte er. »Wie ging denn das zu?«

Der Wirt holte sich auch ein Glas Wein, setzte sich zu seinem Gaste und sagte: »Ja, ja, das ist schon lange her – 15 Jahre – seit man den Esquire Wentworth – das Dorf heißt nach ihm – ermordet im grünen Zimmer fand. Er hatte ein Messer mitten im Herzen, auf dem Griff stand der Name Algernon, ein guter Freund des Esquire, wohnte damals im Schlosse, wollte die Nichte heiraten, war aber noch eine Schwester da, die ihn auch liebte. Na, er hat keine gekriegt. Sie zeigten ihm das Messer. Ja, das gehörte ihm. Er war noch kurz vorher bei dem Mr. Wentworth gewesen, hatte einen Streit mit ihm gehabt. Die Nichte hatte ihn aus dem grünen Zimmer kommen sehen, geht selbst hinein, da ist der arme Herr schon tot. Algernon sollte gehängt werden, aber sie konnten ihm doch nichts nachweisen, setzten ihn lebenslänglich fest. Vor zwei Jahren ist er ausgerissen, sie haben ihn noch nicht wieder, und das ist recht. Ich glaube nicht, daß er der Mörder war, kannte ihn zu genau. Den richtigen finden sie nun auch nicht mehr.«

Also in Wentworth gab es auch ein grünes Zimmer, und in diesem war ebenfalls ein Mord geschehen! Nobody ärgerte sich fast, daß die Rätsel, die er hatte lösen wollen, gar so einfach waren. Nein, das stimmte doch nicht ganz, denn welchen Zusammenhang gab es zwischen dem Morde vor fünfzehn Jahren und dem von vorgestern? Ganz klar! Vor zwei Jahren war der Mörder des Esquire Wentworth aus dem Gefängnis entflohen, und gerade zu derselben Zeit begann Miß Wentworth ihre Wanderung mit dem meergrünen Möbelwagen. Sie hatte also die Rache Algernons gefürchtet, der auf ihr Zeugnis hin verurteilt worden war, unschuldig, wie der Wirt sagte. War der Mann also noch kein Verbrecher gewesen, so war er es geworden, indem er Miß Wentworth erdrosselte. Wo war er jetzt?

Jawohl, als wenn diese den Menschen, den sie sehr fürchtete, daß sie von Ort zu Ort vor ihm floh, zu einem Plauderstündchen eingeladen hätte, ihm so Gelegenheit gebend, sie in aller Gemütlichkeit umzubringen! Das Diamantkollier hatte auch nicht Algernon verkauft, sondern Kennedy, und endlich, warum schleppte die alte Dame ihre meergrünen Möbel, die offenbar in jenem Zimmer gestanden hatten, wo der Esquire ermordet wurde, fortwährend im eignen Möbelwagen mit sich herum? War das nicht geradezu ein Wink mit dem Zaunspfahl für Algernon, wenn dieser sie tatsächlich suchte?

»Die Geschichte ist verzwickter, als ich dachte,« sagte Nobody zu sich selber, »ich will sie aber bald klar haben.« Laut fragte er: »Der ermordete Esquire hinterließ keine Erben außer seiner Schwester?«

»Schwester? Die starb ja bald darnach.«

»Aus Gram, weil der Mann, den sie liebte, zum Mörder geworden war?«

»Es mag wohl so gewesen sein,« gab der Wirt zu. »Kränklich war sie allerdings schon immer. Vielleicht hätte sie auch sonst nicht mehr lange gelebt.«

»Warum wollte Algernon sie denn nicht heiraten? Er wußte doch jedenfalls, daß sie reich war?«

»Ja, wer kann das sagen! Ich denke mir, daß der Liebe niemand gebieten kann.«

»Richtig! So wurde also Miß Wentworth, die Nichte, die einzige Erbin?«

»Jawohl.«

»Kannten Sie die Dame?«

»Natürlich. Sie wohnte ja bis – ja – bis vor zwei Jahren im Schlosse.«

»Zeitungen lesen Sie wohl nicht?« fragte Nobody etwas unvermittelt.

Der Mann hatte offenbar noch keine Ahnung von dem gräßlichen Ende der alten Miß Wentworth. Er wunderte sich auch nicht weiter über die Frage. Nein, er las keine Zeitungen. Was in der Nachbarschaft passierte, erfuhr er sowieso, das andre, was in der Welt draußen vorging, interessierte ihn nicht. Er war ein glücklicher Mensch in seiner Beschränktheit! Freilich Nobody beneidete ihn nicht.

Gemächlich, gar nicht, als wenn sein Geist rastlos arbeitete, blies der Detektiv den Rauch seiner Zigarre in kunstvollen Ringen in die Luft, bestellte sich noch ein Glas Wein und sagte dann so beiläufig: »Ich hätte fast Lust, mir das Schloß einmal anzusehen. Wer bewohnt es denn jetzt?«

»Miß Ellinor Gregham, eine entfernte Verwandte der Miß Wentworth. Sie wird wohl mal alles erben!«

Aha, das war wieder etwas, wieder ein Schritt vorwärts. Wenn das Mädchen ein Interesse daran hatte, daß die Erblasserin recht bald starb –!?

»Andre erbberechtigte Verwandte sind nicht da?«

»Doch, ein Großneffe, ein Doktor! Der will aber Miß Ellinor heiraten. Er ist übrigens selber vermögend.«

Wieder nichts! Ein reicher Mann erdrosselt seine Erbtante nicht!

»Wenn Sie sich Wentworth ansehen wollen,« fuhr der Wirt fort, »so können Sie es ruhig tun. Miß Gregham ist froh, wenn einmal jemand zu ihr kommt, was selten genug der Fall ist. Viel Sehenswertes gibt es freilich da nicht. Die alte Miß Wentworth ist furchtbar geizig, läßt lieber alles zugrunde gehn, als daß sie Geld zu Reparaturen hergibt.«

Und Mrs. Bourne hatte gerade das Gegenteil behauptet! Eine geizige Alte bezahlt doch auch nicht freiwillig die doppelte Miete! Wie reimte sich das wieder zusammen?

Nobody stand auf, zahlte und schlug den Weg ein, den der Wirt ihm gezeigt hatte. Nach zehn Minuten bereits stand er im Parke von Wentworth-House und stellte fest, daß derselbe vollkommen ungepflegt, fast ganz verwildert war. Zwischen den Stufen der Freitreppe, die zum Schlosse emporführte, wuchs Gras. Die steinernen Figuren, die einst das Geländer geziert, waren von den Sockeln gestürzt oder auf ihnen zerbrochen, die Sonnenläden vor den Fenstern geschlossen.

Der Detektiv stieg die Stufen empor, wollte dann um die eine Ecke des Gebäudes biegen, das, wie in tiefen Schlaf versunken, in lautloser Stille dalag, prallte fast mit einer Dame zusammen und zog, sich verbeugend und entschuldigend, den Hut. Er heiße Laforet, der Wirt im Dorfe habe ihm von Wentworth erzählt, daß man es besichtigen dürfe, wenn er jedoch störe –!

Nobody hatte, während er so sprach, die Dame genau angesehen. Es war eine auffallend schöne Blondine, vielleicht achtzehn Jahre alt, aber schon etwas zur Fülle neigend, wie man dies oft bei blonden Damen findet, jedenfalls geeignet, Männerherzen zu entflammen, namentlich durch den sprechenden Blick ihrer großen Augen, die Nobody für dunkelblau hielt. Sie konnten aber auch schwarz sein.

Miß Ellinor Gregham freute sich, dem Fremden das Schloß zeigen zu dürfen. Sie selbst wollte ihn führen.

»Sie werden allerdings kaum befriedigt sein. Außer dem grünen Zimmer bietet es nichts Interessantes. Der Wirt hat Ihnen wohl –«

»Von dem Morde erzählt? Jawohl, das hat er. Deswegen kam ich her.«

»Dann bitte, treten Sie ein, hier ist es schon.«

Die junge Dame war vorausgegangen, öffnete im Korridor des Parterres eine Tür, und Nobody sah sich in einem Räume, der jenem in der Narrowstreet zu Hughesberry bis ins kleinste glich, nur war dieser hier größer. Miß Wentworth hatte nicht immer die Zimmer ausmessen können, die sie mietete.

»Merkwürdig!« sagte Nobody laut, daß Ellinor, die gerade die Läden zurückschlug, es hören mußte. »Das ist ein eigenartiges Zusammentreffen!«

Die junge Dame wendete sich ihm sofort zu, schaute ihn erstaunt und fragend an.

»Ich komme aus Hughesberry, wo vorgestern eine alte Dame ermordet worden ist. Sie wohnte in einem Zimmer mit genau derselben Ausstattung wie hier, und sie hieß auch Wentworth!«

»Ermordet?« stieß Miß Gregham hervor. Sie war plötzlich leichenblaß geworden und zitterte so sehr, daß sie sich setzen mußte. »Mein Gott, so hat sie doch richtig geahnt!«

Nobody wendete keinen Blick von dem Mädchen, das so sehr über die Todesnachricht erschrocken war. Er spielte vorläufig noch seine Rolle als zufällig in die Gegend gekommener Tourist.

»Ihre Tante ahnte, daß sie ermordet werden würde?« fragte er, sich erstaunt stellend, obwohl ihm ja bereits Mrs. Bourne dasselbe gesagt hatte. »War sie denn so abergläubisch?«

Miß Gregham hatte sich etwas von ihrem Schreck erholt.

»Mein Gott!« seufzte sie. »Das ist ja schrecklich!«

»Sie haben nichts von dem Morde erfahren, bis ich es Ihnen sagte?« fragte Nobody, dabei aber hatte er diese Frage durchaus nicht nötig, denn ein einziger Blick auf Miß Ellinor Gregham hatte ihm gezeigt, daß sie sich nur unwissend stellte. Warum tat sie das? Jedenfalls hätte jeder andre Mann sich durch diese Schauspielerei täuschen lassen.

»Ich hörte das erste Wort darüber aus Ihrem Munde,« antwortete das Mädchen leise.

»Wußten Sie, daß Miß Wentworth in Hughesberry wohnte?«

»Nein! Sie teilte mir nie ihre Wohnungen mit.«

»Sie mußten doch aber in geschäftlichem Verkehr mit ihr bleiben.«

»Die Korrespondenz ging durch den Rechtsanwalt Brown in London. Doch warum fragen Sie mich das? Sind Sie Polizist, Detektiv?«

Nobody hatte sich inzwischen dahin entschieden, daß er seine Rolle als Tourist fallen lassen und seinen Beruf eingestehn wollte.

»Sie haben es erraten,« erwiderte er daher. »Ich bin hier, um nach den Spuren des Mörders zu suchen, und ich kalkuliere, Sie werden mir dabei helfen, Miß Gregham.«

»Ich? Ich weiß nichts! Ich kenne den Täter nicht!«

»Das ist schade,« bemerkte Nobody trocken, »aber es ließ sich denken, da Sie ja nicht einmal wußten, wo Ihre Tante wohnte, geschweige denn in persönlichem Verkehr mit ihr standen. Sie hatten sie wohl nicht besonders gern?«

»Ich wüßte nicht weshalb,« entgegnete das Mädchen. »Miß Wentworth war eine richtige alte Jungfer, launisch, boshaft, geizig. Wenn ich nicht so arm wäre, ich hätte sie nicht gebeten, mir zu helfen, sie hätte es auch nicht getan, wenn damals nicht Algernon entsprungen wäre.«

»Vor zwei Jahren?«

»Ja. Er hatte, als er verurteilt wurde, geschworen, daß er sich an ihr blutig rächen würde, sobald er wieder freikäme.«

»Dann könnte er also der Mörder der Miß Wentworth sein? Er hat sie aufgespürt und seinen Rachedurst an ihr gestillt.«

Nobody sagte diese Worte wider besseres Wissen, denn wie schon erwähnt, hätte Miß Wentworth den entsprungenen Sträfling nicht ins Haus gelassen. Sie würde sofort bei seinem Anblick entsetzt aufgeschrien haben, und wenn er sie trotzdem getötet, so hätte er die Tat gleich unten an der Haustür ausführen müssen. Der Detektiv wollte nur hören, ob Miß Gregham den naheliegenden Ausweg ergreifen und die Schuld auf Mr. Algernon schieben würde. Er stutzte doch über die Antwort, die er empfing.

»Algernon ist an dem Tode der Miß Wentworth genau so unschuldig, wie an dem des unglücklichen Mannes, der in diesem Zimmer erstochen wurde,« sagte das junge Mädchen mit einer Bestimmtheit, die frappierend wirken mußte. Nobody mußte sich zusammennehmen, daß ihm nicht ein Fluch entschlüpfte. Jetzt hatte er anstatt eines Mordes zwei aufzuklären, aber gerade weil die Sache so verwickelt erschien, steigerte sich das Interesse des Detektivs.

»Wie kommen Sie zu dieser Ueberzeugung, Miß Gregham?« fragte er ruhig.

»Ich kann eben nicht glauben, daß ein Mann wie Algernon zum Mörder wird, auch in der höchsten Erregung nicht,« erwiderte sie ebenso. »Er beteuerte bis zuletzt seine Unschuld, behauptete, daß die Schwester des Ermordeten von ihm das Messer geliehen habe unter einem Vorwande, ja, er ging so weit, daß er sie der Tat zieh. Das glaubte ihm natürlich niemand.«

»Er entfloh aber –«

»Um seine Unschuld beweisen zu können!« versetzte Miß Ellinor sofort, und Nobody mußte zugeben, daß diese Vermutung nahelag.

»Man hat nie wieder etwas von Algernon gehört? Er wendete sich doch ganz bestimmt hierher, wo er seine Feindin zu finden hoffte.«

»Miß Wentworth verließ das Schloß sofort, nachdem sie erfahren hatte, daß Algernon entflohen war.«

»Wer überbrachte ihr diese Nachricht?«

Miß Gregham wußte es nicht, gab dies wenigstens vor.

Eine Weile saßen die beiden sich schweigend gegenüber. Nobody schien fest entschlossen, das zu vollbringen, was der ganzen Londoner Polizei nicht geglückt war. Er wollte Algernon finden, den er im ganzen Leben noch nicht gesehen hatte, und wenn es in Wentworth-House auch schließlich ein Bild des unglücklichen Mannes gab, so hatte doch die fünfzehnjährige Haft ihn sicher so verändert, daß es ihm nicht mehr glich. Die einzige maßgebende Beschreibung Algernons konnte Nobody nur in der Strafanstalt erhalten, aus welcher jener entflohen war. Für den Mörder Miß Wentworths hielt ihn der Detektiv nicht.

»Was meinen Sie, wer den Esquire umbrachte?« fragte er.

Miß Gregham zuckte die Achseln.

»Ich weiß es nicht. Entweder die eine oder die andre.«

»Sie meinen die Schwester oder die Nichte?«

»Ja, sie liebten beide denselben Mann.«

Allerdings, und die, die er verschmähte, hatte ihn als Mörder seines Freundes verhaften und verurteilen lassen. Das aber war Miß Kate Wentworth gewesen, die jetzt selbst das Opfer eines Verbrechens geworden war.

Nobody hätte nun fragen können, ob Algernon ein schöner Mann war, er tat es nicht. Das kam gar nicht in Betracht.

»Also Sie wußten nichts von dem Tode Ihrer Tante?« wendete er sich nochmals an Miß Gregham. Diese sah ihn prüfend an.

»Bringen Sie mich etwa mit dem Morde in Verbindung?« fragte sie mit bebender Stimme. »Wenn Sie das tun, sind Sie auf einer ganz falschen Spur.«

»Das überlassen Sie gefälligst mir, mein Fräulein!« sagte Nobody zu sich selber. Laut setzte er hinzu: »Keineswegs! Ich sagte Ihnen noch nicht, daß die Tote beraubt wurde!«

»Man hat ihren Schmuck gestohlen!« rief Miß Ellinor erbleichend.

»Wie kommen Sie darauf?« Nobodys Stimme klang scharf.

»Weil – die Tante trug den Schmuck alle Abende.«

»So ist es! Der Mörder nahm ihn, verkaufte ein Kollier davon und verriet sich dadurch. Ich kenne bereits seinen Namen.«

Ellinor war einer Ohnmacht nahe.

»Ein Kollier?« stieß sie kaum vernehmbar hervor. »Wer –?«

Sie konnte nicht weitersprechen. Angstvoll blickte sie den Detektiv an.

»Der Mann heißt John Kennedy!« erwiderte er, jedes Wort scharf betonend und das junge Mädchen unausgesetzt beobachtend.

»John Ke –!« schrie es auf und sank dann bewußtlos zurück.

»So! Da haben wir die Bescherung!« sagte Nobody, stand auf, ohne zunächst der Ohnmächtigen zu Hilfe zu eilen, sah sich rasch im Zimmer um und trat dann an das offenstehende Fenster.

»He, alter Freund, bringen Sie mir doch mal etwas frisches Wasser!«

Nobody rief es einem Manne zu, den er im Parke erblickte, anscheinend ein Landarbeiter, grauhaarig, ärmlich gekleidet.

Anfangs machte der Mensch eine Bewegung, als wolle er entfliehen. Der Fremde im Mordzimmer mochte ihm unheimlich vorkommen; dann aber näherte er sich dem Hause, verschwand darin, kam gleich wieder, einen Blechtopf in der Hand, den er Nobody durchs Fenster reichte. Dabei sah er die Ohnmächtige, lachte mißtönend und fragte dann mit heiserer Stimme: »Haben Sie sie –?« Er führte eine Bewegung aus, wie wenn er jemanden erstäche. »Das ist recht! Hier können Sie es tun. Hier erwischt Sie niemand. Hahaha! Wo ist denn das Messer? Ich sehe auch kein Blut!«

Diesen Redereien nach war der Greis offenbar nicht ganz zurechnungsfähig. Er mochte schon zur Zeit des ersten Mordes in Wentworth-House beschäftigt gewesen sein, die Bluttat vielleicht mit angesehen oder nur die Leiche seines Herrn erblickt und darüber den Verstand verloren haben.

Nobody warf schnell einen Blick auf Miß Gregham, sie war noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen, und eben wollte er eine Frage an den Wahnsinnigen richten, da kam dieser ihm zuvor, deutete auf das junge Mädchen, beugte sich weit vor und raunte dem Detektiv mit geheimnisvoller Miene zu: »Seid Ihr verliebt in sie? Tut das nicht! Sie hat einen andern, zwei andre, den einen sticht sie tot. Das ist immer so. Hu, Blut! Blut!«

Kreischend rannte der Alte die Stufen hinunter und verschwand im verwilderten Parke. Nobody schaute ihm mit sonderbarem Ausdruck nach. Es lag etwas Ueberlegenes darin, als wenn Nobody sagen wollte: »Wenn ihr mich anführen wollt, so müßt ihr's gescheiter anfangen.« –

»Holla, Miß Gregham, da sind Sie ja wieder zu sich gekommen. Was hat Sie denn nur so alteriert?«

Die junge Dame sah ihn noch etwas verwirrt an, dann stieg eine Blutwelle in ihre Wangen, ihrer Brust entrang sich ein Seufzer. Als ihr jedoch die volle Erinnerung zurückkehrte, zwang sie sich mit bewundernswerter Willenskraft zur äußerlichen Ruhe.

»Sie sagten, Sie hätten den Täter bereits gefunden,« versetzte sie, und ihre Stimme war fest, »Sie nannten auch seinen Namen, John Kennedy. Dieser Herr aber ist mein Verlobter und –«

»Nun begreife ich Ihren Schrecken,« vollendete Nobody.

»Er ist unschuldig an dem Morde!« beteuerte Miß Gregham.

»Wie kam er dann zu dem Halsband?«

»Auf rechtmäßigem Wege, John Kennedy stiehlt und mordet nicht.«

»Aber er kann mit dem wirklichen Täter zusammengekommen sein, sagen wir, mit Algernon, und hat von diesem den Schmuck empfangen!«

Nobody merkte deutlich, wie diese anscheinend ohne Absicht gesprochenen Worte ihren Zweck nicht verfehlten. Die junge Dame erblaßte abermals, entgegnete jedoch sofort: »Wie können Sie John Kennedy mit einem Mann zusammen nennen, dessen Aufenthalt niemand weiß, den die Polizei seit Jahren vergeblich sucht, der demnach vermutlich schon längst gestorben ist?«

»Ich brauchte ihn nur so zum Beispiel,« sagte Nobody gleichmütig, »im übrigen glaube ich nicht, daß Algernon tot ist, sondern sich ganz im Gegenteil in dieser Gegend herumtreibt!«

»Um Miß Wentworth zu ermorden, wenn er sie gefunden hätte?« fragte Miß Gregham leise.

»Nein, um sie zu zwingen, seine Ehre wiederherzustellen,« versetzte der Detektiv. »Jetzt aber,« fuhr er fort, »will ich Sie nicht weiter stören. Sie können mir ja doch keinen Aufschluß geben, denn Sie haben Wentworth-House in den letzten Tagen nicht verlassen, kannten den Wohnort Ihrer Tante auch nicht und können sich nicht denken, wie Ihr Verlobter in den Besitz des geraubten Schmuckstückes kam –«

»Werden Sie ihn deshalb befragen und gegebenenfalls verhaften?« stieß die junge Dame mit sichtlicher Anstrengung hervor.

»Seien Sie ohne Sorge. Erstens bin ich kein Polizist, zweitens halte ich John Kennedy nicht für den Mörder!«

»Nicht? O, mein Gott, was für ein sonderbarer Mensch sind Sie! Wenn es jemandem gelingt, das Geheimnis zu ergründen, das diese beiden Mordtaten umgibt, dann sind Sie es. Fast möchte ich glauben, Sie seien der berühmte Nobody!«

»Ihr Vertrauen ehrt mich, Miß Gregham, ich werde es zu rechtfertigen suchen,« entgegnete er und entfernte sich, nachdem er sich noch bedankt hatte.

Den Wahnsinnigen bekam er beim Durchschreiten des Parkes nicht wieder zu Gesicht.

Die Leser werden zugeben, daß Nobody hier vor einer Aufgabe stand, deren Lösung mehr als menschlichen Scharfsinn und eine fast übernatürliche Kombinationsgabe erforderte. Dem Detektiv selbst kam das schon jetzt nicht mehr so vor. Er hatte seine bestimmte, schon oft geschilderte Methode, und diese wendete er auch hier an, indem er zunächst alle Nebenumstände ausschaltete.

Jeder andre an seiner Stelle hätte darauf geschworen, daß der Mord in Wentworth-House mit dem in Hughesberry in direktem Zusammenhang stehe, und zwar durch die Person des unglücklichen Algernon, dessen Racheschwur ja allgemein bekannt war. Nobody dagegen hielt die beiden Verbrechen scharf auseinander. Er ließ sich auch nicht dadurch irritieren, daß John Kennedy am Tage nach dem Morde das Halsband der Toten verkauft hatte, denn so offen konnte das nur ein Mensch mit vollkommen reinem Gewissen tun. Nein, diese Spuren wollte Nobody erst dann anscheinend verfolgen, wenn er den wahrer Täter entdeckt hatte und ihn in Sicherheit wiegen wollte.

Als solcher kam für ihn nur noch eine Persönlichkeit in Frage, die ein materielles Interesse am Tode der Miß Wentworth haben mußte – also ein Erbe. Da gab es aber nur zwei: Miß Gregham und den vermögenden Doktor.

»Miß Gregham hat, aus Gründen, die ich vorläufig noch nicht durchschauen kann, in mehrfacher Hinsicht nicht die Wahrheit gesagt. Sie wußte, wo ihre Tante lebte und daß dieselbe ermordet worden war, ebenso ist ihr genau bekannt, daß Algernon noch lebt, und wo er sich verborgen hält. Wenn ich nicht der Nobody wäre, dann würde ich sagen, daß Miß Gregham im Verein mit Kennedy und Algernon ihre Tante ermordete und beraubte. So aber ist jener Doktor der nächste Erbe, und da sie ihn nicht heiraten will, wird sie Wentworth-House verlassen müssen. Sie hätte sich also selbst ihrer Existenz beraubt. Nein, das ist nichts. Der Schlüssel zu dem Geheimnis liegt ganz wo anders – im Zimmer der Ermordeten!«

So dachte Nobody, während er nach Hughesberry zurückkehrte. Dort angelangt, begab er sich zum Theater, dessen Kasse schon geöffnet war, kaufte ein Billett, trat aber noch nicht ein, sondern begann ein Gespräch mit dem Portier, fragte, wie lange derselbe schon im Dienst sei, er müsse doch fast die gesamte Bewohnerschaft der Gegend kennen.

Ja, das war der Fall. Der Mann lachte selbstgefällig.

»Unsereins sieht manches, was andre gar nicht oder erst viel später merken. Sagten Sie nicht, daß Sie auf Wentworth-House waren? Haben Sie da Miß Ellinor Gregham gesprochen? Ja? Ein schönes Mädel, was? He? Hat's aber faustdick hinter den Ohren!«

»So?« machte Nobody zweifelnd. »Das habe ich ihr nicht zugetraut!«

»Na, freilich. Sie! Da muß man schon mehr Menschenkenntnis besitzen. Ich weiß, was ich weiß!«

»Darf man fragen?«

»Eigentlich sollte ich ja den Mund halten,« entgegnete der selbstbewußte Türsteher, »doch Sie sind fremd hier – man hört's an der Sprache – da kann ich schon reden. Diese Miß Gregham hält es nämlich gleich mit zwei Liebhabern. Vorgestern bin ich dahintergekommen, hahaha. Erst kam der eine – ein gewisser Kennedy, John Kennedy; der hatte einen Platz ganz vorn, und er kam auch pünktlich. Gegen halb neun traf dann der zweite ein, Dr. Jeremias Shutter –«

»Woher wissen Sie denn, daß die beiden Herren zu Miß Gregham gehörten, von ihr bestellt waren?« fragte hier Nobody, ohne natürlich zu verraten, wie diese Mitteilungen des Portiers ihn interessierten.

Dieser guckte ihn von der Seite an, mochte ihn für sehr dumm halten. »Es fragte doch jeder von ihnen, ob Miß Gregham schon da sei!«

»Diese kam aber erst später?«

»Es schlug gerade neun.«

»Und zu wem setzte sie sich?«

»Zu mir!« lachte der Portier. »Sie wollte kein Aufsehen erregen, weil die Vorstellung schon begonnen hatte; sie saß neben mir an der Tür bis halb elf.«

»Sie ging nicht wieder fort?«

»Nein. Es gab mir Spaß, wie der Doktor sie suchte!«

»Hat er sie gefunden?«

»I wo! Sie ging am Schluß mit John Kennedy fort. Na, habe ich recht? Die hat's doch hinter den Ohren!«

»Es scheint so!« nickte Nobody, trat dann ins Haus, nahm seinen Platz ein, versank sofort in Nachdenken.

In der Mordnacht war also Miß Gregham in Hughesberry gewesen, hatte sich mit John Kennedy getroffen, war aber erst um neun ins Theater gekommen. Den Doktor hatte sie keineswegs bestellt, jedenfalls aber war das Zusammentreffen sonderbar – es fehlte nur noch Algernon, dann waren alle Personen, die als Täter in Frage kommen konnten, in der Mordnacht in Hughesberry gewesen, hatten aber gleichzeitig den Beweis ihrer Unschuld erbracht, denn wenn sie erst halb elf das Theater verließen, konnten sie nicht um zehn die alte Miß Wentworth erdrosselt haben. Wieder blieb als einziger Verdächtiger Algernon übrig.

»Der Mann muß her. Ich werde ihn morgen finden,« sagte Nobody zu sich selber. »Vorher aber will ich mal mit John Kennedy sprechen.«

Bereits in den Morgenstunden des nächsten Tages führte Nobody diesen Vorsatz durch, fand den Verlobten Miß Greghams nicht zu Hause, ward aber einstweilen in dessen Zimmer geführt, wo er warten sollte.

Der Raum war wie die meisten Garçonwohnungen ausgestattet, nicht besser und nicht schlechter, aber das geübte Auge des Detektivs sah doch auf den ersten Moment, daß der Inhaber desselben nicht mit Glücksgütern gesegnet sei.

»Oho!« sagte Nobody plötzlich. »Ein Brief, die Adresse von Damenhand! Der ist sicher aus Wentworth! Miß Gregham hat ihren Liebhaber gewarnt, nein, ihn von meinem Besuch unterrichtet. Ich habe das vorausgesehen, und ich habe nichts dagegen, daß er mich sofort erkennt – oder halt! Noch ist es Zeit – er soll Isac Natanson bei sich finden!«

Mit gewohnter Schnelligkeit bewirkte Nobody seine Umwandlung in den jüdischen Pfandleiher; er brauchte dazu keine andre Perücke, nur die Nase mußte etwas fleischiger werden, die Unterlippe herabhängen – fertig!

Schritte kamen die Treppe herauf. Nobody hörte, daß die Wirtin ihren Mieter von dem Besuch unterrichtete, dann trat dieser herein, stutzte und fragte ungehalten, was Mr. Natanson wünsche. Er mochte den jüdischen Pfandleiher am allerwenigsten bei sich erwartet haben.

»Werden Sie verzeihen, daß ich bin gekommen hierher,« antwortete derselbe. »Sie haben mir verkauft einen Schmuck, was ist gestohlen, was rührt her von einem Raubmord. Puh, was sagen Sie nu? Soll ich gehn zur Polizei oder wollen Sie wiederhaben das Halsband?«

Der junge, wirklich hübsche Mann, dessen ganzes Auftreten und Benehmen etwas Einnehmendes hatte, lächelte.

»Mr. Natanson,« sagte er dann, »daran glauben Sie doch selber nicht! Wenn ich das Halsband auf unrechte Weise erlangt hätte, dann würde ich Ihnen wohl schwerlich meinen wirklichen Namen genannt haben!«

»Sollen Sie haben recht,« gab der vermeintliche Jude zu, »aber gehört hat es der Miß Wentworth, wo ist gestorben eines so grausamen Todes.«

»Jawohl, es hat ihr gehört oder nein, sie hat es besessen,« erwiderte Kennedy ruhig und ohne Zögern.

Ein böses Gewissen besaß er nicht, das merkte Nobody, und er verstand auch sofort, was jener meinte, indem er sagte: ›sie hat es besessen!‹

»Wie ist es gekommen in Ihre Hände?« fragte er trotzdem weiter.

»Das kümmert Sie nichts. Niemand wird es von mir erfahren!«

»Auch nicht das Gericht?«

»Nein! Doch – was ist – das? Sie sind ja gar nicht Mr. Natanson! Sie sind jener –«

»Jener Detektiv, dessen Ankunft Ihnen von Miß Gregham angekündigt wurde. Jawohl, das stimmt! Ich wollte Sie nur mal ein bißchen auf die Probe stellen, war eigentlich nicht nötig.«

John Kennedy staunte immer noch. Das war doch wirklich Isac Natanson gewesen, und daß jetzt ein ganz andrer Mensch hier im Zimmer stand, das ging sicher nicht mit rechten Dingen zu.

Nobody ließ dem jungen Manne nicht Zeit, sich diese Verwandlung zu erklären.

»Miß Gregham gab Ihnen das Halsband der Miß Wentworth, als Sie sich vorgestern abend im Theater trafen,« sagte er lächelnd.

Kennedy prallte einen Schritt zurück.

»Woher wiss – ah – Miß Gregham war gar nicht in Hughesberry!«

»So? Dann hat sie eine Doppelgängerin, die genau an dem Tage, der in Frage kommt, um 6 Uhr 30 Minuten in Wentworth ein Billett zweiter Klasse nach Hughesberry kaufte, um neun ins Theater kam, und auch Sie müssen durch die Aehnlichkeit mit Ihrer Braut getäuscht worden sein. Sie haben halb elf mit der Dame das Theater verlassen. Machen wir keine langen Umstände! Miß Gregham gab Ihnen das Halsband, damit Sie es verkaufen und aus Ihren Geldsorgen herauskommen könnten!«

»Aber gestohlen hat sie es nicht! Sie ist unschuldig an dem Morde!«

»Selbstverständlich! Sonst hätte sie nicht schon um neun in dem Theater sein können.«

Wieder staunte John Kennedy den Mann, der alles zu wissen schien, fast entsetzt an.

»Herr, wer sind Sie?« stieß er dann hervor.

»Das ist vorläufig Nebensache, Sie erfahren es noch zeitig genug. Was halten Sie von dem Morde? Wissen Sie etwas von einem Mr. Algernon?«

»Der ist unschuldig, schon seit Jahren spurlos verschwunden.«

»Aber Sie kennen ihn?«

»Kennen? Ich habe ihn noch nie gesehen!«

»Warum halten Sie ihn für unschuldig?«

»Weil – Miß Gregham erzählte mir die näheren Umstände des Mordes in Wentworth-House.«

»Gut! Sie wissen nicht, wo Mr. Algernon sich verborgen hält?«

Nein, John Kennedy hatte keine Ahnung, fühlte sich aber durch die Fragen Nobodys offenbar beunruhigt, was diesem natürlich nicht entging.

»Haben Sie der Polizei gemeldet, daß ich das Kollier verkaufte?«

»Ich habe nichts mit ihr zu tun. Angst brauchen Sie auch nicht zu haben, Sie können ja Ihr Alibi nachweisen.«

Nobody wandte sich zum Gehn, blieb aber neben der Tür stehn.

»Wen halten Sie für den Mörder?«

Der Gefragte zuckte die Achseln. Keine Ahnung!

»Sind Sie öfter in Wentworth-House gewesen?« fragte Nobody noch.

»Früher! In letzter Zeit nicht mehr!«

»So! Aber den alten Wahnsinnigen haben Sie dort gesehen, der immer von Blut und Mord redet?«

Kennedy zögerte merkwürdigerweise etwas mit der Antwort, bejahte aber dann die Frage, hinzufügend, er habe sich nicht gleich erinnern können.

Nobody kehrte in das Haus der Mrs. Bourne zurück, fand dort einen Besucher vor: Dr. Jeremias Shutter, den die Polizei herbeigerufen hatte, die Leiche als die der Miß Wentworth zu rekognoszieren. Der Arzt machte einen guten Eindruck, sprach eben mit der Vermieterin über den Mord, wußte aber auch keine Erklärung.

»Die Zimmer sind wohl wieder entsiegelt worden?« fragte Nobody, der sich wieder Laforet nannte.

»Jawohl, ich bin ja der gesetzmäßige Erbe. Ich will alles da drin verkaufen lassen,« antwortete Dr. Shutter.

»Was wollen Sie dafür haben?« fragte Nobody ganz überraschend.

Der Arzt lachte belustigt.

»Sie haben doch nicht etwa ernste Absichten?«

»Doch! Ich sagte schon Mrs. Bourne, daß ich mich für geheimnisvolle Verbrechen interessiere. Ich mochte das grüne Zimmer erstehn!«

»Eine sonderbare Liebhaberei! Mir kann es freilich nur recht sein. Was bieten Sie?«

»Zwanzig Pfund!«

»Hahaha! Das ist das Zeug doch nicht wert! sollen Sie etwa die Möbel nach verborgenen Schätzen durchsuchen? Da werden Sie nichts finden!«

Nobody ging nicht auf diese Worte ein, zog eine Zwanzigpfundnote hervor.

»Also der Kauf ist perfekt?«

»Aber natürlich! So viel bekomme ich doch nicht wieder geboten.«

Dr. Jeremias Shutter steckte schmunzelnd das Geld ein und gab dafür den Schlüssel zu dem grünen Zimmer heraus. Nobody begab sich sofort hinüber, mochten die beiden von ihm denken, was sie wollten. Wären sie ihm gefolgt, sie hätten ihn gemütlich rauchend in dem unheimlichen Raume sitzend gefunden. Dabei sagte er sich in Gedanken: »Vierundzwanzig Stunden will ich noch dranwenden, länger nicht. Dann muß ich den Mörder gefunden haben. Den Algernon habe ich schon. Dem soll die verlorne Ehre bald zurückgegeben werden. Er verdient's, noch mehr aber John Kennedy. (Wie Nobody diese beiden zusammenbringen konnte, wird sich bald aufklären.) Rekapitulieren wir noch einmal, was den Mord betrifft!

Miß Kate Wentworth hat ein schlechtes Gewissen, weil sie einen Unschuldigen ins Zuchthaus brachte. Derselbe entkommt. Sie flieht vor ihm. Damit sie aber niemals die ihr drohende Gefahr vergißt, stattet sie ihr Zimmer genau so aus wie jenes Mordzimmer in Wentworth-House. An dem betreffenden Abend hat sie Mrs. Bourne und die Dienerin aus dem Hause gebracht, um ungestört einen Besucher zu empfangen. Gegen ihren Willen hat sich auch Miß Gregham eingestellt, hat sie gezwungen, das Halsband herauszugeben. Wem gehörte es?«

Nobody lächelte in der ihm eignen Weise.

»Es gehörte Miß Wentworth, der Schwester des ermordeten Esquire, und diese empfing es als Geschenk von Mr. Algernon, ihrem Verlobten. Als sie starb, nahm die Nebenbuhlerin als Erbin auch das Halsband an sich, obwohl sie es dem Geber hätte zurücksenden müssen. Miß Gregham wußte das und auch, daß das Schmuckstück dem, dem es mit Recht gehörte, aus großer Not helfen könnte. Sie ging also zur Tante und forderte es. Die geizige alte Jungfer weigerte sich; da drohte die entschlossene junge Dame mit Algernon. Sofort empfing sie das Halsband, ward aber auch schon zur Tür hinausgeschoben und gab es an John Kennedy – als den Erben oder Rechtsnachfolger des unglücklichen Algernon. Wenn derselbe schon einmal verheiratet gewesen wäre, würde ich sagen, daß Kennedy sein Sohn wäre. Na, das wird er mir ja ohne weiteres eingestehn.

Eine ausgezeichnete Zigarre! Das ist ein wahrer Genuß! Hm, aber Miß Wentworth erwartete einen Besucher, hielt Wein für ihn bereit. Der Mann hatte sich also angemeldet und verlangt, daß er allein mit ihr sei. Jedenfalls hat er Geld gebraucht, er muß ihr also verwandt oder gut befreundet gewesen sein. Sie hat es ihm abgeschlagen, und er hat sie erwürgt. Es bleiben demnach nur noch zwei Fragen: Wer war der Besucher? Wie kamen die Karten auf den Tisch?«

Nobody stand auf, trat zum Papierkorb, schüttelte den Kopf.

»Nicht einmal den haben sie geleert! Und das will einen Mörder finden!«

Er setzte sich direkt auf den Teppich, stülpte den Papierkorb um und untersuchte jedes einzelne Blättchen, mochte es noch so klein sein, sehr sorgfältig.

»Wahrhaftig, ich kenne Beschäftigungen, die interessanter sind, als den Papierkorb einer alten Jungfer durchstöbern zu dürfen oder vielmehr zu müssen. Wenn doch Mr. World mich hier sähe! Dann würde er wenigstens merken, wie mühsam ich mir meine paar Groschen verdienen muß.«

Ein Blättchen Karton fiel ihm in die Hände, an einer Ecke verbrannt, gerade dort, wo der Name gestanden hatte. Desgleichen fehlte die Anrede, wenn es eine gegeben hatte, sowie die erste Zeile. Das betreffende Stück war weggeschnitten worden, entweder beim Oeffnen des Kuverts oder später. Der noch vorhandene Text war freilich vollkommen genügend. Er lautete in deutscher Uebersetzung etwa:

»– ich, mir am Dienstag dieser Woche, abends neun Uhr, eine Unterredung unter vier Augen zu gewähren, Mrs. Bourne und das Mädchen entfernen Sie wohl? Algernon ist in der Nähe!!! Sofort verbrennen!
                Ihr tr ...«

»Na also!« lächelte Nobody, zufrieden damit, daß seine scharfsinnige Annahme sich bestätigte. Daß der Name des Schreibers fehlte, ärgerte ihn nicht, was aus den Worten hervorging, die der Detektiv weiter zu sich selber sprach. Er sagte nämlich: »Eigentlich brauche ich nun nicht mehr vierundzwanzig Stunden, um den Schuft beim Kragen zu packen, der auf die raffinierteste Art verstand, den Verdacht, den Mord verübt zu haben, auf unschuldige Menschen zu lenken. Der Elende hat freilich nicht damit rechnen können, daß ihm der Nobody auf den Hals geschickt werden würde, und ganz durchschaue ich den seinem Verbrechen zugrunde liegenden Plan auch noch nicht, aber das ist das wenigste.«

Er stand auf, dehnte die steif gewordenen Glieder, gähnte laut, griff im nächsten Moment auf den Tisch, auf dem noch das Tablett mit der Weinflasche und den Gläsern stand, und hielt ein Stückchen Pappe in der Hand.

Es war eine Rückfahrkarte III. Klasse von Wentworth nach Hughesberry, gelöst am Mordtage.

»Miß Gregham ist zweiter gefahren, auf eine einfache Fahrkarte, Mr. Kennedy kam von London hierher, er hat sie also auch nicht verloren, und in Wentworth gibt es keinen Menschen sonst, dem der letzte Aufenthalt der alten Jungfer bekannt war. Diese Fahrkarte ist übrigens erst später hierhergelegt worden, heute, denn im andern Falle hätte ich sie bei meiner ersten Anwesenheit hier finden müssen, und selbst den Augen der Gerichtspersonen wäre sie schwerlich entgangen. Ja, ja, allzu klug ist manchmal auch dumm!«

Nobody steckte die Karte und das Schreiben in seine Brieftasche, verließ das Mordzimmer, dessen Ausstattung ihm nun gehörte, verschloß es sorgfältig und fuhr zum zweiten Male nach Wentworth hinaus.

Der Stationsvorsteher erkannte den vermeintlichen Franzosen sofort wieder, fragte, ob er wieder nach Wentworth-House wolle. Ja, Laforet – Nobody hatte aber etwas gefunden, das er erst hier an der richtigen Stelle abgeben wollte, am Billettschalter. Viel Wert habe es ja nicht – er brachte die Fahrkarte hervor und zeigte sie dem Beamten.

Der Mann lachte belustigt auf.

»Die haben Sie gefunden? Da möchte ich wissen, wie der Alte nach Hause gekommen ist!«

»Welcher Alte?« fragte Nobody, als wenn er es nicht schon längst wüßte.

»Sie müssen ihn doch gesehen haben, er ist hier nicht ganz richtig.«

»Aha, der Verrückte von Wentworth-House! Der hat die Karte gelöst? Was hat denn der auf der Eisenbahn zu suchen?«

»Habe mich auch gewundert!« versetzte der Beamte. »Noch mehr aber darüber, daß er abends mit dem letzten Zuge nicht zurückkam. Er muß in Hughesberry übernachtet haben!«

»Dann ist er vielleicht bei einem Verwandten geblieben!«

»Er hat keine. Er weiß ja nicht einmal mehr seinen Namen. Der Verrückte von Wentworth-House, anders nennt ihn niemand. Machen Sie sich nur den Spaß, geben Sie ihm die Karte wieder, Mr. Laforet, und erzählen Sie mir dann, was für ein Gesicht der Alte gemacht hat.«

Nobody versprach's, verabschiedete sich und langte wieder nach zehn Minuten an dem verfallenden Landsitze an. Dem Wahnsinnigen begegnete er zwar im Parke, redete ihn aber nicht an, sondern ging sofort ins Haus, ließ sich bei Miß Gregham melden und bat sie, mit ihm ins grüne Zimmer zu kommen.

Die junge Dame schien den Detektiv nicht gerade gern wiederzusehen, aber das genierte natürlich Nobody nicht.

»Mein wertes Fräulein,« sagte er tadelnd zu ihr, »hoffentlich belügen Sie andre Leute nicht auch so wie mich!«

»Belügen?« wollte sie auffahren. Doch Nobody lächelte überlegen.

»Ja, Sie haben mich belogen, danken Sie Gott, daß ich kein Polizist bin, sonst säßen jetzt sowohl Sie als auch Ihr Bräutigam in Untersuchungshaft, des Mordes an Miß Wentworth verdächtig. Sie kannten nämlich nicht nur die Wohnung Ihrer Tante, sondern waren auch an ihrem Todestage dort, zwangen sie, ein Diamanthalsband herauszugeben, das Mr. Algernon seinerzeit der Schwester des Mr. Wentworth schenkte. Sie drohten der Tante, Algernon die Wohnung seiner Feindin zu verraten. Das Schmuckstück übergaben Sie Ihrem Verlobten, damit er es verkaufe. Er tat es im Bewußtsein des guten Rechtes, denn – Miß Gregham – er heißt nicht John Kennedy, sondern – John Algernon, ist der Sohn jenes unschuldig Verurteilten!«

Miß Gregham schaute den Sprecher geradezu entsetzt an, unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen.

»Nun, mein Fräulein,« fuhr dieser ruhig fort, »wollen Sie mir nicht sagen, wo ich den alten Mr. Algernon finden kann?«

»Ich – ich – weiß es nicht!«

»Aber ich!« entgegnete Nobody scharf. »Schauen Sie, bitte, zum Fenster hinaus! Dort drüben steht er!«

Mechanisch folgten die Blicke Miß Greghams der deutenden Hand.

Dort drüben stand der – Wahnsinnige.

Das junge Mädchen war nahe daran, abermals ohnmächtig zusammenzusinken, doch schon fuhr Nobody fort: »Das ist also Mr. Algernon, der Vater Ihres Verlobten; als er dem Zuchthause entflohen war, kam er direkt hierher – wie ich schon erwähnte, nicht um seine Rachgier zu befriedigen, sondern um seine Unschuld zu erweisen. Doch Miß Wentworth war schon fort, und Sie nahmen ihn auf, nachdem er sich seinem Sohne zu erkennen gegeben hatte. Sie rieten ihm, sich wahnsinnig oder geistesschwach zu stellen, und es gelang Ihnen wirklich, auf diese Weise alle Welt zu täuschen, nur mich nicht! Denn, Miß Gregham, Sie fürchteten sich nicht vor dem angeblichen Verrückten und seinen grauenhaften Mordphantasien, und dadurch verrieten Sie sich!

»Nein,« wehrte er ab, »unterbrechen Sie mich nicht, Sie werden mich gleich als einen ganz andern Menschen kennen lernen, als wie Sie mich jetzt beurteilen. Mr. Algernon senior war am Abende, an welchem der Mord vollbracht wurde, in Hughesberry – hier seine Fahrkarte, die noch nicht abgelaufen ist – ich fand sie im Zimmer der Ermordeten!«

Da konnte Miß Gregham doch nicht mehr an sich halten. Sie sank weinend auf einen Stuhl, und schluchzend stieß sie hervor: »Der Unglückliche! Er ist kein Mörder, und doch fällt auch jetzt wieder der Verdacht auf ihn! O, haben Sie Erbarmen, mein Herr, lassen Sie mich hinaus, ihn zu warnen. Er muß fliehen!«

Nobody drückte die Weinende, die aufstehn wollte, sanft wieder in den Stuhl zurück.

»Wer sagt Ihnen denn, daß Mr. Algernon bei Miß Wentworth war, daß er dort sein Billett verloren hat? Den wahren Mörder habe ich ja schon entdeckt. Ich lasse ihn noch heute verhaften. Ja, den Namen erfahren Sie schon noch, auch Mr. Algernon, aber fassen Sie sich jetzt, Sie müssen mir noch helfen!«

Miß Gregham war nun doch aufgestanden, hatte die Hände des Detektivs ergriffen, sah ihm lange und tief in die Augen und sagte dann mit bebender Stimme: »Lohn's Ihnen Gott! Und jetzt – womit kann ich Ihnen dienen?«

Nobody sann einen Moment schweigend nach, sah sich dann rings um, schüttelte den Kopf und sagte: »Schläft Mr. Algernon hier im Hause? Ja? So bitte, führen Sie mich hin. Genieren Sie sich nicht, ich weiß schon, wie es im Zimmer eines Wahnsinnigen aussehen muß. Gerade deswegen werde ich darin auch finden, was ich suche!«

Der Raum, den sie betraten, lag im Kellergeschoß, hatte nur ein Fenster, enthielt Bett, Tisch und Stuhl und in einer Ecke hinter ersterem einen Haufen zerlumpter alter Kleidungsstücke. Im übrigen war Schmutz genug vorhanden, so daß ein Unbefangener wohl glauben konnte, sich im Zimmer eines geistig unzurechnungsfähigen Menschen zu befinden.

Nobody schritt sofort auf das Bett zu und schob die Lumpen hinter demselben mit dem Fuß auseinander.

Ein lauter Aufschrei ertönte. Miß Gregham hatte ihn ausgestoßen, als ihr aus dem Versteck, das Nobody aufgedeckt hatte, die diamantenbesetzten Schmuckstücke der Ermordeten Miß Kate Wentworth entgegenschimmerten.

»Um Himmels willen, wer hat das getan?«

Der Detektiv zog die Brieftasche hervor, öffnete sie, nahm jenes Schreiben heraus, das er im Papierkorbe der Ermordeten gefunden hatte, zeigte es der Fragerin.

»Wer hat das geschrieben?«

Miß Gregham verstand nicht, wie der Mann auf diese Frage kam, warf aber doch einen prüfenden Blick auf die Schrift und sagte sofort: »Mr. Jeremias Shutter!«

»Ganz gewiß?«

»Ganz gewiß! Ich kann es beschwören!«

»Dann bitte, lesen Sie!«

Das junge Mädchen nahm das Blatt, überflog seinen Inhalt, ließ die Hände wieder sinken, starrte Nobody ungläubig an und rief darauf fast schreiend: »Er – er ist der Mörder der Unglücklichen! Jetzt wird mir alles klar!«

Nobody steckte das Schreiben wieder zu sich und sagte gleichmütig: »Mr. Jeremias Shutter ist der Mörder der Miß Wentworth. Er tötete sie, weil er Sie liebte, besitzen wollte. Miß Gregham! Sie verstehn mich nicht? Das wundert mich! Er hatte einen Nebenbuhler, John Kennedy, wußte, daß dieser der Sohn Algernons sei, hatte auch diesen erkannt und baute darauf seinen teuflischen Plan. Wenn man Miß Wentworth ermordet fand, mußte sich der Verdacht auf den unglücklichen Algernon lenken. Dr. Shutter begnügte sich jedoch noch nicht damit, er wollte positive Beweise schaffen. Daher sandte er Ihnen und Mr. Kennedy Karten fürs Theater –«

»Er sandte sie tatsächlich. Doch woher –«

»Lassen wir das! Sie mußten Wentworth-House verlassen, denn sonst hätte auch der alte Mr. Algernon nicht fortgekonnt. Er wollte aber nach Hughesberry, denn er hatte einen anonymen Brief erhalten, daß Miß Kate Wentworth ihn in eigner Angelegenheit bei sich zu sehen wünsche. Was konnte sie da andres wollen, als ihm das Geheimnis des Mordes an dem Esquire erklären? Der Alte verschaffte sich das Reisegeld, löste sich eine Fahrkarte, war auch in der Narrowstreet, umschlich das Haus, wagte sich nicht hinein, weil er Sie es betreten sah, ging Ihnen nach, um zu sehen, wo Sie blieben, und dann – war es Zeit zum letzten Zug. Schweren Herzens eilte er zum Bahnhofe, fand das Billett nicht mehr, hatte auch kein Geld, ein neues zu kaufen, suchte vergebens überall dort, wo er gewesen war, benutzte endlich die Nacht zur Heimkehr und sagte auch Ihnen und seinem Sohne nichts von seinem heimlichen Ausfluge, erst recht nicht, als er den Mord erfuhr. Inzwischen hatte der Doktor Shutter die Tat vollbracht, er war bei Miß Wentworth, machte ihr Angst, daß Algernon kommen würde. Sie erschrak, fragte schnell die Karten, zog das Schellenaß – die Todeskarte – und da erdrosselte er sie, wartete, daß Algernon kommen sollte. Da kehrten Mrs. Bourne und das Dienstmädchen zurück. Der Mord war entdeckt. Shutter mußte sich, weil er nicht hinaus konnte, in der Küche verbergen, floh dann durch die offne Hintertür, brachte die Diamanten hierher und wartete das Weitere ab. Sobald Algernon wegen des neuen Mordes verhaftet wurde, wäre der Doktor gekommen und hätte Sie gefragt, ob Sie den Sohn eines Doppelmörders heiraten wollen. Verstehn Sie nun?«

Miß Gregham schlug beide Hände vor das Gesicht.

»Schrecklich!« stöhnte sie.

Nobody ließ ihr eine Weile Zeit, sich zu beruhigen, faßte sie dann sanft am Arme und sagte: »Kommen Sie jetzt! Sie sollen auch erfahren, wer den Esquire tötete. Dann können Sie meinetwegen Algernon alles mitteilen.«

Sie kehrten in das grüne Zimmer zurück. Nobody schritt sofort zu dem einen Fenster, griff an den Vorhang, der dort angebracht war, zog eine Schere hervor, schnitt in die Seide und zog aus der Oeffnung ein vergilbtes Schreiben.

»Nach meinem Tode zu öffnen!« lautete die Aufschrift.

»Die Schreiberin, Miß Kate Wentworth ist tot. Die Nemesis hat sie ereilt, sie hat ihre Schuld gebüßt. Dieses hier ist ihr Bekenntnis, daß sie ihren Onkel ermordete, um den Mann zu verderben, der sie verschmähte.«

Und so war es. Die näheren Umstände der Tat selbst brauchen hier nicht geschildert zu werden, jedenfalls genügte das Geständnis der Mörderin, um Algernons Ehre wiederherzustellen.

Mit Freudentränen in den Augen eilte Miß Gregham auf Nobody zu.

»Wir sind Ihnen unendlichen Dank schuldig, Mister – Mister Laforet – oder nein – das ist nicht Ihr wahrer Name – Sie sind Mr. Nobody!«

»Stimmt!« gab dieser vergnügt zu. »Ich kann Ihnen nur noch sagen, daß es mich freute, Ihnen und Mr. Kennedy zum verdienten Glücke helfen zu können. Ich gratuliere der Herrin von Wentworth-House.«

Verständnislos schaute das junge Mädchen ihn an.

»Ja, ich spreche im Ernste – oder meinen Sie, daß man den Dr. Shutter nicht henken wird? Er feiert eine andre Hochzeit, als er sich erträumte. Also nochmals meinen Glückwunsch!«

Nobody verbeugte sich und ging. Er hatte schon die Türe erreicht, da rief Miß Gregham ihn nochmals an.

»Bitte, Mr. Nobody, wie fanden Sie dieses Schreiben hier?«

Der Detektiv lächelte.

»Ich habe, Gott sei Dank, gute Augen und sah schon bei meiner ersten Anwesenheit die dunkle Stelle. Das übrige ist mir dann im Schlafe eingefallen. Also bei der Hochzeit das erste Glas!«.

Nun ging er wirklich. Der Bericht an Worlds Magazine war schon fort, wurde bereits gesetzt oder gar gedruckt. Zwei Stunden nachdem Nobody Wentworth-House verlassen hatte, empfing jedoch Mr. World noch ein Telegramm.

»Dr. Shutter bei Anblick der Polizei erschossen!«

Das war das Ende!


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