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7. Das Haus mit den zwei Fichten.

             Hochgeehrter Herr!

Schon einmal nahm ich mir die Freiheit, an Sie zu schreiben, Sie um Rat und Hilfe bittend. Ich erhielt keine Antwort und finde das begreiflich; denn ich weiß, wie sehr Ihre kostbare Zeit durch die wichtigsten Sachen in Anspruch genommen wird, und ich hatte nur von einer besondern Angelegenheit gesprochen.

Trotzdem wage ich es noch einmal, mich Ihnen als Bittender zu nahen, und indem ich Ihnen alles ausführlich schildere, hoffe ich Sie für meinen Fall zu interessieren, dabei aber vorausschickend, daß ich nicht in der Lage bin, Ihnen Ihre gütigen Dienste zu bezahlen. Nichts andres als den Dank eines gequälten Menschenherzens könnten Sie empfangen. Ich werde Ihnen also hiermit mein tiefstes Geheimnis rückhaltlos offenbaren, und ich weiß, daß Sie dasselbe unbedingt wahren werden, auch wenn Sie deswegen keine Versicherung abgeben.

Ich Unterzeichneter, Ernest Brown, bin seit meiner Entlassung aus der Schule ein sehr bescheiden besoldeter Schreiber bei einer Lebensversicherung. Vor fünf Jahren gründete ich mit einigen Freunden einen Klub, einen harmlosen Vergnügungs- oder vielmehr Geselligkeitsverein, mit gemeinsamen Sonntagsausflügen und dergleichen. Um schnell zahlreiche Mitglieder zu gewinnen, annoncierten wir.

Unter den sich meldenden Damen war auch eine junge Malerin, Miß Jessy Springfield. Auf leichtlebige Künstlernaturen hatten wir armen Kommis, die mit jedem Cent rechnen mußten, allerdings nicht reflektiert; aber Miß Springfield wußte unsre Bedenken schnell zu zerstreuen. Lachend gestand sie, daß es mit ihrer Kunst nicht so weit her sei, sie zeichne Modebilder, entwerfe Reklameplakate, illustriere Journale usw., habe auch nur ein bescheidenes Einkommen, sie stände allein da und suche solch eine harmlose Gesellschaft – und das sehr hübsche, heitere Mädchen paßte dem ganzen Auftreten und Charakter nach auch wirklich recht gut zu uns.

Ich lernte sie näher kennen, ich lernte sie lieben. Kürzer kann ich mich nicht fassen. Und ich wußte, ich merkte, daß ich unter ihren vielen Verehrern – aber wollen Sie hierbei nur an Sonntagsausflüge denken – der Bevorzugte war, obgleich ich mich vor meinen jungen Kollegen schon durch eine Glatze auszeichnete. Miß Jessy war damals zweiundzwanzig, ich bereits fünfunddreißig. Daß aber solch ein Unterschied die Liebe nicht hindert, das habe ich damals erfahren.

Bei einem Picknick war es, als ich mich ihr erklärte. Ob sie die Meine werden wolle. Ich verdiente ja nur elf Dollar die Woche, aber wenn sich zwei wirklich recht von Herzen liebten ...

Weiter kam ich nicht!

Ich sehe noch, wie sie erschrak, wie ihr sonst so heiteres Antlitz plötzlich todestraurig wurde, und dann schlug sie die Hände vor dasselbe. Ich sah aber auch noch die Tränen zwischen ihren feinen Fingern hervorquellen.

»Ach, Ernest, warum haben Sie das getan!«

Mit diesen Worten floh sie schluchzend davon.

Lächelnd blickte ich ihr nach. Sie hatte ja oft genug gesagt, daß sie ganz frei sei, und ich wußte, daß sie mich liebte. Das sind innere Stimmen, welche nicht trügen. Dieses Benehmen war nur so Mädchenart – oder vielmehr die Weise eines edlen, keuschen Herzens, voll des feinsten Empfindens, das die ernste Bedeutung des ersten Schrittes in der Liebe mehr ahnt, als kennt und unwillkürlich davor zurückschreckt, vor jenem Schritt, welcher den Menschen aus dem Paradiese vertrieben hat, und welcher ihm dennoch das harte Erdenleben wieder zum Paradiese machen kann.

So fand ich auch nichts dabei, daß sie mich während der ganzen Partie mied, auch bei der ersten Eisenbahnstation ein Unwohlsein vorschützte, um nach Hause zu fahren. Ich bat, sie begleiten zu dürfen.

»Nicht jetzt, nicht jetzt!« flüsterte sie, damit natürlich eine andre Frage beantwortend.

Ich wartete also auf ihre Antwort auf meine Werbung – auf eine bejahende. Aber Jessy kam nicht am nächsten Sonntag, auch nicht am übernächsten. Da schrieb ich ihr einen Brief, in dem ich ihr zunächst meine Verhältnisse auseinandersetzte. Ich betonte meinen kärglichen Gehalt, in Amerika verdient ja jeder Handwerker mehr, aber ich nehme eine geachtete Stellung ein, und dann vor allen Dingen gehört zu meinem Gehalt auch eine Versicherung; nach Vollendung meines fünfzigsten Jahres bekomme ich eine wöchentliche Pension von zehn Dollar und nach meinem Tode, wann dieser auch eintritt, erhält meine Frau bare 25.000 Dollar ausgezahlt. Und schließlich die Hauptsache des Briefes: ich liebe dich, ich liebe dich, und für dich wäre mir kein Opfer zu schwer!

Als ich am Abend des andern Tages mein Junggesellenstübchen aufsuchte, das ich nun schon einundzwanzig Jahre bewohnte, hoffte ich eine Antwort vorzufinden. Sie war nicht da. Statt eines Briefes kam Jessy selbst zu mir.

Sie sah leidend und tiefernst aus.

Ich gebe unser Gespräch in summarischer Kürze wieder.

»Sie lieben mich, und ich gestehe, daß Sie der erste und der einzige Mann sind, der mein Herz gefesselt hat. Aber nur unter einer Bedingung kann ich die Ihre werden.«

»Nennen Sie dieselbe!«

»Daß ich stets von Freitag mittag bis Sonnabend mittag nicht in unsrer Wohnung weile. Am Freitag mittag verlasse ich das Haus und komme erst am andern Tage wieder, jede Woche, und Sie dürfen niemals fragen, wohin ich gehe, was ich während dieser vierundzwanzig Stunden treibe.«

So sprach sie gelassen, mich dabei fest ansehend, und in ihren Augen lag nichts von Scherz.

Geehrter Herr! Ich bin ein Mann, der auf dem Schreibsessel vertrocknet ist. Ich bin alles andre als eine romantisch angehauchte Natur. Sie können sich also meine Bestürzung denken, als die Dame, die ich anbete, die ich liebe, die ich zu meinem Weibe machen möchte, mir solch eine Bedingung stellt!

Aber ich sah sie vor mir stehn, so hoheitsvoll, und ich sah diese reine Stirn – und ich antwortete einfach: »Ja, ich bin mit dieser Bedingung einverstanden!«

Diese Antwort schien sie nicht erwartet zu haben. Sie erschrak.

»Wie?« rief sie. »Unter solch einer Bedingung würden Sie, ein Ehrenmann, mich als Frau in Ihr Haus aufnehmen?!«

»Ja, Jessy, denn ich liebe dich, und ich traue dir, und wenn du ein Geheimnis hast, so kann es doch kein entwürdigendes sein. Willst du es nicht mit mir teilen, so wirst du einen besondern Grund dazu haben, und nie, niemals werde ich dich danach fragen, noch weniger dir jemals bei deinen Ausgängen folgen. Genug – mein Vertrauen zu dir ist unbegrenzt!«

Wie erstarrt blickte sie mich, die Hände ringend, an. Hatte sie gehofft, ich würde mich sofort von ihr abwenden? Dann raffte sie sich wieder empor, und ich sollte erfahren, wie sie mit aller Gewalt versuchte, mich von meiner Zuneigung zu ihr zu heilen, sich in meinen Augen verächtlich zu machen.

»Sie kennen mich ja noch gar nicht!«

»Ich kenne dich seit einem halben Jahre und habe mein Urteil gefällt. Ich liebe dich, Jessy, und mein Vertrauen zu dir ist unerschütterlich.«

»Nun denn, so erfahren Sie alles: ich führe einen falschen Namen.«

»Was kümmert mich dein Name! Ich liebe dich, wie du bist, und nur dein Herz will ich haben.«

Ich merkte deutlich, wie sie jetzt einen Trumpf ausspielen würde, und dem war auch so.

»Auf meinem Namen haftet eine unauslöschliche Schande.«

»Aber diese Schande geht nicht von dir aus, du bist unschuldig, und das gibt bei mir den Ausschlag. Jessy, willst du mein Weib werden?«

Sie wurde ob meiner Hartnäckigkeit von einer förmlichen Verzweiflung gepackt.

»Wollen Sie die Tochter einer noch lebenden Zuchthäuslerin zu Ihrer Gattin und zur Mutter Ihrer Kinder machen?« rief sie.

»Ja.«

»Ja?« wiederholte sie in ungläubigem Staunen.

»Ja. Denn du selbst, Jessy, bist rein wie die Unschuld, oder ich will an mich selbst nicht mehr glauben!«

Da brach sie auf einem Stuhle zusammen.

Geehrter Herr! Noch einmal muß ich von meinem trocknen Berufe sprechen. Seit einundzwanzig Jahren saß ich auf ein und demselben Stuhle, vor ein und demselben Schreibpulte. Ich bin ein Pedant, mir ist mein Federhalter ans Herz gewachsen. Mit sechs Dollar hatte ich als Schreiberjunge angefangen, aller drei Jahre gibt die Gesellschaft einen Dollar Zulage, und so bekomme ich noch heute zwölf Dollar, ein Wochenlohn, für den in Amerika kaum ein Handwerker arbeitet. Die Hauptsache bei uns ist die Prämie, die Altersversorgung und das Kapital, über welches man testamentarisch verfügen kann. Aber das ist nicht etwa eine richtige Alters- und Lebensversicherung, für die wir bezahlen, sondern eine Prämie, eine Belohnung, welche die Gesellschaft für fünfundzwanzig Jahre treugeleistete Dienste gewährt. So ist es wenigstens in meinem Falle. Tritt ein Angestellter ohne triftigen Grund vorher aus, nimmt er einen andern Posten an, so hat er keinen Anspruch auf seine Prämie, er bekommt keinen Cent. Mir sind schon oft genug sehr gute Stellungen angeboten worden, glänzende, aber ich werde mich hüten, meiner Prämie verlustig zu gehn, und außerdem – ich wiederhole es, und Sie werden mich verstehn: mir ist im Laufe der Jahre mein Federhalter ans Herz gewachsen, und das war schon damals der Fall.

Doch hiervon sprach ich nichts zu Jessy, sondern ich sagte nur: »Wenn dich die Leute verächtlich anblicken, und wenn du glaubst, daß diese Verachtung auch auf mich fällt, so wollen wir doch in ein andres Land gehn, wo uns niemand kennt. Dort beginnen wir ein neues Leben. Arbeit will ich überall finden, und kann ich nicht als Schreiber ankommen, so hacke ich einfach Holz. Wenn ich nur dich und deine Liebe habe!«

 

Hier unterbrach Nobody seine Lektüre abermals; er zog das Taschentuch und beschäftigte sich eingehend mit seiner Nase.

Er saß vor dem Schreibtisch, der mit Stößen von Briefen bedeckt war. Vor ihm tickte in gläsernem Gehäuse eine Uhr. Nobody las die Briefe nach der Uhr. Länger als zwei Minuten durfte er bei keinem verweilen, sonst wurde er nicht fertig.

Als er dieses umfangreiche Schreiben hier zur Hand genommen, da hatte er verdrießlich gebrummt: »Was will nun wieder dieser Quatschhans von mir?« Und jetzt stand er auf, brannte sich eine Pfeife an, rückte einen bequemen Lehnstuhl an das offne Kaminfeuer, welches an dem kühlen Apriltage noch nötig war, und so wollte er die Lektüre dieses Briefes fortsetzen.

Bevor er wieder anfing, bemerkte er, daß er vorhin einen Brief vom Schreibtisch geworfen hatte. Ordnung muß sein. Er stand wieder auf, nahm jenen vom Boden, überflog die drei Zeilen.

In diesen drei Zeilen bot ein in New-York hochangesehener schwerreicher Mann, welcher erst vor kurzem ein sehr schönes, aber armes Mädchen geheiratet hatte, dem berühmten Privatdetektiv bare hunderttausend Dollar an, wenn er seine Frau der Untreue überführe, so daß er sich von ihr scheiden lassen könne. Das heißt, er wisse nicht bestimmt, ob sie ihm untreu sei, aber er glaube, es könnte doch sein.

»Schuft!!«

Mit einer Gebärde des Ekels schleuderte Nobody den Brief ins Feuer.

»Nun zurück zu der armen Schreiberseele! Das wirkt auf solche Niederträchtigkeit erfrischend, das versöhnt einen wieder mit der ganzen Welt. Ein goldner Kerl! Den muß ich näher kennen lernen.«

Und er setzte, mit der brennenden Pfeife behaglich im Großvaterstuhle zurückgelehnt, die Lektüre fort.

 

Sie schüttelte langsam verneinend den Kopf.

»Ich muß in New-York bleiben.«

»So bleibe eben auch ich hier. Im Geschäft fragt man mich nicht, wen ich geheiratet habe, wenn da nur meine Additionen stimmen, und außerdem,« fügte ich lächelnd hinzu, »ich mag gar nicht recht glauben, daß du dir wirklich einer Schande bewußt bist. Hättest du dich sonst unserm Klub angeschlossen?«

»Die Wahrheit könnte doch noch einmal an den Tag kommen!«

»Mag sie! Dann fliehen wir eben gemeinsam vor der öffentlichen Meinung – oder trotzen ihr vereint.«

»Wenn Ihr Entschluß so unerschütterlich ist, dann können Sie wenigstens einen Teil meines Geheimnisses erfahren. Wissen Sie, wo ich wohne?«

»Gleich neben der schwedischen Kirche, im Hause mit den zwei Fichten.«

»Woher wissen Sie das? Ich hatte Ihnen doch bloß Straße und Hausnummer angegeben.«

»Nun, mir ist eben bekannt, daß Gustavesquare Nummer 8 das sogenannte Haus mit den zwei Fichten steht, das hat doch sogar eine gewisse Berühmtheit, es ist eines des ältesten Häuser New-Yorks. Ich bin oftmals daran vorübergegangen – und am häufigsten seit der Zeit, seit der ich dich kenne, Jessy.«

»Haben Sie einmal jemanden dort aus- oder eingehn sehen?«

»Nur dich! Denn ich gestehe, daß ich dir oftmals heimlich gefolgt bin.«

»Sonst keinen andern Menschen?«

»Eine alte Frau, jedenfalls eine Dienerin.«

»Wissen Sie, wem das Haus mit den beiden Fichten gehört?«

»Einer Mrs. Ugly. Sie soll sehr krank sein, bettlägerig, und deshalb das Haus nie verlassen.«

»Wissen Sie, in welchem Verhältnis ich zu dieser Mrs. Ugly stehe, und wie es kommt, daß ich in diesem einsamen Hause wohne?«

»Das haben Sie ja selbst im Klub erzählt. Allerdings nicht direkt mir, sondern andern, und ich erfuhr es wieder. Die alte Dame steht ganz allein da, sie ist sehr nervös; eine bezahlte Pflegerin mag sie nicht um sich dulden, sie wünschte eine Mitbewohnerin des großen Hauses, und so kam ihr die Malerin, welche eine Wohnung suchte, gerade recht. Denn die Malerin ist immer zu Hause, ohne sich bemerkbar zu machen, sie geht ihrer stillen Arbeit nach.«

»Diese Mrs. Ugly ist meine Mutter.«

»Nach allem, was ich nun schon erfahren habe, überrascht mich das nicht.«

»Und diese meine Mutter ist mit Zuchthaus bestraft.«

»Das ist erledigt, meine Meinung weißt du, sprechen wir nicht mehr darüber!«

»Doch, wir wollen darüber sprechen, aber nur noch dieses eine Mal, dann nie wieder. Sie müssen alles erfahren, und dennoch bleibt das Geheimnis zwischen uns bestehn. Wie dies aufzufassen ist, das werden Sie bald merken – dann aber dürfen Sie eben deswegen nicht mehr fragen. Was meine Mutter verbrochen hat, darf ich nicht sagen. Es ist unrecht Gut, was sie besitzt, auch jene Villa. Als ich dies erfuhr, war ich ein achtzehnjähriges Mädchen, und sofort stand der Entschluß bei mir fest, nichts mehr mit ihr gemein zu haben. Das heißt, verlassen wollte ich sie deswegen nicht, denn sie war doch meine Mutter. Nur von dem unrechten Gute wollte ich nichts mehr genießen. Ich sah mich nach einem Berufe um, ich konnte gut zeichnen, bildete mich weiter aus und habe seitdem mir als Malerin mein täglich Brot verdient; alles, was ich in jenem Hause verbrauchte, ging auf meine Rechnung, bezahlte ich selbst, und was sonst die Miete für eine Stube gekostet hätte, dieses Geld überwies ich regelmäßig einer Armenkasse.«

»Das sieht deinem Charakter ganz ähnlich, und da zeigt sich eben, wie ich dich gleich ganz richtig erkannt habe,« schaltete ich ein.

»Auf meine Mutter,« fuhr Jessy fort, »habe ich keinen Einfluß. Sie will in dem alten Hause bis zu ihrem Tode wohnen bleiben, und zu ihrer Umgebung, an die sich die alte, menschenscheue Frau gewöhnt hat, gehöre auch ich. Nun soll sich das alles ändern. Ich erzählte es ihr, zeigte ihr Ihren Brief. Da verlangte sie von mir, daß ich wenigstens einen Tag in der Woche bei ihr verbringe, und zwar von Freitag mittag bis Sonnabend mittag. Sie sind also hiermit einverstanden, wollen mir diesen wöchentlichen Urlaub gewähren? Gut! Dann bin ich bereit, Ihnen als Ihre Frau zu folgen. Eine Entdeckung, die uns Schande oder doch Verachtung bringen würde, brauchen wir nicht zu fürchten. Die Tat meiner Mutter geschah in einem fernen, fernen Lande, dort verbüßte sie auch ihre Strafe; das ist nun schon ein Menschenalter her, und sie hätte gar nicht nötig, sich so vor aller Welt zu verstecken, denn niemand weiß mehr darum, niemand kennt sie.«

Ich konnte ob dieser Erklärung nur staunen. Hier reimte sich doch offenbar etwas nicht zusammen.

»Ja, Jessy, wo bleibt denn nun das große Geheimnis, das zwischen uns herrschen soll? Du hast mir doch nun alles offenbart!«

»Mit nichten. Das Geheimnis besteht dennoch. Ich habe von Ihnen nicht nur gefordert, daß Sie niemals fragen, wo ich mich binnen jener vierundzwanzig Stunden aufhalte – das ist nun erledigt, das habe ich Ihnen gesagt: im Hause meiner Mutter – sondern auch, daß Sie mich niemals fragen, was ich während dieser vierundzwanzig Stunden treibe. Und diese Bedingung muß bestehn bleiben.«

»Ja, Jessy, was sollst du denn da treiben?« fragte ich erstaunt.

»Das eben ist mein Geheimnis. Scheinbar hätte ich doch gar nicht nötig, davon zu sprechen. Ich besuche eben meine Mutter, welche menschenscheu ist und niemanden anders als mich sehen will, und dennoch ist es nötig. Es könnte zum Beispiel einmal der Fall eintreten – Gott möge ihn verhüten – daß Sie Freitag nachmittags, wenn ich also abwesend bin, aus dem Geschäft krank nach Hause kommen, vielleicht sehr krank! Da wäre es doch selbstverständlich, wenn es sich bei mir nur um einen Besuch handelte, daß Sie nach dem Hause meiner Mutter schicken, um mich holen zu lassen. Das aber dürfen Sie nicht. Das ist es! Vom Freitag mittag bis zum Sonnabend mittag existiere ich einfach nicht für meinen Mann, nicht für meine Kinder. Und,« setzte sie in flüsterndem Tone hinzu, der mir durch Mark und Bein ging, »und wenn auch mein Kind mit dem Tode ringt, ich muß gehn, ich muß, ich muß – und niemand darf fragen, weshalb, niemand darf mir folgen, niemand mich aus jenem Hause holen wollen. – Das ist das Geheimnis, welches zwischen uns herrschen wird. Begehren Sie mich jetzt noch zu Ihrer Gattin? Ernest, Ernest, noch hast du Zeit, zurückzutreten!«

Da allerdings war es wieder das große Rätsel, das unfaßbare Etwas! Da freilich konnte es sich nicht nur um einen harmlosen Besuch handeln, um der einsamen Mutter Gesellschaft zu leisten.

Was in aller Welt konnte da Geheimnisvolles in dem alten Hause geschehen? Ein fürchterlicher Verdacht stieg in mir auf. Sollte Jessy gar ...

Doch ich brauchte sie nur anzublicken, diese Züge, und ich stand auf und breitete die Arme aus.

»Ich bin mit allem einverstanden, denn mein Vertrauen zu dir hat keine Grenzen, oder alles trügt auf Erden, und die Engel im Himmel sind Sünder!«

»Und du wirst kein treueres Weib finden als mich!«

Es war ein Jubelruf, mit dem sie sich mir an die Brust warf. –

Wir waren nur deshalb acht Tage verlobt, weil wir uns doch erst ein Heim einrichten mußten. Mit meinen Ersparnissen erwarb ich ein kleines, nettes Häuschen, Highway Nummer 71. Ich konnte nur eine Anzahlung machen, aber auch Jessy hatte von ihren für meine Verhältnisse recht ansehnlichen Einkünften Ersparnisse gemacht; so brauchte nur noch eine kleine Hypothek stehn zu bleiben, und wir konnten es auch gleich recht hübsch einrichten. Daß Jessy nichts aus dem Hause ihrer Mutter mitbrachte, keinen Stuhl und keinen Cent, brauche ich wohl nicht erst zu erwähnen.

Fünf Jahre haben wir in diesem Häuschen ein fast ungetrübtes Glück genossen, dem ein Knabe und ein Mädchen entsprungen sind, jetzt vier, bezw. ein Jahr alt.

Des Geheimnisses wurde zwischen uns gar keine Erwähnung getan. Es war auch gar nicht nötig, abgesehen davon, daß ich ja nicht davon sprechen durfte.

Ferien für die Flitterwochen gibt es in unserm Geschäft nicht. Ich ging am Hochzeitstage gleich nach der Trauung ins Bureau, und Jessy malte nach wie vor Modenbilder und Plakate. Als dann der Freitag kam, sagte sie mir wie gewöhnlich des Morgens adieu und küßte mich, mittags war sie nicht zu Hause, das Dienstmädchen war von ihr angestellt, das Essen zu kochen; am Sonnabend nachmittag war Jessy wieder da, es wurde kein Wort darüber verloren, und mich hatten während der Nacht, die ich allein verbringen mußte, weder im Wachen noch im Träumen quälende Gedanken beunruhigt.

So ist das fünf Jahre fortgegangen. Es sind allerdings besondere Fälle eingetreten, die aber nur dazu dienten, um erst recht keinen Zweifel an Jessy in mir aufkommen zu lassen.

Wir waren ein halbes Jahr verheiratet, als ich mich eines Morgens unwohl fühlte und zu Hause blieb. Ich wurde ernstlich krank, durfte das Bett nicht verlassen, und so kam der Freitag.

Aber Jessy ging nicht zur Mutter, sie blieb bei mir.

»Ich denke, du mußt unbedingt jeden Freitag zu deiner ...«

»Bitte,« unterbrach sie mich sanft, »wir wollten doch nicht mehr darüber sprechen. Hier liegt etwas ganz andres vor, ich habe einfach das Dienstmädchen mit einem Briefchen nach dem Fichtenhaus geschickt, daß du krank bist und ich deshalb nicht kommen kann.«

Es kam noch ein Freitag, und wieder hatte sie das Mädchen hingeschickt, sie selbst ging nicht.

Was sollte ich davon denken? Warum hatte sie mir da erst das Herz so schwer gemacht, und jetzt nahm sie das so von der leichten Seite?

Als ihre schwere Stunde nahte, ging sie selbstverständlich nicht. Aber als Rudy geboren war, da rief sie mich zu sich, sie hatte das Kind im Arm, und da nahm ihr ganzes Wesen wieder jenen seltsamen, geheimnisvollen Ausdruck an, als sie zu mir sagte: »Ernest, bei dem Pfande unsrer Liebe versprich mir, niemals ausforschen zu wollen, was ich während der vierundzwanzig Stunden in jenem Hause treibe, und niemals, und wenn dieses unser Kind hier auch im Sterben läge, hinzuschicken oder selbst hinzugehn, um mich zu holen, wenn ich dort bin!«

Ich war so erstaunt ob dieser neuen oder doch wiederholten Forderung, daß ich die Antwort vergaß.

»Oder zweifelst du an meiner Treue? Dann verstoße mich lieber gleich jetzt! Aber du würdest eine Unschuldige verstoßen. Beim Haupte dieses Kindes, es gibt kein treueres Weib, als ich es dir bin.«

Ich küßte sie und versprach ihr, was sie verlangte.

Im Laufe des nächsten Jahres wurde Rudy einmal krank. Jessy wachte an seinem Bettchen und schrieb einfach an die Mutter einen Brief, daß sie am Freitag nicht kommen würde. Sie ging viermal hintereinander nicht.

Seitdem hat uns Gott mit Krankheit verschont. Daß meine Frau von Freitag bis Sonnabend bei ihrer Mutter war, wurde bei mir etwas Selbstverständliches, ebenso, daß ich die alte, menschenscheue Dame niemals zu sehen bekam, und schließlich fand ich auch das ganz selbstverständlich, daß Jessy, als das Mädchen geboren ward, wieder einige Freitage nicht zu ihr hinging.

Und dann kam der verhängnisvolle 10. April, ein Freitag. Wie sonst sagte mir meine Frau am Morgen adieu, wie sonst setzte ich mich des Abends mit dem vierjährigen Rudy allein zu Tisch, während die kleine Maud unter der Obhut des zuverlässigen Dienstmädchens schon schlief.

Wir essen ein Ragout. Plötzlich bekommt Rudy einen dunkelroten Kopf, sinkt im Stuhle zurück und röchelt. Ich merke sofort, was geschehen ist. Er hat ein Knöchelchen in die Luftröhre bekommen. Ich klopfe ihm auf den Rücken. Es hilft nichts, und am beängstigendsten ist mir, daß das Kind nicht einmal hustet. Wie ich nebenan zu dem Arzt gekommen bin, weiß ich gar nicht. Er ist glücklicherweise zu Hause, in der nächsten Minute sind wir wieder drüben bei dem sterbenden Kinde; der Arzt macht mir ihm gewaltsame Bewegungen, Rudy bekommt wieder Luft, aber der Arzt erklärt einen operativen Eingriff für unbedingt notwendig, und das sofort, der Fremdkörper ist noch in der Luftröhre und hat nur zur Zeit eine glückliche Lage, das Kind kann noch immer jeden Augenblick ersticken. Dr. Mail zieht sein Besteck, das Dienstmädchen muß Waschbecken und Handtuch besorgen.

»Wo ist Ihre Frau?« ruft der Arzt.

Ja, wo ist meine Frau? Und was soll ich hier? Ich war nicht imstande, eine Handreichung zu tun, ich konnte nicht zugegen sein, wenn mein Rudy auf Leben und Tod operiert wurde, mich duldete es nicht einmal im Hause, ich war hier vollkommen überflüssig, und so stürzte ich fort.

Von meiner Wohnung bis zum Fichtenhaus ist eine gute Viertelstunde. Ich war in fünf Minuten dort.

Ich weiß nicht, ob Sie das Fichtenhaus kennen. Es liegt in einem Garten, welcher mit einer hohen Mauer umgeben ist, aber durch das Gittertor kann man das ganze Haus übersehen, es liegt gar nicht weit ab davon.

Ich ziehe die Klingel. Sie ist im Hause angebracht, aber man kann sie auch auf der Straße hören, so laut gellt sie. Ich läute wieder, ich reiße und reiße, ein Konstabler verbietet mir diesen ruhestörenden Lärm.

Niemand öffnete, niemand kam, es konnte niemand im Hause sein. Und wo war meine Frau? Nicht hier? Wo sonst?

Schon auf dem Wege nach meiner Wohnung habe ich viel durchgemacht. Gott war gnädig gewesen. Das Knöchelchen war auch ohne operativen Eingriff entfernt worden, Rudy lag bereits in sanftem Schlummer.

Ich aber wanderte rastlos auf und ab. Meiner Dankbarkeit gegen den allgütigen Gott mischte sich eine bittere Empfindung bei. Wo ist meine Frau, wo ist meine Frau? So erklang es in meinem Innern fort und fort. Ich war plötzlich wie aus einem Traume erwacht.

Von meinem Fenster aus kann ich die Wohnung des Mr. Heinsdorff sehen, welchen Sie kennen. Ich meine den Kohlenagenten. In seiner Wohnung war noch Licht. Gegen Mitternacht war ich bei ihm. Er war der erste Mensch, dem ich mein Geheimnis anvertraute. Ich durfte es. Heinsdorff hatte mir schon früher einmal in einer schweren Gewissensfrage beigestanden. Ich schüttete ihm mein ganzes Herz aus. Dann gab er sein Urteil ab.

»Sie haben nicht ganz recht gehandelt. Sie hätten gar nicht auf solche Bedingungen eingehn dürfen. Zwischen Mann und Frau darf es absolut kein Geheimnis geben. Sie müssen unbedingt wissen, wo letztere sich befindet, und was sie treibt. Das ist Ihre Pflicht vor Gott und vor den Menschen. Aber deshalb brauchen Sie den Frieden Ihres Heims nicht zu stören. Fragen Sie Ihre Frau nicht selbst. Meiner Ansicht nach haben Sie trotz Ihres Versprechens, das Sie in Unkenntnis gegeben, ein Recht, Nachforschungen über das Geheimnis Ihrer Gattin anzustellen. Ich wenigstens würde es im Einklang mit meinem Gewissen tun. Was Sie aber nun auch erfahren mögen, es ist wiederum Ihre Pflicht, Ihrer Frau auch zu verzeihen. Das ist überhaupt ganz selbstverständlich. Uebrigens kenne ich ja Jessy, ich halte sie keiner unedlen Tat für fähig. Wissen Sie was – schreiben Sie doch einmal durch die Redaktion von ›Worlds Magazine‹ an den Privatdetektiv Nobody. Er hält sich gegenwärtig in New-York auf. Berufen Sie sich nur auf mich, er ist mein Freund. Erzählen Sie ihm alles ausführlich, vertrauen Sie sich ihm rückhaltlos an. Ihr Geheimnis ist bei ihm so sicher aufbewahrt wie bei mir und in Ihrer eignen Brust. Wenn es aber einen Mann gibt, der diese Verwicklung mit Geschick lösen kann, dann ist es mein Freund Nobody.«

So sprach Mr. Heinsdorff. Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen. Meine Bitten habe ich schon am Anfang des Briefes ausgesprochen, und so verbleibe ich in der Hoffnung, von Ihnen eine Antwort zu erhalten,

             Ihr hochachtungsvoll ergebener

                     Ernest Brown.

 

»Warum hat er mir nicht gleich im ersten Briefe gesagt, daß er sich auf Heinsdorffs Veranlassung an mich wendet?« brummte Nobody.

Ueber Mr. G. W. H. Heinsdorff, welcher noch heute in New-York lebt und wirkt, seien nur einige Worte gesagt. Das kleine, bucklige Männchen, das seine Seele im Auge hat, ist Kohlenagent, brasilianischer Konsul, Ehrendoktor zweier Universitäten und Christ. Daß er ein Christ ist, pflegt er nämlich zu betonen. Vermögen hat er nicht, wohl aber ein Einkommen von mindestens 100.000 Mark, und das verteilt er eigenhändig unter die Armen. Besonders den deutschen Auswanderern, welche mittellos nach Amerika kommen, tut er unsagbar viel Gutes. Dabei wird er natürlich oftmals betrogen und mißbraucht. Das weiß er, denn er ist ein ganz, ganz geriebener Geschäftsmann, der sich noch niemals übers Ohr hat hauen lassen. Schadet nichts; wenn sich der, der ihn getäuscht hat, hilfsbedürftig ihm wieder nähert, gibt er ihm immer wieder. ›Du sollst deinen Bruder nicht siebenmal, sondern siebenmal siebzigmal verzeihen!‹ Und mit dieser Konsequenz bezwingt er den schlechtesten Charakter schließlich doch!!!

Nobody hatte diesen Mann, über dessen Vortrefflichkeit man gar nichts weiter sagen soll, weil es da eben keine Worte gibt, näher kennen gelernt.

»Was Heinsdorff wünscht, ist mir Befehl,« sagte Nobody nur, und ohne den Brief noch einmal gelesen zu haben, warf er ihn ins Feuer, wartete, bis die letzte Papierecke verbrannt war, zerstörte noch die Asche, und dann setzte er sich sofort hin und schrieb an Brown, zunächst anfragend, wo er außerhalb seiner Wohnung zu sprechen sei. Wie ihn Brown noch gebeten hatte, dirigierte er den Brief an die Geschäftsadresse.

 

Als eleganter Stutzer gekleidet, das Monokel ins Auge geklemmt, flanierte Nobody auf der Bedstreet, wo Gemüsemarkt abgehalten wurde. Sicherlich studierte der junge Pflastertreter nur die drallen Arme der Küchenfeen und die Strumpfmuster der ›bessern Damen‹ welche diese wegen der Regenpfützen öfters zeigen mußten, und da hatte er auf der Bedstreet noch manch andern Studienkollegen, und sie alle zeigten solche bleiche, gelangweilte Gesichter wie unser Nobody.

Da aber fesselte ein Mädchen, oder eine junge Frau, wirklich seine Aufmerksamkeit. In Wirklichkeit war diese freilich weder auf dralle Arme noch auf Strumpfmuster gerichtet gewesen.

Die einfach gekleidete Dame trug einen kleinen Marktkorb und machte trotzdem einen eleganten Eindruck. Eine Schönheit war sie nicht. Oder ist etwa die Sixtinische Madonna schön? Gewiß nicht! Ja, sie ist schön – aber im erhabensten Sinne dieses Wortes! Die unendliche Kunst in diesem unvergleichlichen Gemälde liegt in der Verschmelzung der keuschen Jungfräulichkeit mit einem mütterlichen Ausdruck, und das hat nur ein Raphael Santi fertig gebracht.

Und das hier war eine Sixtinische Madonna!

Die Pflastertreter musterten sie mit Kenneraugen.

»Hübsches Frauenzimmer! Netter Käfer!«

Nichts weiter! Keiner blickte ihr nach. Da gab es hier Hübschere.

Nobody war kein Künstler, kein Kunstenthusiast; aber er empfand.

Beim ersten Blick war er wie geblendet. Nein, er sah gar nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen. Und er konnte sich nicht sattsehen. Immer wieder überholte er sie, um sein Herz an dem Anblick der lebendigen Sixtinischen Madonna zu weiden. Doch an dieses Bild dachte er gar nicht. Er fand es selbst heraus.

»Eine jungfräuliche Mutter! Wer mag es gewagt haben, diese Unschuld zu berühren, ohne vor dem ungeheuern Frevel zurückzuschrecken?«

Er mußte es wissen. Sie hatte ihre Einkäufe besorgt, betrat eine Seitenstraße. Nobody folgte ihr. Bald befanden sie sich allein in einer breiten, mit von Gärten umgebenen, kleinen Wohnhäusern eingefaßten Straße, Nobody in einiger Entfernung immer hinter der Unbekannten drein.

Sie merkte, daß ihr jemand folgte; sie blickte sich zweimal um, und dann immer noch einmal. Das ist von einer Dame nicht anständig; aber bei dieser Raphaelschen Madonna hier gab es keine Unanständigkeit.

Jetzt blieb sie stehn, klinkte eine kleine Gittertür auf, war mit zwei Schritten durch den winzigen Vorgarten und verschwand in der Tür des Hauses.

Wo befand sich denn Nobody eigentlich? Er orientierte sich, ohne daß er dazu ein Straßenschild brauchte. Der Highway, wahrhaftig, der Highway, wohin er sich überhaupt hatte begeben wollen! Und jenes Haus? Langsam schlenderte er daran vorüber. Nummer 71. Ein Schild zeigte an, daß hier Ernest Brown wohnte!

Nobodys Staunen ob dieses Zufalls grenzte an Bestürzung.

»Sie ist es! Das Schicksal will es! Well, go ahead!«

Dieses Haus hier war sowieso Nobodys Ziel gewesen. Er hatte Jessy aufsuchen und sprechen wollen. Lange Zeit hatte er zwischen der Maske eines Hausierers und der einer barmherzigen Schwester geschwankt, bis er die des blasierten Stutzers und Mädchenjägers gewählt hatte. Er wollte die junge Frau in Verlegenheit setzen, ihr Benehmen in einem gewissen Falle beobachten, nämlich, wie sie sich verhalte, wenn man ihr den Hof mache, oder aber, wie sie es anfing, einen aufdringlichen Gast an die frische Luft zu setzen. Was er dazu brauchte, hatte er schon bei sich.

Auch er betrat das Gärtchen, ließ den an der Tür angebrachten Klopfer erschallen. Die Oeffnende war jedenfalls das Dienstmädchen, eine verblühte Person von etwa vierzig Jahren. Auch die hatte Nobody studieren wollen.

»Simpel, harmlos und treu!« lautete sein Urteil.

»Aeh, hm, äh,« leitete dann der Elegant seine Frage ein. »Miß Brown zu sprechen? Muß sie sprechen.«

»Hier gibt es keine Miß Brown, nur eine Mistreß Brown.«

»Die soeben das Haus betrat?«

»Das war die Mistreß.«

»Das war Mistreß Brown? Unglaublich. Muß sie sprechen. Hat etwas verloren.«

»Mistreß hat etwas verloren?«

»Ja, unterwegs, eben hier. Habe es gesehen und aufgehoben.«

Das alte Mädchen war sehr gut dressiert, es fragte nicht, was die Herrin denn verloren habe, sondern öffnete schon die Tür des Parlours, des Wohnzimmers oder Salons, welcher stets der erste Raum vom Korridor aus ist.

»Bitte, treten Sie ein! Mrs. Brown wird gleich kommen. Wen darf ich melden?«

»Hastings – Horatio Hastings.«

Der kleine Salon atmete bescheidene Behaglichkeit und künstlerischen Geschmack; die vielen Oel- und Aquarellbildchen an den Wänden stammten jedenfalls von der Hand der Hausfrau, ihren Wert konnte Nobody nicht taxieren. Nach diesem allgemeinen Ueberblick widmete er seine spezielle Aufmerksamkeit dem großen Wandspiegel, der seine ganze Person wiedergab.

Einfach tadellos! Phänomenal, pyramidal und so weiter! Dieses blasierte Gesicht hätte er gar nicht besser treffen können. Und nun diese Uhrkette mit den originellen Berlocken, diese Diamantringe – dieser Elegant mußte jedes Frauenherz brechen. Nein, nicht brechen, sondern besiegen!

Dieser Maske lag nämlich eine ganz raffinierte Berechnung zugrunde. Nobody hätte sich auch noch ganz anders präsentieren können, etwa als ideal schöner, ernster Mann, als solch ein Mann, der tatsächlich gleich unter allen Frauenherzen aufräumt.

Nein, das wollte er nicht. Er durfte von vornherein nicht ernst genommen werden. Er mußte ein Fatzke sein, bei dem es nichts schadet, wenn er hinausgeschmissen wird. Er wollte prüfen, wie sich Jessy benahm, wenn sich ihr solch ein hübscher Kerl, der nicht weiß, wohin mit seinem vielen Gelde, als ›Fancyman‹ anbot.

Dieses Wort ›Fancyman‹ läßt sich nicht übersetzen. ›Liebhaber‹ und ›Hausfreund‹ gibt seine Bedeutung nicht wieder. Der italienische Cicisbeo ähnelt ihm schon eher. Ein närrischer Verehrer, den sich die Frau unter Umständen mit Einverständnis des Mannes hält, mit dem sie sich die Zeit vertreibt, ohne ihm auch nur einen Handkuß zu gestatten, und der ihr dafür die Toiletten kauft. Das englische ›fancy‹ heißt auf deutsch sowohl Phantasie, als auch Spielzeug, kostbarer Schmuck. Fancyman – ein reicher Hampelmann.

Mrs. Brown trat ein, noch in dem Straßenkleide. Nur den Hut hatte sie abgelegt.

»Mein Herr?«

Der Stutzer hatte schon das Taschentüchelchen hervorgezogen, das er zu diesem Zwecke eingesteckt gehabt, welches die Dame, auf die er es abgesehen, verloren haben sollte, um sich auf diese Weise in ihr Haus einzuführen.

»Aeh, hm, äh,« war wieder die von mehreren Verbeugungen begleitete Einleitung. »Madam haben ihr Taschentuch verloren – ich war der Glückliche – sah zufällig, wie es Ihnen aus der Tasche fiel – habe das Vergnügen, es Ihnen zurückgeben zu dürfen.«

Mit graziöser Geste überreichte er ihr das Tüchelchen, welches er erst etwas zerknüllt hatte, damit man nicht gar zu deutlich sah, daß es eben erst aus dem Laden kam. Das heißt, er hielt es ihr zwischen den Fingerspitzen wenigstens hin.

Was würde sie nun tun? Gerade mit Spitzentüchern wird in Amerika ein großer Luxus getrieben, auch in den untern Klassen. Das hier freilich war keines, welches in so ein Häuschen gehörte, das hätte vielleicht eine Millionöse sich leisten können.

Es gab wohl nicht viel amerikanische Frauen, die dieser Verlockung hätten widerstehn können, das kostbare Spitzentuch, das ihnen als ihr Eigentum zugestellt wurde, auch als solches anzuerkennen und zu nehmen. Und wer nicht gar zu sehr auf den Kopf gefallen war, der erkannte ja sofort auch den eigentlichen Grund dieses Besuches.

Daß diese Sixtinische Madonna das Spitzentuch nicht als Geschenk annahm, das war für Nobody ganz selbstverständlich, oder er wollte niemals wieder einen Menschen taxieren. Er war nur gespannt, wie diese einfache Frau, mit der er sich demnächst beschäftigen mußte, den dreisten Schwerenöter hinausbalancierte, ob sie entrüstet sein würde oder kalt oder ...

Nobody glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Das war ja ein schalkhaftes Lächeln, das sie zu verbergen suchte, durch welche Bemühung ihre sanften Züge erst recht liebreizend wurden, und mit solch einem Gesicht griff sie erst in ihre Kleidertasche und dann – nach dem Spitzengewebe!

»Wahrhaftig, ich habe mein Taschentuch verloren!« wollte sie sich erschrocken stellen, was ihr aber gänzlich mißlang. »O, wie soll ich Ihnen danken! Ich weiß nicht, mein Herr, wie ich mich revanchiere ...«

»O, bitte, bitte,« stammelte Nobody, und das war weniger erkünstelt als natürlich, der eiserne Detektiv verlor wirklich etwas die Fassung.

»Halt, ich weiß!«

Auf dem Spiegelkonsol lag eine Papeterie, sie entnahm ihr ein Kuvert, faltete das Tüchelchen wieder zusammen, steckte es in das Kuvert, klebte dieses zu, setzte sich und schrieb gleich die Adresse darauf, dabei die Worte vor sich hinsprechend: Poverty-Association, City.

Das ist eine Gesellschaft, ganz unsrer Reichsfechtschule entsprechend; die nimmt sowohl eine Tausenddollarnote als auch ein Schächtelchen Zigarrenspitzen und eine alte Bierflasche an, macht alles zu Geld und verteilt dies unter die Armen.

So, nun auch noch eine Briefmarke darauf, und sie überreichte den Brief dem jungen Stutzer.

»Bitte, mein Herr, machen Sie das Maß Ihrer Güte voll, indem Sie das Spitzentuch auch noch in den Briefkasten stecken.«

Nun ein Kopfneigen, und jetzt verschwand das schalkhafte Lächeln und machte einem tiefernsten Ausdrucke Platz, als sie hinzusetzte: »Und nun müssen Sie, mich entschuldigen, ich komme soeben nach Hause, mein jüngstes Kind verlangt nach mir!«

Nobody wußte nicht, wie er an die frische Luft gekommen war.

»Sakra, hat die a Schneid! Famos gemacht – wirklich famos gemacht!!«

Er warf das Kuvert mit dem Sacktüchelchen in den nächsten Briefkasten, ging um die Ecke in ein deutsches Restaurant, bestellte einen Liter Münchner, und als dieser getrunken war, blickte Nobody lange nachdenklich in den Steinhumpen, ließ ihn sich noch einmal füllen, setzte noch einen echten Gilka darauf, in Amerika kein billiges Vergnügen, dann suchte er den Ort auf, zu welchem nur Herren Zutritt haben, schloß sich ein, zog die Jacke aus, Weste aus, Hose aus, krempelte alles um, auch den weichen Filzhut, krempelte sogar seine Visage um, zog alles wieder an, und als er den betreffenden Ort verließ, da hätte kein Mensch den blasierten Stutzer wiedererkannt.

Nobodys nächstes Ziel in der neuen Maske war der Gustavesquare.

Dieser Platz liegt dicht neben der City und ist noch ein Andenken von dem alten New-York. In der Mitte steht ein kleines, uraltes Kirchlein, einer schwedischen Mission gehörend, die das kostbare Terrain nicht verkaufen will. Auch sonst machen alle die kleinen Häuser hier einen altväterischen Eindruck, hier erheben sich noch viele große Bäume, man fühlt sich hier, gleich wenn man aus der Brandung der Weltstadt herauskommt und überhaupt noch mitten drin, plötzlich auf einen stillen Friedhof versetzt.

Zu den Ueberresten des alten New-York gehört auch das Haus mit den zwei Fichten, welchen Namen die Bevölkerung ganz geläufig ausspricht, und nur wenn der Yankee einmal gar keine Zeit hat, begnügt er sich mit dem ›Fichtenhaus‹.

Seinen Namen hatte es von den zwei mächtigen, mehr als hundertjährigen Kaurifichten, welche in dem Garten standen, der von einer hohen Mauer umringt war. In der Mitte desselben, aber nicht weit entfernt von dem Gittertor, und von diesem aus völlig übersehbar, lag das massive, kastenähnliche Gebäude, eine zweistöckige, nicht allzugroße Villa, in der einst die schwedische Mission ihren Sitz gehabt hatte. Hinten stieß der Garten an die fensterlose Wand eines großen Geschäftshauses, links an einen andern, kleinen Garten; rechts davon stand ein Gebäude mit einer roten Laterne, welche ankündigte, daß hier das Auge des Gesetzes in Form einer Polizeistation wachte, und gegenüber – schon lange irrte Nobodys Auge suchend umher – da reckte der liebe Gott seinen Arm heraus.

»Echt Münchner!!« jauchzte Nobody auf. »Ich denke doch, mich in New-York auszukennen, und weiß noch nicht einmal, daß es hier neben der schwedischen Kirche echtes Münchner gibt!«

Im Sturmschritt ging's hinüber in die Budike – oder, wie Nobody sich ausdrückte – in die ›Buwärtzje‹ – der ein biederer Deutscher schon seit sechzehn Jahren vorstand. Nobody konnte sich gar nicht wieder beruhigen, daß er davon noch gar nichts gewußt hatte.

Sein Durst war übrigens begreiflich. Den in New-York ungewöhnlich kühlen Apriltagen war eine intensive Hitze gefolgt, und Nobody ging überhaupt nicht gern an einem Hause vorüber, wo der liebe Gott mit dem Arme herauslangte, besonders nicht, wenn es drin Münchner gab.

Der Wirt, der sein Deutsch noch nicht vergessen hatte, weil hier doch auch nur Deutsche verkehrten, befand sich allein in der Gaststube, angetan mit einem Hemd und einer Leinwandhose.

Wegen der Hitze und auch, weil ihm die Hose viel zu eng war, hatte er sie vorn über seinem Schmerbauch aufgeknöpft und oben nur mit einem Strick zusammengebunden, der sich in einer Länge von wenigstens einem Viertelmeter über den Leib spannte, so daß man vorn unterhalb des Hosenbundes noch ein großes Dreieck von dem blau und weiß karrierten Hemd sah.

So steht wörtlich in Nobodys Tagebuch. Man sieht, es ist von einem ebenso gewissenhaften wie scharf beobachtenden Detektiv geschrieben.

»Haben Sie Münchner?«

»Ei ja!«

»Echtes?«

»Ei ja, ganz echtes, und bei mir gibt's keen Bierapparat, bei mir leift's direkt aus'n Hahne.«

Bei diesen Worten hatte der Mann gravitätisch den Bauch herausgereckt, und infolgedessen platzte ihm der Bindfaden, und die Hose rutschte herunter, gleich bis an die Knie. Sie wurde wieder hochgezogen, das Hemd hineingestopft, ein neuer Bindfaden befestigt, und wenn wir Nobody Glauben schenken wollen, so platzte dem Manne innerhalb einer Stunde achtzehnmal der Bindfaden, ebenso oft verlor er die Hose, ebenso oft zog er sie wieder hoch, stopfte das Hemd wieder hinein und knotete den Bindfaden wieder zusammen.

Doch wir wollen uns nicht auf solche Einzelheiten einlassen, wenn auch Nobody dies in seinem Tagebuche ausnahmsweise ganz ausführlich geschildert hat. Er muß sich an jenem Tage überhaupt in einer ganz merkwürdig anormalen Stimmung befunden haben. Anstatt bei der Sache zu sein, worauf es ankommt, fängt er plötzlich an, auf vierzehn enggeschriebenen Seiten zu schildern, wie das Münchner Bier gebraut wird, ergeht sich dabei in den kühnsten Theorien der höhern Braukunst, und nachdem er hiermit glücklich fertig ist, fängt er wieder mit den sauern Gurken an, beschreibt, wie man sie am besten einlegt, spricht von Essig, Lorbeerblättern, Pfefferkörnern und dergleichen, auch Paprika sei sehr gut, und versteigt sich zuletzt zu der kühnen Behauptung, den wahren Genuß von einer sauern Gurke hätte man erst, wenn man sie mit einem Gemisch von Honig und Senf bestreicht und beim Verspeisen dieser Delikatesse den Priem im Munde behält.

Es muß damals wirklich ein sehr heißer Tag gewesen sein.

Endlich aber holte Nobody mit seiner gewöhnlichen Virtuosität dem Hosenmatz die Würmer aus der Nase. Er gab sich für einen Häuseragenten aus und hatte es jetzt auf das Fichtenhaus abgesehen, das ein reicher Mann aus besonderer Liebhaberei zu kaufen wünschte.

Nein, diese Hoffnung solle er nur gleich aufgeben. Der Hosenmatz kannte die Verhältnisse ganz genau. Mrs. Ugly wohnte schon ein Stücker fünfundzwanzig Jahre im Fichtenhaus; es waren ihr für das kostbare Grundstück mit seiner unvergleichlichen Lage schon oft horrende Preise geboten worden, allein da gab es nichts, die wollte im Fichtenhaus auch sterben.

Der Hosenmatz wußte das so bestimmt zu versichern, daß es ganz angebracht war, wenn der Agent seine Hoffnung auf eine Vermittlung gleich aufgab. Nun hatte aber der Wirt auch schon etwas von ›menschenscheu‹ gesprochen, und da war es begreiflich, wenn sich der Agent trotzdem noch für das Fichtenhaus und seine Bewohnerin interessierte. Und der Hosenmatz erzählte gern, zumal er auf des Gastes Rechnung immer ein Glas Münchner nach dem andern hinuntergulksen durfte.

»Ich bin doch schon sechzehn Jahre hier, kann gerade hinübersehen, und schon damals lebte sie geradeso wie heute.«

»Wie denn?«

»Nun, sie geht nie aus, man bekommt sie gar nicht zu sehen.«

»Niemals?«

Doch, im Garten hatte sie der Wirt ein paarmal schon gesehen, eine korpulente Dame mit schneeweißem Haar; aber das war doch immer eine Seltenheit, man konnte solche Fälle, daß sie einmal im Garten gesehen wurde, zählen.

»Nur ein altes Dienstmädchen hat sie bei sich.«

»Und gewiß einen Gärtner.«

»Nee, gibt's nicht.«

»Wer hält denn da den Garten in Ordnung?«

»Jedes Jahr zweimal kommt ein Gärtner, der die Bäume und den Rasen beschneiden muß. Es ist ja eigentlich auch gar kein Garten, nur Bäume und Rasen.«

»Aber sie bekommt doch manchmal Besuch?«

»Auch nicht! Niemals! Ja, die Miß Springfield kommt noch jeden Freitag und bleibt bis Sonnabend bei ihr. Oder jetzt hat sie sich wohl verheiratet. Mit wem, weiß ich nicht. Aber verheiratet ist sie.«

»Eine Verwandte?«

»Vielleicht, ich weiß es nicht bestimmt. Das ist schon ein Stücker zehn – nein, warten Sie – ganz genau neun Jahre ist es her; damals war Mrs. Ugly immer krank, lag im Bett, wenn sie auch keinen Arzt brauchte. Die Dienerin muß ja jeden Tag Einkäufe machen und die Mistreß wollte dann doch nicht ganz allein sein, und da hatte sie ein junges Mädchen zu sich genommen, die Miß Springfield. Es war eine Malerin. Neun Jahre hat sie bei ihr gewohnt, dann hat sie sich verheiratet. Aber jeden Freitag mittag kommt sie noch und bleibt bis Sonnabend mittag im Fichtenhaus, das geht ganz pünktlich. Selten einmal, daß sie nicht kommt!«

»Fürchten sich denn die beiden Frauen nicht, wenn sie in dem großen Hause so ganz allein wohnen?«

»Gleich nebenan ist ja die Polizeiwache!«

»Immerhin. Da haben sie doch wenigstens einen Hund?«

»Keinen Hund und keine Katze. Gleich neben der Polizeiwache wird wohl niemand so leicht einbrechen, zumal hier der alte Boyden stationiert ist, was der Kriminalkommissar ist; das ist einer der schärfsten Detektivs, die wir in New-York haben, und was der Wachtmeister ist, der hat seine Konstabler auch im Zuge. Da gibt's im Dienst nichts von wegen ›auf der Pritsche liegen‹. Höchstens hierherüber dürfen sie einmal kommen. Der Wachtmeister tut nämlich auch gern manchmal einen schmettern. Man braucht nur zu pfeifen, dann kommen sie gelaufen. Der Wachtmeister ist nämlich auch ein Deutscher, Schnullrich heißt er. Probieren Sie's mal, pfeifen Sie mal! Wie die Kerls auf dem Damme sein!«

Nobody, der am offnen Fenster saß, steckte zwei Finger in den Mund, ein gellender Pfiff schrillte.

Und sie kamen gelaufen! Einsam und verlassen hatte die Polizeiwache dagelegen, doch kaum war der Pfiff erklungen, als es plötzlich wie ein Ameisenschwarm aus der Tür herausquoll, ein Dutzend Männer in dunkler Konstableruniform, am Gürtel den Hickoryknüppel, die furchtbare Waffe des amerikanischen Polizisten.

Ja, die Wächter des Gesetzes waren auf ihrem Posten! Der Pfiff war an ihr Ohr gedrungen, und sofort hatten sie auch heraus, woher er gekommen, sie stürzten hinüber nach der Kneipe, voran der dicke Wachtmeister, der den ebenso merkwürdigen wie schönen Namen Schnullrich führte, ein Deutscher, der sich hier diese angesehene Stellung errungen hatte – sie rannten in voller Flucht hinüber nach der Kneipe, und die Zunge hing ihnen aus dem Halse, so heiß war es, und trotzdem vergaßen sie nicht ihre Pflicht, die wackern Leute.

Sie stürzten hilfsbereit in die Gaststube.

»Wer hat hier gepfeift?« wandte sich Wachtmeister Schnullrich an den Wirt.

»Ich war's, der da pfoff,« entgegnete Nobody, ließ Bier anfahren, und sie saugten emsig wie die Bienen.

Aber Nobody traktierte sie umsonst mit Münchner und machte sie mit Gilka, dessen Wert auch der Ausländer bald zu schätzen lernt, noch besonders gesprächig, die Polizisten konnten über das Haus mit den zwei Fichten und seine Bewohnerinnen nichts andres aussagen, als was Nobody schon vom Wirte gehört hatte. Es war absolut nichts Mysteriöses dabei. Mrs. Ugly und die Polizei waren die besten Nachbarn, seit den fünfundzwanzig Jahren war in jenem Hause auch gar nichts passiert.

Nur eines erfuhr Nobody noch, was ihm neu war, und was ihm dann später viel zu denken gab.

Daß die frühere Einmieterin, die jetzt verheiratet war, jeden Freitag die alte Dame noch besuchte und bis Sonnabend mittag bei ihr blieb, wußten die Polizisten natürlich ebenfalls, sie fanden dabei weiter gar nichts, und nun fragte der über alle Maßen neugierige Häuseragent, ob sie denn sonst niemals Besuch empfing.

Nein, niemals! Die menschenscheue Dame sah überhaupt niemanden bei sich, ließ niemanden in ihr Haus. Wenn zum Beispiel eine barmherzige Schwester kam, um milde Gaben zu sammeln, so wurde ihr bedeutet, ihr Anliegen brieflich vorzubringen, oder sie erhielt das Geldgeschenk gleich draußen am Tore von der Dienerin ausgehändigt, wobei zu bedenken ist, daß die barmherzigen Schwestern und ähnliche Personen gerade in Amerika ein außerordentliches Ansehen genießen, die fertigt man nicht an der Türe ab; auch der mit Arbeit überbürdetste Geschäftsmann hat in seinem Bureau stets Zeit für sie übrig.

Aber wenn die alte Dame menschenscheu war, dann war so etwas ja entschuldbar, und sie sollte auch immer sehr reichlich geben. Die Polizisten sprachen überhaupt nur mit der größten Hochachtung von ihr.

»Und daß Mrs. Ugly möglichst ungestört bleibt, dafür sorgen schon wir,« sagte Wachtmeister Schnullrich mit Würde. »Da wurde neulich nachts, am letzten Freitag war's, die Malerin war gerade bei ihr, am Fichtenhaus die Klingel gezogen, in einer Weise, daß wir denken, es ist Feuerlärm. Ich natürlich sofort hinaus! Da steht ein Mann draußen und reißt wie ein Wahnsinniger am Klingelzug. »Merken Sie denn nicht, daß niemand zu Hause ist?« schnauze ich ihn an. Na, als ich hörte, daß es Mr. Brown war – das ist nämlich der Mann von der Malerin, von der früheren Miß Springfield – und daß zu Hause der älteste Junge etwas in den Hals bekommen hätte und im Sterben läge, wurde ich natürlich sanfter. ›Wo ist meine Frau, wo ist meine Frau?‹ fragte er in einem fort. Der Mann war ganz außer sich. ›Lieber Herr, die ist eben nicht da, ist wohl einmal weggegangen,‹ sagte ich. ›Aber ich werde aufpassen lassen, bis sie wiederkommt und ihr mitteilen, daß sie schnellstens nach Hause geht.‹ Da rannte Mr. Brown gleich wieder fort.«

»Ist sie denn zurückgekommen?« fragte Nobody mit der größten Spannung. »Haben Sie ihr gesagt, daß ihr Kind dem Tode nahe sei?«

»Nee,« entgegnete Herr Schnullrich phlegmatisch. »Gleich darauf wurde entdeckt, daß nebenan in der Horsestreet eingebrochen worden war, da hatten wir alle Hände voll zu tun.«

»Und da ist die ahnungslose Frau wohl gar nicht nach Hause gegangen?«

»Nee. Am andern Mittag sah ich sie aus dem Fichtenhaus herauskommen. Ich stand gerade in der Tür, wollte ihr nachlaufen, aber sie war doch schon ein bißchen zu weit, mir fiel's zu spät ein. Na, dachte ich, die ist ja gleich zu Hause, und dann erfährt sie's sowieso. Nun habe ich aber unterdessen gehört – denn ich weiß, wo sie wohnt, Highway Nummer 71 – daß es gar nicht so schlimm gewesen ist; dem Jungen war ein Knochen in die unrechte Kehle geraten, er kam von selber wieder raus. Da hat sie also ihren Jungen frisch und munter gefunden, und ich an Mr. Browns Stelle hätte ihr hinterher überhaupt gar nichts davon erzählt.«

Nobody wußte es nicht, Brown hatte ihm davon nichts geschrieben, aber er war überzeugt, daß derselbe seiner Frau tatsächlich gar nichts davon gesagt hatte. Doch das würde er später alles noch erfahren.

»Da ist also damals niemand zu Hause gewesen?« fragte Nobody weiter.

»Nee. Mrs. Brown ist einfach mit der alten Hexe, mit der Dienerin, meine ich, einmal fortgewesen, hat etwas besorgt.«

»Ja, aber Mrs. Ugly? Ich denke, die verläßt ihr Haus niemals?«

»Das braucht sie ja auch nicht getan zu haben.«

»Dann muß sie doch das Klingeln gehört haben, wenn das gar so furchtbar gewesen ist?«

»Nee, das hat sie sicher nicht gehört. Die Mrs. Ugly ist nämlich stocktaub.«

Das war es, was für Nobody ganz neu war, und es gab ihm viel zu denken. Darüber mußte er mit Mr. Brown ausführlich sprechen.

Schließlich stellte sich auch noch in Zivil der Kriminalkommissar ein, der diesen Distrikt unter sich hatte. Wenn Nobody noch etwas Besonderes erfahren konnte, so mußte es von diesem ›Geheimen‹ sein. Nobody nahm ihn denn auch einmal bei Gelegenheit besonders vor, aber er hatte gar nicht nötig, den alten Herrn erst zu hypnotisieren, der hatte sich bald so bemünchnert und begilkat, daß von seinen Lippen die lautere Wahrheit floß, und es war nichts dabei, was irgend eines Menschen Mißtrauen hätte erwecken können.

Auch davon wußte der staatliche Detektiv nichts, der sonst alles in seinem Distrikte kannte, daß Mrs. Ugly schon mit Zuchthaus vorbestraft wäre. Hierbei muß allerdings bemerkt werden, daß Nobody solche Fragen in einer Weise zu stellen wußte, daß der Kommissar nicht den geringsten Verdacht fassen konnte, einen Kollegen vor sich zu haben.

»Na, ich will doch noch einmal sehen, ob die alte Dame nicht mit sich sprechen läßt; dann habe ich wenigstens meine Pflicht getan.«

Mit diesen Worten verließ Nobody endlich die zechenden Polizisten, die das schon bezahlte Faß Bier erst noch leer machen mußten.

Er ging hinüber und zog die Glocke. Mr. Brown hatte ganz recht, sie ging äußerst laut, ein Toter mußte von dem Lärm erwachen, und bald erschien eine Frau, bei der die Bezeichnung ›alte Hexe‹ angebracht war – ein altes, gelbes, zusammengeschrumpftes Scheusal. Nobody erkannte in ihr die Kreolin, die im Alter stets ein Monstrum von Häßlichkeit wird, mag sie in der Jugend auch eine noch so große Schönheit gewesen sein.

Was er wolle, wurde Nobody angefahren.

»Ist Mrs. Ugly zu sprechen?«

»Nein, die Mistreß ist für keinen Menschen zu sprechen, sie ist krank. Schreiben Sie, wenn Sie etwas von ihr wollen.«

Fertig! Die Hexe kehrte in das Haus zurück. Nobody hatte sie nur einmal sehen, auch noch einmal das ganze Grundstück mustern wollen.

Unterdessen nahte die Zeit heran, zu welcher das mit Ernest Brown schriftlich verabredete Rendezvous stattfinden sollte. Die Bureauzeit war von acht bis vier, dann ging Brown jedesmal erst in die Astor-Bibliothek, um Zeitungen zu lesen, und vor dem Stand, auf welchem der ›wöchentliche Börsenbericht‹ hing, wollten sich die beiden treffen. Denn diese Zeitung las hier selten jemand, aus dem einfachen Grunde, weil der, welcher in Börsenwerten spekuliert, nicht erst in eine öffentliche Bibliothek geht, um sich über das Fallen und Steigen der Aktien zu orientieren.

Als Nobody das Abteil betrat, sah er vor diesem Blatte einen Herrn mit abgenommenem Hute, so daß man die Glatze gewahren konnte, und auch sonst entsprach der Mann ganz dem Bilde, das sich Nobody von Ernest Brown gemacht hatte: ein ruhiger, gesetzter Mensch, der die Gutmütigkeit selbst war – ein Mann, zum glücklichen Familienleben wie geschaffen.

Nobody trat heran, tat, als wolle auch er den Börsenbericht lesen – in solch einer öffentlichen Bibliothek lesen oft gleich ein halbes Dutzend Menschen in ein und derselben Zeitung – flüsternd stellte er sich als der Erwartete vor, und gleich hier vor dieser Zeitung wurde flüsternd die Unterhaltung geführt.

Zunächst teilte Nobody Brown alles mit, was er soeben erfahren hatte.

»Ihre Frau ist an jenem Abend eben zufällig einmal mit der Dienerin fortgegangen, um etwas zu besorgen, und Mrs. Ugly soll vollständig taub sein. Da ist es begreiflich, daß Ihr Klingeln nicht gehört wurde. Daß Sie Ihre Frau nicht in jenem Hause fanden, das ist also ganz einfach einmal ein Zufall gewesen.«

Brown wußte sofort, wohinaus Nobody wollte, was er ihm mit diesen Worten indirekt sagte: warum willst du nachforschen, was deine Frau in jenem Hause treibt? Du hast gar keinen Grund dazu. Nimm doch an, daß es sich eben nur um einen Besuch handelt. Warum willst du dein bisheriges Glück mit aller Gewalt zerstören? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

»Aber warum habe ich ihr da zuschwören müssen, sie niemals im Fichtenhause aufzusuchen, sie niemals von dort abzuholen, selbst wenn auch unser Kind im Sterben liegt? Warum da diese ängstliche Heimlichkeit?«

Ja freilich, da hatte der Mann recht! Man kann sagen, daß jetzt sein Gewissen erwacht war. Das hätte nur alles schon früher kommen sollen.

»Gut, ich werde mich der Sache annehmen und Licht in das Dunkel bringen. Doch nur unter der Bedingung, daß Sie, was ich auch entdecken werde, Ihrer Frau verzeihen.«

»Das habe ich bereits Herrn Heinsdorff und mir selbst gelobt.«

Nobody blickte den Sprecher scharf an und erkannte, daß jener niemals anders handeln würde: und wenn er in seiner Frau eine Mörderin gefunden hätte, er würde ihr verzeihen.

»So lassen Sie mich noch einige Fragen stellen!«

Der erste Hauptpunkt war der: Jessy sagte, Mrs. Ugly sei ihre Mutter, und sie sei achtzehn Jahre gewesen, als sie erfahren, daß ihre Mutter eine Schuld auf dem Gewissen habe, und von da an habe sie das unrechte Gut nicht mehr mit der Mutter teilen wollen, von da an habe sie sich durch ihre Kunstfertigkeit im Zeichnen selbst ernährt. So wenigstens hatte Brown in jenem Briefe geschrieben. Nun aber erfuhr Nobody aus sicherer Quelle, daß Mrs. Ugly schon fünfundzwanzig Jahre im Fichtenhause wohnte, Jessy aber erst vor neun Jahren als vorgebliche Mieterin zu der Mutter gezogen war, und damals war sie gerade achtzehn Jahre gewesen.

Wie reimte sich das zusammen?

Hierüber konnte Brown gar nichts sagen. Er hatte dem Detektiv in dem Briefe das mitgeteilt, was ihm Jessy an jenem Abend, als sie ihn in seinem Stübchen besucht, gesagt hatte, und sie seither niemals wieder über ihre früheren Verhältnisse gefragt.

»Gut. Nun zweitens: Hat Ihre Frau erfahren, daß das Kind dem Tode so nahe gewesen ist?«

»Nein! Ich habe ihr nichts davon gesagt, ebensowenig das Dienstmädchen, dem ich Schweigen auferlegte, unter dem Vorwande, daß es doch hinterher keinen Zweck mehr habe, die Mutter noch zu ängstigen, und unser Dienstmädchen ist eine treue und vernünftige Person.«

»Aber Ihre Frau kann es doch von andrer Seite erfahren haben.«

»Sicher nicht. Das hätte ich ihr doch gleich angemerkt. Sie ist vollkommen ahnungslos.«

»Das finde ich merkwürdig. Der Polizeiwachtmeister hat sich doch erkundigt, wie es Ihrem Kinde ginge, also wissen es doch auch mindestens die Nachbarn, daß Sie bei Nachtzeit den Arzt holen ließen.«

»Ich versichere Sie, daß meine Frau bis heute früh noch nichts davon wußte. Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß meine Frau mit keinem einzigen Menschen verkehrt, sich mit keiner Nachbarin einläßt.«

»Ja, dann ist das allerdings begreiflich. So weiß sie auch nicht, daß Sie an jenem Abend am Fichtenhause vergeblich geklingelt haben?«

»Nein, natürlich nicht. Sie hat keine Ahnung davon.«

Wieder blickte Nobody den Bureauschreiber forschend an, und diesen durchdringenden Augen entging nichts.

»Mister Brown, verzeihen Sie mir ein offnes Wort,« sagte er dann. »Sie sehen mir gar nicht danach aus, als ob Sie sich so verstellen könnten, daß Ihre Frau Ihnen gar nichts angemerkt hätte.«

Es war eine herrliche Antwort, welche der einfache Mann gab: »Sie haben recht. Aber Sie wissen doch, daß ich noch in jener Nacht bei Mr. Heinsdorff gewesen war. Dieser hatte mir ein Rezept gegeben, wie ich mich meiner Frau gegenüber verstellen konnte, so daß sie mir gar nichts von Sorge und Kummer anmerkte. ›Ich verzeihe dir, was du auch getan haben magst, ich verzeihe dir, ich verzeihe dir.‹ So wiederholte ich in meinem Innern fort und fort, und es kam aus ehrlichstem Herzen – und da gelang es mir, ihr nicht nur ein unbefangenes, sondern sogar ein heiteres Gesicht zu zeigen.«

Die beiden standen noch immer vor der Zeitung, scheinbar ganz in die Börsenberichte vertieft, und da wurde die weiche Schreiberhand des einen Lesenden von der schlanken und doch so muskulösen des andern sanft gedrückt.

Ja, Verzeihung – ach, Verzeihung! Dieses Gebot ist es, das die christliche Religion über alle andern stellt! Buddha lehrte die Liebe, die alles duldet; Christus lehrte die Liebe, die alles verzeiht. Buddhas Lehre ist Silber, Christi Lehre ist Gold.

Ja, es gibt auch eine Heuchelei, welche Gott wohlgefällt – jene Heuchelei, welche zum Beispiel die linke Hand nicht wissen läßt, was die rechte gibt – und jene Quelle, der diese Art von Heuchelei entspringt, hatte dem von furchtbaren Zweifeln gemarterten Manne auch die Kraft gegeben, seiner Frau ein unbefangenes, heiteres Gesicht zu zeigen – durch die Kraft der Liebe, die alles verzeiht.

»Morgen ist Freitag. So wird sie auch morgen mittag wieder hingehn?«

»Ganz sicher! Fällt ihr Besuch einmal aus, so teilt sie mir dies schon vorher mit, und sie hat mir nichts davon gesagt.«

Nobody hatte nichts mehr zu fragen. Seine ursprüngliche Absicht war gewesen, durch den Gatten sich noch einmal bei dessen Frau einführen zu lassen, um ihr Wesen gründlicher zu studieren; aber er gab diesen Vorsatz auf, denn die Zeit drängte, er hatte heute noch verschiedenes andre zu tun.

Dann noch eins: es wäre ja für Nobody ein leichtes gewesen, das Geheimnis sofort zu enthüllen. Er brauchte die junge Frau nur zu hypnotisieren. Aber es ist schon einmal ausführlich gesagt worden, mit Nobodys eignen Worten, wie sehr er es haßte, einen Menschen in willenlosem Zustande auszuhorchen; ganz abgesehen davon, daß er dann den Erfolg gar nicht recht seinen eignen Fähigkeiten zuschreiben konnte; dann gebrauchte er eine geheime, eine hinterlistige Kraft, von deren Ursache er selbst sich gar keine Rechenschaft geben konnte. Aber es war auch noch etwas andres dabei. Es ging gegen sein Gewissen. Anders konnte er diese Abneigung nicht definieren.

Einmal einen ausgemachten Halunken zu hypnotisieren, besonders wenn er keine Zeit hatte, wenn ein Verbrechen schnell entdeckt und dadurch ein andres vereitelt werden mußte – ja, da wendete er seinen magischen Blick ohne Gewissensskrupel an. Aber diese Madonna, die er kennen gelernt hatte, in einem willenlosen Zustande vor sich zu sehen, ein Spielball eines jeden Menschen, der jetzt gekommen wäre – nein, das hätte er nimmermehr fertig gebracht! Dann holte er sich als Detektiv lieber eine Niederlage.

 

Das Glöcklein der schwedischen Kirche verkündete die Mitternachtsstunde; von der Polizeiwache marschierte eine Patrouille ab.

Kaum war diese um die Ecke verschwunden, so löste sich von der Kirchenmauer ein dunkler Schatten ab, welcher über die Straße hinüberhuschte. Als er in den Bereich einer Gaslaterne kam, erkannte man in ihm einen Mann, der vom Kopf bis zum Fuß in einen schwarzen Mantel gehüllt war. Aber er hätte nur den weichen Filzhut etwas weniger tief in die Stirn zu rücken brauchen, so hätte er sich auch auf der belebtesten Straße zeigen können, ohne im geringsten aufzufallen, denn diese langen, schwarzen Mäntel waren damals Mode.

An der Mauer, welcher den Garten des Fichtenhauses umschloß, dort, wo die Zweige eines Kastanienbaumes herübersahen, blieb er stehn. Einige Augenblicke lauschte er, beobachtete er die Straße, dann duckte er sich, ein Sprung, und der Mann mit dem langen Mantel war über die vier Meter hohe Mauer hinweggesetzt, mit einer Behendigkeit und einer Schnellkraft, die man keinem Affen und keinem Panther andichten kann, sondern deren nur der von Kindesbeinen an darin trainierte Zirkusclown fähig ist. Die Mauer war oben nicht mit Glasscherben bespickt; aber es hätte nichts geschadet, wenn dies der Fall gewesen wäre. Dieser Mann wäre nicht einmal mit dem Mantel hängen geblieben, viel weniger hätte er sich auch nur einen Finger geritzt.

Nobody stand im Garten unter dem Kastanienbaum. Wir müssen Augen besitzen, welche die Dunkelheit durchdringen, um ihn jetzt und später beobachten zu können. Zunächst zog er den Mantel aus, und da freilich werden wir gewahr, daß dies ein ganz besonderes Kleidungsstück ist. Man mußte meinen, der lange Mantel würde beim Einpacken einen ganzen Koffer füllen, in Nobodys Hand aber ballte er sich zu einem Bündelchen zusammen, das er bequem in die Tasche stecken konnte, ebenso verschwanden die dünnen Stiefelettchen und der Filzhut unter dem schwarzen Trikotanzug, den er unter dem Mantel getragen hatte, ohne daß sich an dem enganliegenden Zeuge etwas merklich bauschte.

Dieser schwarze Trikotanzug genügte noch nicht, um sich in der Dunkelheit vollständig unsichtbar zu machen. Nobody stülpte über den Kopf eine schwarze Kapuze, die nur Oeffnungen für Augen und Mund besaß, zog schwarze Handschuhe an, und der pechschwarze Popanz war fertig.

Auf Katzensohlen schlich er durch den Garten und um das Haus herum. Kein Fenster war offen, weder im Keller, noch im Parterre, noch im ersten Stockwerk. Es wäre Nobody ein leichtes gewesen, die Haustür zu öffnen, aber er hätte es nicht getan, selbst wenn sie gar nicht verschlossen gewesen wäre. Denn er hatte heute früh, als die Dienerin die Tür öffnete, ein Klingelzeichen gehört, das Läutewerk war inwendig angebracht, und das Klingeln von hier draußen zu vermeiden, das war ein Problem, an welchem auch Nobodys Kunst scheiterte. Wir werden gleich sehen, daß er zwar noch ganz andre Sachen fertig brachte, aber gerade solch einer einfachen Klingel gegenüber war er ohnmächtig.

Ob ein Dachfenster offen stand? Da war ja der Blitzableiter, und ... der schwarze Popanz war schon oben auf dem Dache.

Nein, keines der schrägen, nach unten herabklappbaren Fensterchen war offen. Schadete nichts, hier wollte sich Nobody schnell den Eingang erzwingen. Seine Hand hielt ein Taschenmesser, in dem ein kleiner Diamant blitzte, den der Glaser freilich nicht für drei Mark bekommt. Die Schnitte, dicht am Rande der Scheibe geführt, schienen gleich durch und durch zu gehn. Nun brauchte bloß noch der vierte geführt zu werden, und die Glasscheibe, auf welche Nobodys linke Hand drückte, mußte hinabfallen und unten klirrend zerbrechen.

Um dies zu verhindern, hat der Einbrecher verschiedene Mittel. Das beliebteste ist das Pechpflaster, welches die zerschnittene oder auch nur eingedrückte Scheibe festhält.

Nobody hatte keins bei sich. Wohl aber besaß er ein andres, viel einfacheres Mittel, was ihm freilich so leicht niemand nachmachte, um das Herabfallen der eingedrückten Fensterscheibe zu verhüten.

Ein bekanntes Kunststück der indischen Jongleure ist folgendes: Der Mann zeigt zwei spiegelglatt polierte Holzplatten, legt sie an den Boden, springt mit seinen nackten Füßen darauf herum. Plötzlich bleiben die Platten an seinen Fußsohlen kleben. Aber nur, wenn er will. Er hebt den einen Fuß, an dem eine Platte klebt, und läßt sie auf Kommando fallen. Der Jongleur versteht nämlich, nachdem er den Fuß fest auf die Platte gepreßt hat, unter der Sohle eine Höhlung, also einen luftleeren Raum zu erzeugen, nun preßt der äußere Luftdruck das glatte Holz gegen seine Sohle. Aus demselben Grunde können die Fliegen und der Laubfrosch an einer Fensterscheibe hinaufkriechen.

Es soll nun nicht behauptet werden, daß Nobody etwa an einem Wandspiegel hinaufklettern konnte – aber auf diese Weise eine Glasscheibe festhalten, indem er unter seiner Handfläche eine luftleere Höhlung entstehn ließ, das konnte er.

Der letzte Schnitt war geschehen; die fest aufliegende Hand drückte die Scheibe ein und holte sie mit einer geschickten Bewegung wie einen Präsentierteller wieder heraus.

Die Oeffnung war groß genug, um Nobody hindurchzulassen. Als er sich mit den Händen noch festhielt, bekam er schon Boden unter die Füße. Nun paßte er die Scheibe, welche also ganz dicht am Rande abgeschnitten war, wieder ein, und an so etwas mußte er schon gedacht haben, denn er hatte etwas Kitt bei sich – so, nun konnte morgen jemand hierheraufkommen, er merkte nichts: selbst ein Glaser hätte den Betrug erst herausgefunden, wenn er eine neue Scheibe einziehen wollte.

Da plötzlich tauchte in dem stockfinstern Räume ein leuchtendes Fünkchen auf. Es war, als ob Nobody in seiner Hand einen Leuchtkäfer hielt. In Wirklichkeit war es eine winzige Blendlaterne, noch kleiner als eine Streichholzschachtel, und das Fünkchen verwandelte sich in einen blendenden Lichtstrahl, der alsbald wieder verlöschte.

Elektrische Taschenlaternen gab es damals noch nicht, wohl aber schon eine elektrische Zündung. Die winzige Lampe, mit Benzin gespeist, enthielt auch eine kleine Batterie; das knisternde Fünkchen genügte, um das leicht entzündliche Benzin in Brand zu setzen, ein außerordentlich starker Spiegelreflektor konnte aus dem Flämmchen einen intensiven Lichtstrahl machen, und dann wieder war es nur ein leuchtendes Pünktchen, ganz wie man wollte.

Nobody hatte mit dem einen Blendstrahl, den er herumgesandt, genug gesehen. Er befand sich in einer Rumpelkammer, und dort war eine Tür. Sie war verschlossen. Jetzt kam aus dem Taschenmesser ein Dietrich zum Vorschein, oder vielmehr ein verstellbarer Schlüssel, Nobodys eigne Erfindung. Mit diesem Instrument konnte er sowohl das zierlichste Nippkastenschloß als auch das größte Kirchentorschloß öffnen: nur für jene Schlösser, welche sogenannte Zuhaltungen besitzen, wie die Geldschrankschlösser, war das Instrument nicht anwendbar.

Es sei hierbei bemerkt, daß dieses Taschenmesser, welches Nobody selbst angefertigt hatte, sich jetzt zu London im Kriminal-Museum befindet, wo alles zusammengetragen wird, was mit dem Verbrechertum und dem Detektivberuf zusammenhängt. Nobody hat es seinerzeit diesem Museum vermacht, wohl hauptsächlich aus dem Grunde, daß es nicht dereinst in unrechte Hände komme, die mit diesem Messer Mißbrauch treiben könnten.

Das Bewundernswerteste an dem Messer, welches zwischen seinen Schalen eine Menge von Instrumenten birgt, ein ganzes Arsenal von Handwerkszeugen, ist eine Uhrfedersäge, nicht größer und stärker als ein flacher Zahnstocher. Die Zähne sind von Iridium gefertigt, dem härtesten Metall, welches es gibt, dem Diamanten in nichts nachstehend, und, besonders damals, das Gold an Wert hundertfach übertreffend. Diese dünne Säge durchschneidet jeden Eisenstab und die bestgehärtete Stahlplatte wie eine andre Säge ein Stück Holz, wie ein Rasiermesser ein Tau, aber ohne im geringsten davon abgenutzt zu werden. Solch eine Säge gibt es nicht mehr. Ja, man kann sie bestellen, sie wird gemacht – aber man muß ein Menschenalter warten, ehe sie fertig wird. Denn jedes Zähnchen muß einzeln mit Diamantstaub geschliffen werden. Nobody hatte die Säge von jenem chinesischen Gaukler geerbt, mit dem er die langjährige Kerkerhaft durchgemacht. Der Gaukler hatte sie immer unter seiner Zunge getragen. Er hatte sie von seinem Vater geerbt; schon der Großvater sollte sie besessen haben, und so ließ sich nicht mehr konstatieren, wer der ursprüngliche Verfertiger dieses Meisterwerks chinesischer Geduld gewesen. –

Nobody schloß die Bodenkammertür hinter sich wieder zu. Es war die einzige Tür gewesen, bei welcher er seinen Dietrich anzuwenden brauchte – oder anwenden konnte! Jedenfalls fand er im ganzen Hause keine Zimmertür mehr verschlossen. Ohne sich vorläufig um die andern Bodenkammern zu kümmern, stieg er die Treppe hinab und besichtigte, nur selten einmal seine Laterne gebrauchend, die Zimmer in der ersten Etage. Daß er es dabei nicht an der nötigen Vorsicht fehlen ließ, darf man wohl ohne Versicherung glauben. Das war ja überhaupt kein Mensch, sondern das war ein wesenloser Schatten, der durch das Haus schwebte, nur daß dieser Schatten auch einen denkenden Kopf und die feinsten Spürsinne besaß.

Ein Tür knarrte. Doch nein, sie knarrte nicht, sie hatte nur knarren wollen, sie würde knarren, wenn sie noch etwas weiter in den Angeln gedreht wurde. Das fühlte Nobody sofort heraus, mit so empfindsamer Hand hatte er die Tür geöffnet.

Dieses Knarren durfte nicht sein, denn es konnte geschehen, daß Nobody einmal schnell hier durcheilen mußte, und schon hatte er die schwere Tür aus Eichenholz ausgehoben, nur mit einer Hand, seinen Fuß daruntergesetzt, allein seine Zehenspitzen wirkten wie eiserne Hebel, und da hatte er auch schon in der andern Hand ein winziges Oelkännchen.

So, jetzt ging die Tür tadellos in den Angeln. Und wenn sie sonst auch sehr geknarrt haben mochte, so brauchten sich die Hausbewohner morgen nicht zu wundern, daß sie plötzlich ganz lautlos ging. Jede Tür hat manchmal solche Mucken, und in Strömen hatte Nobody das Oel natürlich nicht hineingegossen.

Kann man sich einen vortrefflicheren Hausgeist denken, als den, der bei nächtlicher Zeit Türen schmiert? Nobody selbst mußte heimlich lachen.

Als er aus einem höchst luxuriös eingerichteten Salon in das Nebenzimmer schleichen wollte, merkte er beim Oeffnen der Tür, daß diese wieder knarren würde oder diesmal quietschen. Darin hatte seine Hand eben gewissermaßen ein Ahnungsgefühl. Also wieder das Oelkännchen heraus, wieder seine Zehen, die nicht einmal mit Leder, nur mit dünnem Trikotstoff bekleidet waren, als kraftvolle Hebel benutzt. Die halb offenstehende Tür war noch aus den Angeln gehoben, als plötzlich in diesem Nebenzimmer ein Bett knarrte und ...

»Ach Gott, ach Gott, wenn ich nur schlafen könnte!« seufzte eine Frauenstimme, die aber nicht der Dienerin angehörte.

Nur einen Moment des Schreckens oder vielmehr der Kampfbereitschaft, und Nobody hatte die Tür herabgelassen und hinter sich geschlossen. Er befand sich also in dem Nebenzimmer.

»Dorette, Dorette!!« erklang es jetzt schreiend dort aus der Ecke her.

»Ja, Mistreß?« fragte eine dünne Fistelstimme, die, wie Nobody schätzte, zwei Zimmer weiter herkam, und diese gehörte der alten Dienerin an. Die hatte solch eine schwache Fistelstimme gehabt.

»Schläfst du, Dorette?« wurde jetzt hier gefragt, höchst geistreich.

»Nein, Mistreß.«

»Welche Zeit mag es denn sein?«

»Es hat vor ein paar Minuten zwölf geschlagen.«

»Ach Gott, ach Gott, will diese Nacht denn gar kein Ende nehmen?« wurde wieder geseufzt, und dann war die Unterhaltung zu Ende.

Nobody hatte eine sehr wichtige Entdeckung gemacht. Die in diesem Zimmer befindliche Dame konnte nur Mrs. Ugly sein. Sie war also gar nicht taub, nicht einmal schwerhörig, besaß vielmehr ein ausgezeichnetes Gehör, denn die Stimme der Dienerin war äußerst schwach und die Entfernung eine ziemlich weite gewesen. Für uns aber ist von besonderem Interesse, bei dieser Gelegenheit gesehen zu haben, mit welcher Lautlosigkeit Nobody arbeitete. In Gegenwart dieser feinhörigen Frau, vielleicht nur in Armlänge von ihr entfernt, hatte er die eigentlich quietschende Tür nicht nur geöffnet, sondern sie sogar ausgehoben, geschmiert, herabgelassen und wieder geschlossen, und es ist wohl bekannt, wie man das geringste Geräusch wahrnimmt, wenn man schlaflos im Bett liegt.

Nobody blieb nicht stehn, er tastete im Zimmer herum, aber wenn auch irgendwo einige Flaschen übereinander aufgebaut gewesen wären, er hätte sie berührt, doch nicht umgeworfen ... und da plötzlich war er wie ein Schatten unter einem Sofa verschwunden.

Nach einem heftigen Bettknarren war ein Streichholz angerissen worden, das Licht auf dem Nachttisch wurde angebrannt, und unter dem Sofa hervor sah Nobody eine alte Dame aufrecht im Bett sitzen. Denn obgleich in Nachtjacke und Nachtmütze, war es doch noch immer eine ›Dame‹. Wirklich, es war eine stattliche alte Frau, auch im Bett würdevoll, und das unter der Haube hervorquellende, schneeweiße Haar rahmte ein noch immer schönes Gesicht ein.

»Wenn die ein Verbrechen begangen hat, so kann das kein gewöhnliches gewesen sein,« taxierte der Menschenkenner unter dem Sofa.

Sie nahm vom Tischchen Papier und Bleistift und begann zu schreiben, dabei auch sprechend.

»14 – 14 – 31 – 8 – 1 – 29 – 30 – 17 – 15 – 12 – 35 – 3 – 3 – 26 ...«

»Höchst interessant!« dachte Nobody unter dem Sofa.

»22 – 28 – 35 – 11 – 2 – 33 – 14 – 5 – 9 – 18 – 29 – 36 – 2 – 17 ...«

»Das wird ja immer interessanter!« sagte sich Nobody mit innerer Belustigung. »Was soll denn das nur bedeuten?«

Als ob er die Frage laut gestellt hätte, so gab die alte Dame die Antwort.

»Das bedeutet Pipifax.«

»Aha, also Pipifax! Jawohl, nun weiß ich ganz genau, was diese Zahlen bedeuten – Pipifax!« spottete der sich amüsierende Lauscher.

»24 – 33 – 36 – 9 – 26 – 5 – 26 – 18 – 32 – 16 – 15 – 27 – 34 – 12 – 3 – 16 – 27 – 0 ... das ist der Teufel!«

»Nu allemal ist das der Teufel!«

»25 – 6 – 23 – 36 – 25 – 25 – 20 ... die Zwanziger kommen zu oft.«

»Nicht wahr? Das finde ich auch.«

Was sollten diese Zahlen bedeuten? Nobody wußte es bereits. Erst hatte er geglaubt, die alte Dame, die nicht schlafen konnte, befrage mittels der Zahlen auf irgend eine Weise die Zukunft – aber als er beobachtete, was für Zahlen das waren, daß ihre Höhe eine gewisse Grenze nicht überschritt, da wußte er sofort, was die alte Dame da trieb, in was für ein Haus er gekommen war. Doch wir wollen der Erzählung nicht vorgreifen.

So ging das noch eine halbe Stunde fort, immer Zahlen und nichts als Zahlen, und dazwischen nur einmal ein »das ist der Pelikan – das ist Edelweiß – das ist Luzifer« oder so etwas Aehnliches, was sich wirklich nur der Teufel zusammenreimen konnte – und Nobody.

Endlich gähnte sie, legte Papier und Bleistift weg, blies das Licht aus, noch einiges Umherwälzen, wobei es manchmal eigentümlich klirrte, und dann verrieten regelmäßige Atemzüge, daß sie den ersehnten Schlaf gefunden hatte.

Nobody verließ sein Versteck und das Schlafzimmer. Mit dieser Etage war er durch, jetzt widmete er den Parterrezimmern seine Aufmerksamkeit. Die Taschenlampe, so selten und vorsichtig er sie auch gebrauchte, zeigte ihm genug, und er erkannte, daß hier die eigentlichen Wohnräume waren.

Wenn wir Nobody schärfer beobachten, so sehen wir, wie er in jedem Zimmer prüfend die Luft durch die Nase zieht, und das tat er ganz besonders in dem einen, dessen Möbel die meiste Abnutzung zeigten. Immer wieder schnüffelte er, ja, er drückte sogar seine Nase auf das Sofa und mehrere Polsterstühle.

»Gefunden! Hier riecht's nach Sixtinischer Madonna. Jawohl, das ist dasselbe eigentümliche Parfüm, welches von Jessy ausging. Hier also wird sie sich gewöhnlich aufhalten. Da werde ich mir gleich ... nein, erst will ich einmal dem Keller einen Besuch abstatten, und gar nicht so unangenehm wäre es mir, wenn ich darin etwas zu trinken fände. Der Gilka macht einen höllischen Durst.«

Im Souterrain hatte er alsbald die Küche entdeckt und nach einigem Tasten auch den Wasserleitungshahn. Ehe er aber seinen Mund darunterhielt, ließ er erst einmal einen Lichtstrahl durch die Küche schweifen, und der Eisschrank, den das Licht streifte, imponierte ihm viel mehr als die Wasserleitung. Er öffnete ihn, und das erste, was ihm in die Hände geriet, war ein großer Topf mit Milch, ungefähr zwei Liter.

»Gegen den Durst gibt es kein besseres Mittel als Milch, zumal wenn der Durst von Gilka stammt,« sagte Nobody, trank die Hälfte aus und ... ließ den Topf unter der Wasserleitung wieder voll laufen und setzte ihn fein säuberlich wieder in den Schrank zurück.

»Na, die arme Milchfrau, die wird morgen ihr Fett kriegen, daß sie die Milch so gewässert hat!«

Desgleichen entdeckte er zwei angerissene Flaschen Wein, mit denen er es genau so machte. Was er trank, ersetzte er durch Wasser. An den vollen Flaschen vergriff er sich nicht, auch nicht an den Schinken und Würsten, bei denen man es hätte merken können, wenn etwas abgeschnitten worden wäre, und mit dünnen Scheibchen ließ sich Nobody nicht erst ein. Etwas andres war es, als er eine ganze Kiste mit Knackwürstchen fand, geöffnet, aber noch nicht angebrochen. Als unvergleichlichem Taschenspieler war es ihm ein leichtes, einige der Würstchen aus der Tiefe herauszuholen, ohne daß man oben etwas davon bemerkte.

So, Hunger und Durst quälten den schwarzen Popanz nicht mehr, wohl aber ... etwas andres begann ihn jetzt zu quälen. Was ihn quälte? Das darf man nicht sagen. Er hatte vorhin saure Gurken gegessen – daher auch der lange Gurkenaufsatz – und die machten sich nun nach der Milch mit aller Gewalt geltend. Kurz und gut, Nobody mußte auf jenen Ort, der in keinem Palais und in keiner Hütte fehlt, nur auf dem Dorfe findet man ihn manchmal nicht, da geht man dorthin, wo die Hühner scharren, und im Winter, wenn der Schnee zu hoch ist, setzt man sich dabei auf die Wagendeichsel.

In diesem Hause, wo alles so hochfein war, wollen wir diesen geheimnisvollen Ort das ›Kabinett‹ nennen. Nobody wollte sich also einmal ins Kabinett zurückziehen. Wo das zu suchen war, wußte er schon – oben im Parterre hatte er die Tür gesehen, und er begab sich wieder hinauf.

Diese Korridortür führte erst in einen kleinen Vorraum, welcher hinten zwei Türen besaß. Also ein doppeltes Kabinett. Nobody wählte nicht lange, hatte übrigens keine Zeit dazu, er stürzte ins rechte.

Eigentlich war es eine unerhörte Dreistigkeit! Nobody, der doch kein professioneller Einbrecher war, klettert den Blitzableiter hinauf, steigt durchs Dachfenster, trinkt in der Küche die Milch aus, ißt Knackwürstchen, und nun geht er auch noch aufs Kabinett!

Die Strafe sollte denn auch alsbald folgen, und eben deswegen konnte diese delikate Schilderung nicht vermieden werden, schildert sie Nobody in seinem Tagebuch doch ebenfalls ausführlich genug, nur daß der weniger zartfühlende Mann dabei viel kräftigere Ausdrücke gebraucht.

»Ich habe eben erst angefangen, da, heiliges Kanonenrohr und ihr andern Rohre, da höre ich schleppende Schritte kommen, und ich kenne diese schon, so ging sie heute früh durch den Garten, das ist die Alte, die muß auch mal ...«

Richtig, die Vordertür ging auf, und die Alte brachte Licht mit, es drang durch das Schlüsselloch in Nobodys Kabinett.

»Lieber Gott, sei mir gnädig, ich will auch ein ganz frommer Mensch werden, lenke ihren Schritt, daß sie ins linke Kabinett geht!!«

Aber das inbrünstige Gebet wurde nicht erhört, und das mit Recht nicht. Freilich wußte sich Nobody auch allein zu helfen. Zugeriegelt hatte er nicht, jetzt fürchtete er das Knacken des Riegels, und so steckte er, im tiefsten Negligé hinter der Tür stehend, einen Finger durch den am Schlosse befindlichen Ring.

Richtig, auch die alte Dienerin hatte es gerade auf das rechte Kabinett abgesehen, sie wollte öffnen – aber da gab es ja nun nichts, Nobody hielt krampfhaft fest. Nur die Klinke ließ sich bewegen.

»Was ist denn das?« fragte draußen die dünne Fistelstimme.

»Besetzt!!« schrie Nobody – das heißt, nur innerlich.

Draußen zog die Alte, drinnen Nobody.

»Das Schloß muß kaputt sein.«

»Merkst du das endlich, verdammte Hexe? Zum Teufel, geh doch hinüber auf das andre Loch, was störst du mich denn hier?!«

»Da muß morgen doch einmal der Schlosser kommen.«

»Das ist morgen nicht mehr nötig, nur jetzt laß mich in Ruhe!«

»Da muß ich auf das herrschaftliche Klosett gehn.«

»Hätte ich das gewußt, dann wäre ich aufs herrschaftliche hinübergegangen.«

Die Gefahr war beseitigt, aber nur vorübergehend. Die Alte, die also Licht bei sich hatte, ließ nämlich drüben die Tür offen, wie Nobody ganz deutlich merkte, und so sah er gar keine Möglichkeit, ungesehen zu entkommen. Er mußte eben hier aushalten.

Gesetzt nun den Fall, der Alten fiel es ein, einmal eine Etage höher zu steigen und über die Zwischenwand zu blicken? Sie hatte ja eigentlich gar keinen Grund dazu, das Schloß war eben nicht in Ordnung, aber gesetzt einmal diesen Fall? Nobody erwog stets jedwede Möglichkeit.

Dann war er entweder entdeckt, oder – er mußte in das Loch hineinkriechen. Das war nämlich kein Wasserklosett, das alte Haus hatte noch ein einfaches Rohr, und da sich Nobody unter keinen Umständen entdecken lassen wollte, so blickte er schon in das Rohr hinab und konstatierte, daß er ganz bequem hineinginge.

Glücklicherweise dachte die Alte nicht an so etwas. Umständlich traf sie drüben ihre Vorbereitungen, und dann ging es los – öööööhhhh! Sie stöhnte gottesjämmerlich.

»Die arme Frau hat's aber schwer,« dachte Nobody, und dann lauschte er, und er glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Er liebt mich,« erklang es drüben, »ööööööööhhhhhh!«

»Nanu,« dachte Nobody, »was macht denn die da?«

»Er liebt mich ... öööööhhhhh ... von Herzen ... ööööööhhhh ... mit ... ööööhhh ... mit ... ööööööhhhhh ... mit Schmerzen ... ummuhhhhh ... zum ... ööööööhhhhhh ... zum Beißen ... öööööhhhhh ... zum ... ööööööhhhhh ... zum ... ööööööhhhhhh uuuuuuhhhhhh ... er liebt mich zum ... ööööööhhhhhh ...«

»Himmelsakra, was hat denn die alte Schachtel eigentlich nur?«

»... er liebt mich zum Beißen ... ööööhhhh ... er liebt mich zum ... ööööhhhh ... zum ... öööööhhhhh uuuuhhhh ... zum Reißen ... uuuuaaahh.«

»Gott sei dank, jetzt ist's endlich heraus!« seufzte auch Nobody.

»... ein wenig – gar nicht ... brrrrrrrrrr,« schloß drüben das bekannte Abzähllied, das Orakel, ob oder ob nicht.

Wenn aber Nobody glaubte, hiermit wäre das Orakel geschlossen, so hatte er sich geirrt. Das war der erste Vers gewesen, jetzt kam der zweite daran, und der lautete so:

»Er liebt mich ... ööööhhhh ... von Herzen ... uuuuhhhh ... mit ... öööhhhh »uuuuhhhh ... mit Schmerzen ... oooohhhhh brrrrrrrr ...«

Und so ging es weiter, immer mit Stöhnen, und dazwischen zischte sie auch einmal wie eine Lokomotive. Außerdem vernahm Nobody noch ein seltsames Klappern, dessen Ursache ihm aber nicht lange unbekannt blieb.

Die Kreolin, eine Katholikin, spielte mit dem Rosenkranz, aber anstatt dabei vorschriftsmäßig die Tugenden der Jungfrau Maria herzusagen, zählte sie an den Kugeln ab, ob ›Er‹ sie liebe oder nicht. Die alte Hexe hatte einfach noch eine Liebe im ausgetrockneten Busen.

Wie lange sie das trieb? Nun, um eins hatte sich Nobody in das Kabinett begeben – und als die schwedische Kirche drei schlug, befand er sich noch immer darin, einfach aus dem Grunde, weil Fräulein Dorette drüben auch noch festsaß und er ungesehen nicht herauskonnte.

»Das ist die Rache der ewigen Gerechtigkeit!« stöhnte Nobody. »Warum mußte ich der auch die Milch wegsaufen und ihr die Knackwürstchen wegfressen! Samiel, Samiel hilf!!!«

»Er liebt mich,« ging es drüben fort, »öööööhhhh ... von Herzen ... uuuu»hhhh ... mit Schmerzen ... »aauuuuuhhhhh ... zum ... brrrrrrr ... zum Beißen ... öööööö»»uuuuuhhhhhhbrrrrrrrr... juhu, er liebt mich zum Beißen, alle Heiligen seien gepriesen, Schnullrich liebt mich, er liebt mich zum Beißen!!!!«

Es war erreicht! Sie schlurfte hinaus. Und drüben im andern Kabinett sank Nobody auf die Knie, breitete die Arme zum Himmel empor.

»Schnullrich! Wachtmeister Schnullrich!! Weißt du eigentlich, was für ein Vergißmeinnicht hier im Verborgenen blüht? Schnullrich, das werde ich dir nie vergessen, auch ich liebe dich zum Beißen, zum ... öööööhhhh»ooooouuuuhhhhhbrrrrrrr ... nee, jetzt muß ich aber machen, daß ich fortkomme, ich habe schon genug Zeit versäumt.«

Er begab sich wieder in den Keller hinab, dort seine Untersuchungen fortsetzend, ohne etwas zu finden, was ihn interessiert hätte – bis er an das Ende des Kellerganges kam. Oder das war es vielmehr noch nicht, sondern eine Tür, die ihm den Weg versperrte, eine kleine, aber starke, eisenbeschlagene Tür, die ihm einen so saubern Eindruck machte, und auch das tiefeingelassene Schloß kam ihm gar nicht so gewöhnlich vor, und diese Tür hier war außer der auf dem Boden die erste, welche er verschlossen fand, natürlich mußte er sie öffnen ...

Sein Dietrich versagte! Er konnte den künstlichen Schlüssel stellen, wie er wollte, er schloß nicht!

Dann aber konnte das auch nur ein Geldschrankschloß mit Zuhaltungen sein!

Was tun? An ein gewaltsames Aufbrechen durfte Nobody nicht denken. Gerade diese Kellertür schien sehr häufig benutzt zu werden. Und er mußte auf jeden Fall wissen, was dahintersteckte!

»Wenn sich Mrs. Ugly im Bett bewegte, so klirrte es. Sie hat unter dem Kopfkissen ein Schlüsselbund. Ich muß es haben.«

Gedacht, getan! Nobody schlich sich zum zweiten Male in Mrs. Uglys Schlafzimmer und führte ein Meisterstück aus, welches ihn gleich zum Großmeister aller Diebesgesellen gemacht hätte. Fünf Minuten gebrauchte er, bis er die Hand unter das Kopfkissen gebracht, und zehn Minuten, bis er das Schlüsselbund hervorgeholt hatte, und das ist bei so etwas eine gar lange Zeit, das ist eine kleine Ewigkeit. Dabei war der Schlaf der alten Dame so unruhig, daß man getrost annehmen durfte, er hätte dieses Kunststück auch fertig gebracht, wenn sie vollständig wach gewesen wäre.

Schon auf dem Korridor erkannte Nobody in einem kleinen Lichtstrahl, daß der größte Schlüssel der gesuchte sein müsse, was sich auch als richtig erwies. Geräuschlos öffnete sich die schwere Tür, aber Nobody sah hinter ihr nichts weiter als einen viereckigen, fensterlosen Raum, nur zwei Meter im Quadrat, absolut nichts enthaltend.

Hier war eben das wirkliche Ende des Kellers. Doch weshalb hatte man diesen Raum abgeschlossen, weshalb wurde diese Tür so häufig benutzt? Nobody brauchte seinen Spürsinn nicht anzustrengen, sondern nur einen hellen Blendstrahl hineinzuschicken, um die Falltür zu erkennen, welche in den Boden eingelassen war.

Ein Kind hätte sie heben können, und Nobody sah unter ihr steinerne Stufen. Sicher mußte er wissen, wohin diese führten, erst aber mußte er sich vor der Gefahr der Entdeckung schützen, vor allen Dingen die Schlüssel zurückbringen; diese Geldschranktür durfte dennoch nicht offen bleiben.

Nobody betrachtete prüfend das kunstvolle Schloß, noch länger die Oese, in welche der Riegel einschnappte, und dann machte er sich mit seinem Taschenmesser an die Arbeit. Es galt, die Oese so zu biegen, daß der Riegel wohl noch einschnappte, aber nicht mehr weit genug, so daß man die Tür durch einen kräftigen Druck aufstoßen konnte.

Nach zehn Minuten war das Werk verrichtet. Aber dem Arbeiter perlte auch der Schweiß von der Stirn. Er hatte fast allein durch seine Muskelkraft das starke Bandeisen ganz beträchtlich biegen müssen, nur zuletzt eine Feile zu Hilfe nehmend. Jetzt funktionierte die Vorrichtung so, daß die Tür wohl noch schloß, aber sie konnte aufgedrückt werden. Allerdings gehörte dazu eines Nobody Kraft. Die beiden Frauen hätten es nimmermehr fertig gebracht, und sie würden auch kaum die Veränderung an dem Riegel bemerken. Bei ihnen funktionierten Schloß und Schlüssel nach wie vor.

Jetzt galt es, letztere wieder unbemerkt unter das Kopfkissen zu schmuggeln, und da Mrs. Ugly noch schlief, war das für Nobody eine Kleinigkeit.

Er begab sich zurück in den Keller, betrat den Raum, ließ die Tür hinter sich zuschnappen und stieg die steinerne Treppe hinab, jetzt sorglos einen breiten Lichtstrahl vorausschickend. Schon nach der achtunddreißigsten Stufe erreichte er einen wagerechten Gang, und da jede Stufe zwanzig Zentimeter hoch war, befand er sich, wenn man den Keller mit in Betracht zog, acht Meter unter der Erde.

Mit fünfzehn Schritten hatte er den gewölbten Gang durchmessen, da hinderte wieder eine Tür sein weiteres Vordringen. Er brauchte nicht zu bereuen, die Schlüssel zurückgetragen zu haben, sein Dietrich öffnete das Schloß.

Ein neuer Bogengang zeigte sich, zu diesem aber im rechten Winkel stehend, Nobody sah zunächst nur die gegenüberliegende Wand, er trat hinaus, um nach den Seiten zu spähen, und da sah er am Boden sich etwas entlangziehen, sofort wußte er ...

Nein, der kaltblütige Nobody wußte in diesem Augenblick nichts, dachte nichts, höchstens: das ist mein Tod!!

Ein mit rapider Geschwindigkeit herankommendes Donnern, rechts die zwei feurigen Augen eines Ungetüms, links ein ebensolches feuerspeiendes Ungetüm, die beiden schossen mit Vehemenz aufeinander los ...

»Gott sei mir gnädig, die Untergrundbahn!!!«

Und wie vom Blitz getroffen fiel Nobody zu Boden, als die beiden Lichter ihn schon fast berührten.

Nach einer halben Minute erhob er sich wieder. Jetzt hätte er Grund gehabt, zum Gebet sich auf die Knie zu werfen. Er wischte sich nur den kalten Schweiß von der Stirn. Gerade hier und fast in dem Moment, als Nobody aus jener Tür getreten war, hatten sich zwei Züge der New-Yorker Untergrundbahn begegnet, der eine war über Nobody hinweggegangen. Nur eine Kette hätte zu schleppen brauchen, Nobody hätte nicht genau zwischen die beiden Schienen zu liegen kommen sollen, und – das andre kann man sich vorstellen!

Wie er jetzt konstatierte, konnte zwar recht gut ein Mensch sowohl zwischen den beiden Schienensträngen als auch an den Wänden stehn, ohne von den Wagen erfaßt zu werden, aber für Nobody hatte es nur das eine gegeben: sich blitzschnell niederzuwerfen. Er war sich bewußt, sich schon zwischen den Puffern der Lokomotive befunden zu haben, er war beim Niederwerfen schon am Kopfe gestreift worden.

Nobody war der festen Ueberzeugung, daß dieser unterirdische Gang mit Jessys Geheimnis zusammenhing, daß er von ihr in der Zeit vom Freitag zum Sonnabend benutzt wurde, jedenfalls auch von Mrs. Ugly; hütete sie doch den dazugehörigen Schlüssel wie einen Schatz. Nun brauchte nur noch angenommen zu werden, daß auch die Dienerin sich auf diese Weise heimlich aus dem Hause entfernte, dann war erklärt, warum Ernest Brown in jener Nacht vergeblich geklingelt hatte, und ferner überhaupt, weshalb der Gatte während dieser Zeit niemals seine Frau hier suchen sollte, und wenn selbst ein Kind im Sterben läge. Sie war eben gar nicht in diesem Hause.

Aber wo war sie dann sonst? Wohin begab sie sich durch den unterirdischen Eisenbahnweg, der durch eine Treppe und einen besondern Gang mit dem Fichtenhause in Verbindung stand?

Nobody kannte nicht nur das oberirdische, sondern auch das unterirdische New-York ganz genau. Er hatte einmal seinen Fluchtweg vor ihn verfolgenden Verbrechern durch eine Schleuse genommen, und für den Fall, daß sich so etwas wiederholen könnte, hatte er das ganze unterirdische Tunnelnetz der Riesenstadt studiert, also auch das der Untergrundbahn.

Solche Türen, wie hier eine den Gang verschloß, waren zahlreich in gewissen Abständen vorhanden. Wie sich Nobody erkundigt hatte, verschlossen sie kleine Kammern, in denen Arbeiter ihr Handwerkszeug aufhoben, oder es waren darin elektrische Batterien angebracht, oder sie dienten zu ähnlichen Zwecken. Daß sie aber auch lange Gänge absperrten, davon hatte Nobody nichts erfahren, am wenigsten, daß solch ein Gang gleich in ein Wohnhaus führte.

Wer war der Erbauer dieser Untergrundbahn? Jonas Chiswick, in Amerika bekannt unter dem Namen King Underground – König Untergrund, so wie sein jüngerer Bruder Fred nur ›Prinz Erie‹ gehießen hatte.

Die beiden Brüder waren schon in jungen Jahren verwegene Börsenjobber gewesen, Yankees, denen nichts heilig war, wenn es ein Geschäft zu machen galt, und dabei Rowdies erster Güte. Fred Chiswick hatte die um den Erie-See herumführende Bahn gegründet, später folgte Jonas mit der New-Yorker Untergrundbahn nach.

Daß man nun beiden Brüdern nach ihren Gründungen in dem republikanischen Amerika die Titel Prinz und König gegeben hatte, das hatte einen ganz besondern Grund. Diese beiden Brüder verstanden nämlich die Kunst, jeden Menschen, mit dem sie in Berührung kamen, mit Leib und Seele von sich abhängig zu machen, verstanden in einer ganz niederträchtigen Weise, Familiengeheimnisse auszukundschaften, wozu sie ein ganzes Heer von Spionen unterhielten, und das nutzten sie für ihre Geschäftsunternehmungen aus, oder auch nur zu ihrem Vergnügen. Also zwei ganz gefährliche Subjekte! Wie sie es machten, wie das zu verstehn ist, das ist mit kurzen Worten gar nichts zu beschreiben. Sie setzten eben jedem die Pistole auf die Brust. Als Fred die Erie-Bahn gründete, hatte er gar nicht viel gehabt, und bald war er der alleinige Aktionär, der am Erie-See wie ein Despot herrschte; wenn er nicht wollte, ging kein Zug; er hätte ein ganzes Land aushungern können, und daher sein Name – Prinz Erie. In der ›Gartenlaube‹ ist seinerzeit viel über ihn berichtet worden.

Um zu zeigen, wie er es sonst trieb, sei nur erwähnt, daß er sich einen ganzen Harem hielt, aber nicht etwa heimlich, nein, ganz offen, er ging mit seinen sechs Dutzend Frauen in die Kirche. Der fromme Salomo hatte doch noch mehr Weiber. Und diese Odalisken holte sich Prinz Erie aus den besten Gesellschaftskreisen heraus, er zwang sie dazu, ihm zu folgen.

Das Schlimmste dabei war, daß die beiden Brüder die breiten Schichten des Volkes für sich hatten. Wenn irgendwo ein Massenelend zu lindern war, so veranstalteten die Gebrüder Chiswick eine Kollekte, setzten zuerst ihren Namen mit einer großen Summe auf die Liste, und alle, alle mußten zeichnen. Diese modernen Banditen arbeiteten mit der Pistole, bildlich genommen. Als eine große Ueberschwemmung furchtbares Unglück angerichtet hatte, fuhr Prinz Erie durch die Straßen New-Yorks eigenhändig einen riesigen Lastwagen, hielt vor jedem Geschäft an. ›Hier, heraus damit, was ihr mit zwei Händen tragen könnt, für die Ueberschwemmten, Nahrungsmittel, Kleider und dergleichen! Los! Ihr müßt, ob ihr wollt oder nicht!!‹ Und die kleinen und großen Ladeninhaber brachten angeschleppt. Kein Wunder, daß da das Volk dem Prinzen Erie zujubelte. Weshalb die Geschäfte geben mußten? Weil sie sonst vom Publikum boykottiert worden wären. Auf Befehl des Prinzen Erie!

Gewiß, es waren zwei gewaltige Geister, geniale Menschen, Helden, geborene Welteroberer; aber sie waren auf einen schiefen Weg gekommen, durch und durch verrottet.

Fred Chiswick wurde noch in jungen Jahren von der rächenden Nemesis erreicht. Er hatte im Justizpalast zu tun gehabt; als er dort die Treppe herunterkommt, springt hinter einer Säule eine schwarzgekleidete, tief verschleierte Dame hervor und gibt zwei Revolverschüsse auf ihn ab. Auf der Treppe sind noch andre Menschen, auch Jonas, er erreicht den zusammengebrochenen Bruder zuerst, findet ihn schon tot. Man hatte beobachtet, wie die Dame, ehe sie die Schüsse abgab, ihren Schleier gelüftet, also erst mit Absicht ihr Gesicht gezeigt hatte; aber erkannt hatte man sie nicht. Der Mörderin war es gelungen, rechtzeitig das Freie zu erreichen, sie verschwand im Straßengewühl, und trotz aller Anstrengungen der Polizei wurde sie niemals entdeckt.

Die Ermordung des Bruders schien auf Jonas doch einen großen Eindruck gemacht zu haben. Er war überhaupt immer etwas mäßiger gewesen. Jetzt war er alt, der Wolf hatte keine Zähne mehr. Aber der ›King Underground‹ war er noch immer. Man hätte ihn den König von ganz New-York nennen können. Sein Reich lag nicht nur hier unten, sondern auch an der Erdoberfläche. Was die Verwaltung New-Yorks anbetraf, so mußte alles nach seiner Pfeife tanzen, Bürgermeister wie Polizeidirektor und alle andern Beamten waren nur seine Puppen, die er an Fädchen lenkte. –

Wenn es Nobody nicht wußte, so ahnte er jetzt doch schon das Geheimnis, welches jene junge Frau allwöchentlich einmal ins Fichtenhaus zwang, hatte sie doch gesagt, daß ihre Mutter eine Zuchthäuslerin sei.

»Armes Weib, arme Jessy!« murmelte er, als er den Rückweg antrat.

Denn ehe der Tag zu neuem Leben erwachte, mußte er in jenem Hause ein Versteck gefunden haben, aus dem er Jessy in Gesellschaft ihrer Mutter beobachten und belauschen konnte.

Die geheime Kellertür war wieder geschlossen, Nobody begab sich in jenes Parterrezimmer, von dem er annahm, daß es als Wohnzimmer benutzt würde, welches noch denselben Duft enthielt, den er an Mrs. Brown wahrgenommen hatte. Wo aber sollte er hier ein Versteck finden? Etwa unter dem Sofa? Das Zimmer war offenbar noch nicht aufgeräumt, und er mußte damit rechnen, daß die Dienerin am Morgen wenigstens ausfegte, da hätte sie den fremden Eindringling leicht entdecken können.

Nobody wandte seine Aufmerksamkeit einer großen, altertümlichen Kommode mit reicher Schnitzarbeit zu. Die Schubfächer waren nicht verschlossen. Das oberste war mit Wäsche vollgepackt, das zweite auch, das dritte auch – aber das unterste enthielt nur eine dünne Lage vergilbter Papiere, samt und sonders quittierte Rechnungen, schon vor Jahrzehnten ausgestellt, verstaubt; das Ganze machte überhaupt den Eindruck der Vergessenheit.

Nobody hielt diese Schublade für das geeignetste Versteck, er stieg also hinein und schob den Kasten in die Kommode zurück. Das ist freilich leichter gesagt als getan, da doch Nobody selbst in dem Kasten lag. Dazu gehörte eine Virtuosität ganz besonderer Art, Nobody mußte sich in diesem Experiment ausgebildet haben, daß ihm das so leicht gelang. Zur Probe schob er den Kasten gleich noch einmal heraus, wobei er doch nur die Hände gegen den Boden der obern Schublade stemmen konnte, und das ging bei ihm so fix, wie wenn jemand die Lade von draußen aufzöge; dann wieder zurück, und er war mit allem zufrieden. Auf der Seite liegend, brauchte er die Füße nur wenig anzuziehen, und Luft drang genug durch die Spalten.

»Wenn nur jeder in New-York so ein bequemes Bett hätte,« brummte Nobody, gähnte und – schlief ein!

Nobody hatte manche Nacht schon in ganz andrer Weise verbracht, hatte schon auf ganz andern Lagern friedlich geschlummert – aber hier in dieser Schublade war es kein friedlicher Schlummer, ein wüster Traum plagte ihn. Und der Inhalt dieses Traumes?

»Er liebt mich ... ööööhhhh ... von Herzen ... ooooohhhh ... mit ... uuuuuhhhhhh ... mit Schmerzen ... »hhhoooohhhhuuuhhhhhbrrrrrr ...«

Das leiseste Geräusch genügte, um Nobody aus diesem schönen Traum zur Wirklichkeit erwachen zu lassen. Es war jemand im Zimmer. Der Kastenpopanz krümmte sich wie ein Wurm zusammen, bis er sein Auge an das offne Schlüsselloch gebracht hatte, und sah die verliebte Dorette mit dem Besen herumwirtschaften, und Nobody konnte sich in seiner Schublade gratulieren, denn soeben fuhrwerkte sie mit dem Besen unter dem Sofa herum.

Es war schon hellerlichter Tag, und nicht lange, so hörte Nobody die Glocke der schwedischen Kirche die achte Stunde verkünden.

»Also noch vier Stunden, dann kann ich erst den Besuch der Hauptperson erwarten. Ei der tausend, mir tun de Beene schon sehre weh. Wenn die alte Schrulle fertig und wieder hinaus ist, werde ich mich doch lieber unters Sofa zurückziehen.«

Endlich war das Auskehren beendet, die Dienerin verließ das Zimmer. Eben wollte Nobody die Schublade durch innere Kraft herausbefördern, als er wiederum eine Tür gehn hörte und durch eine Spalte beobachtete, daß Mrs. Ugly in einem türkischen Morgenrock hereintrat und – direkt auf die große Kommode zuschritt!

»Alle guten Geister, die will hoffentlich doch nur Wäsche holen, die will doch nicht etwa ...«

Nobody wagte den fürchterlichen Verdacht gar nicht ausdenken, und doch lag er so nahe. Die alte Dame hatte nämlich ein vergilbtes Papier in der Hand.

Und da hörte Nobody auch schon die großen messingnen Handgriffe klappern, und zwar die von seiner Schublade – da aber hatte sich Nobody auch schon auf den Bauch gewälzt und preßte den Rücken gegen die Decke seiner Wohnung, und mit den Fingernägeln krallte er sich in einen Riß der hinteren Wand ein, mit den Zähnen biß er sich in eine Leiste fest, und so führte er einen Verzweiflungskampf gegen die äußere Kraft, welche seine Schublade aufziehn wollte, und das war ein ganz andrer Kampf als der heute nacht im Klosett mit der Dienerin, bei diesem hier schwitzte Nobody Blut aus den Rippen.

»Warum geht denn die Schublade nicht auf?« erklang es draußen. »Sie muß verquollen sein! Dorette, Dorette!«

»Ich bin verloren!« stöhnte Nobody. »Gegen zwei solche Ungetüme kann mein Buckel nicht ankämpfen!«

»Dorette!! Wo bist du denn nur?«

Es hilft alles nichts, dachte Nobody, Dorette kommt, Amerika ist entdeckt. Ich muß Vorbereitungen treffen, sie zu begrüßen. Na, wenn die den ersten Wilden sehen, mit der Kapuze überm Kopf – nur auf diese Gesichter bin ich gespannt! Schade, daß ich keinen Photographenapparat bei mir habe!

Tragisch nahm Nobody also seine Entdeckung überhaupt nicht. Aber sie sollte gar nicht erfolgen.

Dorette kam nicht, und Mrs. Ugly ging, um sie zu suchen.

»Jetzt oder nie, und entdeckt werde ich sowieso!«

Mit diesem Entschluß der Verzweiflung schob Nobody von innen den Kasten heraus, entstieg ihm, schob ihn wieder hinein und war unter dem Sofa verschwunden. Es war alles ohne Geräusch abgegangen, die Schublade ging spielend leicht, und da kam auch schon Mrs. Ugly wieder herein, die alte Kreolin mitbringend.

»Der Kasten ist verschlossen,« meinte letztere.

»Nein, nein, ich habe gar keinen Schlüssel zu der Kommode. Die Schublade ist nur lange nicht aufgezogen worden, sie ist im Winter verquollen. So, setze dich dorthin, ich ziehe hier.«

Die beiden Weiber kauerten sich nieder, jedes packte einen Handgriff an, die alte Dienerin stemmte auch noch einen Fuß gegen den Rand der Kommode.

»Paß auf, wenn ich zähle! Ganz gleichzeitig einen recht kräftigen Ruck! Eins – zwei – drei ... jubb!«

Jawohl, jubb! Als wenn die Kommode eins geladene Kanone gewesen wäre und die Schublade eine Granate, mit solcher Vehemenz schoß sie aus dem Fach heraus, über die Köpfe der beiden Weiber hinweg, eine Wolke von Staub, aus der es gelbe Papierblätter regnete, die alte Hexe schlug rücklings gleich zwei tadellose Salti mortali, und Mrs. Ugly, die alte, so würdevolle Dame, lag mitten in der Stube auf dem Rücken und reckte die Beine gen Himmel.

Nobody aber krümmte sich wiederum wie ein Wurm, nur diesmal unter dem Sofa und um sein Lachen zu ersticken.

Nun, sie richteten sich wieder auf, sammelten die Papiere zusammen und sprachen dabei über die verquollene Schublade, die plötzlich so leicht ging. Dann setzte sich Mrs. Ugly auf das Sofa, Dorette brachte ihr den Morgenkaffee, die alte Dame rankerte lange auf dem Sofa herum, und dann fing es wieder an: »32 – 9 – 30 – 10 – 27 – 18 – 29 – 3 – 0 – 16 ... das ist Ezechiel.«

»Nein, das ist Wahnsinn,« dachte Nobody unter seinem Sofa, und so konnte er noch vier Stunden zuhören und seine Bemerkungen dazu machen.

So war es also zwölf Uhr geworden, nun mußte bald die Hauptperson kommen, Mrs. Brown, die er doch hauptsächlich belauschen wollte. Aber sein Plan sollte durchkreuzt werden.

Oben fing es an zu krabbeln und zu kratzen, lange Zeit.

»Dorette, Dorette!!«

Die Dienerin kam.

»Mir ist mein Bleistift heruntergefallen, hier aufs Sofa, er hat sich zwischen die Ritze verkrochen.«

Daher also das Krabbeln und Kratzen, und jetzt tauchte auch Dorette ihre Hände in die Polsterspalten.

»Der ist durchgerutscht, ich will einmal unters ...«

»Allmächtiger Gott!« ächzte Nobody.

Richtig, da wurden auch schon die Fransen zurückgeschoben, das gelbe Gesicht der Kreolin zeigte sich. Nobody hielt den Atem an. Würde sie die schwarze Gestalt sehen? Jetzt näherte sich ihm die suchende Hand, Nobody quetschte sich gegen die Wand.

»Ich will einmal leuchten.«

Das hatte nun gerade noch gefehlt! Nobody traf Anstalten, sich zu verabschieden. Er zog schon seine Stiefeletten an. Das Streichholz brannte, es wurde unter das Sofa gehalten – und da ein gellender Schrei, der Kopf der Kreolin war verschwunden.

»Iiiiiiiihhhhhh, es liegt ein fremder Kerl unterm Sofa!!!«

Nein, er lag nicht mehr darunter, er war schon hervorgekommen.

»Entschuldigen Sie gütigst, meine Damen, ich bin aus Versehen in ein falsches Haus geraten. Empfehle mich sehr!«

Mit diesen Worten hatte Nobody das Fenster aufgewirbelt, war hinaus, im Garten, nahm einen Anlauf, voltigierte über die Mauer hinweg und ... saß rittlings auf den Schultern des Herrn Schnullrich! Der dicke Wachtmeister war gerade dort unten vorbeispaziert.

Natürlich blieb Nobody nicht lange auf den Schultern des Beamten sitzen, vielmehr war er wieder wie ein Blitz herunter und floh quer über den Kirchplatz.

»Haltet ihn auf, haltet ihn auf!!!« heulte es hinter ihm, und der Polizeipfiff schrillte.

Die Lage war gefährlich, denn es war gerade zwölf, auch der sonst so einsame Kirchplatz mit vielen Menschen belebt, und der schwarze Popanz mit der Kapuze über dem Kopf war eine so interessante Erscheinung, daß gleich alles Jagd auf ihn machte.

Doch Nobody hatte sich vorher zur Genüge orientiert. Sein Ziel war ein Durchgang, in dem fast undurchdringliche Dunkelheit herrschte, und hätte er in diesem keine Gelegenheit gehabt, eine andre Toilette zu machen, so hätte er sie eben anderswo gefunden. Doch es gelang.

Eben hatte Wachtmeister Schnullrich als erster den Durchgang erreicht, als er mit einem heraustretenden Gentleman zusammenprallte, bekleidet mit einem langen Mantel, der jetzt aber nicht mehr schwarz, sondern hellgrau war, und auf dem Kopfe balancierte der Herr einen gleichfarbigen Zylinder.

»Das ist aber doch stark!« rief der Herr unwillig. »Erst rennt mich hier bald ein Kerl über den Haufen, und nun ...«

»Warum haben Sie ihn nicht festgehalten?« heulte der Wachtmeister und verschwand in dem Durchgang, ihm nach eine jagdbegierige Volksmenge, welcher der Gentleman aus dem Wege ging, und dann schlenderte Nobody nachlässig weiter.

Als er um die nächste Ecke bog, prallte er wiederum mit einem Herrn zusammen.

»Hallo, Mr. Brown! Gehn Sie denn mittags nach Hause? Jawohl, ich bin derjenige, welcher, und ich kann Ihnen gar viel offenbaren. Aber was ist denn passiert?«

Mr. Brown sah ganz verstört aus. Er raffte sich auf.

»Nelly hat mich aus dem Geschäft geholt,« stieß er hervor, »meine Frau ist heute nicht gegangen – sie ist plötzlich schwer erkrankt – hat die Weinkrämpfe bekommen.«

Er wollte weiterstürzen, Nobody hielt ihn noch einmal zurück.

»Bis um zwei bin ich im Münchner Restaurant, gleich neben Ihrem Hause, wenn Sie mich dort sprechen wollen. Sonst werde ich Sie schon finden. Ich weiß also, was für ein Geheimnis Ihre Frau hat.«

Jetzt stutzte Brown doch, er blieb stehn.

»Was?«

»Sie liegt in den Sklavenketten Jonas Chiswicks, dieses alten Schuftes. Der weiß, daß ihre Mutter eine Schuld auf dem Gewissen hat. Aber nicht etwa Mrs. Ugly, das ist gar nicht ihre Mutter. Aber gehn Sie nur erst, ich erzähle es Ihnen später, und seien Sie nur ganz ruhig, es ist gar nicht so schlimm, Sie können Ihrer Frau aus vollem Herzen verzeihen.«

Brown blickte den Sprecher an, und jetzt ließ er sich nicht mehr halten, die Sorge um seine kranke Frau überwog die über die schuldige Frau.

Nobody begab sich in das Restaurant, in welchem er gestern früh gewesen war, studierte die Speisekarte; als er an eine gewisse Zeile kam, überflog ein sonniges Lächeln seine Züge, und er stellte ein Menü aus drei Gängen zusammen. Erster Gang: Schweinsknochen mit Sauerkraut und Klößen; zweiter Gang: Schweinsknochen mit Klößen und Sauerkraut; dritter Gang: Klöße mit Schweinsknochen und Sauerkraut; Dessert: Sauerkraut mit Klößen und Schweinsknochen.

Er war mit diesen vier verschieden arrangierten Portionen soeben fertig, brannte sich eine Zigarre an, als Mr. Brown eintrat. Der erst vollgewesene Saal hatte sich unterdessen wieder geleert. Der Schreiber steuerte sofort auf den einzigen Gast zu.

»Mann, was haben Sie denn jetzt wieder?« begrüßte ihn Nobody. »Sie strahlen ja im ganzen Gesicht. Wenn Ihre Frau die Weinkrämpfe hat, dann wollen Sie wohl jetzt den Lachkrampf bekommen? – Doch Scherz beiseite, wie geht's Ihrer Gattin, was ist mit ihr?«

»Sie hat mir alles gestanden!« jubelte Brown, und da war Nobodys überraschtes Gesicht begreiflich.

»Na da schicken Sie's mal an ein Witzblatt ein. Das muß etwas äußerst Humoristisches gewesen sein, was Ihnen Ihre Frau da erzählt hat, und Humor wird immer gut bezahlt.«

»Ihre Mutter ist gestorben, eben hat sie's erfahren,« brachte der glatzköpfige Mann in womöglich noch größerem Jubel hervor.

»Juhu, ihre Mutter ist gestorben, juhu, tralalala,« verstärkte Nobody den Jubel noch. Dann aber wurde er ernst.

»Aha, aha, ich verstehe – ihre Mutter ist gestorben, und das löst ihr die Zunge! Setzen Sie sich, erzählen Sie!«

Sie saßen mitten in dem geräumigen Saal, konnten nicht belauscht werden.

»Wissen Sie, wie vor zwanzig Jahren Fred Chiswick, genannt Prinz Erie, seinen Tod fand?« begann Brown im Flüstertone.

»Jawohl, er wurde von einer Dame niedergeschossen, und diese Dame war die Mutter Ihrer jetzigen Gattin.«

Einige Zeit stierte Brown den andern sprachlos an.

»Woher in aller Welt wissen Sie ...«

»Ich hatte eine Ahnung, und Ihre Frage machte sie mir zur Gewißheit, und daß Mrs. Ugly nicht Jessys richtige Mutter sein kann, habe ich einfach aus den Gesichtszügen erkannt. Doch erzählen Sie mir!«

Auch Jessys Mutter, eine junge Witwe, war ein Opfer des Prinzen Erie gewesen. Auf welche Weise sie in seine Schlingen gekommen war, das wußte Mr. Brown jetzt selbst noch nicht. Es ist dabei zu bedenken, daß ihm seine furchtbar aufgeregte Frau nur die Hauptsachen mitgeteilt hatte, und wenn sie auch eine Stunde lang gesprochen, so bedient man sich beim Sprechen doch viel überflüssiger Worte, die man beim erzählenden Schreiben nicht wiedergeben kann; schon die Begrüßung zweier Freunde auf der Straße würde viele Seiten füllen, ohne jeden Inhalt.

Kurzum, Ernest Brown wußte vorläufig nichts weiter, als daß Jessys Vater ein Postbeamter namens Martin Donall gewesen war; noch bei seinen Lebzeiten wurde dessen junge Frau von Fred Chiswick verführt, zu seinem willenlosen Werkzeug gemacht, und nicht genug damit, aus grausamer Wollust ließ er dies auch ihren Mann wissen. Das ist eben so die höhere Art von Teufelei, ein Familienglück zu zerstören, nur aus Lust am Bösen. Martin Donall ergab sich erst dem Trunke, dann beging er Selbstmord – und Margaret Donall rächte ihn und sich selbst durch die Ermordung des Bösewichts.

Gefaßt wurde sie also nicht. Aber sie selbst wollte ihre Tat sühnen. Margaret gab Jessy, ihr einziges Kind, damals drei Jahre alt, einer Familie Springfield in Pflege und ging als barmherzige Schwester in ein klösterliches Hospital, dessen Vorsteherin sie zuletzt wurde, so hochgeehrt, daß ihr heute alle Zeitungen lange Nachrufe widmeten.

Um ihr Kind hatte sie sich nie gekümmert. Das heißt, für die Tochter gebetet mochte sie genug haben. Aber sie hatte den Pflegeeltern, denen sie ihre beträchtlichen Ersparnisse geschenkt, zur Bedingung gemacht, daß Jessy niemals von ihrer eigentlichen Mutter erführe. Margaret Donall wollte eben als barmherzige Schwester für die Welt tot sein.

Jessy bildete sich zur Malerin aus, brachte es wenigstens zu einer gesuchten Zeichnerin. Als sie achtzehn Jahre alt war, wirkte sie einmal bei einem Wohltätigkeitsfeste mit, dem Jonas Chiswick vorstand. Die niedlichen Verkäuferinnen wurden ihm vorgestellt.

»Miß – Jessy – Springfield?« wiederholte er sinnend. »»hh, Miß Jessy Springfield! Sie gestatten wohl, daß ich Sie dann einmal unter vier Augen spreche!«

Die Unterredung fand noch an demselben Abend statt.

»Kennen Sie die Priorin vom Samaria-Hospitale? Ja? Sie selbst sind einmal von ihr gepflegt worden? Nun, da haben Sie ja doppelten Grund, sie so hoch zu verehren. Das ist nämlich Ihre Mutter. Und wissen Sie, wer die Mörderin meines Bruders ist, die noch immer von der Justiz gesucht wird? Das ist gleichfalls Ihre Mutter. Jawohl, die heilige Margaret vom Samaria-Hospital. Ich war doch damals meinem Bruder am nächsten, und da habe ich Mrs. Donall nicht nur erkannt, sondern Fred hat's mir auch noch gesagt, ehe er die Augen für immer schloß. Wissen Sie was? Das Geheimnis soll unter uns bleiben, wir wollen gute Freunde werden. Eine Gefälligkeit ist der andern wert. Kennen Sie das blaue Haus? Ganz richtig, die verrufene Spielhölle! Ich verkehre jeden Freitag abend dort, mache auch gern einmal ein Spielchen. Es geht übrigens höchst anständig dort zu. Wir brauchen für jenen Abend gerade eine Büfettmamsell. Oder vielmehr auch nur so ein Ehrenposten wie hier. Ob sie nun hier Rosen verkaufen oder dort Gläser einschenken, bleibt sich doch gleich. Also, nicht wahr, Sie werden dieses Ehrenamt jeden Freitag abend übernehmen? Wenn nicht, dann ... hole ich Ihre Frau Mutter von dem erhabenen Throne ihrer Heiligkeit herunter. Die gehört ins Zuchthaus oder vielleicht an den Galgen. Verstanden? Also Sie werden kommen! Sie werden doch nicht die, die Ihnen das Leben gegeben und dann einmal gerettet hat, so ins Unglück stürzen?«

Das war der kurze Inhalt einer langen Auseinandersetzung. Denn so schnell ging das natürlich nicht. Da war Jessy gar oft einer Ohnmacht nahe und brauchte lange Zeit, ehe sie sich wieder erholt hatte.

Der Bösewicht wußte sie von der Richtigkeit seiner Behauptungen zu überzeugen. Auch Mrs. Springfield lebte noch, und da sie gefragt wurde, mußte sie auch gestehn, daß Jessy wirklich die Tochter der Priorin des Samaria-Hospitals sei. Nun zweifelte Jessy aber auch nicht mehr an jener zweiten fürchterlichen Behauptung. Wie hätte denn Jonas Chiswick so etwas sonst überhaupt sagen können!

Was sollte Jessy tun? Auch sie hatte einmal typhuskrank im Samaria-Hospital gelegen, Schwester Margaret hatte sie dem Tode entrissen, und wenn Jessy sich jetzt auch deren unendliche Zärtlichkeit erklären konnte, so wurde ihre Verehrung dadurch doch nicht gemindert, im Gegenteil! Ihre Mutter!

Nein, nimmermehr! Und das junge Mädchen stellte sich, wie ihr befohlen oder doch angeraten war, im Fichtenhause der Mrs. Ugly vor. Diese war ebenfalls ein Opfer dieses Bösewichts, wenigstens so halb und halb. Eine leidenschaftliche Spielerin war sie freilich von jeher gewesen, sie war einmal Jonas Chiswicks Maitresse gewesen, der hatte sie eigentlich erst dazu gebracht – auf welch raffinierte Weise, das kann hier gar nicht gesagt werden, das versteht ein unschuldiger Leser gar nicht – daß sie in ihrer Geldverlegenheit Wechsel fälschte, Chiswick selbst brachte sie ins Zuchthaus, natürlich war er immer der Unschuldige, er hatte sie eben nur mürbe machen wollen, dann nahm er sich ihrer wieder an, ließ sie hier im Fichtenhause wohnen, das er ursprünglich für sich selbst als Absteigequartier eingerichtet hatte, jeden Freitag abend mußte sie im blauen Hause als Croupiere wirken, als Spielleiterin. In ihrer Freizeit spielte sie selbst am Roulette-Tisch mit. Das, was Nobody erlauscht hatte, die Zahlenreihen, waren sogenannte Systeme gewesen.

Das hatte Nobody sofort gewußt, als er merkte, daß sich die Zahlen nur zwischen 0 und 36 bewegten, und als ihn der Gang zur Untergrundbahn führte, wußte er auch, daß der Urheber des Geheimnisses ›King Underground‹ war, daß es jeden Freitag abend nach dem sogenannten blauen Hause ging, denn es war ihm bekannt, daß dort Jonas Chiswick die Freitagnacht am Spieltische verbrachte, Nobody selbst war schon drin gewesen, er wäre heute abend wieder hingegangen, um unter den maskierten Damen Mrs. Brown herauszufinden und ihr Tun weiter zu beobachten.

Und Ernest Brown brauchte ihm nicht erst zu erzählen, wie sie ihm fest versichert habe, daß es dort durchaus anständig zuginge. Nobody kannte alles.

Das blaue Haus, nach seinen farbigen Verzierungen so genannt, gehörte ebenfalls Jonas Chiswick. Er hatte es an einen Mann verpachtet, der eine Spielhölle daraus machte, und jedenfalls war das alles schon von vornherein beschlossen worden, denn wenn einmal die Polizei kam, so fand sie das Haus stets leer; alles retirierte durch die Tunnel der Untergrundbahn, hier war Jonas Chiswick alleiniger Herrscher, er hatte also gleich solch einen Fuchsbau angelegt.

Uebrigens war es keine öffentliche Spielhölle. Es war ein Haus, welches von mehreren Klubs zusammen gemietet worden war, jeden Abend war ein andrer darin, der stets seine eigne Bedienung mitbringen mußte. Gespielt wurde freilich immer.

Am Freitag abend spielte nun der Masken-Klub, dessen Mitglieder den exklusivsten Kreisen New-Yorks angehörten, der auch vom King Underground regelmäßig besucht wurde. Er war sogar der Präsident. Alles mußte Masken tragen, selbst die Bedienung. Die eigentlichen Mitglieder kannten sich wohl untereinander, aber jeder durfte auch fremde Herren und Damen einführen, deren Namen nur dem Betreffenden, der sie einführte, bekannt waren – und dem Präsidenten genannt werden mußten, dem King Underground!

Der scharfsinnige Leser weiß nun schon, was Jonas Chiswick hiermit ins Leben gerufen hatte, was er beabsichtigte, woran er sich ergötzte.

Das hier war das Brutnest, in dem vorher harmlose Menschen systematisch zu Spielern großgezogen wurden. Da wurde etwa der Sohn eines reichen Mannes, bisher ein fleißiger, solider Mensch, einmal von einem Freunde aufgefordert, ihn zu begleiten – ›komm nur mit, es erkennt dich ja niemand, du trägst eine Maske, niemand erfährt es, und du sollst staunen, wen du da alles findest‹ – gut, der junge Mann ging mit ... und dann ging er immer wieder hin! Denn verbotene Früchte sind die süßesten, man wurde ja nicht erkannt, und wer einmal vom Spielteufel erfaßt worden ist, der kann nicht wieder davon lassen. Ebenso ging es mit mancher jungen Dame aus bester Familie. Einmal zum Spiele verführt, erschien sie immer wieder, sie konnte den Freitagabend gar nicht mehr erwarten. Der Mann oder die Eltern glaubten, sie besuche eine Freundin. Das tat sie vielleicht auch wirklich, die aber nahm sie eben auf einem geheimen Wege mit in das blaue Haus.

Das war es, woran King Underground seine teuflische Freude hatte. Er kannte sie alle, alle, und die, welche sonst so unschuldig taten, er hatte sie alle in seiner Hand, hätte sie mit einem Druck zermalmen können. Und dasselbe galt von der schönen, dekolletierten Dame, welche hinter der Bar stand und die Gläser kredenzte. Sie, die sanfte, ehrbare Frau eines geachteten Mannes, mußte auf seinen Befehl Gatten und Kinder verlassen, um hier in dieser Spielhölle die Gäste zu bedienen! Das ergötzte den alten, weißhaarigen Mann noch, diese Macht des Willens, das war eine teuflische Wollust für ihn.

Neun Jahre hatte Jessy so ihr Los getragen. Sie durfte nicht sprechen, sie durfte sich nicht wehren, sie durfte nicht einmal Selbstmord begehn. Dann hätte jener furchtbare Mensch ihre Mutter doch noch an den Pranger gestellt.

Liebe und Spiel reimt sich bekanntlich nicht zusammen, und hier herrschte allein der Spielteufel, es wurde wahnsinnig mit dem Aufgebote aller Leidenschaft gespielt, und das war Jessys einziges Glück.

Eine Zeitung, welche erst gegen Mittag herauskommt, hatte als erste gemeldet, daß heute vormittag die Schwester Margaret, die hochverehrte Vorsteherin des Samaria-Hospitals, sanft verschieden sei.

Da war der Bann gebrochen gewesen! Es war zu plötzlich über die junge Frau gekommen, sie war in Weinkrämpfe ausgebrochen, sie hatte nach ihrem Manne geschickt, hatte ihm alles gestanden.

»Sie haben ihr verziehen?«

»Sie können noch fragen?«

»Die Mutter hätte eigentlich schon gestern sterben können, dann hätte ich mich nicht erst ins Fichtenhaus zu schleichen brauchen.«

»Sie waren drin?« fragte Brown erstaunt.

»Die ganze Nacht.«

»Was haben Sie denn dort gemacht?«

»Zwei Stunden auf dem Klosett gesessen, drei Stunden in der Kommodenschublade gelegen und vier unterm Sofa. Kellner, zahlen!«

 

Noch an demselben Tage mußte Nobody eine Reise ins Ausland antreten. Als er nach einem Vierteljahre zurückkehrte, hörte er, daß Mr. Ernest Brown mit seiner Familie nach San Francisco versetzt worden sei, wo seine Versicherungsgesellschaft eine Filiale besaß.

Dabei hatten sich die Verhältnisse des armen Schreibers total geändert. In New-York sprach man noch immer davon, wie die unvergeßliche Schwester Margaret vom Samaria-Hospitale ein Testament hinterlassen hatte, in welchem sie ein großes Vermögen, das sie einst von einer im Krankenhause Verstorbenen vermacht bekommen, auf Mrs. Jessy Brown übertragen habe, welche sie als Mädchen gepflegt und so lieb wie ihre eigne Tochter bekommen habe.

Als Nobody einmal nach San Francisco kam, suchte er das Ehepaar auf, das ihn herzlich als Gast willkommen hieß. Als Eingeweihter bekam Nobody auch das Testament zu sehen, und er vergoß beim Lesen heimliche Tränen der Rührung. Sie hatte sich nicht als Mutter zu erkennen gegeben, sie war als Schwester Margaret gestorben – aber mit welchen Empfindungen mochte sie die häufig wiederholten Worte niedergeschrieben haben: ›Mein liebes Kind, das ich so gern mein eignes hätte nennen mögen.‹ Fürwahr, das war eine Sühne durchs ganze Leben!

Was aber Nobody am allermeisten imponierte, das war, wie sich die beiden wieder eingerichtet hatten. Das Geld hatten sie mit Vergnügen genommen, sie hätten bequem von den Zinsen leben können – nein, Ernest Brown ging nach wie vor in sein Bureau und brachte wöchentlich zwölf Dollar in das bescheidene Häuschen mit Gärtchen, das sie sich wieder genommen hatten, an den neuen Schreibtisch hatte er sich bald wieder gewöhnt, er hatte ja auch seinen alten Federhalter mitgenommen, und Jessy malte zu Hause nach wie vor Modebilder und Reklameplakate. Der ganze Unterschied gegen früher bestand darin, daß sie jetzt in San Francisco wohnten – und daß Jessy jetzt auch von Freitag bis Sonnabend mittag bei ihren Kindern blieb. Ja, so fesselt man das Glück! Zu jedem Menschen kommt es einmal, er muß es nur festzuhalten verstehn.

Wegen des King Underground hätte Brown sich nicht versetzen lassen brauchen. Den hatte bald darnach der Tod in Gestalt der Rückenmarksschwindsucht geholt. Seine Erben hatten das Haus mit den zwei Fichten für sich selbst in Besitz genommen; deshalb hörte man auch nichts von einer geheimen Treppe, die zu der Untergrundbahn führte, und ebensowenig erfuhr Nobody, wohin sich Mrs. Ugly und ihre Dienerin begeben hatten.

Jene Nacht, die er in dem Fichtenhause verbrachte, gehörte jedoch für immer zu Nobodys liebsten Erinnerungen, und jedesmal, wenn ihn der Weg an diesem Hause vorüberführte, fing er an zu stöhnen: »Er liebt mich ... ööööööhhhhh ... von Herzen ... öööööhhhhhh ... mit Schmerzen ... brrrrrrrrr ...«


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