Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2. Little Pet.

Es war eine Vormittagsstunde. Mr. World saß in seinem Bureau über ein Schreiben gebeugt, als die Tür aufgerissen wurde und Nobody mehr hereinstürzte denn hereintrat. Er hatte in Chicago zu tun gehabt, war lange Zeit fortgewesen, konnte soeben erst zurückgekommen sein, sah seinen Prinzipal und Kompagnon jetzt zum ersten Male wieder, und doch hatte er nicht einmal Zeit zu einem Morgengruß.

»Schnell, Mr. World,« sprudelte er hervor, »ich brauche Geld, Geld! Was haben Sie in bar da? Her damit!«

Wenn der kaltblütige Nobody, der sonst niemals seine Ruhe verlor, es so eilig hatte, dann allerdings mußte etwas ganz Besonderes vorliegen. Der alte Herr verlor etwas den Kopf, er war nach dem Geldschrank gesprungen und wollte ihn mit dem aus der Tasche gezogenen Hausschlüssel aufschließen.

»Ein Glück, ich habe vorhin 25 000 Dollar hereinbekommen, Paddy sollte sie nachher auf die Bank ...«

»25.000 Dollar?« fiel ihm Nobody jubelnd ins Wort. »Famos! Her damit, her damit!! Hei, das wird ein Geschäft, das soll uns etwas einbringen!«

Unterdessen hatte Mr. World bemerkt, daß der große Hausschlüssel nicht in das kleine Schloß ging, hatte das richtige Schlüsselbund gefunden. Es waren lauter einzelne Tausenddollarnoten, welche er einer Kassette entnahm, er wollte die Scheine zählen; Nobody riß sie ihm aus der Hand und pfropfte sie ungezählt in seine Tasche.

»Nun brauche ich aber hauptsächlich auch kleines Geld,« fuhr er fort, immer in höchster Eile. »Sie müssen doch kleine Kasse haben!«

»Nein, Sie wissen doch, daß ich jeden Abend alles Geld mit nach Hause nehme ...«

»Na, was haben Sie denn in der Tasche?«

Mr. World entleerte sie; auf den Schreibtisch rollten Gold-, Silber- und Kupfermünzen, wiederum kam der alte Herr nicht zum Zählen, Nobody kratzte alles zusammen und ließ es verschwinden.

»Hier in der Brieftasche habe ich noch drei Hundertscheine.«

»Her damit, her damit!! Sonst nichts weiter? Ich brauche Geld, kleines Geld! Ich bin total ausgeplündert worden!«

»Sie ausgeplündert? Wer hat denn das fertig gebracht?«

»Natürlich mit Absicht. Ich habe mich ausplündern lassen. Es handelte sich um einen Trick. Haben Sie nichts weiter? Ich muß viele Hände mit Gold und Silber füllen, und das sofort, sofort! Dann wird das ein Geschäft!«

Mr. World eilte zur Nebentür, welche in das größere Bureau führte, in dem neun Kommis saßen.

»Kommen Sie mal herein! Mr. Nobody braucht kleines Geld, können die Herren ihm aushelfen? Geben Sie alles her, was Sie haben!«

Der alte Herr war von der Hast seines Kompagnons angesteckt worden, und das Wort, daß Nobody ihr Geld brauche, wirkte wie eine Zauberformel auf die Beamten; der erste Buchhalter wie die andern Schreiber drängten sich herein, jeder wollte zuerst seine Taschen, in denen sie nach englischer Sitte ihr Geld lose trugen, auf den Schreibtisch entleert haben.

Die Summen mochten zwischen fünf und zwanzig Dollar betragen, Nobody hielt sich nicht mit Zählen auf, er kratzte zusammen.

»Hier noch eine Fünfzigdollarnote.«

»Danke, danke! Sonst nichts?«

»Hier zehn Dollar!«

»Hier ein Doppeladler!«

»Einen Augenblick, gleich mache ich die mexikanische Goldmünze von meiner Uhrkette los.«

»Hier ist mein Sparkassenbuch; die 200 Dollar können Sie sofort erheben.«

»Darf ich Ihnen meinen goldnen Bleistift anbieten? Ich habe bei Isaak Kohen schon einmal drei Dollar drauf Vorschuß bekommen.«

Es war geradezu rührend, wie sich die Kommis überboten, ihren vielgeliebten Nobody mit Geld zu versehen. Das Sparkassenbuch und den Bleistift nahm er nicht, er brauchte nur bares Geld, und dazu rechnete er auch die von der Uhrkette abgerissene Goldmünze, die er in seiner Tasche verschwinden ließ. Ebenso schlug er auch den ihm von Mr. World angebotenen Scheck ab.

»Nur bares Geld, nur bares Geld! Sonst nichts weiter?«

Da kam Paddy mit seinen Säbelbeinen angelaufen. Er hatte noch nachträglich gehört, daß Mr. Nobody kleines Geld brauche.

»Ssssssssssssss,« fing er wie eine Lokomotive zu zischen an, trampelte dabei wie ein Dromedar mit beiden Füßen, hielt sich aber nicht weiter dabei auf, den angefangenen Satz zu beenden, sondern begann plötzlich, seine Hose auf- und abzuknöpfen.

Da zeigte es sich, daß Paddy um den Leib eine Art von Wurst trug, einen wirklichen Schweinsdarm, eine dünne, sehr lange Knackwurst, er löste sie ab, brach sie auseinander ... auf den Tisch rollten eine Unmenge von silbernen Zehncentstücken, und die Wurst war erst zur Hälfte geleert.

Der originelle Kauz hatte sein ganzes Vermögen in Zehncentstücken angelegt, die er in einem langen Knackwurstdarm auf dem Leibe trug. Das heißt, das war bisher sein Geheimnis gewesen, erst jetzt war es ans Tageslicht gekommen.

»Ssssssssssss ... ie können die ganze Wurscht bekommen!«

»Danke, danke, mein Lieber, und daß Sie die Wurst in etwas längerem Zustande wieder bekommen, wissen Sie doch,« sagte Nobody, harkte die kleinen Silberstücke zusammen, schüttete sie in die Tasche, und den unverletzten Teil der Knackwurst, immer noch einen halben Meter lang, ließ er in seinem Hosenbein verschwinden.

»Sonst nichts weiter? Danke, mo'in!«

Hastig wandte sich Nobody der Tür zu.

»Halt, halt!« schrie der erste Buchhalter. »Da ist ja noch die Briefmarkenkasse!!«

Nobody kehrte noch einmal zurück, griff in die ihm dargereichte Schatulle, sie enthielt ein ansehnliches Sümmchen, schüttete alles in seine Jackettasche, pfropfte auch noch sämtliche Briefmarken nach und rannte wieder nach der Tür.

»Danke! Mo'in!«

Diesmal kehrte er nicht wieder zurück. Die Geschäftszimmer des Verlagsbuchhändlers waren an barem Gelde vollständig ausgeplündert worden.

»Was mag er nur vorhaben?« brummte Mr. World, als er sich hinsetzte, um einen Scheck auszuschreiben, den Paddy beim Bankier in bare Münze verwandeln sollte. Das Geschäft konnte doch nicht ohne einen roten Cent sein.

Unterdessen waren drüben die Kommis in einen Streit geraten. Wie gesagt, Nobody hatte das Geld aus ihren Taschen doch sofort in aller Hast in seiner eignen verschwinden lassen.

»Und ich wette,« sagte der eine Kommis, »Nobody weiß ganz genau bis zum letzten Cent, wieviel jeder einzelne von uns ihm gegeben hat. Weil er das Geld nicht gezählt hat? Bah, dieser Nobody sieht mit einem einzigen Blicke mehr und genauer, als wir langsam auszählen können. Dafür ist er eben Nobody.«

»Ich weiß selbst gar nicht genau, wieviel ich eigentlich bei mir gehabt habe. So um die zehn Dollar herum mag es gewesen sein.«

»Aber ich weiß ganz genau, wieviel ich in der Tasche gehabt habe. Acht Dollar sechsundvierzig Cents sind's gewesen.«

»Und ich behaupte, daß Nobody dies ebenfalls ganz genau weiß. Wer wettet dagegen?«

Gut! Es wurden kleine Wetten abgeschlossen.

So waren noch keine fünf Minuten vergangen, Mr. World war mit dem Ausschreiben des Schecks noch nicht einmal fertig, weil er dabei bedächtig eine Prise genommen hatte, als wiederum die Tür aufgestoßen wurde und abermals Nobody eintrat.

»Good morning, Mr. World! How do you do?«

Na, der alte Verlagsbuchhändler hatte sich im Laufe der Jahre von seinem Kompagnon schon manchen Scherz gefallen lassen müssen, er verzog also keine Miene, war nur gespannt, was Nobody jetzt wieder herausstecken würde, und dasselbe galt von den Kommis, welche sich auf ihren Drehstühlen vorbeugten, um durch die offne Nebentür spähen zu können, und schon fingen sie an zu kichern.

»Danke sehr, Mr. Nobody! Und wie ist Ihr Befinden?«

»Immer fidel! Aber vor allen Dingen geben Sie mir doch mal 50 Cents, draußen steht ein Gepäckträger, den will ich erst ablohnen, und ich habe kein kleines Geld einstecken.«

Das war eigentlich ein bißchen stark – nein, das war ein dummer Witz! Oder wie wollte er denn da noch eine Pointe hineinbringen?

»Mr. Nobody, wenn Sie aus uns ausgequetschten Zitronen auch nur noch einen Cent herauspressen können, dann will ich Mops heißen.«

Nobody stellte sich, als ob er von nichts wisse, blickte den alten Mann mit großen Augen an.

»Wie meinen Sie? Sie sollen mir mal 50 Cents geben, Mr. World?«

»Ach, lassen Sie mich ungeschoren!« knurrte der Herr verdrießlich und malte weiter auf dem Scheck.

»Nanu, was ist Ihnen denn heute in die Krone gefahren? Oder wo und wie lange haben Sie denn gefrühstückt?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Nobody in die offene Tür zum Nebenzimmer.

»Will mir einer der Herren einmal 50 Cents pumpen? Bitte!«

Nur ein allgemeines Kichern antwortete ihm.

Nobody blickte auf die sich über ihre Schreibereien Beugenden, beobachtete sie.

»Bitte, kann mir einer der Herren 50 Cents leihen?« wiederholte er dann.

Das Kichern wurde lauter, jetzt brach der jüngste Schreiber in ein schallendes Gelächter aus.

Nobody schüttelte den Kopf und blickte zurück nach Mr. World.

»Zum Teufel, bin ich denn hier in ein Narrenhaus geraten?«

Neben dem Schreibtisch stand Paddy, vor Vergnügen im ganzen Gesicht grinsend.

»Hier,« sein Herr gab ihm den Scheck, »hundert Dollar, möglichst einzeln. Oder aber,« Mr. World wandte sich im Drehstuhl zu Nobody, »Sie könnten das Geld nun wieder herausgeben, Sie brauchen es ja doch nicht, wie ich merke, und ich habe es wirklich sehr nötig, ich habe mit den 25.000 Dollar dann etwas zu bezahlen, deshalb ließ ich sie mir heute kommen.«

Der im Türrahmen stehende Nobody beugte sich etwas vor.

»Was?«

»Ja – was!« echote Mr. World ärgerlich.

»Was sprechen Sie da von 25.000 Dollar?«

»Die ich Ihnen vorhin gegeben habe. Ich brauche sie sehr nötig.«

»Sie – hätten – mir – 25 000 Dollar gegeben? Wann denn?«

»Ach, machen Sie doch keine Witze!«

»Bitte, Mr. World, ich, glaube, der Witz ist auf Ihrer Seite. Wollen Sie mich veralbern? Wann hätten Sie mir 25.000 Dollar gegeben?«

Er war an den Schreibtisch getreten und machte dabei ein Gesicht, daß Mr. World doch stutzig wurde. Allerdings dachte er noch immer, daß Nobody ihn nur düpieren wolle, aber ... es wurde ihm doch schon etwas unbehaglich zumute.

»Sie waren ja vor fünf Minuten hier und haben uns alle bis zum letzten Cent ausgeplündert.«

»Ich – vor fünf Minuten – hier gewesen?« wiederholte Nobody nur, so stockend wie vorhin. »Ich Sie – bis zum letzten Cent – ausgeplündert? Ja, zum Henker, was soll denn das nur heißen?!«

»U-u-u-u-u-u-und meine Wurscht haben Sie mir auch abgenommen,« platzte jetzt Paddy heraus; »a-a-a-a-a-a-a-aber da hatten Sie einen viel höheren Zylinder auf dem Kopfe.«

Nobody sah den Stotterer mit starren Augen an, stieß einen langen Pfiff aus, und da mit einem Male waren seine Züge wie von Eisen geworden.

»Well, jetzt merke ich, daß hier ein Irrtum vorliegt. Ich erkläre Ihnen auf mein Ehrenwort, daß ich von Ihnen heute keine 25.000 Dollar erhalten habe, daß ich heute überhaupt noch nicht hier gewesen bin.«

Diese Worte waren in einem Tone gesprochen, der jeden Zweifel beseitigte, und mit seinem Ehrenwort trieb Nobody auch keinen Scherz.

»Nicht?!« schrie Mr. World nur noch einmal.

»Nein! Sie sind das Opfer eines Betrügers geworden, der mir jedenfalls sehr ähnlich gesehen hat. Ich habe nichts damit zu tun.«

Jetzt erst kam die eigentliche Wirkung dieser Erklärung. Mr. World wäre beinahe vom Stuhle gefallen, in der Tür drängten sich die Kommis, alle den Mund vor Schreck geöffnet, aber Paddy war der einzige, der einen Laut hervorbrachte.

»Ssssssssssssssssss ... o eene Gemeenheet, a-a-a-a-ach nee!!« jammerte er, knöpfte schnell dte Hose auf und suchte nach seiner Knackwurst. Aber die lange Knackwurst war ffffffffff ... utsch!

»Nun, berichten Sie mir so kurz wie möglich und doch ausführlich, was sich hier zugetragen hat,« sagte Nobody, der seine Taschenuhr gezogen hatte.

Jetzt ging der Spektakel los, denn jeder wollte erzählen.

»Ruhe!« kommandierte Nobody. »Mr. World, berichten Sie zuerst! Vor allen Dingen, wann ist der Mann hier eingetreten, wann ist er wieder gegangen?«

Diese Zeiten konnte der zweite Buchhalter ziemlich genau angeben, er hatte beim Eintritt des vermeintlichen Nobody gerade nach der Uhr gesehen, höchstens drei Minuten hatte derselbe sich hier aufgehalten, so schnell war alles gegangen, so eilig hatte jener es gehabt, und seit vielleicht nur fünf Minuten war er wieder fort.

»Fünf Minuten genügen, um in New-York zu verschwinden,« sagte Nobody ruhig, »da habe ich nun auch noch länger Zeit. Wie sah er aus?«

Eben ganz genau wie Nobody. Ganz, ganz genau so! Und Nobody präsentierte sich jetzt in seiner eigentlichen Gestalt. Er trug einen schwarzen Gehrockanzug, mit einem solchen war sein Doppelgänger ebenfalls bekleidet gewesen, auf irgendwelchen Unterschied konnte man sich nicht besinnen, und nur Paddy behauptete, daß jener einen höheren Zylinder als jetzt der echte Nobody gehabt habe.

»Gut! Er hat sich also für mich ausgegeben. Was haben Sie ihm nun ausgehändigt?«

Es wurde aufgezählt, von den fünfundzwanzig Tausenddollarnoten an bis zu den Briefmarken.

»Au-au-au-au-au-auch meine Wurscht,« ergänzte Paddy.

»Was für eine Wurst?«

Weil Paddy gar zu lange zischte und mit den Füßen trampelte, gab sein Prinzipal für ihn die Erklärung ab.

»So ein infamer Halunke! Na, warte, dich will ich kriegen! Hat er nicht auch einen Scheck bekommen?«

»Nein, den wollte er nicht haben, ich bot ihm sogar einen an.«

»Aha! Also so weit geht die Doppelgängerei nicht, daß er auch meine Unterschrift nachzuahmen wagt. Aber sonst doch ein sehr intelligenter Bursche! Na, da werde ich mich einmal auf die Suche nach meinem Doppelgänger machen.«

Nobody ging, seinen gewöhnlichen Schritt um nichts beschleunigend. Draußen stand ein Arbeiter, noch auf ein Trinkgeld wartend. Nobody wollte sich jetzt nicht damit aufhalten, erst eine Silbermünze aufzutreiben, er mußte vor allen Dingen mit seinen Gedanken allein sein. So griff er in die Westentasche und gab dem Ueberraschten einen Goldfuchs.

Dieser Arbeiter aber sah denselben Herrn, den er hierherbegleitet hatte, und das war ein ganz andrer als der jugendschöne Lockenkopf, der sich vor Mr. World und den Kommis gezeigt hatte.

In demselben Augenblick, da Nobody die Klinke ergriffen hatte, um die Tür zu öffnen, war es wie ein Schatten über sein Gesicht gegangen, dieses schrumpfte förmlich zusammen – und ohne Zuhilfenahme eines falschen Bartes war ein alter Herr fertig, der also mit dem vorigen Nobody auch nicht mehr die geringste Aehnlichkeit hatte. Das lockige Haar wurde von dem nach hinten geschobenen Zylinderhut vollkommen verdeckt.

Während Nobody die Treppe hinabstieg, befestigte er in seinem Knopfloch zwei künstliche Blumen, die er in der Tasche gehabt hatte, ein rotes Röschen und ein blaues Alpenveilchen, und dann umbrauste ihn die Brandung der New-Yorker Geschäftsstraße.

Während er sich durch die Menge wand, überlegte er. Doch wir wollen seinem Gedankengange nicht folgen, was auch sehr schwierig wäre, denn wir haben einmal in der vorigen Erzählung gezeigt oder doch angedeutet, in welch bizarren Sprüngen sich die Kalkulationen dieses Detektivs gefielen.

Außerdem wurde sein Gedankengang sehr bald durch etwas unterbrochen, was diesem eine ganz andre Richtung gab.

Ein junger Herr, durch sein nachlässiges Benehmen den sich langweilenden Pflastertreter verratend, trat ihm in den Weg.

»I beg your pardon,« redete er von oben herab den alten Herrn an. »Können Sie mir den Weg nach der Angelostreet sagen?«

Eine Angelostreet gibt's in New-York nicht. Aber ein Stichwort war das, durch welches sich der junge Mann als ein in Nobodys Diensten stehender Detektiv legitimierte, und erkannt hatte er seinen Herrn und Meister an dem roten und blauen Blümchen im Knopfloch.

»Angelostreet? Hm, kommen Sie mal hierher!« quetschte der gutmütige alte Herr heraus, als ob er keine Zähne im Munde hätte.

Sie traten in einen Torweg, und nach einem vorsichtigen Blick hatten sie sich vergewissert, daß sie ungeniert reden durften.

»Was gibt's?« fragte Nobody leise.

»Sind Sie vor einer Viertelstunde durch die Wallstreet, über den Georgesplace und weiter durch die Grillstreet gegangen?«

Nobody zog sofort seine Uhr, gab aber keine direkte Antwort.

»Weshalb? Haben Sie mich dort gesehen?«

»Ja und nein. Ich wurde irre. Ich glaubte Sie als Nummer eins zu sehen. Aber Sie hatten die Locken, welche etwas unter dem Zylinder vorsahen, dunkelbraun gefärbt. Ebenso trugen Sie einen gleichfarbigen, sehr starken Schnurrbart. Mich wunderte, daß Sie als Nummer eins einen nicht dazu passenden Schritt annahmen. Ferner fiel mir gleich auf, daß Sie den Schnurrbart recht ungeschickt befestigt hatten.«

Aha!! Das war der erste Anhaltepunkt! Bemerkt muß hierbei werden, daß ›Nummer eins‹ Nobody in seiner eigentlichen Gestalt war, so wie er gewöhnlich Mr. Worlds Bureau betrat, um sich nicht weiter legitimieren zu müssen. Wir werden gleich noch andre Zahlen hören, welche aber wohl keiner weitern Erklärungen bedürfen. Nobody hatte mit seinen Hilfskräften ein vollkommenes System ausgearbeitet, um viele Worte zu ersparen.

»War der Bart so befestigt, daß man ihn sofort als einen falschen erkannte?«

»Nein. Das Publikum wohl nicht. Auch mancher Kriminalbeamte wäre getäuscht worden. Ich aber sah sofort, daß es ein falscher Bart war, und eine solche Nachlässigkeit wunderte mich eben von Ihnen. Ich schöpfte Verdacht, ich folgte dem Manne. Leider muß ich gestehn, daß er mir in der belebten Grillstreet verloren ging.«

Nobody hatte deswegen kein Wort des Tadels. Mr. Burn war sonst ein ausgezeichneter Detektiv mit scharfem Blick, wie er ja auch soeben bewiesen hatte.

»Schade!« sagte Nobody nur. »Wie war sein Gang?«

»Nummer vier, sieben und acht, und dann noch eine Annäherung an Nummer sechzehn.«

»Vier, sieben, acht und etwas sechzehn,« wiederholte Nobody. »Und die Armbewegung beim Gehn?«

»Das war die ausgeprägteste elf, direkt zur sieben harmonierend.«

»Gut! Anzug?«

»Wie der Ihre! Etwas länger, zwei Knöpfe weniger, der Zylinder vielleicht einen halben Zoll höher.«

»Sonst das Ganze mir als Nummer eins sehr ähnlich?«

»Mit Blond und ohne Bart zum Verwechseln ähnlich.«

»Gut. Suchen Sie den Mann! Festhalten! Hundert Dollar Prämie! Fort!«

Der Hilfsagent verschwand in der Menschenmenge, und Nobody betrat bald darauf in einer Seitenstraße, die aber auch noch sehr belebt war, ein stattliches Haus, an welchem in der Höhe der ersten Etage ein riesiges Schild folgende Aufschrift trug:

›Veritas‹

Internationales Detektiv-Institut

Filialen an allen Plätzen der Welt

Tag und Nacht geöffnet!

Dieses Institut ›Veritas‹ war eine Schöpfung Nobodys, war sein Eigentum, und Tatsache war auch, daß es in allen größern Städten der Welt Filialen besaß. Damit aber hatte es seine eigne Bewandtnis.

Im Laufe der Jahre hatte Nobody sich nach und nach in allen Hauptstädten, Eisenbahnzentren und größern Hafenplätzen ein Zimmer gemietet, hatte es tun müssen, um darin seine Masken vorrätig zu halten. Dann, als seine Praxis größer wurde, als er Helfershelfer brauchte, hatte er in jedes solches Garçonlogis einen eignen Detektiv hineingesetzt, mit dem er jederzeit in telegraphische Verbindung treten konnte.

Bald aber wurde ihm das zu kostspielig, zumal, da immer mehr Mietszimmer mit Hilfskräften hinzukamen, deren Unterhaltung sich nicht mehr lohnte, und die er doch oft genug brauchte. Da war er auf die Idee gekommen, ein internationales Privat-Detektiv-Institut zu gründen, und so war die ›Veritas‹ entstanden. Das heißt, Nobody selbst kümmerte sich um den Geschäftsbetrieb fast gar nicht, dafür hatte er seine bezahlten Direktoren, und nur die Allereingeweihtesten wußten überhaupt, daß Nobody der alleinige Inhaber war. Am wenigsten hatten hiervon hatten die Kommis der großen Filialen eine Ahnung, schon eher die der kleinen, wo nur ein oder zwei Mann in einem Zimmerchen auf vertrauensselige Klienten lauerten.

Zu verdienen war mit dem Institut nicht viel. Die großen Filialen in New-York, San Francisco, London, Paris, Berlin, Wien usw. gingen sehr gut, aber die zahllosen kleinen Filialen fraßen den Verdienst wieder auf. Einnahme und Ausgabe hoben sich am Jahresschluß immer gerade wieder auf. Nobody aber hatte als einzelner Privatdetektiv den unermeßlichen Vorteil, eine kolossale Maschinerie zu besitzen, welche die ganze Welt umspannte und ihn so gut wie nichts kostete. Dazu kam noch, daß die ›Veritas‹ wegen ihrer Zuverlässigkeit immer mehr als geschäftliches Auskunftsbureau benutzt wurde, besonders auch, da das ›Filialen an allen Plätzen der Welt‹ sich als kein Schwindel erwiesen hatte, von Tee-, Kaffee-, Korn-, Baumwollen- und andern Spekulanten, welche täglich außer den amtlichen auch die intimen Börsenberichte von sämtlichen Handelsplätzen der Welt wissen wollen, und Nobody brauchte diesen Depeschen, die er bezahlt bekam, nur ein ausgemachtes Stichwort anzuhängen, so durchlief seine Frage oder sein Befehl die ganze Erde, ohne daß dies ihn etwas gekostet hätte. Ferner wurde das Institut auch schon stark von der Kriminalpolizei benutzt, Nobody bekam doch manchmal etwas zu erfahren, was ihm sonst verborgen geblieben wäre ... und so bot ihm diese Einrichtung noch eine ganze Menge andrer Vorteile. –

In dem Wartezimmer saßen ein Dutzend Personen beiderlei Geschlechts verschiedensten Alters und aus allen Gesellschaftsklassen. Die meisten Frauen wollten ihre Ehemänner und die meisten Männer ihre Ehefrauen heimlich beobachten lassen – wegen ihres Lebenswandels – wegen einer Scheidung. Es ist ja bekannt, wozu solche Detektiv-Institute am häufigsten benutzt werden. Wiederholt war es schon vorgekommen, daß sich hier im Wartezimmer ein mißtrauisches Ehepaar getroffen hatte; einmal war es sogar passiert, daß ein solches das Wartezimmer versöhnt wieder verlassen – eine Partei hatte vor der andern nichts vorausgehabt.

Der Portier, der Nobody die Entreetür öffnete, war einer von den Allereingeweihtesten. Die blau-roten Blümchen im Knopfloch sagten ihm, wen er vor sich habe. Doch ehe er den dringlichen Klienten melden konnte – alles, um den Schein zu wahren – öffnete sich die Tür des Bureaus, der Direktor zeigte sich mit der stereotypen Einladung:

»Die nächste Partei, wenn ich bitten darf!«

Da fiel sein Blick auf den alten Herrn mit den blau-roten Blümchen.

»Ah, Mister ... bitte, kommen Sie herein – treten Sie einstweilen in mein Privatbureau!«

Der Direktor schloß die Tür wieder.

»Ist etwas von Wichtigkeit passiert?« fragte Nobody, während er schon durch das Empfangszimmer nach der Nebentür schritt.

»Gar nichts, Sir! Alles nur Kleinigkeiten!«

»Gut! Ich habe eine halbe Stunde hier zu arbeiten.«

Es war also sein eignes Bureau, welches Nobody betrat. Dasselbe glich eher einer Garderobe als einem Schreibzimmer; alle Wände voll Kleiderschränke und Schubfächer, welche die zu seinen Maskierungen nötigen Bärte, Perücken und dergleichen Artikel enthielten.

Aber auch ein Schreibtisch war vorhanden, Aktenschränke, desgleichen ein Telephon, welches in direkter Verbindung mit Worlds Bureau stand. Denn jeder, der ein Anliegen an den Privatdetektiv Nobody hatte, mußte sich erst an die Redaktion von ›Worlds Magazine‹ wenden, das wurde hierherberichtet, und hier, in der Zentrale der ›Veritas‹, wußte man stets, wo Nobody sich zur Zeit befand.

Nobody setzte sich, und das, was er schrieb, betraf die Auffindung jenes Mannes, der seinen Kompagnon und die Kommis vorhin um etwa 26.000 Dollar geprellt hatte.

Das war ja allerdings eine Summe, um deren Wiederherbeischaffung es sich lohnte, einen Teil der gewaltigen Maschinerie in Bewegung zu setzen. Zunächst mußten die Bahnhöfe New-Yorks und der umliegenden Städte mit instruierten Beobachtern besetzt werden, die abgehenden Schiffe wurden kontrolliert usw.

Aber es hätte sich gar nicht um solch eine Summe zu handeln brauchen – es genügte schon, daß ein andrer sich für Nobody ausgegeben hatte, und dieser war bereit, den ganzen Mechanismus in Bewegung zu setzen, und wenn ihn das auch Hunderttausende gekostet hätte; er selbst wäre bis ans Ende der Welt gejagt, um dieses Mannes habhaft zu werden, der seinen Namen mißbrauchte und ... der ihm so ähnlich sehen sollte!

Ein Doppelgänger, der ihm als Konkurrent gefährlich werden konnte, war es ja nicht. Sein Gesicht in andre Falten legen konnte jener Mensch nicht. Aber immerhin, wenn er Nobody in seiner eigentlichen Gestalt so ähnlich sah, was für Unheil konnte er da nicht anrichten, was für Possen konnte er da nicht Nobody spielen, er konnte ihn um sein ganzes Renommee bringen, und dieser Doppelgänger war ja auch zu allem fähig, und er hatte auch das Zeug dazu, denn diese unverschämte Keckheit, so ohne weiteres in das fremde Bureau zu dringen, sich für Nobody auszugeben und die sämtlichen Menschen vom Prinzipal an bis zum Markthelfer auch gleich bis zur letzten Briefmarke auszuplündern, innerhalb von drei Minuten ...

»Weiß Gott, ich bewundere den Kerl fast! Aber unschädlich muß der gemacht werden, und das schleunigst, sonst pfuscht er mir noch mehr ins Handwerk und blamiert mich vor der ganzen Welt. Ein Gauner ist's zwar, aber vielleicht läßt er sich noch in Güte dressieren, und dann nehme ich ihn als meinen Doppelgänger, wie ich einen solchen immer gesucht habe, bisher ohne Erfolg, in meine Dienste.«

Wir haben zu diesen Ausführungen viel längere Zeit gebraucht, als Nobody bedurfte, um seine Maschinerie in Bewegung zu setzen. Fünf Minuten nachdem er von jenem Detektiv auf der Straße angehalten worden war, hatte er schon vor dem Schreibtische gesessen, und wieder fünf Minuten später war sein Protokoll oder wie man es sonst nennen mag – es enthielt sehr viel Zahlen – fertig: es wanderte hinüber in die große Schreibstube, wurde dort vervielfältigt und durch Boten den betreffenden Hilfsdetektiven zugestellt oder wurde weiter telegraphiert oder telephoniert.

So, nun mußte erst der Erfolg abgewartet werden. Die halbe Stunde ruhige Arbeitszeit hatte Nobody nur gefordert, um unterdessen ungestört eine Zigarre rauchen und die Zeitung lesen zu können, und wenn die halbe Stunde verstrichen, war es Zeit zu dem, was er sich für heute vorgenommen und worauf er sich schon seit einigen Tagen gefreut hatte.

Es handelte sich dabei um nichts weiter als um ein Vergnügen. Wir haben schon früher davon gesprochen, daß Nobody zwar rastlos arbeitete, aber auch gern das Leben mit vollen Zügen schlürfte, sich kein Vergnügen entgehn ließ, ohne dabei jedoch seine Arbeit zu vernachlässigen. So wollte er jetzt eine Vorstellung besuchen, von der seit einigen Tagen ganz New-York sprach, überall waren die Plakate angeklebt.

Auf Longisland gab eine Schautruppe Vorstellungen: ›Australisches Buschleben‹. Das war wieder einmal etwas andres als das ewige ›Wild-West‹ mit seinen Rothäuten, die man ja hier bei sich zu Hause hatte.

Zuerst wurden auch dabei Pferde gebändigt und Rinder mit dem Lasso gefangen, nur daß es hier anstatt der Cowboys Squatters taten, das sind australische Farmer, dann aber war auch eine ganze Bande echter Australneger dabei, welche ihre hölzernen Speere und den Bumerang nach wildgemachten Känguruhs schleuderten, und die Hauptanziehungskraft bildete das Auftreten der ›echten‹ Bushrangers.

Diese australischen Rangers – sprich Rähndschers – sind ausgebrochene Sträflinge oder unaufgegriffene Verbrecher, welche in den undurchdringlichen Busch flüchten, sich zusammentun und ein echtes, rechtes Räuberleben führen.

Hier nun wurde gezeigt, wie sie harmlose Farmen überfallen, wie sie von der weißen und schwarzen Buschpolizei verfolgt werden, ihr Lagerleben usw.

Die Schauspielertruppe hatte zum Besuche des amerikanischen Kontinents eine sehr glückliche Zeit gewählt. Gerade damals kam man zu der Ansicht, daß Amerika doch immer zahmer würde, die Zeiten der echten Rothäute ohne Furcht und Tadel, wie Fenimore Cooper sie verherrlicht hat, sind längst vorbei und lassen sich nicht mehr zurückrufen, man sah sich nach etwas anderm um. Solch eine wechselnde Stimmung zeigt sich besonders in der Literatur. Die Jugendschriftsteller fütterten schon seit einigen Jahren die Hoffnung Amerikas mit australischen Bushrangergeschichten, anstatt wie bisher mit den abgedroschenen Lederstrumpferzählungen. Ein vigilanter Verleger gab eine endlose Serie solcher australischen Räuberpistolen heraus, deren Held der Sohn eines alten Verbrechers und Bushrangers war, ein zwölf- bis vierzehnjähriger Junge von den ihm gehorchenden Buschräubern ›Little Pet‹ genannt – was auf deutsch ungefähr bedeuten würde: der kleine Liebling.

Hier hatte die Phantasie ja nun freien Lauf. Der kleine Buschräuber führte das Menschenunmögliche aus, was irgend ein Räuberhauptmann nur jemals fertiggebracht hat, und er war nicht allein der unüberwindliche Held der australischen Wildnis, der nur die Farmen plünderte, sondern er machte ab und zu auch die Städte als Einbrecher und Raubmörder unsicher, und da war ihm kein Fenster zu hoch und kein Panzerschrank zu fest, alles nur so unwahrscheinlich wie möglich, die Hauptsache ist, daß dabei das Blut recht knüppeldick fließt, das behagt dem amerikanischen Geschmack.

Der Inhalt nur einer einzigen dieser Erzählungen soll hier skizziert werden: Der zwölfjährige Little Pet, von seinem Vater zum Buschräuber erzogen und in alle Geheimnisse der Wildnis eingeweiht, begibt sich nach Adelaide und läßt sich als verwahrloster Knabe in ein Waisenhaus aufnehmen, das wegen seiner drakonischen Strenge berüchtigt ist. Es dauert nicht lange, so hat Little Pet eine Meuterei angezettelt; eines Nachts werden die Lehrer gebunden, der Herr Direktor wird noch besonders verhauen, die Jungen nehmen die Schulkasse und andres mit, überfallen einen Eisenbahnzug, knebeln den Lokomotivführer, dampfen auf eigne Faust bis zur letzten Station, von der aus es direkt in den Busch geht, und hier nun werden die Kinder durch Little Pet zu regelrechten Buschräubern erzogen, die sich durch die hinterlistigsten Gaunerstreiche und durch die blutigsten Metzeleien unsterblichen Ruhm erwerben.

Mag dieses Beispiel genügen, um zu zeigen, was die amerikanische Jugend liebt. –

Bei der Schautruppe auf Longisland war nun auch ein halbwüchsiger Junge, der wie ein Gott ritt und mit jedem Schusse vom galoppierenden Pferde herab eine tönerne Taube aus der Luft herabholte, und wenn er auch nur mit Schrot schoß – die Hauptsache war doch, daß er traf, und auch sonst machte er seine Sache ganz gut.

»Das ist der echte Little Pet, das ist derjenige, welcher!«

So behauptete der Direktor, so verkündeten alle Zeitungsannoncen und Straßenplakate.

Daran konnte natürlich kein Gedanke sein. Die Serie ›Little Pet‹ lief schon seit etwa sechs Jahren, es war bereits das 300. Heft erschienen, und der kleine Held durfte nicht älter als höchstens 14 Jahre werden; das war doch überhaupt nur die Phantasiegestalt eines Jugendschriftstellers, und nun bedenke man, was dieser kleine Räuber schon alles auf dem Kerbholze hatte ... na, es bedarf wohl keiner Worte mehr, um zu glauben, daß dies nicht der ›echte‹ Little Pet war. Ebenso war unter den ›echten‹ Bushrangers wohl kein einziger, der schon einen regelrechten Mord auf dem Gewissen hatte, sonst wäre ihm auf Longisland die Polizei wohl schnell genug auf den Pelz gerückt.

›Echt‹ war dieser Little Pet nur insofern, als der hübsche, verwegene Junge ein Liebling der amerikanischen Damenwelt war, die ja ganz besonders für alles Außergewöhnliche schwärmt, und Little Pet würde wohl nicht lange mehr Tontauben treffen können, er bekam ganz bedenklich den Tatterich und würde wohl demnächst an der Schwindsucht sterben.

Wie dem auch sei – die hoffnungsvollen New-Yorker Kinder mausten dem Vater das Geld aus der Tasche, um den echten Little Pet sehen zu können, ihr Ideal, dem sie nacheifern wollten, und die Eltern gingen auch mit.

Im übrigen sollten die Vorstellungen wirklich ein anschauliches Bild von dem australischen Buschleben geben. Nobody war schon mehrmals in Australien gewesen, aber nur in den größern Hafenstädten: in das wilde und menschenleere Innere war er noch nicht gekommen, und so war schon in Chicago sein Entschluß gefaßt gewesen, gleich nach seiner Rückkehr nach New-York einer australischen Känguruhjagd auf Longisland beizuwohnen.

Ehe er sich auf den Weg machte, hatte er also noch eine halbe Stunde Zeit. Aber es sollte ihm nicht vergönnt sein, diese in Ruhe zu verbringen.

Er hatte kaum die Zigarre angebrannt und die Zeitung zurechtgelegt, als drüben die Telephonklingel schrillte, und gleich darauf meldete sich sein eignes Telephon. Das konnte nur die Redaktion von ›Worlds Magazine‹ sein. Dort hatte jemand nach dem Detektiv Nobody gefragt, da mußte erst dieses Zentralbureau antelephoniert werden, und da sich Nobody hier befand, setzte ihn der Direktor gleich in direkte Verbindung.

Nobody trat an das Telephon.

»Wer ist dort?«

Es war Mr. World selbst.

»Hier ist Mr. H. A. C. R. Kell. Kennen Sie den?«

»Nee.«

»Was? Sie kennen die Firma H. A. C. R. Kell nicht?«

»Zum Deiwel, neeee!«

»Die Limonadenfabrik an der Ecke vom Cornwallgarden!«

»Ist mir gänzlich unbekannt.«

»Aber die kennt doch jedes Kind!« erklang jetzt Mr. Worlds Stimme in bedauerndem Tone aus dem Telephon.

»Mr. World, wollen Sie mich eigentlich veralbern?!«

»Ich? Bewahre! Wie kommen Sie denn auf diesen Verdacht?«

»Himmelbombenelement!!« fing Nobody jetzt zu fluchen an. »Nun frage ich Sie zum letzten Male: was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Der Mr. H. A. C. R. Kell ist hier und möchte Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen.«

»In was für einer dringenden Angelegenheit?«

»Seine Tochter hat heute Hochzeit.«

»Ich gratuliere! Weiter nischt?«

»Ja, aber der Bräutigam ist nicht zur Hochzeit gekommen.«

»Das ist sehr bedauerlich,« meinte Nobody und mußte sich auf die Lippen beißen, denn das Telephon hatte das gar so drollig herausgebracht.

»Wo ist denn der Bräutigam?«

»Der ist eben verschwunden.«

»Und nun soll ich ihn wohl wieder zur Stelle schaffen, daß die Hochzeit noch stattfinden kann?«

»Jedenfalls! Der Mr. Kell will nicht recht mit der Sprache herausrücken. Er sagt nur immer, er wäre ein tiefgebeugter Vater, und weinen tut er egal, daß hier schon die ganze Stube schwimmt. Wirklich, Nobody, tun Sie ihm den Gefallen, und gewähren Sie ihm eine Unterredung! Bei dem alten Herrn ist etwas nicht in Ordnung, da muß wirklich irgend ein Geheimnis dabeisein ...«

»Schon gut! Schon gut! Sagen Sie ihm, er soll nach Hotel Ritchie kommen und nach Mr. Dickens fragen, jetzt sofort!«

»Ich notiere: Hotel Ritchie, Mr. Dickens, jetzt sofort!«

»Richtig, Schluß!«

»Nobody, Nobody,« erklang es noch einmal, ehe dieser ausschalten konnte.

»Was gibt es noch?«

»Haben Sie es schon gehört?«

»Nein, was denn?«

»Es steht doch in allen Zeitungen. Professor Humback hat ein riesiges Fernrohr konstruiert, mit dem hat er auf dem Planeten Mars elektrische Feuersignale entdeckt, die Marsbewohner wollen mit uns telegraphieren, es ist Tatsache, da müßten Sie doch gleich einmal ...«

»Schluß! Schluß, sage ich, oder ich schieße Sie tot!!! – Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, gefährlich ist der Skorpion, jedoch das Schrecklichste der Schrecken ist Mister World am Telephon,« zitierte Nobody mit Variation, als er die Kurbel drehte.

Er hatte schon so manchen außergewöhnlichen Fall erlebt, aber daß am Hochzeitsmorgen der Bräutigam fehlte, und daß er den Auftrag erhielt, ihn schnell noch herbeizuschaffen, das war doch wieder etwas ganz Neues; diesen Fall wollte er sich einmal näher vorlegen lassen. Er hatte ja auch noch eine gute halbe Stunde Zeit, und dann brauchte er den Auftrag ja gar nicht anzunehmen, was er wohl auch schwerlich tun würde.

Also er begab sich nach Hotel Ritchie, in derselben Maske, die er jetzt angenommen, verlangte als Mr. Dickens ein Zimmer, ein Herr würde ihn zu sprechen begehren, und bald stellte sich Mr. Kell ein, ein alter, würdiger Herr, der denn auch wirklich tiefgebeugt und unsäglich vergrämt aussah.

»Ich bin der Privatdetektiv Nobody. Vertrauen Sie sich mir an!«

Der alte Herr fing gleich zu weinen an.

»Ach, meine arme Tochter – ich wage es ihr gar nicht zu sagen – und ich kann es auch gar nicht glauben, daß Parcy wirklich ein so schlechter Mensch ist – er muß plötzlich von Sinnen geworden – sonst hätte er nicht so mein Vertrauen täuschen können ...«

Es dauerte einige Zeit, ehe Nobody den alten Mann zu einem offnen Geständnis brachte. Er mußte versichern, daß er den Fall durchaus geheimhalten würde. Es war etwas an dem Gebaren des alten Mannes, das sofort Nobodys Mitleid erregte, und er war von vornherein entschlossen, jenem seine Hilfe nach besten Kräften zuteil werden zu lassen.

Wir wollen die Erzählung in zwei Abschnitte gliedern, wie es auch Mr. Kell tat; erst ein allgemeiner Ueberblick, dann die Einzelheiten, wodurch der vorliegende Fall immer geheimnisvoller wurde.

Es war jetzt neun Jahre her, daß der Limonadenfabrikant, als er eines Tages ins Geschäft kam, seine Brieftasche vermißte. Er hatte soeben vom Bankier 3000 Dollar erhoben, hatte sie in das Portefeuille gesteckt, dieses in die Brusttasche, hatte sich unterwegs eine Zeitung gekauft, sie ebenfalls in dieselbe Brusttasche gesteckt, hatte sie noch einmal hervorgeholt, und dabei mußte er die Brieftasche herausgerissen haben.

Sein Schreck war ein furchtbarer. Die Firma stand damals noch nicht so wie heute da. Mr. Kell hatte kurz vorher durch eine unglückliche Spekulation sein ganzes Vermögen verloren, hatte mit dieser Limonadenfabrik soeben erst wieder ganz klein begonnen, fast nur mit Kredit, diese 3000 Dollar waren heute zu bezahlen – kurz und gut, Mr. Kell war ruiniert, und diesmal für immer, er hatte mit der Brieftasche sogar seine Ehre verloren. Denn welcher Gläubiger glaubte ihm denn, daß er die 3000 Dollar verloren habe! Das wäre nichts andres als ein betrügerischer Bankrott gewesen.

In der Brieftasche waren Visitenkarten mit der Adresse des Eigentümers gewesen, der Verlust wurde natürlich sofort der Polizei angezeigt – aber um hoffen zu können, daß in New-York eine gefundene Brieftasche mit 3000 Dollar abgeliefert wird, dazu gehört eine große Portion Vertrauensseligkeit, da muß man schon an Wunder glauben.

Nun, der verzweifelte Mann setzte seine Hoffnung auf ein Wunder – Mr. Kell gestand jetzt ganz offen, daß er damals in seinem kleinen Bureau auf den Knien gelegen und den lieben Gott gebeten habe, seine Allmacht in New-York doch einmal dadurch zu beweisen, daß die Brieftasche von dem Finder wieder abgeliefert werde.

Und das Gebet sollte erhört werden!

Eine Stunde lang mochte Mr. Kell auf den Knien gelegen haben, als der Kommis ihn in seinem Gebet störte. Ein Junge wolle Mr. Kell sprechen.

»Ich wußte es, wußte es ganz bestimmt, daß der gnädige Gott mein Flehen erhört hatte,« sagte der alte, fromme Herr, und dann mußte er erst wieder weinen, ehe er fortfahren konnte.

Es war ein kleines, schmächtiges Bürschchen, sonnenverbrannt, bäurisch gekleidet, sogar etwas zerlumpt, die Schuhe defekt.

»Sind Sie auch wirklich Mr. H. A. C. R. Kell?« fragte er erst vorsichtig, seine Jacke über einen Gegenstand haltend.

Der zitternde Herr wußte den Frager davon zu überzeugen.

»Dann ist das wohl Ihre Brieftasche? Wieviel hatten Sie drin? 3000 Dollar? Ja, das stimmt! Und was sonst noch? Ja, stimmt! Hier haben Sie sie wieder. Ich habe sie in einem dunklen Durchgang gefunden.«

Na, damals weinte Mr. Kell Freudentränen, er hätte am liebsten den Jungen hergenommen und wäre mit ihm im Zimmer umhergetanzt.

»Deine Belohnung ist dir sicher. Wer bist du? Kann ich sonst etwas für dich tun?«

»Ich heiße Parcy Mitchall, bin aus dem Staate Illinois. Meine Eltern waren Tagelöhner. Sind beide tot. Ich habe bisher Schweine gehütet. Bin zu Fuß nach New-York gelaufen, habe schon so viel davon gehört – ich möchte auch so ein reicher Herr mit einem Zylinder werden. Können Sie mich nicht in Ihrem Geschäft anstellen? Ich bin zu jeder Arbeit willig.«

Der Retter der Firma brauchte nicht erst als Laufjunge anzufangen. Lesen und schreiben konnte er, wenn auch nicht anders, als man es von einem Bauernjungen verlangen kann – Mr. Kell nahm ihn in die Schule, betrachtete ihn überhaupt gleich als seinen Sohn, den er für das Geschäft anlernte – und mit dem kleinen Parcy Mitchall war in der Limonadenfabrik das Glück eingekehrt!

Doch nein, es war kein Glück! Intelligenz und Tatkraft waren es, welche die kleine Fabrik schnell zu so hoher Blüte emporbrachten! Aber der ehemalige Bauernbursche war es, von dem das alles ausging.

Der alte Geschäftsmann, in eine schöne Erinnerung versunken, verweilte bei diesem Punkte etwas länger.

Weshalb soll ein Bauernjunge nicht einmal eine geniale Idee haben? Und solch eine Idee, irgend eine Kleinigkeit ist es doch oftmals nur, welche für ein Geschäft zur Goldquelle wird.

Parcy war erst ein halbes Jahr im Bureau tätig. Das Lesen von Zeitungsannoncen hatte ihn daraufgebracht. Gerade in Amerika ist die Bleichsucht sehr weit verbreitet, und das junge Mädchen, welches nicht wirklich bleichsüchtig ist, glaubt es zu sein und probiert alle die Mittel, welche in allen Zeitungen in zahllosen Reklamen angekündigt werden. Der Hauptbestandteil ist immer Eisen.

»Mr. Kell, wie wäre es denn mit einer Eisenlimonade?«

Das war eine Idee, auf die jeder andre Mensch hätte kommen können. Aber es war eben noch niemand darauf gekommen.

Die Sache wurde gemacht und ... in kurzer Zeit beschäftigte die Limonadenfabrik statt der ersten vier Arbeiter deren vierhundert! Noch heute ist Kells Eisenlimonade auf dem amerikanischen Kontinent in jedem Hotel, in jeder Restauration und in jeder Trinkbude zu haben.

Wir brauchen uns wohl nicht dabei aufzuhalten, was für eine Stellung da der arme Bauernbursche in dem Geschäft einnahm. Wir wollen nur sagen, daß Mr. Kell, der ein ganz vorzüglicher Mensch war, ihn wirklich als seinen Sohn betrachtete. Parcy wohnte also in dem Hause seines Pflegevaters, und er rechtfertigte das Vertrauen, indem er auch sonst das Muster eines Knaben und dann eines Jünglings und Mannes gewesen war. Solid, fleißig, gewissenhaft, bescheiden – ganz im Geschäft aufgehend und seine Freizeit bis in die späten Nachtstunden dazu benutzend, um seine mangelhafte Schulbildung zu ergänzen, und da er immer mehr einsah, was alles dazu gehört, um als Mitglied einer gebildeten Familie gelten zu können, sich auch um Kunst und andre Dinge kümmernd, welche sonst nicht zum Erwerbsleben nötig sind.

Mr. Kell hatte nur ein Kind, eine Tochter. Carryl war vier Jahre jünger als Parcy. Sie wuchsen wie Geschwister auf, aber bei den Eltern war es ganz selbstverständlich, daß die beiden ein Paar werden mußten. So geschah es denn auch, es hatte ja gar nicht anders kommen können.

Die beiden liebten sich. Sie gestanden es den Eltern. Ein halbes Jahr waren sie öffentlich verlobt gewesen und hatten in glücklichen Zukunftsplänen geschwelgt. Und heute sollte die Hochzeit sein ...

Der alte Herr konnte vor Tränen nicht weitersprechen.

»Nun, und? Warum findet sie nicht statt?«

»Diese Schande – diese Schande!« jammerte der alte Mann händeringend. »Und als ichs entdeckte – ich wollte es ja nicht glauben – die Hochzeitsgäste sind noch alle in meinem Hause versammelt ...«

»Parcy ist nicht da?«

»Verschwunden – verschwunden ...«

»Er wohnte auch noch zuletzt in Ihrem Hause?«

»Ja – und er ist diese Nacht nicht nach Hause gekommen – sein Bett war heute früh unberührt ...«

»Das ist ja allerdings höchst bedauerlich, aber dem jungen Manne wird gestern abend etwas zugestoßen sein.«

»Nein, er ist dennoch in der Nacht in meinem Hause gewesen und ... und ...«

»Und was? Sprechen Sie sich doch offen aus, meine Zusicherung der Verschwiegenheit haben Sie ja!«

»Er hat mich bestohlen – beraubt – wie ein Einbrecher hat er meine Wohnung ausgeplündert!!« brach es jetzt jammernd hervor.

Nobody hatte gar keinen Grund, diese Sache nicht ganz kaltblütig aufzufassen, und außerdem dachte er recht lebhaft an einen ähnlichen Fall, an den des Erasmus Sörensen; da war der Verdacht des Diebstahls auch auf einen gänzlich Unschuldigen gefallen, weil dieser das Haus zufällig in der Nacht verlassen hatte.

»Bitte, erzählen Sie mir ausführlicher!«

So ganz sachgemäß konnte der Alte nicht berichten, dessen war er jetzt nicht fähig. Zuerst hatte er gesagt, Parcy wäre in der Nacht nicht nach Hause gekommen. Das war aber der Fall gewesen – Kell hatte gemeint, er habe nur nicht im Hause geschlafen, well das Bett unberührt geblieben.

Gestern abend war Parcy noch einmal ausgegangen. Man hatte gar nichts davon gemerkt. Er hatte schon Gutenacht gesagt, vielleicht gegen zehn Uhr. Im Hause war ein Portier angestellt, welcher zwar nicht zu wachen brauchte, der aber doch merkte, daß der junge Herr nachts gegen drei Uhr nach Hause kam. Er benutzte den Hausschlüssel.

»Davon wußte ich heute früh noch nichts. Ahnungslos kamen wir um sieben zum Frühstück zusammen, meine Frau, meine Tochter und ich. Wir wunderten uns nur, daß der sonst so pünktliche Parcy noch nicht unten war, gerade heute nicht. Alles, was die Hochzeit anbetrifft, wird ja von fremden Händen vorbereitet, wir brauchen uns gar nicht darum zu kümmern, aber immerhin, die Aufregung an solch einem Tage ist doch groß. Wo nur Parcy bleibt? Nun, wir wollten ihn noch schlafen lassen. Ich muß bemerken, daß ich wegen des Hochzeitstages die Fabrik nicht geschlossen habe. Da wird mir Mr. Drake gemeldet, das ist mein alter Kassierer. Mit schreckensbleichem Gesicht stand er vor mir. – ›Mr. Kell, im Hauptbureau ist diese Nacht eingebrochen worden, der Geldschrank ist ausgeplündert!!‹ – So rief Drake. Meinen Schreck können Sie sich denken. Im Hauptbureau ist immer eine große Kasse. Und das war es nicht allein. Ich habe gestern 50.000 Dollar hereinbekommen, aus Privathand, hatte sie mit nach Hause genommen und wollte sie heute früh dem Geschäft übergeben. Ich hatte sie einstweilen in meinen Sekretär geschlossen. Als mir nun Drake den Einbruch meldete ... ich weiß nicht, ich war vor Schreck ganz von Sinnen ... ich wußte im ersten Augenblick wirklich nicht mehr, ob ich dieses Geld schon eingezahlt hatte oder ob es noch im Sekretär war ... ich springe also schnell nach dem Schrank, will ihn aufschließen, merke gleich, daß ich den Schlüssel nicht umdrehen kann, daß die Klappe also schon aufgeschlossen ist ... in diesem Moment höre ich meine Frau rufen: ›Mein Schreibtisch ist erbrochen worden!!‹ ...«

Der Erzähler machte eine Pause; mit gerungenen Händen blickte er stier vor sich hin, von der Erinnerung an den ersten Schreck überwältigt.

»Nun? War das Geld noch in Ihrem Sekretär?«

»Fort, alles fort!« flüsterte der alte Mann. »Und ich hatte die 50.000 Dollar noch drin gehabt und noch mehr – zusammen über 60.000 Dollar – meine Privatkasse – alles fort ...«

»Und der Schreibtisch Ihrer Gattin?«

»Ebenfalls mit Gewalt erbrochen – alles daraus entwendet – wir hatten ja wegen der Hochzeit viel Geld im Hause – meine Frau hatte in ihrem Schreibtisch etwa tausend Dollar in bar gehabt.«

»Der Sekretär und der Schreibtisch waren mit Gewalt erbrochen worden?«

»Das Schloß meines Sekretärs war wohl mit einem Dietrich geöffnet worden, die Spuren waren deutlich zu sehen – aber das Schloß des Schreibtisches war mit Gewalt herausgerissen worden.«

»Und Mr. Parcy Mitchall?«

»Ich hatte ja noch keine Ahnung. Mir war der nächtliche Einbruch in meine Wohnung völlig unerklärlich. Ich mußte es gleich Parcy mitteilen. Er hatte im ersten Stock drei Zimmer inne. Ich ging hinauf! Parey war nicht da – sein Bett unberührt ...«

Nobody gestattete dem alten Herrn die längern Pausen, die er immer machte. Seine Erschütterung mußte noch eine furchtbare sein.

»Da lenkte sich Ihr Verdacht auf den jungen Mann?«

»Ja – nein – ich wollte das Entsetzliche noch immer nicht glauben. Es war ja rein unmöglich. Da kam der Portier und sagte mir, daß der junge Herr heute nacht erst um drei nach Hause gekommen sei ...«

»Betrunken?«

»Parcy war Abstinenzler.«

»Deshalb könnte er doch einmal betrunken gewesen sein.«

»Nein, er war es nicht. Der Portier wenigstens hat nichts davon bemerkt.«

»Und jetzt brachten Sie auch den Einbruch in das Bureau mit Parcy zusammen?«

»Ja, wer soll es denn anders gewesen sein? Außer mir besitzt nur noch Parcy die Hauptschlüssel zu sämtlichen Räumen und Fächern. Und dann der Kassierer. Aber dem alten Drake ist so etwas nicht zuzutrauen, und außerdem doch auch zugleich der Einbruch in meine Wohnung ...«

»Ich verstehe schon. Also der Geldschrank im Bureau war mit dem Schlüssel geöffnet worden?«

»Mit den Schlüsseln.«

»Wieviel ist denn daraus entwendet worden?«

»Zum Glück waren nur 14.000 Dollar darin. Doch was spreche ich da von Glück, wenn der eigne Schwiegersohn ...«

Nobody ließ den Alten weinen und machte auch in seinen Fragen eine Pause. Daß hier etwas ganz Besonderes vorlag, war ja klar. Nobody mußte nur noch das Rätselhafte herausschälen, ehe er sich ein klares Bild machen konnte.

»Bitte, Mr. Kell, was ist nun Ihr eignes Urteil über die ganze Sache? Wie hat der junge Mann den doppelten Einbruch ausgeführt?«

Der alte Herr raffte sich aus seiner Verzweiflung empor.

»Gestern abend, nachdem wir uns schon Gutenacht gesagt hatten, ist Parcy noch einmal ausgegangen, zum ersten Male hat er es getan ...«

»Wie?« mußte der Detektiv gleich wieder unterbrechen. »Sie wollen hiermit doch nicht etwa behaupten, daß der junge Mann während der neun Jahre niemals des Abends ausgegangen ist?«

»Nie! Nie!!« versicherte Mr. Kell. »Und Parcy hat vom ersten Tage an bei mir gewohnt, hat niemals Geschäftsreisen gemacht. Ich sage Ihnen, er war der solideste Mensch, der mir jemals im Leben begegnet ist. Des Abends war er unablässig für seine geistige Ausbildung tätig. Er trieb auf seinem Zimmer alle mögliche Studien. Wohl ging er einmal aus, aber doch nur mit uns, ins Theater, ins Konzert, in eine Gesellschaft, aber nie, niemals allein. Gestern abend war es das erstemal. Heimlich entfernte er sich. Und da ist ihm etwas in den Kopf gestiegen, er hat einen plötzlichen Anfall von Wahnsinn gehabt – und da hat er erst mein Bureau und dann meine Wohnung ausgeplündert.«

»Aber ich bitte Sie ...« konnte Nobody nur sagen, und Mr. Kell verstand dann auch sofort, was jener meinte.

»Nicht wahr? Sie möchten lieber mich für wahnsinnig halten als den jungen Mann? Und doch ist es so! Und eben deswegen komme ich zu Ihnen; denn ich habe schon so viel von Ihrem vorurteilsfreien Scharfsinn gehört. Wollen Sie doch nur eins bedenken: Parcy hat mein völliges Vertrauen besessen, er war mein Kompagnon. Auch er hatte ein Scheckbuch, und seine Unterschrift war gültig. Und die Firma H. A. C. R. Kell steht glänzend da. Es hätte ihn nur einen Federzug gekostet, und er hätte auf der New-Yorker Kreditbank eine halbe Million Dollar abheben können – zu jeder Zeit – zu jeder! – also auch gestern – kein Mensch hätte Argwohn geschöpft ...«

»Und er hat keinen Scheck ausgeschrieben?« fiel Nobody dem Sprecher mit Spannung ins Wort.

»Er hat es nicht getan. Ein innerer Drang hat ihn dazu getrieben, seine Maske plötzlich fallen zu lassen und sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen – als ein professioneller Einbrecher, der die Wertpapiere, die ihn verraten können, liegen läßt und nur nach dem baren Gelde greift.«

Da plötzlich stand Nobody schnell auf.

»Mr. Kell,« rief er, »Sie verheimlichen mir etwas! Sie sagen mir nicht alles, was Sie über diesen jungen Mann wissen!!«

Schon dem Gesicht des alten Herrn war anzusehen, daß Nobody die Wahrheit getroffen hatte, und nach einer Weile begann Mr. Kell zu erzählen.

»Ja, er war mir von jeher ein Rätsel gewesen. Es war etwas Unnatürliches an ihm. Nicht etwa, daß ich irgend einen Verdacht geschöpft hätte. Durchaus nicht! Sein Gesicht war ein so unschuldiges, sein Auge blickte so treuherzig – das konnte unmöglich lügen. Und er hatte mir doch auch die gefundene Geldtasche gebracht. Und trotzdem! Doch ich will lieber einige Beispiele erzählen, dann werden Sie eher verstehn, was mich manchmal so stutzig machte.

Er wollte also ein Waisenknabe sein, der im Staate Illinois noch als Schulkind Schweine gehütet hatte – nicht auf einer Farm, sondern in einer sogenannten Fettfabrik, Sie wissen, eine Brauerei oder Brennerei, welche zur Verwertung des Abfalls nebenbei Schweine mästet, die aber auch täglich ausgetrieben werden müssen. Als er aus der Schule entlassen wurde, hatte er sich nach New-York gewendet.

Ich hatte nicht den geringsten Grund, diese Angaben zu bezweifeln, und in Amerika fragt man doch nicht nach Papieren. Und der ehrliche Junge war mein Retter. Ich habe auch später niemals Erkundigungen eingezogen.

Parcy war ein halbes Jahr bei mir, als ich mir in meinem Garten einen Pistolenstand bauen ließ. Eines Tages forderte ich Parcy auf, auch einmal nach der Scheibe zu schießen. Vergebens, der Junge war durchaus nicht dazu zu bewegen, die Pistole auch nur in die Hand zu nehmen. Er fürchtete sich einfach.

Mit dieser Aengstlichkeit stand auch sein sonstiges Wesen und sein ganzes Aussehen im Einklang. Für 14 Jahre war er ein kleiner, schmächtiger Junge; mit der Stadtkleidung verschwand das Bäurische vollkommen, da machte er sogar einen schwächlichen Eindruck. Außerdem nun noch so still, so bescheiden, so fleißig ... kurz, ein echter, rechter Junge war er eigentlich gar nicht.

Nun, zum Schweinehüten gehört ja auch keine besondere Courage, und daß in dem Jungen etwas Besonderes, etwas Feineres steckte, hatte er ja eben dadurch bewiesen, daß er nach New-York gepilgert war, um Kaufmann zu werden.

Da aber sollte ich etwas erleben, was alle meine Urteile über den Haufen warf.

Seit jenem Tage, da ich Parcy wegen seiner Furchtsamkeit vor einer Pistole ausgelacht hatte, waren zwei Wochen vergangen. In meiner Fabrik drohte ein Streik auszubrechen. Eines Morgens, als ich mich ganz allein im Bureau befinde, dringen vier betrunkene Arbeiter herein, stellen unverschämte Forderungen, und ehe ich noch um Hilfe rufen kann, bin ich schon zu Boden geworfen. Der eine Kerl kniete auf mir, der zweite hatte den Stiefel auf meine Kehle gesetzt, die beiden andern wollten das Bureau plündern. Ich gab mich für verloren, da plötzlich sah ich in dem Zimmer eine fünfte Person, den kleinen Parcy, und ... was eigentlich passierte, wie alles kam, ich weiß es nicht. Es ging wie der Blitz. Und es war furchtbar! Den einen meiner beiden Gegner sah ich plötzlich mit zerschmetterter Kinnlade zusammenbrechen, der andre erhielt einen Fausthieb hinters Ohr, daß er wie ein Ochse niederstürzte – da lag auch schon der dritte da – der vierte riß einen Revolver hervor und schlug ihn auf den Knaben an – ein Knall, ein Feuerstrom – da aber hatte Parcy den Mann schon unterlaufen und die Waffe in die Höhe geschlagen gehabt, ihm mit einem einzigen Griff den Revolver aus der Hand gewunden – und da lag der starke Mann mit einem Schädelbruch, erzeugt von dem Kolben seiner eignen Pistole, die sich aber jetzt in des Knaben Hand befand.

Doch ich kann es gar nicht erzählen. Alles hatte sich in einem Moment abgespielt. Ich war schon aufgestanden, und ich glaubte noch immer zu träumen. Da lagen die vier Männer, blutüberströmt, bezwungen von einem zarten Knaben, und dort stand dieser selbst. Aber das war nicht mehr der stille Parcy mit dem unschuldigen Kindergesicht – sondern ich sah ein in wildem Triumphe gerötetes Antlitz, und ich hörte ein wildes, höhnisches, verächtliches Lachen ... und im nächsten Augenblick war er wieder der dienstbeflissene Knabe, der mir die Kleider ausklopfte.«

Der Erzähler machte eine Pause.

»Forderten Sie denn Erklärungen von ihm?« fragte Nobody.

»Nein! Was für Erklärungen? Ich konnte nur staunen. Parcy war eben schon als Kind ein in jeder Weise ausgezeichneter Mensch. Uebrigens hatte ich schon vorher, so beim Heben von schweren Gegenständen, wiederholt Proben bekommen, daß der Junge trotz seiner schmächtigen Gestalt eine ganz außerordentliche Kraft besaß. Dann später hatte ich einmal Gelegenheit, ihn unbekleidet zu sehen, und da allerdings war ich grenzenlos erstaunt, was für eine fabelhaft entwickelte Muskulatur dieser schmächtige, fast zierlich gebaute Knabe besaß. Doch es gibt solche Gestalten, in denen man sich so täuschen kann.

Nein, dies war es noch nicht, was mein eigentliches Mißtrauen erweckt hätte, daß mein Schützling mir etwas aus seinem Vorleben verschwieg. Wenn ich mir alles recht überlegte, so paßte auch dieses plötzliche, energische Vorgehn, wie er mir zu Hilfe kam, ganz zu seinem sonstigen Charakter. Denn während er sonst immer still und bescheiden war, selbst denen gegenüber, über welche ich ihn gesetzt hatte, so konnte er doch auch, wenn es sein mußte, höchst energisch auftreten. Schon als vierzehnjähriger Junge! Aber nicht etwa, daß er dabei heftig wurde oder gar fluchte – nein, immer freundlich, und dabei doch in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete und jeden zu besiegen wußte. Auch darin war er ein Muster, eine Art von Wunderkind.

Etwas andres war es, das in mir einen Argwohn aufsteigen ließ. Mir kam es manchmal vor, als ob der Junge damals, als er zu mir kam, nicht erst vierzehn Jahre alt gewesen sein könne. Er war ja klein, er war ... kurz und gut, ich wurde das Gefühl nicht los, daß Parcy mir sein wahres Alter verheimlichte, daß er in Wirklichkeit zwei bis vier Jahre älter sein müsse. Dazu kam auch noch, daß ihm in seinem sechzehnten Jahre plötzlich ein blonder Schnurrbart wuchs, der sehr schnell in einen recht stattlichen Vollbart überging. Und ich weiß, daß er diesen so frühzeitigen Bartwuchs lange Zeit zu verheimlichen suchte.

»Nun aber die Hauptsache – ein Geheimnis, für welches es keine natürliche Erklärung gibt. Ich reite gern. Als ich es mir leisten konnte, hielt ich mir wieder Pferde. Parcy konnte nicht reiten; lachend erklärte er, er habe die Säue nur zu Fuß gehütet. Irgend ein Vergnügen und eine Erholung mußte der Junge doch haben, ich forderte ihn auf, reiten zu lernen. Er wollte nicht, habe keine Freude daran. Schließlich, als ich ihn drängte, wollte er es doch probieren. Er benahm sich schrecklich ungeschickt dabei – er, der schon viele Proben einer ungemeinen Körpergewandtheit gegeben hatte. Er kam nicht in den Sattel, fiel herunter, klammerte sich um den Hals des Pferdes, und da half kein Zureden und keine Anweisung – er benahm sich in einer geradezu lächerlich ängstlichen Weise. Dann tat er einen schweren Sturz, wäre bald getreten worden, und da wurden die Versuche aufgegeben. Er hatte genug, ich auch. In dieser Hinsicht habe ich niemals solch einen ungeschickten Menschen gesehen.

Es ist drei Jahre her. Parcy war also zwanzig Jahre alt. Ich fahre mit Frau und Tochter und ihm in unsrer Equipage spazieren. Der Kutscher verliert die Zügel, die Pferde gehn durch. Wir sind in einer Gegend, wo an ein Herausspringen nicht zu denken ist. Irgend eine Katastrophe war unvermeidlich. Da steht Parcy auf, springt auf den Sitz, auf den Bock, voltigiert auf ein Pferd, hat es im Nu in seiner Gewalt, hat ebenso schnell das andre gebändigt und ... wir waren gerettet!«

Der Erzähler schwieg, die Erklärung dem andern überlassend.

»Der Junge hatte wohl nicht Schweine, sondern Kühe und Pferde gehütet – er war ein Cowboy gewesen oder doch zwischen Cowboys aufgewachsen.«

»Das war jetzt auch meine Ansicht,« entgegnete Mr. Kell. »Warum er mir das verheimlichte? Dazu hatte er allerdings einen Grund. Sie kennen doch die amerikanischen Cowboys. Wohl werden sie in einer gewissen Literatur verherrlicht, sie sind die Lieblinge unsrer Jugend, wohl bewundern auch wir Erwachsene sie als Reiter und Kunstschützen in jenen Vorstellungen, die jetzt immer mehr Mode werden, sonst aber sind doch die Pferdebändiger der Prärie maßlos verachtet, und wir wissen ganz genau, was für rohe, verdorbene, von allen Lastern geplagte Menschen sie in Wirklichkeit sind.

Parcy ist also ursprünglich ein Cowboy gewesen. Der intelligente Junge mag sich wirklich nicht wohlgefühlt haben bei dem wüsten Treiben, es steckt doch überhaupt etwas Besonderes in ihm, er wußte, wie verächtlich wir über die Cowboys urteilen – und so hat er sich eben bei seiner Ankunft in New-York für einen harmlosen Farmerjungen ausgegeben, der höchstens Kleinvieh hütete, und hat seinen ehemaligen Beruf immer zu verleugnen gewußt.

Konnte ich ihm dies verübeln? Nein! Er hatte bisher immer seine Pflicht getan, sich als der bravste Mensch betragen, und das gibt den Ausschlag. So forderte ich auch keine Erklärung von ihm, wie er plötzlich ein so gewandter Reiter und Pferdebändiger werden könne. Parcy selbst meinte gleichgültig, das sei noch lange kein Reiten gewesen, und meine Frau und Tochter glaubten ihm.

Genug! Er war zum zweiten, wenn nicht zum dritten Male mein, unser aller Lebensretter geworden. Vor einem halben Jahre feierte Carryl ihre Verlobung mit ihm. Die beiden waren glücklich. Heute hat die Hochzeit sein sollen. Nicht die geringste Ahnung war vorhanden, daß etwas dazwischenkommen könne.

Sie wissen wohl, daß seit einigen Tagen auf Longisland eine Schautruppe gastiert, die das australische Leben im Busch zeigt. Es ist geradezu eine Pflicht für jeden New-Yorker, einmal dortgewesen zu sein; wir hatten uns schon mit einer befreundeten Familie verabredet, gestern früh gingen auch wir hin, Parcy mit ...«

»Verzeihung, ich muß Sie unterbrechen! Wußte Parcy, daß Sie diese Vorstellung besuchen würden, und sträubte er sich nicht, mitzugehn?«

»Allerdings! Nicht, daß er sich sträubte – aber er wollte eine sehr notwendige Arbeit vorschützen. Carryl jedoch bat ihn so herzinnig, daß ihm gar nichts andres übrigblieb, als uns zu begleiten. Ich selbst – ich muß es gestehn – war gespannt darauf, was für einen Eindruck es auf den ehemaligen Cowboy machen würde, wenn er wieder solch ein wildes Reiterleben sah, zwar nicht von Cowboys in der amerikanischen Prärie – aber schließlich mußte es doch ganz dasselbe sein. – Ach,« seufzte der alte Herr, »hätte ich doch nicht diese unglückselige Idee gefaßt! Es kam so, wie ich gedacht – als die Squatters mit ihren Lassos die wilden Rinder einfingen und die Rosse bändigten, als sie miteinander kämpften, da erwachte in dem ehemaligen Cowboy die Erinnerung mit Macht. Wohl versuchte er, sich zu beherrschen, die andern merkten nichts davon, ich aber, der ich um sein Geheimnis wußte, ich sah, wie sein Auge immer mehr leuchtete, wie sich seine Nasenflügel blähten; wie er sogar leise zu zittern begann. Ich amüsierte mich über ihn, nichts weiter. Sonst war ich ahnungslos, und ich blieb es ... bis heute früh.«

Der alte Mann verbarg sein Gesicht im Taschentuch.

Mit der größten Spannung hatte Nobody der Erzählung gelauscht. Ja, das war wieder einmal ein Fall, dem er sein ganzes Interesse entgegenbrachte, denn hier handelte es sich um ein menschliches Rätsel, welches es zu lösen galt, und er wußte, was jetzt in dem Herzen des alten Mannes vor sich ging. Mit tiefstem Mitleid blickte er auf den Weinenden.

»Weiß Ihre Familie schon davon?« fragte er leise.

»Meine Frau, ja,« erklang es schluchzend, »aber meine Tochter nicht. Um alles in der Welt darf Carryl nichts davon erfahren. Es wäre ihr Tod!«

»Wie haben Sie es ihr zu verheimlichen gewußt?«

»Daß bei mir und im Bureau eingebrochen ist, weiß sie. Nun glaubt sie, Parcy sei sofort nach der Polizei gelaufen, habe sich wohl selbst auf die Verfolgung des Einbrechers gemacht. Dasselbe glauben die Hochzeitsgäste. Und da es sich um ganz beträchtliche Summen handelt und man annimmt, daß der Bräutigam sich dicht auf den Fersen des Flüchtlings befindet, so ist ja sein Ausbleiben selbst am Hochzeitstage entschuldbar. Die Trauung muß eben verschoben werden, die Hochzeitsgäste werden sich schon hineinfinden.«

»Und wer weiß sonst noch darum?«

»Der Kassierer. Auch der Portier. Sie hatten eine Ahnung, und ich offenbarte ihnen alles, ehe ich zu Ihnen ging. Doch diesen beiden treuen Seelen kann ich vertrauen, die verraten nichts.«

»Ja, mein lieber Herr, was soll ich nun aber in dieser Sache tun? Dieser junge Mann ist offenbar, wenn ich nicht ganz und gar irre, schon früher auf einer verbrecherischen Bahn gewandelt, er ist nach einer Pause darauf zurückgekommen.«

»Ich weiß, ich weiß!« jammerte der Alte. »Zwischen einem Cowboy und einem raubenden Wegelagerer ist ja eigentlich gar kein Unterschied. Doch bin ich nicht selbst schuld, daß er in sein früheres Treiben zurückgefallen ist? Sie finden diesen meinen Vorwurf vielleicht lächerlich. Und doch, und doch! Er war neun Jahre lang der denkbar bravste Mensch, er wäre der zärtlichste Gatte und Vater geworden. Da muß ich ... da muß er ... nein, ich weiß ja gar nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Was, was er getan hat, ist auf jeden Fall verzeihlich! Das hat er getan, als er nicht bei klarem Verstande war, in einem Anfall von temporärem Wahnsinn!«

»Mr. Kell, Sie sind ein edler Mensch,« sagte Nobody, »und wenn Sie dem ... Durchbrenner verzeihen, dann hat ihn überhaupt kein andrer Mensch zu verurteilen. Die Sache ist nur die: wenn ich den Ausreißer dingfest mache und ihn zurückbringe, in aller Gemütlichkeit, und Sie empfangen ihn wieder mit aller Liebe – wer garantiert Ihnen dafür, daß er seinen temporären Wahnsinn nicht zum zweiten Male bekommt? Ich nicht! Ein Sprichwort sagt: Einmal ist keinmal. Das ist aber ein fluchwürdiges Sprichwort, das man mit Feuer und Schwert ausrotten sollte. Gewöhnlich ist einmal ein für allemal.«

»Freilich, freilich!« weinte der Alte. »Und Parcy ist auch nicht der Mann, der seine Tat verziehen haben will. Verloren ist er jetzt wohl auf ewig für uns. Und doch ... die Hoffnung, daß noch alles wieder gut werden könnte ... ach, ich weiß ja gar nicht, wo mir der Kopf steht ... ich rannte ganz planlos gleich nach Worlds Bureau, um Sie zu Hilfe zu bitten ... und die Hauptsache ist mir, daß nur meine arme Tochter nichts davon erfährt ...«

»Wissen Sie was?« unterbrach ihn Nobody. »Erst will ich den jungen Mann einmal festnehmen und selbst sprechen, dann können wir noch immer überlegen, ob er wieder in Gnaden aufzunehmen ist oder nicht, und inzwischen mögen die andern glauben, er selbst sei auf der Verfolgung des Einbrechers begriffen. Lassen Sie mich das nur machen, das werde ich schon alles arrangieren.«

Mr. Kell sah das Vortreffliche dieses Vorschlages ein, und er traute der Kunst dieses Detektivs, von dem er schon so viel gehört hatte.

»Einen Abschiedsbrief hat er doch nicht etwa hinterlassen?«

»In der ersten Aufregung habe ich nichts gefunden ...«

»Ich bezweifle auch, daß er noch einen schreiben wird. Ich kenne solche gezähmte Räubernaturen schon etwas, die sind nicht fürs Briefschreiben eingenommen, so wenig wie für Schecks. Apropos – hat er denn außer dem baren Gelde sonst noch etwas mitgenommen? Irgendwelche Kostbarkeiten?«

»Nein, eben nicht, und das war es auch, was mich zuerst ganz verwirrt machte. In dem Schreibtisch meiner Frau hatte Carryls Brautschmuck gelegen, gleich neben dem baren Gelde, auch der kostbare Schmuck meiner Frau. Aber Juwelen und alles Geschmeide hat er nicht berührt.«

»Stimmt! Das Bild, das ich mir von dem jungen Manne mache, wird immer richtiger.«

»Aber in einem Falle hat er sich doch an Juwelen vergriffen. Ich hatte in meinem Schreibsekretär einen Revolver liegen, ein kostbares Schaustück, mit Gold plattiert, der Kolben mit einigen Edelsteinen besetzt – den hat er mitgehn heißen.«

»Das wundert mich nicht, das sieht einem Cowboy ganz ähnlich. Nun, Mr. Kell, nur noch eine Frage: Sie haben von dem jungen Manne doch gewiß eine Photographie ...«

»Ich habe sie sogar bei mir,« sagte Mr. Kell, zog aus der Brusttasche ein Lederetui, welches einige Photographien enthielt, nahm die eine heraus.

Das Brustbild zeigte einen jungen Mann mit edlen Zügen, die von einem ziemlich langen Vollbart umrahmt waren.

Nobody nahm das Bild, schien nur einen flüchtigen Blick daraufzuwerfen, und während er es einsteckte, stand er auf.

Er sagte zu Mr. Kell nur noch einige beruhigende Worte, er werde sein möglichstes tun, die Sache würde schon noch ein gutes Ende nehmen usw.

»Das Zimmer ist bereits bezahlt, bleiben Sie noch einige Minuten hier, während ich jetzt schon gehe. Sie werden bald wieder etwas von mir hören. Good bye.«

 

»Himmelbombenelement!!!«

Das sagte Nobody in einer Korridornische, in die er gleich nach dem Verlassen des Zimmers getreten war, um noch einmal die Photographie zu betrachten, und das konnte er jetzt im besten Lichte, ein Sonnenstrahl fiel gerade darauf.

Als er vorhin das Bild genommen und vor dem Einstecken nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen hatte, da hatte Mr. Kell dem kaltblütigen Detektiv nichts davon angemerkt, daß dieser wie vom Donner gerührt gewesen war, und auch kein andrer Mensch hätte das gesehen.

Und doch war Nobody wie vom Donner gerührt gewesen!

Es ist bekannt, wie anders man aussieht, wenn man den bisher getragenen Vollbart abnimmt. Nobody aber hatte nur einen einzigen Blick gebraucht, um sofort zu erkennen, daß dieser junge Mann, wenn er den Vollbart abnahm, er selbst war, Nobody, und zwar mit jenen Gesichtszügen, die er ›Nummer eins‹ nannte.

»Himmelbombenelement!!! Das nennt man eine Ueberraschung! Dieser Parcy Mitchall ist ja mein Doppelgänger, der vorhin unter meinem Namen Mr. World ausgeplündert und Paddy die Knackwurscht abgenommen hat!!!«

Hier in der Nische konnte Nobody nicht stehn bleiben. Unten auf der Straße machte er seine Kalkulation, und wir wollen sie mit seinen eignen Worten wiedergeben:

»Der Junge hat seine erste Erziehung unter amerikanischen Banditen und Wegelagerern genossen, und das mögen schon ehemalige Cowboys gewesen sein. Vielleicht befanden sich Kapazitäten darunter, die das Räuberhandwerk auch in den Straßen der Städte ausübten. Da hat der kleine Parcy reiten und schießen gelernt, desgleichen, wie ein einzelner Mann vier Gegner auf einmal überwältigt, und vielleicht auch, wie man ein Schloß mit dem Dietrich öffnet. Ein tüchtiger Junge, gewiß! Aber ein eigentlicher Räubercharakter war es nicht. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß er etwas Unrechtes täte. Da hat er die Bande verlassen, hat sich nach dem fernen New-York gewendet, wollte dort ein ehrlicher Mensch werden. Zufällig fand er die Brieftasche. Zufällig? Oder hat er sie Mr. Kell erst aus der Tasche gezogen, um so Einführung in ein solides Haus zu bekommen? Vielleicht, vielleicht auch nicht! Gleichgültig! Mr. Kell nahm ihn auf, der Junge, durch sein ganzes Leben schon weit über sein Alter gereift, sah, in was für ein Haus er gekommen, und betrug sich danach. Das war ja überhaupt von vornherein sein Vorsatz gewesen. Um sich nicht als verachteten Cowboy zu verraten – denn was soll aus einem solchen noch Gutes werden! – will er nicht reiten und schießen können. Oder aber, er hatte immer eine geheime Furcht, ein Pferd zu besteigen und einen Revolver nur zu berühren – er hatte Angst, das könne einen unheilvollen Einfluß auf ihn ausüben – so etwa, wie ein geheilter Trunkenbold gar keine Flasche mehr anzugreifen wagt, oder – harmloser und in diesem Falle noch treffender – wie ein Komödiant, so ein halber Zigeuner, der in eine solide Familie geheiratet hat, gar nicht wieder ins Theater zu gehn wagt, weil er selbst fürchtet, er könnte gleich wieder die ganze Solidität an die Wand werfen und, Frau und Kind im Stiche lassend, zurückkehren zum fahrenden Volk, welches ohne Hunger und Lumpen sich nun einmal nicht glücklich fühlt.

Neun ganze Jahre lang hat Parcy sich so aufgeführt. Tadellos, einfach musterhaft! Jetzt glaubte er selbst, daß die Vergangenheit schon längst hinter ihm begraben sei. Er liebte die Tochter seines väterlichen Freundes. Daß er das Mädchen wirklich innig liebte, daran zweifle ich keinen Augenblick.

Morgen soll die Hochzeit sein. Heute wollen sie alle zusammen noch einmal jene wilde Schaustellung besuchen. Daß sich der junge Mann gar so sehr gegen den Besuch gesträubt hat, mag ich nicht recht glauben. Das wird von Mr. Kell eine nachträgliche Einbildung gewesen sein, als er erkannte, was er angerichtet hatte.

Und der Teufel beginnt sein Spiel. Die Reiter auf den wilden Rossen jagen dahin über die blumige Prärie, die Revolver knattern, die Männer ringen im Kampfe miteinander – und des ehemaligen Cowboys Wangen röten sich immer mehr, seine Augen blitzen, er möchte so gern mit einspringen und zeigen, daß er es noch besser kann, und ...

Ja, was dann weiter in dem jungen Manne vorgegangen ist, das gehört nicht in die Kalkulation eines Detektivs, das ist die Sache eines Dichters. Und ich bin ein sehr schlechter Dichter. Jedenfalls hat er sich mit aller Macht zu bezähmen gesucht. Er ist mit nach Hause gegangen, hat mit Abendbrot gegessen, hat von der bevorstehenden Hochzeit gesprochen. Als er in sein Zimmer ging, glaubte er sich besiegt zu haben. Aber es war nicht der Fall. Als er allein war, begannen seine Gedanken wieder zu arbeiten. Dabei wanderte er rastlos auf und ab. Er war Abstinenzler. Als Räuber ist er es jedenfalls nicht gewesen, schon als Junge mag er den Brandy flaschenweise hinter die Binde gegossen haben, und ich bin fest überzeugt, daß er in seiner Aufregung etwas getrunken hat. Wenn er keinen Branntwein auf seinem Zimmer gehabt hat, dann vielleicht Eau de Cologne, und was so ein richtiger Cowboy ist, der säuft auch Spirituslack. Und da war es vorbei mit ihm, nach dieser langen Enthaltsamkeit! Die Sehnsucht wurde zum Willen und der Wille zur Tat.

Er wollte noch einmal fort. Er mußte es. Wenn er den Weg nicht an dem Portier vorbei nahm, dann ist er aus dem Fenster gesprungen. Nur einmal noch, nur einmal noch!! Morgen war er ein Ehemann, dann war alles für immer vorbei. Und einmal ist ja keinmal. Jawohl, so hat ihm der Teufel zugeflüstert. Ich bin fest überzeugt, daß er wüste Gesellschaft aufgesucht hat, wo er sich noch einmal so recht austoben wollte. Und er tat es. Und da hatte der Teufel die letzte Schranke niedergerissen, er triumphierte!

's gibt kein schöner Leben, als ein Räuberleben! ... Es gibt kein persönliches Eigentum! Dem Stärksten gehört alles, und dem Kühnen die Welt! Er ist in das Geschäft gegangen und hat den Geldschrank geplündert. War das gar so niederträchtig? Nein. Er hatte ein Scheckbuch, er hatte Kredit. Er wollte ein für allemal mit seinen Wohltätern brechen – oder mit seinen soliden Freunden, deren Wohltäter ja eigentlich er war – er wollte sich unmöglich machen, die Brücke hinter sich abbrechen. Das war der Grund. Und der einfache Diebstahl im Bureau genügte ihm noch nicht. Dazu hatte er ja nur seine Schlüssel gebraucht. Er ging zurück in die Wohnung, keck an dem Portier vorbei und ... vollendete den Abbruch der Brücke.

Unmöglich? Nicht für mich! Auch der Löwe kann seinen Wärter, der ihn täglich im Käfig besucht, ehrlich und innig lieben. Daran zweifle ich nicht. Aber der Wärter braucht nur zufällig einmal aus einem kleinen Hautriß zu bluten, und der Löwe leckt zufällig das Blut – ritsch, da liegt er, der geliebte Mensch, und der Löwe verspeist ihn mit Wohlbehagen. Auch an den Komödianten kann man hierbei denken. Und Parcy hat diese Tat nur begangen, um sich in den Augen seiner Braut verächtlich zu machen, um sich den Rückweg ein für allemal abzuschneiden.

Am andern Morgen läßt sich der verkappte Ehrenmann, der nun wieder ein ehrlicher Räuber geworden ist, den Vollbart abnehmen. Er hat auch schon mich gesehen, den Nobody, als Nummer eins, wenigstens im Bild. Wie er sich im Spiegel sieht, ohne Bart, da denkt er: du siehst doch ganz genau so aus wie dieser Nobody?! Und gleich ist der geniale Plan fertig – so ein echter, rechter Räuberstreich – frisch, fromm, fröhlich, frei! – geht hin in mein Bureau und plündert alles im Handumdrehen bis auf den letzten Cent aus ... ei die Dunnerwetter! Meine Hochachtung! So etwas gefällt mir noch an einem Räuber! Da nehme ich den Hut ab!«

Und Nobody nahm wirklich den Hut ab – allerdings nur, um sich die Stirn zu trocknen.

Während dieses Selbstgespräches war er an den Hafen gekommen und bestieg einen Dampfer, der ihn nach Longisland hinübersetzte. Er wollte sich doch noch die Schaustellung ansehen, die bei einem Menschen eine so zauberhafte Umwandlung hervorgebracht hatte, wenn er auch etwas zu spät kommen würde.

Aber er kam doch noch nicht zu spät. Wohl hätte die Vorstellung schon seit einer halben Stunde in vollem Gange sein müssen, aber sie hatte eben noch nicht begonnen, und trotzdem amüsierte sich das an den Barrieren sich drängende Publikum köstlich. Die weißen und schwarzen Buschleute gaben eine Vorstellung eigner Art, sie schrien und sangen und johlten auf dem Platze herum, ohne daß man zunächst wußte, was die Kerle da eigentlich trieben. Man mußte sich erst darüber belehren lassen.

»Die sind ja alle besoffen,« hörte Nobody neben sich sagen, noch ehe er sie zu Gesicht bekommen hatte, und dann, als er sie sah, konnte er das nach seinem eignen Urteil nur bestätigen.

Wir wollen uns nicht bei der Schilderung aufhalten, wie sich australische Squatters und Buschneger benehmen, wenn sie betrunken sind, wir wollen nur erwähnen, daß der Kunstreiter der Gesellschaft, wenn er von der einen Seite auf sein Pferd steigen wollte, auf der andern immer wieder herunterfiel, und einige Australneger waren damit beschäftigt, einer ihrer schwarzen Schwestern, die sich anstandshalber in einem Rocke präsentieren mußte, diesen über dem Kopf zusammenzubinden.

Da Nobody von den lachenden Zuschauern keine Aufklärung erhalten konnte, woher die ganze Bande schon am Morgen so voll des süßen Weines war, hatte er sich gleich an den Impresario wenden wollen. Aber der war nicht zu sprechen, der gute Mann verstand den Witz nicht, daß sich das Publikum über die betrunkene Horde weit besser amüsierte, als über die regelrechte Vorstellung, er wollte seine Zöglinge mit Peitschenhieben wieder zur Räson bringen.

Nobody ging weiter, schlenderte zwischen den Stallungen hindurch, und hier sah er einen alten Squatter, welcher bedächtig mit dem Taschenmesser seine Holzpfeife auskratzte. Der Mann war offenbar nüchtern.

»Was ist denn hier eigentlich los?«

Ohne sich in seiner Pfeifenkratzerei stören zu lassen, hob der Mann lange die Schultern.

»Alles besoffen!« lautete dann seine lakonische Antwort.

»Ja, das merkt man! Aber wie kommt denn das?«

»Noch von gestern abend.«

»Hier, wollt Ihr Euch von mir eine Pfeife stopfen?«

Daß der fremde Herr ihm seinen Tabaksbeutel bot, der noch dazu ein ganz vorzügliches, aromatisch duftendes Kraut enthielt, machte den Alten gleich redselig, Nobody brauchte gar nicht mehr zu fragen.

Nicht gestern abend, sondern um Mitternacht war es gewesen. In den primitiven Wohnungen der Schaubuden schlief schon alles, nur die wenigen Männer nicht, welche bei den Pferden wachen mußten. Da war in den Stall ein fremder Herr gekommen, hatte die Männer gleich gefragt, ob sie einen trinken wollten – ei gewiß! – die Wirtsleute in der nahen Restauration wurden herausgeklopft, und nun ließ der Nachtschwärmer, der seine Zechkumpane verloren hatte und andre suchte, anfahren, was die Leute wünschten. Die andern erwachten von dem Lärm, und wer nicht von selbst kam, der wurde geholt, und es entstand eine wüste Zecherei.

Der fremde Herr blieb nur zwei Stunden da, aber als er ging, standen die vollen Butteln noch haufenweise da, und so wurde denn fortgezecht, bis jetzt. An eine Vorstellung war gar nicht zu denken. Auch Little Pet hatte daran mit teilgenommen, der Junge lag jetzt in einem todähnlichen Schlafe.

»Wer ist denn der Herr gewesen?«

Plötzlich wurde der Squatter unwirsch.

»Ihr seid doch nicht etwa ... Detektiv?«

»Ich?« lachte Nobody. »I wo! Ich bin ein New-Yorker Geschäftsmann. Wie kommt Ihr denn auf die Vermutung, daß ich ein Detektiv sein könnte?«

»Wißt, mit dem jungen Manne kam es mir nicht ganz geheuer vor. Ich habe sein Geld auch nicht angenommen.«

»Geld hat er den Leuten gegeben?«

»Er hat mit den Goldstückchen um sich geworfen. Na, gar so viel war's ja nicht, aber so gegen 100 Dollar mag er doch verschenkt haben.«

»War es vielleicht dieser hier?« fragte Nobody, plötzlich die Photographie hervorziehend und jenem hinhaltend.

»Jawohl, der war es!«

»Dachte ich's doch! Na, dann beruhigt Euch. Das ist nämlich mein Kompagnon. Der macht manchmal solche nächtliche Streiche. Und der kann sich's leisten. Weil er heute nicht ins Geschäft kam, ging ich mal in seine Wohnung. Zu Hause war er auch nicht, aber ich hörte, daß er gestern abend noch einmal nach Longisland gefahren wäre. Was hat er denn hier nun wieder alles aufgestellt?«

Diese Erklärung beruhigte den alten Squatter, der wohl schon gefürchtet hatte, daß die ganze Bande und er selbst mit der Polizei in Konflikt kommen könnte.

»Na, wenn's so ist! Euer Kompagnon ist wohl lange in Australien gewesen? Nee, er muß ein geborener Australier sein, im Busche aufgewachsen. Der wußte dort noch viel besser Bescheid als wir, und mit den Schwarzen unterhielt er sich in der Baribarisprache.«

Jetzt war es Nobody, der die Ohren spitzte.

»Ei freilich, der ist im australischen Busch zu Hause. Hat er euch nicht etwas vorgeritten?«

»Das nicht! Aber so merkwürdige Fragen hat er gestellt. Wieviel Morde jeder von uns schon auf dem Gewissen hatte, und wir ... wir ...«

»Und ihr seid doch gar keine Bushrangers, sondern ganz ehrliche Farmknechte und Schafscherer,« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe.

»Nu freilich,« gestand der alte Mann mit verschämtem Lächeln. »Aber bei Eurem Freunde hätte man fast glauben mögen, das sei noch so ein Bushranger von altem Schrot und Korn – Himmel, wie der überall im Busch Bescheid wußte – und die alten Lieder konnte er – und dann lachte er immer so verächtlich, daß mir manchmal ganz unheimlich wurde ...«

Der Squatter wurde vom Direktor gerufen. Nobody brauchte auch nichts mehr zu hören. Jetzt hätte er wieder sein ›Himmelbombenelement‹ sagen können. Der vermeintliche Cowboy hatte sich in einen australischen Bushranger verwandelt. Wie war der vierzehn- bis sechzehnjährige Junge nach New-York gekommen? Dieses Rätsel zu lösen, war Sache des Detektivs.

Jedenfalls wußte Nobody nun, wo er seinen Doppelgänger zu suchen hatte: nicht in den amerikanischen Prärien, sondern im australischen Busch. Denn daß jenes Mannes Sehnsucht, die erst durch eine Vorstellung des australischen Buschlebens so mächtig nach dem frühern Schauplatz seiner Tätigkeit erregt worden, sich wieder nach Australien wenden würde, das war doch ganz gewiß.

Freilich konnte Nobody nun nicht den nächsten Dampfer besteigen, der nach einem australischen Hafen ging. Da mußte er erst abwarten, ob seine Agenten den Gekennzeichneten nicht schon eher erwischten.

Zu Mr. Kell wollte er sich heute nicht mehr begeben. Er besah sich nur einmal dessen Haus. Von einer Hochzeitsfeierlichkeit war nichts mehr zu bemerken. Dann war es ja gut, die Eingeladenen waren eben wieder gegangen.

Nobody hatte als Detektiv immer zu tun. Den Nachmittag verbrachte er mit Tätigkeit aller Art, und am Abend suchte er in der Verkleidung eines jungen Matrosen die berüchtigten Hafenstraßen des östlichen New-York auf. Auch hierbei hatte er ein Ziel, was uns aber nicht weiter interessiert.

Er war schon in einer Matrosenspelunke gewesen, ohne zu finden, was er suchte, und betrat eine zweite. An einem Tische wurde Karten gespielt, von vielen Zuschauern beobachtet; Nobody stellte sich mit hin und amüsierte sich, auf welch plumpe Weise der eine Spieler die drei andern immer betrog, ohne daß es diese und die Umstehenden bemerkten.

»Skandal will ich hier nicht anfangen,« dachte er; »aber dann werde ich einmal mit diesem Gauner ein Kartenspielchen machen und ihm sein ganzes Geld wieder abnehmen – zum Vorteil für die andern.«

Da legte sich ihm von hinten eine schwere Hand auf die Schulter.

»Good evening!«

Nobody drehte sich um, sah in ein verwittertes Seemannsgesicht, kannte es nicht. Aber der Hohn darin gefiel ihm gar nicht.

»Good evening,« grinste der Kerl nochmals.

»Was wollt Ihr von mir?«

»Komm mal mit raus!«

Und ohne sich um den jungen Matrosen zu kümmern, die Hände in den Hosentaschen, schritt der alte Seemann der einzigen Tür zu, als sei es ganz selbstverständlich, daß der andre ihm folge.

Nobody tat es denn auch. Er wurde offenbar mit jemandem verwechselt, und er wollte wissen, mit wem.

Daß er aber auf der einsamen Straße von einem halben Dutzend Burschen umringt wurde, das gefiel ihm gar nicht. Nun, Nobody wußte, wie er sich seiner Gegner entledigen konnte, er mußte sich nur den Rücken freihalten.

»Na?« sagte wieder der alte Seemann, nichts weiter.

»Ihr verkennt mich, ich bin ...«

»Nee, nee, mein Junge! Du hast doch heute früh Handgeld bekommen. Warum bist du noch nicht an Bord?«

»Mann, das ist ein Irrtum ...«

»Dann muß ich eine andre Sprache ...«

Der Seemann hatte eine verdächtige Bewegung gemacht, Nobody sah etwas durch die Luft herabgesaust kommen, er erkannte den Gegenstand nicht, aber er wußte ganz genau, daß es der berühmte Gummischlauch war, jenes famose Instrument, welches keinen weichen Kinderkopf einschlägt und doch den stärksten Ochsen betäubt zu Boden wirft – also, dürfen wir wohl behaupten, auch Nobody.

Aber der Gummischlauch sollte dessen Kopf nicht berühren. Des Bootsmanns Handgelenk wurde aufgefangen, es knackte, und brüllend vor Schmerz lag der vierschrötige Kerl am Boden.

»Dann freilich muß auch ich eine andre Sprache reden,« sagte Nobody phlegmatisch, und die umstehenden Männer wagten sich nicht zu rühren, denn sie blickten in die Mündungen zweier auf sie gerichteten Revolver.

Einer hätte zwar auch schon genügt, aber zwei imponierten doch etwas mehr.

»Ich erkläre also, daß ihr im Irrtum seid, und wenn ihr noch eine einzige verdächtige Bewegung macht, lasse ich den Konstablerpfiff ertönen und euch hinter Schloß und Riegel setzen, weil ihr mir mit dem Gummischlauch gedroht habt!«

Das wirkte! Niemand rührte sich. Nur der alte Bootsmann erhob sich und untersuchte seinen Arm, konstatierend, daß dieser nicht ausgerenkt war.

»Klüverbaum und Bramsteng, das habt Ihr weg! So schnell ist mir noch keiner gekommen. Ihr seid wohl ein Detektiv?«

»Nehmt an, daß ich einer bin!«

»Aber Ihr seid es dennoch gewesen, den ich heute morgen für die ›Astoria‹ als Kohlentrimmer anmusterte, und dem ich 10 Dollar Handgeld gab.«

»Hahn in Ruh!« kommandierte Nobody, steckte den einen Revolver in die Hosentasche und brachte mit derselben Hand einen Haufen blitzender Goldstücke zum Vorschein.

»Sieht das aus, als ob ich ein Kohlentrimmer bin, der 10 Dollar Handgeld braucht?«

Nobody kannte stets seine Leute, und danach handelte er. Wenn das Gauner gewesen wären, hätte er ihnen natürlich nicht das blitzende Gold gezeigt. Aber er hatte auf den ersten Blick erkannt, daß das ehrliche Seeleute waren, wenn es sonst auch rohe Patrone sein mochten. Denen mußte man zeigen, daß man Geld in der Tasche hatte, das imponierte ihnen noch mehr als die Revolvermündungen.

»Also ein Detektiv! Und ich könnte doch gleich schwören, daß Ihr's gewesen seid.«

»Und ich möchte wissen, wem ich so zum Verwechseln ähnlich sehe. Kommt mit zu der Fatjen-Mine, da ist der Porter am besten.«

Bei der Fatjen-Mine erfuhr Nobody alles, was er wissen wollte.

Der Beruf der Kohlenzieher auf Dampfern ist der schwerste, den es auf der Erde gibt. Besonders in Nordamerika, wo es für jeden Tagelöhner, der nur arbeiten will, lohnende Arbeit gibt, sind die Heizer und Kohlenzieher wie die Goldkörner gesucht.

Heute morgen nun waren der Bootsmann und ein Maschinist von der ›Astoria‹ auf der Suche nach zwei noch fehlenden Ziehern oder Trimmern gewesen. Auf die Heuerbureaus brauchten sie gar nicht erst zu gehn; sie klepperten die Hafenkneipen ab. Endlich meldete sich einer.

»Wie sah er aus?«

»Na, genau so wie Ihr.«

Nobody nahm die Mütze ab. Er hatte zu dieser Kostümierung als Seemann wenig mehr getan, als sich sein Lockenhaar schwarz gefärbt.

»Auch schwarze Locken?«

»Jawohl. Ueberhaupt ganz genau so. Auch so schmächtig wie Ihr. Ich wollte ihn erst gar nicht nehmen, so notwendig wir auch noch einen Mann brauchten. Dann hatte er auch so feine Hände – das heißt, wohl schmutzig, aber mir kam es vor, als hätte er sie erst einmal in Ruß gesteckt. Ich dachte erst, es wäre so ein Durchbrenner, der nach Australien wollte, und wenn er dann an Bord ist, kann er nicht arbeiten und will gefüttert sein. Als ich ihm sagte, er wäre zu schwach, lachte er mich aus und hob einen schweren Eichentisch mit gestreckten Armen hoch. Ich fühlte ihn an – ja, da freilich – alles wie von Stein und Stahl – der muß auch gerade so eine Bärenkraft besitzen wie Ihr.«

Nobody zweifelte nicht, daß es sein Doppelgänger war, der den blonden Schnurrbart abgenommen und dafür sein lockiges Haar schwarz gefärbt hatte.

Dann hatte der Bootsmann ja auch noch etwas andres erwähnt.

«Er wollte nach Australien?«

»Er wollte erst wissen, wohin die ›Astoria‹ ginge, und als ich es ihm sagte – nach Sydney – da war er sofort dabei.«

Kein Zweifel, das war Parcy Mitchall gewesen!!

»Wie war er gekleidet?«

»So wie Ihr – mehr wie ein Matrose als wie ein Heizer.«

»Und er ist nicht an Bord gekommen?«

»Bis jetzt noch nicht! Er wollte Geld haben, um sich noch Zeug zu kaufen. Ich sagte ihm, daß er spätestens heute nachmittag um vier an Bord sein müsse; denn wir wollten um sechs in See gehn. Er ist nicht gekommen, der Halunke. Nun gingen wir aber noch nicht ab, wir wollen erst die Mitternachtsflut benutzen, und da machte ich mich noch einmal auf die Suche nach dem Burschen.«

Wenn der Flüchtling nicht um sechs an Bord der ›Astoria‹ gewesen war, so würde er sich auch nicht bis Mitternacht einfinden. Denn daß der Dampfer nicht abgehn würde, hatte er nicht wissen können. So brauchte Nobody also nicht erst die Abfahrt des Dampfers abzuwarten.

Ein ganz eigentümlicher Charakter! Welcher Durchbrenner, der fast 100.000 Dollar in der Tasche hat, kommt auf den Gedanken, zu seiner Sicherheit die Flucht als Kohlenzieher anzutreten? Dazu gehört etwas! Denn jeder Hafenstadtbewohner weiß, was es mit dem Kohlenziehen auf sich hat. Schon dieser Entschluß setzt eine gute Portion Energie voraus.

Hatte nun Parcy diesen Vorsatz aufgegeben? Es konnte sein, es konnte auch nicht sein. Nobody dachte schon an etwas andres.

Im Hafen von New-York liegen immer Schiffe, welche nach Australien gehn wollen. Sollte der Schuldbewußte nicht den Dampfer bevorzugen, der zuerst abging? Vielleicht hatte er, nachdem er schon für die ›Astoria‹ gemustert, nachträglich erfahren, daß ein andrer Dampfer die Anker noch eher lichtete, auch dieser brauchte noch Leute, und da war er eben schnell auf diesen gegangen. Das Ziel brauchte ja nicht durchaus Sydney zu sein.

Nobody wollte sich erkundigen, welche Schiffe heute nach australischen Häfen abgegangen waren. Dann mußte er in den Kneipen Umschau halten, in denen diese Dampfer etwa noch fehlende Mannschaft angemustert hatten; denn das wird in Amerika alles in den Kneipen abgemacht.

Nobody brauchte nicht lange zu suchen. Er war erst in der dritten Wirtschaft, als er von einem jungen Manne angehalten wurde, einem verkommenen Schreiber, der sich als Angestellter eines Hafenbureaus von Matrosen traktieren ließ.

»Hallo, was machst du Heiducke denn noch hier? Du bist nicht an Bord gegangen?«

Nobody legitimierte sich als Doppelgänger, er erfuhr alles, seine Kalkulation war wiederum richtig gewesen.

Halb elf hatte Parcy Mr. Worlds ausgeplündertes Bureau verlassen. Um elf hatte er sich für die ›Astoria‹ anmustern lassen. Dann hatte er erfahren, daß schon mittags um zwölf Uhr der Passagierdampfer ›Philadelphia‹ nach Melbourne abging, auch dieser suchte noch Mannschaften – Parcy Mitchall hatte sich unter dem Namen Henry Douglas als Kohlenzieher auf diesen anmustern lassen. Dadurch kam er nicht nur sechs Stunden eher von dem Boden weg, der ihm jetzt unter den Füßen brannte, sondern er erreichte das Land seiner Sehnsucht auch noch zwei Wochen früher als mit der ›Astoria‹.

Schnell nahm Nobody den Dampfer-Fahrplan zur Hand.

»Der nächste Passagierdampfer nach Melbourne acht ... morgen früh um vier ... ah, der Schnellpostdampfer ›Präsident Washington‹, und der ist ... hurra, der ist noch zwei Tage eher in Melbourne als die ›Philadelphia‹!! Nun, da werde ich ja meinen Doppelgänger in Melbourne persönlich begrüßen und ihm einen Empfang bereiten, wie er solch einem tüchtigen Kerl gebührt!«

So dachte Nobody. Aber der Mensch denkt, und Gott lenkt!

 

Mit fahrplanmäßiger Pünktlichkeit traf der ›Präsident Washington‹ in Melbourne ein. Also konnte die ›Philadelphia‹ noch nicht da sein und war es auch wirklich nicht.

So hatte Nobody voraussichtlich noch zwei Tage Zeit, sich auf Parcys Empfang vorzubereiten. Für jenen war es ganz selbstverständlich, daß er die Polizei nicht ins Vertrauen zog. Dagegen machte er die nähere Bekanntschaft des betreffenden Arztes von der Sanitätspolizei, welcher als erster das ankommende Schiff betreten würde, das so lange auf Reede liegen bleiben mußte, bis an dem Gesundheitszustande der Passagiere und Mannschaft nichts auszusetzen war.

Diesem Beamten gab er sich als der berühmte und doch so märchenhafte Privatdetektiv Nobody zu erkennen, und er konnte sich auch legitimieren, indem Nobody auch in Melbourne eine große Firma besaß – kurz, es gelang ihm, die Freundschaft des in gewisser Beziehung allmächtigen Polizeiarztes zu gewinnen; er bat ihn, bei Einlaufen der ›Philadelphia‹ gleich mit an Bord kommen zu können, er habe da ein besonderes Geschäft zu erledigen, heikler Natur, wovon er vorläufig noch nicht sprechen dürfe; es wurde ihm gewährt, und so würde Nobody Gelegenheit haben, seinen Doppelgänger noch an Bord unter vier Augen zu sehen. Die Möglichkeit, daß Parcy an Land entschlüpfen konnte, war ganz ausgeschlossen.

Die zwei Tage vergingen, am Mittag des dritten wurde die ›Philadelphia‹ auf Reede signalisiert. Nobody stieg mit in das Sanitätsboot.

Wie üblich gratulierte der Beamte dem ihm auch schon bekannten Kapitän zur glücklich zurückgelegten Reise, dann fragte er, wie der Gesundheitszustand sei.

»Alles wohlauf! Aber einen Todesfall hatten wir im Logbuch zu verzeichnen. Oder vielmehr den Abgang eines Mannes. Ein Kohlenzieher ist unterwegs über Bord gesprungen.«

»Wie hieß der Mann?« stieß Nobody hervor, gleich von einer Ahnung befallen.

»Er nannte sich Henry Douglas. Er meldete sich in New-York noch in der letzten Minute. Ein tüchtiger Arbeiter, aber – melancholisch, sagten dann seine Kollegen. Etwa acht Tage hätten sie nichts davon bemerkt, dann hätte er angefangen, auf Freiwache immer zu schreiben. Das muß wohl auch wahr sein, denn man fand dann, als er vermißt wurde, in seiner Koje ein dickes Paket, an mich adressiert. Als ich es öffnete, waren darin zwei andre Pakete und die Mitteilung, daß er aus Lebensüberdruß über Bord springen würde, und ich möchte doch dafür sorgen, daß jedes der beiden Pakete in die Hände des Adressaten gelange. Das eine ist an einen Limonadenfabrikanten Mr. Kell in New-York adressiert, das andre – und jetzt kommt das Merkwürdige von der Sache! – an den Privatdetektiv Nobody, per Adresse Mr. World in New-York ...«

»Mr. Nobody selbst,« stellte der Arzt seinen neuen Freund vor.

Die drei befanden sich allein in der Kajüte.

Nobody befahl seinen Händen, nicht zu zittern, als er das ihm überreichte Paketchen öffnete. Fünfundzwanzig Tausenddollarscheine, einige kleinere, etliche Gold- und Silberstücke, eine Unmenge von Zehncentstücken, der zusammengeballte Darm einer riesigen Knackwurst und dann ein kurzes Schreiben:

»Sir! Seien Sie großmütig, verzeihen Sie einem Unglücklichen. Das Nähere können Sie von Mr. H. A. C. R. Kell in New-York erfahren, dem ich ausführlich gebeichtet habe.

                     Tom Taylor,

                genannt Little Pet.«

»Little Pet!« flüsterte Nobody geistesabwesend.

Daß es einmal einen echten Little Pet gegeben hatte, von dem der Junge in jener Schautruppe nur eine Nachahmung war, davon hatte er schon gehört; aber daß dieser Parcy Mitchall, sein Doppelgänger, der Little Pet sein könne, das war ihm auch nicht im Traume eingefallen.

»Little Pet!« wiederholte der Kapitän erstaunt.

»Little Pet!« echote der Australier ebenso. »Jawohl, den hat es einmal gegeben, ein Junge, der so vor einem Dutzend Jahren als Bushranger die Wangon-Hügel unsicher machte – jawohl, und sein eigentlicher Name war Tom Taylor, ich entsinne mich noch ganz genau.«

Nobody war berechtigt, auch das an Mr. Kell adressierte Paket zu öffnen, aber ehe er es tat, nahm er den beiden Männern ihr Ehrenwort ab, das, was sie jetzt erfahren würden, für alle Zeiten geheimzuhalten.

Das schwere, umfangreiche Paket enthielt gegen 80.000 Dollar in Papier, Gold und Silber, einen Revolver, an dem auch ein Juwelier seine Kunst ausgeübt hatte, und dann ein viele Seiten langes Schreiben.

Wir können es hier nicht wiedergeben. Der Leser würde auch sehr wenig Neues erfahren. Nobodys Genius hatte ihm fast alles schon vorauserzählt.

So soll nur das herausgegriffen werden, was der Leser noch nicht weiß.

Bei seiner frühesten Jugend fing die Beichte an. Traumhafte Blicke in die wüsten Spelunken einer australischen Großstadt. Dann, als das Bewußtsein erwachte, sah er sich im australischen Busch, im ›Scrub‹, der nur mit Gebirge und mit Sandwüste abwechselte. Seine Gesellschaft waren entflohene Sträflinge und unbestrafte Verbrecher. Man sagte ihm, er hieße Tom Taylor. Seinen Vater kannte er nicht. Seine Mutter sei in einer Schnapsspelunke erstochen worden. Man habe den hilflosen Jungen mitgenommen.

Eine Stute hatte gerade Milch. Man hatte sie nicht gemolken, sondern der kleine Tom hatte an ihrem Euter gelegen.

Ist es da zu verwundern, daß er, ehe er noch fest auf den Füßen stand, schon reiten konnte? Und als die Kraft eines Fingers noch nicht langte, drückte er mit beiden Händchen den Revolver los – zum Jubel der Bushrangers, die ihn ihren ›Little Pet‹ nannten.

Ach, es war ein herrliches Leben gewesen! Nein, er war niemals zum Mörder geworden. Getötet hatte er freilich genug Menschen. Aber wer wagt denn, den Soldaten, der im Kriege das Gewehr auf seinen Nächsten abdrückt, der ihm nie etwas zuleide getan hat, einen Mörder zu nennen? Und der Soldat weiß vielleicht gar nicht, warum er in den Kampf geschickt wird! Little Pet aber wußte, wofür er kämpfte. Um sein Leben, um seine Freiheit, die ihm andre nicht gönnten. Und seine Unwissenheit bestand darin, daß er nicht wußte, warum ihm andre nach dem Leben trachteten.

Den Bushrangers gesellte sich ein pfiffiger Kopf bei, ein mit der Kasse durchgebrannter Handlungsgehilfe. Jetzt ging es auch in die Städte; Geldschränke wurden erbrochen und andres, was man zuschließt. War das etwa Sünde? Es ist leichter, einem Affen das Stehlen abzugewöhnen, als einem Anthropophagen klar zu machen, daß es Sünde ist, einen Menschen aufzufressen. Was ist überhaupt Sünde?

Aber es ist doch ein eigentümliches Ding mit dem Gewissen. Oder war es, daß Little Pet das Leben in einem Farmhause beobachtete und sich fragte, warum auch er sich nicht des Abends so sorglos in ein weiches Bett legen könnte, warum man gerade ihn wie ein wildes Tier hetzte? Oder war es doch das Gewissen, welches erwachte und ihm zuflüsterte: was du tust, ist unrecht?

Doch wir wollen nicht philosophieren. Kurz und gut, eines Tages verließ Little Pet heimlich seine Sippschaft.

Er kam an eine Küste, er kam in eine Hafenstadt. Man hatte ihn nicht unbehelligt gelassen.

»Little Pet, das ist Little Pet, fangt ihn, schlagt ihn tot!«

Dort drüben über dem großen Wasser sollte es noch ein andres Land geben. Amerika hieß es. Ob man ihn dort auch gleich erkennen würde?

Little Pet verkroch sich auf einem Schiffe, kam nach San Francisco.

Er pilgerte mit staunenden Augen in die ihm fremde Welt hinein. Ach, wie schön es hier war, und wie gut die Leute! Hier hetzten sie ihn nicht, jeder nahm ihn gastfreundlich auf. Warum aber nur in den Ansiedlungen, nicht in den Städten?

»Du mußt arbeiten, mein Junge,« hieß es.

Als er das Wort ›arbeiten‹ begriff, war er schon, freilich oft genug als blinder Passagier, auf der Eisenbahn mitfahrend, im Staate Illinois angelangt. Er hatte tatsächlich die Schweine gehütet.

Nun muß man aber bedenken, daß Little Pet im Grunde genommen doch ein ganz geriebener Junge war. Nein, das war nichts für ihn. Er fühlte, daß er zu etwas Besserem geschaffen war. So ein Gentleman mit hohem Zylinder wollte er werden.

Er pilgerte nach New-York, und ... wir haben eigentlich fast gar nichts mehr zu erzählen, Nobody hat es schon alles vorausgesagt. Nur darin hatte er dem Jungen unrecht getan, daß er glaubte, jener hätte Mr. Kell die Brieftasche erst aus dem Rocke gezogen. Nein, er hatte sie wirklich in einem dunklen Durchgange gefunden.

Dann also kam der kritische Tag, der Tag vor der Hochzeit, da er die australische Schautruppe besuchte. Ach, er hatte sich ja schon so oft danach gesehnt, wieder einmal sich auf ein Pferd zu schwingen; jede Pistole übte eine wahre Anziehungskraft auf ihn aus, und als er nun die wilden Gestalten über die grüne Fläche jagen sah ... doch wir brauchen es wirklich nicht zu wiederholen.

Nur einmal noch hatte er seine frühern Kollegen sprechen wollen. Die Zecherei war nicht beabsichtigt gewesen. Das aber brachte ihn um den Verstand. Und dann tauchte eine andre Frage in ihm auf: war er, ein ehemaliger Räuber und Mörder, denn berechtigt, ein unschuldiges Wesen an sich zu ketten? Konnte er nicht doch noch einmal erkannt werden?

Also floh er lieber gleich jetzt. Hauptsächlich aber, der Schreiber gestand es ganz offen, war es doch die unbändige Sehnsucht nach seinem frühern Leben in zügelloser Freiheit, nach dem australischen Busch.

Er brauchte Geld. Er ging in das Geschäft und räumte den Geldschrank aus. Nun war das Eis gebrochen. Der Löwe hatte Blut geleckt. Er begab sich noch einmal nach der Wohnung, erbrach den Sekretär und den Schreibtisch, beim Anblick des prächtigen Revolvers geriet er vollends in einen wollüstigen Taumel.

»Ich war von Sinnen, ich wußte nicht, was ich tat. Dabei drängte mich etwas, die Brücke hinter mir vollends abzubrechen, auf daß die, die mich bisher geliebt hatten, verächtlich von mir denken sollten.«

Das waren also genau dieselben Worte, deren sich Nobody bedient hatte, als er diese Handlungsweise definierte.

Auch im übrigen hatte Nobody richtig kalkuliert. Parcy ließ sich den Vollbart abnehmen, da gewahrte er, wie ähnlich er doch jenem bekannten Detektiv sah, und da führte er jenen Gaunertrick aus – nein, keinen Gaunertrick, sondern ein echtes, verwegnes Räuberstückchen. Nur allein die Gefahr war es, die ihn dazu reizte. Er hoffte, daß ihn jener Detektiv verfolgen würde.

Zu seiner Sicherheit wollte er die Ueberfahrt nach Australien als Kohlenzieher mitmachen.

Während der schweren Arbeit kam er wieder zur Besinnung, er sah, was er in einem Augenblicke der blinden Leidenschaft alles verloren hatte, der grenzenloseste Jammer erfaßte ihn, und ...

»Euch wage ich nicht einmal um Verzeihung zu bitten. Ich gehe jetzt, um vor den Richterstuhl Gottes zu treten.«

 

Hiermit ist unsre Erzählung aus. Nobody konnte wieder nach New-York fahren und dem Mr. Kell das Ende seines einstigen Schwiegersohnes in spe melden.

Aber auf Nobody machte dieser unerwartete Schluß einen ganz besondern Eindruck.

»Armer Kerl, ich hätte ihn so gern gerettet.«

Dieser Gedanke war es, der ihn während der ganzen Rückfahrt beherrschte, und ... der sonst so heitere Nobody schien ein schwermütiger Mensch werden zu wollen.

Er wußte selbst nicht warum, er fühlte sich mit jenem unglücklichen jungen Manne in so verwandtschaftlicher Beziehung, dem Charakter nach, und nun eben hatte dieses Ende seines Doppelgängers einen ganz gewaltigen Eindruck bei ihm hinterlassen.

Jedenfalls war Nobody während der ganzen Reise für keinen Menschen zu sprechen, er floh nach dem einsamsten Teile des Schiffes, um die aus dem Salon schallende heitere Musik nicht hören zu müssen, sie war ihm eine Qual.

Mr. Kell sah er nicht mehr. Er teilte ihm alles schriftlich mit. Wie er hörte, verkaufte Mr. Kell sehr bald die Limonadenfabrik und siedelte mit seiner Familie nach dem Innern über, wohl auf ein Landgut.

Einige Jahre später las Nobody in der Zeitung, daß sich Miß Carryl Kell mit einem New-Yorker Arzte vermählt habe, und dann sah er sie einmal selbst, zum ersten Male, als junge Mutter, sie sah sehr glücklich aus, und die Mama als Schwiegermutter des berühmten Arztes sehr stolz.

Sie schienen den Fall also nicht besonders tragisch genommen zu haben. Jedenfalls hatten sie alles vergessen. Der alte Kell war unterdessen gestorben. Wohl ihnen!


 << zurück weiter >>