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Sechstes Kapitel.

Am nächsten Morgen war Dr. Britton schon fort, als die kleine Gesellschaft sich zum Ausritt aufmachte. Chick war wieder bei ihnen. Mit einem siegreichen Lachen war er zu ihnen auf die Veranda getreten. Percy war zusammengezuckt, als er das freudige Aufstrahlen in Ruths Augen bei Chicks Anblick bemerkt hatte. Sein Mund preßte sich zu einem schmalen Strich zusammen. Jetzt unterhielt sich auch noch Ruth ausschließlich nur mit diesem hergelaufenen Kerl! Das hieß, sie sprach und er hörte ihr zu; dabei senkten sich seine Augen in die ihren.

Percy tobte innerlich. Anstatt daß sich Ruth diese Frechheit verbat, schien sie ihr noch zu gefallen, denn sie lachte ihn mit ihren blitzenden, blauen Augen freundlich an. Percy fand, daß sie das sogar herausfordernd tat. Er atmete direkt erleichtert auf, als es endlich hinaus zu den Pferden ging.

Zwei Cowboys standen draußen, für Ruth hielt der eine die Stute bereit, die unter dem Sattel einen nervösen Eindruck machte.

Im ersten Moment wollte sie die Stute fortsenden und sich ein anderes Pferd bestellen. Dann aber siegte doch die Freude, ein so schönes, edles Tier zu reiten. Außerdem – warum sollte sie sich durch das Benehmen ihres Verwalters um eine Freude bringen lassen?

»Miß Harries, das ist doch Jeds Stute?« fragte Thick; als sie bejahend nickte, fuhr er fort: »Reiten Sie sie bitte noch nicht, überlassen Sie mir erst das Pferd.«

»Auf keinen Fall, Mr. Chick, wenn einer sie reitet, dann ich, sonst keiner.«

Achselzuckend ließ Thick sie gewähren, hielt sich aber an ihrer Seite, als sie zur Stute schritt, die ihnen mit mißtrauischen Augen und flach an den Kopf gelegten Ohren entgegensah.

Als Ruth die Hände ausstreckte, um die Zügel zu ergreifen, zeigte ›Mary‹ ihre Zähne und schnappte plötzlich nach Ruth; sie sah dabei direkt abstoßend häßlich aus.

»Ja, nicht von vorn an das Pferd herantreten, Miß Harries,« rief Lew, »von der Seite!«

Ruth versuchte, Lews Rat zu befolgen. Chick hielt nun das Pferd. Als die Stute merkte, daß es ernst wurde, schlug sie um sich und sprang, seitwärts ausschlagend, hin und her. Dadurch wurden die anderen Pferde auseinander gedrängt, und es gab einen allgemeinen Wirrwarr.

Plötzlich sah Ruth, wie an Chicks Stirn die Zornader schwoll, genau wie sie es schon einmal an ihm gesehen hatte. Er griff hart in die Zügel und machte Anstalten, auf das Pferd zu springen.

»Halt, Mr. Chick!«

Chick hielt sofort in seinem Beginnen ein.

Ruhig wandte sich Ruth an einen der Leute, die die übrigen Pferde hielten.

»Bringen Sie das Pferd fort und sofort ein anderes für mich!« befahl sie. Irgendwie war es Ruth nicht recht, als sie sah, daß Chick Jed Corners edles Pferd zwingen wollte. Mit großer Bereitwilligkeit befolgte der Cowboy ihren Auftrag. Ruth meinte sogar, ein befriedigtes Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen.

Sie war maßlos ärgerlich. Meinte sie doch nun zu wissen, warum Jed Corner ihr die Stute so bereitwillig zur Verfügung gestellt hatte. Er wollte ihr wohl eine Lektion erteilen; sie wollte es sich merken und beschloß, bei Gelegenheit sich daran zu erinnern.

Gleich darauf wurde ihr ein anderes Pferd gebracht, das nicht im entferntesten so edel war, wie die Stute.


Will Meßter stand bei seiner Tochter Helen.

»Acht Tage, Helen,« sagte er gerade.

»Kannst ruhig nach Denver gehen; ich passe schon auf alles hier auf, Vater.«

»Hm, darüber habe ich auch keine Sorge, Helen. Rechne nur abends die Bücher durch, ich bringe gleich die Löhnung für die Leute mit.« Er zögerte, ehe er weitersprach, sein besorgter Blick streifte Helen.

»Helen – Du gefällst mir in den letzten Tagen nicht. Du bist zerstreut und fahrig und siehst auch nicht so wohl aus wie sonst. Fehlt Dir etwas? Kann ich etwas für Dich tun?«

Ruhig sah Helen ihren Vater an: »Ich danke Dir, nein.«

»Helen, macht Dir Chick Langwool Sorge?«

Helen wechselte die Farbe, tapfer sagte sie: »Ja, Vater!«

Will nickte. »Hast ihn gern, nicht wahr, Helen?«

Sie wandte ihr Gesicht ab; keine Antwort war in diesem Falle auch eine.

»Paß nur gut auf, mein Döchting!« sagte er zweideutig und schwang sich auf den Wagen, der ihn nach Denver bringen sollte. Er ergriff die Zügel und nickte Helen freundlich zu. Sie winkte ihm lachend nach, bis sie ihn nicht mehr sah.

Dann wandte sie sich ins Haus zurück. Jetzt legte sich wieder ein ernsthafter, grübelnder Ausdruck über ihr Gesicht, der aber sofort wich, als Majorie ihr im Hause entgegentrat.

»Majorie,« rief sie sie an, und ihre Stimme klang frisch und lebhaft wie immer, »da Dein Bruder uns zu seinem Ausritt nicht mitgenommen hat, habe ich unsere Pferde bestellt, und wir machen auf eigene Faust einen Ausflug.«

»Ist recht, Helen; dazu hätte ich auch Lust.«

Unter Lachen und Scherzen ritten sie davon. Beide verschwiegen sie sich gegenseitig ihre geheime Sorge um Chick.


Es war schon fast Mittag, und es wurde fürchterlich heiß, als sich Ruth mit ihren Freunden auf dem Heimweg befand. Viel hatte Ruth gesehen, aber noch nicht ein Viertel von dem, was zur Ranch gehörte, wie Chick lachend gesagt hatte. Einmal meinte sie auch, von weitem Jed Corner gesehen zu haben. Sie waren aber nicht zu ihm herangeritten, und auch er, trotzdem er sie bemerkt haben mußte, machte keine Anstalten, sie zu begrüßen. Ruth fand sein Benehmen immer unerhörter.

Daß Jed Corner ihr gern selbst die Ranch gezeigt hätte, sich aber nicht aufdrängen wollte, kam ihr nicht in den Sinn.

Eben ritten sie eine Anhöhe, die von niedrigem Gestrüpp und Kiefern umgeben war, hinunter, als gleich ihnen von der Anhöhe zwei Reiter kamen, die ihren Weg kreuzen mußten. Ruth sah, daß sie zwei Mädchen vor sich hatten.

»Zwei Amazonen!« rief Desmond aus. »Ist es nicht gefährlich für Mädchen, auf diesen weiten, einsamen Strecken allein zu reiten«? fragte er.

»Nein!« entgegnete ihm lachend Chick. »Besonders nicht, wenn das eine der Mädchen Helen Meßter ist; die andere ist meine Schwester,« setzte er hinzu.

»Ihre Schwester?« rief Ruth. »Mister Chick, die haben Sie uns ja unterschlagen! Machen Sie uns bitte miteinander bekannt.«

Niemand bemerkte, als sie auf die beiden zuritten, daß Lew Forest erblaßte und zurück blieb.

Zu gleicher Zeit gelangten sie an einem Kreuzweg an; alle verhielten ihre Pferde.

»Majorie, Helen, – Miß Harries möchte Euch kennen lernen!«

Chick stellte vor. Freundlich reichten sie sich die Hände; prüfend ruhte Helens Blick auf Ruth Harries.

Chick sah sich um.

»Da war doch vorhin noch einer!« rief er lachend.

»Hier!« er winkte Lew Forest zu, der nun wohl oder übel heranreiten mußte. »Eine Überraschung für Euch – Lew Forest.«

Da Chick zufällig gerade Majorie ansah, sah er sie eine heftige Bewegung machen; dann zog eine tiefe Blässe über ihr Gesicht. Chick blinzelte mit den Augen. Was war das –? Blitzschnell schossen ihm die Gedanken durch den Kopf. Wie war es noch vor vier Jahren gewesen? Ein Verstehen zuckte plötzlich in seinen Augen auf, er schnalzte mit der Zunge. Seine Augen blitzten, als er sich nun an Lew wandte.

»Ihr seid doch miteinander schon bekannt?« fragte er gedehnt.

Keiner außer Helen nahm die Veränderung bei Chick wahr, sie hatte seinen Blick von Majorie auf Lew wechseln gesehen. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie; als einzige war sie Chicks Gedankengang gefolgt. Eine unerklärliche Angst preßte ihr das Herz zusammen; ihre Augen ließen Chick nicht mehr los.

Alle andere Aufmerksamkeit galt Lew seit sie den Ausruf vernommen hatten: Ihr seid doch schon miteinander bekannt? Erstaunte und fragende Blicke ruhten forschend auf ihm.

Lew, der sich plötzlich im Mittelpunkt sah, ritt entschlossen heran und blieb vor Majorie halten.

»Guten Tag. Majorie,« sagte er leise »wie geht es Dir?«

Majorie hatte ihm gefaßt entgegengesehen; niemand konnte ihr mehr die eben gefühlte Erregung anmerken. Ruhig reichte sie ihm nun die Hand hin.

»Guten Tag, Lew! Gut geht es mir, und wie ist es Dir in den Jahren ergangen?« Nur ein kaum vernehmbares Beben färbte ihre Stimme dunkler.

»Es geht, Majorie! – Guten Tag, Helen!«

»Guten Tag, Lew! Erinnerst Du Dich wirklich noch alter Jugendkameraden? Wie freue ich mich, Dich wieder zu sehen; Vater wird sich auch riesig freuen.« Sie sprach lebhaft, um Chicks Aufmerksamkeit von Majorie auf sich zu lenken.

»Mr. Forest, Sie sind hier beheimatet und das haben Sie uns verschwiegen!« rief Ruth staunend aus. »Ja, Miß Harries. Fragen tat mich von ihnen niemand danach und außerdem –« eine Handbewegung beendete seine unvollständige Antwort.

Während sie nun wieder anritten, mußte Lew ihnen Auskunft geben. In kurzen Worten gab er Bescheid auf ihre Fragen. Sie vernahmen, daß er in Wilhelmstone geboren und bis vor vier Jahren hier gelebt hatte.

Chick war völlig verstummt. Helen beobachtete ihn und sah, wie hinter seiner Stirn seine Gedanken arbeiteten; sie erzitterte bei den Blicken, die er ab und zu Lew zuwarf.

Vor der Ranch trennte man sich. Wieder war es nur Helen Meßter, die bemerkte, daß bei dem hin und her des Abschiedes Chick an Lews Pferd herantritt.

»Heute abend sehen wir uns wohl am Silberbach, Lew Forest?« sagte er leise.

Es klang mehr wie ein Befehl als eine Frage. – Helen sah Lew zusammenzucken; sein Gesicht erstarrte, da nickte er Chick stillbejahend mit dem Kopfe zu, als ob etwas eingetroffen, was er schon erwartet hatte.

Schweigend wurde von Majorie, Chick und Helen der Ritt nach der Meßter-Ranch beendet. Jeder von ihnen war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

In Helens Kopf ging es wie in einem Mühlenrad herum. Nur ein Gedanke stammelte sie immer wieder: Um Gottes willen, Chick und Lew! – Das mußte verhütet werden; sie durften nicht aneinander geraten. In welche Unannehmlichkeiten würde sich Chick stürzen, daran dachte er wohl keinen Augenblick! ging es Helen durch den Kopf. Und dann – Lew. Helen zergrübelte sich noch beim Mittagessen den Kopf darüber. Sie wußte sich im Augenblick keinen Rat; nur das eine stand bei ihr fest, daß etwas geschehen müßte, um ein Treffen der beiden zu verhindern. Helen war sich voll bewußt, was Chicks Aufforderung an Lew heute Abend bedeutete. Sie nahm alle Energie zusammen, um ruhig und klar darüber nachdenken zu können.

Gleich nach dem Essen, Chick rauchte noch seine Zigarette, erhob sie sich plötzlich.

»Majorie, ich habe Kopfschmerzen und muß mich wohl einen Augenblick hinlegen. Begleitest Du mich nach oben?«

Erstaunt sah Majorie sie an. Kopfschmerzen? Das kannte sie nicht an Helen. Sie erhob sich sofort.

»Hoffentlich ist es nicht schlimm,« fragte sie besorgt im Hinausgehen. Helen schüttelte nur stumm den Kopf.

In Helens Zimmer angekommen, deckte Majorie ihr Bett hilfsbereit ab. Als sie sich umschaute, ob Helen bereit war, sich hinzulegen, sah sie, daß Helen noch an der Tür gelehnt stand und sie mit seltsamen Augen ansah.

»Helen!« rief sie sie an.

Es war, als ob Helen erwachte. Sie strich sich über die Augen und ging auf Majorie zu und drückte sie stillschweigend auf einen Stuhl; dann nahm sie ihr gegenüber Platz.

»Majorie, verzeih, aber ich habe gar keine Kopfschmerzen. Das war nur eine kleine Kriegslist, um Dich hierher zu mir herauf zu bringen. Ich mußte Dich ungestört sofort sprechen.«

Mit Staunen folgte sie Helens Rede.

»Majorie,« begann Helen wieder und sie sah Majorie fest an, »heute appelliere ich an Deine Freundschaft. Ich brauche Dein Vertrauen und Deine Liebe zu mir. Majorie – was ist zwischen Dir und Lew Forest?«

Majorie riß es von ihrem Stuhl hoch.

»Nichts, gar nichts!« stieß sie aus, um sich sofort wieder zu fassen. »Was soll Deine merkwürdige Frage, Helen?«

»Bitte frage mich nicht, aber habe Vertrauen zu mir!«

Langsam ließ sich Majorie wieder auf ihren Stuhl sinken.

»Majorie, sind wir nicht Freundinnen?« Als sie bejahte, fuhr Helen eindringlich fort. »Erzähle mir bitte alles. Frage nicht warum, aber daß es nicht müßige Neugier ist, was mich Dich fragen läßt, kannst Du Dir doch denken.«

Eine ganze Weile herrschte Stille zwischen ihnen. Majorie sah durch das Fenster. Helen störte sie nicht und ließ ihr Zeit, plötzlich fing Majorie leise an zu sprechen.

»Es ist nichts zu erzählen, Helen. Als ich vor Jahren zu Euch kam, verkehrte Lew als Dein Jugendfreund doch fast täglich hier. Bald hatte ich das Gefühl, daß er nur um meinetwegen käme. In seinen Augen las ich es, und seine Hand gab mir ein stillschweigendes Versprechen.

»Du weißt es selbst, Helen, eines Tages war er auf und davon. Nichts hörten wir mehr von ihm. Keine Nachricht gab er. Nicht einmal, ob er lebte, wußten wir. Helen, wie habe ich gegrübelt, was ihn damals veranlaßte, ohne ein Wort der Erklärung, warum er ginge, und ohne Abschied von uns zu nehmen, fortzugehen. Ich fragte mich, ob es meine Schuld war, fand aber nichts, was mir sein Verhalten erklären ließ.

»Es tat mir weh, Helen. Ich habe unendlich darunter gelitten und hoffte, schon vergessen zu haben.«

»Heute, Helen,« wie Aufschluchzen klang es, »als ich ihn so plötzlich vor mir sah, stand alles wieder in mir auf; jetzt stehe ich erst recht vor einem Rätsel. Wie kommt er zu denen dort?« Majorie reckte sich hoch, und stolz stand sie vor Helen. »Das ist alles, Helen! Im übrigen ist kein Wort zwischen uns gefallen, das uns bindet. Er ist so frei wie ich. Und wenn ich Dich nun um eines bitten darf, laß uns nie und niemals wieder darüber sprechen.«

Helen stand auf.

»Ich danke Dir für Dein Vertrauen. – Du weißt, Majorie, daß Du auch stets mein volles Vertrauen haben würdest.«

Majorie war im Begriff hinunter zu gehen, als sie Helen fragte: »Helen, kommst Du mit?«

»Nein! Ich reite aufs Feld. Ich möchte heute allein sein. Freust Du Dich nicht, Chick auch einmal für Dich allein zu haben, Majorie?«

»Ja, wenn er bei mir bleibt, Helen, was man ja bei Chick nie weiß.«


Jed Corner beschattete die Augen. War das nicht Helen Meßter, die da auf ihn zugesprengt kam. Er winkte ihr; sie hielt jetzt direkt auf ihn zu. Schmunzelnd sah er, wie sie mit ihrem Pferd elegant eine kleine Einzäunung übersprang, anstatt darum herum zu reiten; jetzt nahm sie einen breiten Graben, noch einen Sprung über die Einzäunung, und sie parierte ihr Pferd mit einem Ruck vor ihm, daß es sich auf die Hinterhand setzte.

»Bravo!« rief Jed ihr anerkennend zu.

Von dem Ritt erfrischt, lachte ihn Helen freundlich an: »Das ist famos, Jed, daß ich Euch noch hier draußen antreffe! Ich suchte Euch.«

»Wo brennt es denn, Helen?«

»Ja, Jed, es brennt wirklich! Der Rotfuchs geht um.«

Bei diesen geheimnisvoll klingenden Worten sprang Helen von ihrem Pferd, um sich vor Jed mit gekreuzten Beinen niederzulassen. Dieser folgte ihrem Beispiel und sah Helen auffordernd an.

»Jed,« ihre Reitgerte pfiff durch die Luft, als ob sie einen unsichtbaren Gegner vor sich sehe, »diese Fremden!« stieß sie aus.

Erstaunt sah Jed sie an. Was hatte Helen Meßter gegen diese Fremden? Würde er sie danach gefragt haben, hätte Helen ihm selbst wohl keine genügende Antwort darauf geben können, im Augenblick sah sie alle Schwierigkeit in der Ankunft Ruths und ihrer Freunde.

»Die gehören ja gar nicht hierher in unsere Steppe!« stieß sie immer noch erregt aus. Ihr Näschen schnupperte in der Luft, und sie atmete in tiefen Augen die würzige Luft ein.

»Wart Ihr bisher bei dem Vieh, Jed?« fragte sie plötzlich wieder ruhig.

»Ja, Helen!«

Bewunderung sprach aus ihren Augen.

»Ihr seid immer der erste und der letzte.«

»Das war Oliver Jolivet auch« sagte er sinnend.

»Ja, Jed – Wie lange ist es eigentlich her, daß Ihr bei Jolivet eintratet?«

»Laßt mich einmal nachzählen. Bald werden es zehn Jahre.«

»Eine lange Zeit, Jed! Und so lange kennen wir uns nun auch schon!« Helen sprach verträumt. »Ich erinnere mich noch als kleines Kind ganz deutlich an Oliver Jolivet. Mit ihm ist wohl die alte, gute Zeit hier dahingegangen. Ich hatte immer eine ehrfurchtsvolle Scheu vor Jolivet, trotzdem er stets nur lieb und gut zu mir war. Ich glaube, Jed, Oliver Jolivet konnte gar nicht böse sein.«

»Was heißt böse, Helen; jedenfalls war er ein seltener Mensch, und besaß für jeden Verständnis, er war ein ausgezeichneter Menschenkenner.«

Helen sah den ruhig bei ihr sitzenden Jed versonnen an.

»Jed,« sagte sie »ich glaube, ihr ähnelt ihm.«

»Nein, Helen! Dafür bin ich auch noch zu jung; aber – ich möchte ihm einmal ähneln, doch das wird mir kaum gelingen.«

»Warum nicht, Jed?«

»Weil mein Leben wohl einen anderen Weg gehen wird, Helen.«

Dieser leis gegebenen Antwort grübelte Helen nach.

»Jed, wie alt seid Ihr eigentlich?« unterbrach sie das Schweigen.

»Das habe ich fast vergessen. Aber wartet mal – dreißig Jahre bin ich.«

»Man kann Euch schlecht taxieren, Jed.«

Wieder entstand eine Pause.

»Jed,« nur zögernd drang es zu ihm herüber, »zu Euch habe ich unbedingtes Vertrauen. Ihr müßt mir helfen.«

Jed Corner sah zwei bange Augen auf sich gerichtet, aus denen offene Verzweiflung sprach.

»Helen!« sagte er betroffen. Er war innerlich erschüttert, die immer lustige und sich selbst helfende Helen plötzlich in dieser Verfassung zu sehen.

»Ja, Jed, ich weiß mir keinen Rat mehr,« klang es verzweifelt zurück.

»Was kann ich für Euch tun?«

»Es handelt sich um – Chick«, nur leise sprach Helen den Namen aus.

»Um Chick?«

»Ja!« Helen nickte mit dem Kopf, um lebhaft fortzufahren: »Der Draufgänger will schon wieder etwas anstellen. Glaubt Ihr, Jed,« wandte sie sich heftig an ihn, »daß er nur einmal darüber nachdenkt, in was für Unannehmlichkeiten er sich und andere bringt? Nein, er handelt immer nur genau so, wie der Augenblick es ihm eingibt.«

Um Jeds Mundwinkel zuckte es belustigt.

»Helen, glauben Sie nicht, daß Chick Langwool alt genug ist, um so zu handeln, wie er es für richtig hält?«

Im Augenblick sah ihn Helen betroffen an.

»Ja, vielleicht,« gab sie kleinlaut zu, »und doch – hört Jed, Chick wird heute Abend mit Lew ein Treffen haben,« setzte sie leise hinzu.

Jed Corner konnte nun doch nicht eine erstaunte Bewegung unterdrücken.

»Seht, Jed, jetzt müßt Ihr doch auch sagen, daß er nicht überlegt, was er tut,« meinte sie beinahe triumphierend.

»Helen, das kann ich nicht beurteilen. Ich kenne nicht Chicks Gründe.«

»Die sind nur eingebildeter Natur«, rief Helen heftig.

Jed zuckte mit den Achseln, plötzlich fiel ihm ihre Bitte ein.

»Und warum erzählt Ihr mir das, Helen?«

»Weil Ihr das verhindern sollt!« kam prompt die Antwort.

»Das wird wohl nicht gehen, Helen.«

»Jed, das müßt Ihr!« Riesengroße Angst schaute ihn plötzlich wieder aus ihren dunklen Augen an. Helen sprach flehend weiter: »Jed, Ihr seid meine einzige Hoffnung. Es gibt ein nicht wieder gut zu machendes Unglück.«

»Dann muß ich vorerst Chicks Gründe zu diesem Treffen mit Lew wissen, Helen,« sagte er energisch.

Sie seufzte auf: »Das ist nicht so leicht erzählt. Aber ich sehe ein, daß Ihr klar sehen müßt.« Einen Augenblick überlegte Helen, dann fing sie an zu sprechen; dabei aber vermied sie, ihn anzusehen.

»Chick nimmt an, hervorgerufen durch Majories Benehmen, daß Lew Forest Majorie unglücklich gemacht hat.

»Ich kann es nicht beurteilen, aber sicher hatte Majorie recht anzunehmen, daß sie Lew nicht gleichgültig war. Als Lew Forest für uns alle so unerwartet verschwand, traf es Majorie am tiefsten.

»Nichts ist zwischen ihnen vorgefallen, was Chick berechtigte, gegen Lew vorzugehen. Aber Lew scheint, auch Majorie nicht vergessen zu haben, denn nur so kann ich es verstehen, daß er sofort auf Chicks Vorschlag einging. Vielleicht denkt er, Majorie habe sich bei Chick beklagt, aber nichts liegt ihr ferner, als das. Sie weiß sogar nichts davon. Darum, warum Jed, sollen sich Chick und Lew nun unglücklich machen?

Es kann nicht gut ausgehen, so oder so nicht! Denn schießt Chick Lew zusammen, wird Majorie tief unglücklich, und der Sheriff wird sich mit Chick befassen. Sollte der Fall umgekehrt sein, dann ist Majories Lebensglück auch vernichtet. Jed, Ihr müßt uns helfen! Ich wußte mir keinen anderen Rat, darum habe ich Euch aufgesucht; niemand weiß etwas davon.«

Aufatmend schloß Helen. Sie war in der Erregung aufgestanden und stand jetzt mit bittenden Augen vor Jed, der sich gleich ihr erhoben hatte.

»Wo wollen sie sich treffen?«

»Am Silberbach!« kam es atemlos von Helens Lippen.

Jed Corner warf seine Zigarette fort.

»Versprechen kann ich nichts, Helen. Aber ich will sehen, was ich tun kann.«

»Ich danke Euch, Jed!«

Bergeslast fiel von Helen. Sie hatte so viel Zutrauen zu Jed, daß es ihr jetzt schon war, als ob die Angelegenheit geregelt sei.

Aufatmend sprang sie auf ihr Pferd, und in ruhigerem Tempo, als sie hergeritten war, ritt sie mit Jed zurück. Kein Wort mehr wurde zwischen ihnen in dieser Sache gewechselt.


Es war kurz nach dem Abendessen, als sich Lew Forest erhob und sich an Ruth wendend bat, ihn heute abend zu entschuldigen.

Bis er die Stube verlassen hatte, sahen sich die Zurückgebliebenen einen Augenblick schweigend an, bis Eveline herausplatzte:

»Wer hätte das geahnt, Lew Forest ein geborener Texaner! Hie und nimmer hätte ich das für möglich gehalten!«

»Warum eigentlich nicht, Eveline?« entgegnete ihr Ruth. »Wir kannten ihn doch sehr wenig. Er ist ja stets gegen uns verschwiegen gewesen, und auch jetzt noch spricht er nicht über sich.«

»Fast jedes Wort muß man ihm mit der Zange herausholen!« meinte Desmond.

»Lew Forest in diesem Nest geboren!« lacht Percy auf. »Ha, was soll hier schon besonders herkommen.«

Mißbilligend sah Ruth ihn an.

»Kommt, laßt uns von etwas anderem reden!« schlug sie vor.

»Aber Ruth, den meisten Menschen macht es doch ungeheures Vergnügen, über andere loszuziehen!« lachte Desmond gutmütig spöttelnd, um dann sofort auf ein anderes Thema überzugehen. Ruth warf ihm einen dankbaren Blick zu. – –

Indessen ritt mit tief gesenktem Kopf Lew Forest Schritt für Schritt dem Silberbach entgegen. Er wußte, was ihn dort erwartete. Keinen Augenblick kam ihm der Gedanke, ob Chick auch ein Recht dazu hätte, ihn zu stellen; sprach er sich selbst doch schuldig. In Majories Augen hatte er ihre Zuneigung für ihn gelesen, und alles getan, diese noch zu steigern; glaubte er damals doch, seinen Weg genau zu kennen, der ihn einmal mit Majorie vereinen sollte.

Dann war ihm plötzlich die Nachricht ins Haus geflattert! – Sein Onkel rief ihn. Er kannte den reichen Anthony Charper nicht. Seine Mutter hatte oft von ihm gesprochen und erzählt, und ihn als Musterbeispiel dargestellt. Wie litt sie doch oft unter Lews Vater, dessen ungestümes Leben ihm den Namen Revolverbill eintrug,

Der Onkel Anthony Charper war der Bruder der Mutter und wohl das Gegenteil von Lews Vater. Früh hatte er die Heimat verlassen und in New York sein Glück gemacht. Sagenhaft war ihm nach den Erzählungen der Mutter dessen Reichtum erschienen, von dem die Mutter nur immer im leisen, achtungsvollen Tone sprach, so daß Lew schon als Kind einen ungeheuren Respekt vor seinem Onkel Anthony Charper hatte.

Wie hatte er lange benommen auf den Brief gestarrt, der ihn in einem ziemlich herrischen Tone aufforderte, sofort und ohne Verzögerung nach New York zu kommen, da sein Onkel keinen Erben besäße und ihn als Erben einsetzen wolle.

Ohne von irgendjemanden Abschied zu nehmen, war er dem Rufe gefolgt. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, noch einmal in Majories Augen zu sehen.

Die vier Jahre in New York sah Lew noch einmal vorüberziehen. Glücklich war er in den Jahren nicht geworden. Er, der an ein freies Leben gewöhnt war, mußte sich dem Willen Anthony Charpers beugen. Manchmal hatte er revoltieren wollen; er meinte seines Vaters Augen verächtlich auf sich ruhen zu sehen, dem nichts so hoch stand wie seine persönliche Freiheit.

Anthony Charper mußte wohl glauben, ihn fest in seiner Hand zu haben, sonst hätte er ihn wohl kaum hierher gelassen.

Als er auf der nächtlichen Wagenfahrt den Hauch der Steppe wieder verspürte, war es ihm, als erwachte er aus einem Alptraum. Lew wußte, daß er in diesen Tagen seinen Weg wiedergefunden hatte. Wohin er ihn führen würde, ahnte er nicht; aber eines stand fest, niemals wieder zurück, hier war er geboren, und hier gehörte er hin; im Gegensatz zu seinen Freunden, die nach New York gehörten und sich hier wohl kaum ein Leben denken konnten.

Lew ging zum ersten Male das Wort Heimaterde auf. Er hätte sich ins Gras werfen mögen, um die Erde, seine Erde zu fühlen. Heute wußte er, daß er mit allem hier verwachsen war, und daß ihn seine Heimat niemals wieder loslassen würde. –

Plötzlich wurde Lew aus seinen Gedanken gerissen. Sein Pferd war stehen geblieben. Nun hielt er am Silberbach, langsam ritt er, dem Laufe des Wassers folgend, an demselben hinauf.

Er hielt Umschau; von Chick war nichts zu sehen. Seine Gedanken suchten Majorie. Ob sie wohl noch seiner gedachte? Aber jetzt war alles gleichgültig und zu spät. Bitter war es, sich das einzugestehen. In Lew regte sich der Wille zum Leben mit fast übermenschlicher Gewalt. Aber Chick würde wohl ernst machen, und ob er ihm gewachsen war, schien noch sehr zweifelhaft. Trotzdem kam Lew nicht einen Augenblick der Gedanke, dieser Begegnung auszuweichen.

»Guten Abend!«

Eine Stimme riß ihn plötzlich gewaltsam aus seinen Gedanken. Chick stand lässig an einem der Bäume am Bach, eine Zigarette hielt er lose im Munde. Lew sprang vom Pferd.

»Habt Ihr Euer Testament gemacht, Lew Forest?« redete ihn Chick an; dabei strich er lässig die Asche von der Zigarette ab.

»Was kümmert's Euch, Chick Langwool. Was wollt Ihr von mir?«

»Ich kann Euer Gesicht nicht leiden, Lew Forest. Und glaube, daß einer von uns zuviel hier ist.«

»Wie Ihr wollt, dann kann ich ja gehen!«

Trotz seiner Worte blieb er stehen und sah in Chicks blitzende Augen.

»Bei drei,« sagte Chick.

Lew nickte.

Langsam zählte Chick: »Eins, zwei – drei!«

Bei drei flogen ihre beiden Revolver aus der Halfter. Zwei Schüsse klangen auf. Lew fühlte einen Schlag durch seinen Körper, er wankte, blieb aber aufrecht stehen. Chick nickte.

»Noch klar?« fragte er.

»Ja!« entgegnete Lew fest.

»Eins – zwei –«

»Halt!«

Beide fuhren herum. Zu sehr mit sich selbst beschäftigt, hatten sie auf nichts anderes geachtet. Jed Corner stand vor ihnen.

»Was habt Ihr für ein neues, reizendes Spiel hier?« sagte er leicht. »Kann man da mitmachen?«

Chick beherrschte sich nur mühsam.

»Es wäre besser, Ihr ginget, Jed Corner!« kam es scharf über seine Lippen.

»Im Gegenteil, ich fühle mich hier äußerst wohl, Chick Langwool!« Jed sprach in leichtem Plauderton weiter.

»Meinetwegen!« stieß Chick aus.

Seine Hand fuhr nach seinem Gürtel, worin sofort wieder der Revolver nach dem abgegebenen Schuß gesessen hatte. Lew stand bereit, er war auf der Hut.

»Hände vom Halfter!«

Bei diesem scharfen Ton durchzuckte es beide. Sie sahen zu Jed, der ohne Waffen vor ihnen stand; nur seine Hände stützten sich leicht auf den Hüften.

»Ihr habt Euch geschossen, nun ist es genug. Sonst mache ich die Sache zu meiner, Chick Langwool!«

»Wenn schon!« Chick war rappelköpfig. Jetzt war er in Stimmung, mit der ganzen Welt anzubandeln.

In diesem Augenblick war es, daß Lew alles schwarz vor Augen wurde. Er wankte und brach zusammen.

Eben so schnell stand Jed neben ihm.

»Lew,« rief er erschrocken, kniete neben ihm und riß ihm das Hemd auf. Er sah eine stark blutende Wunde oberhalb des Herzens.

»Chick, ein Messer!« rief er.

Trotzig trat Chick heran und reichte nur zögernd und widerwillig sein Messer.

»Feuer!« herrschte ihn Jed an.

Mit der Spitze des erhitzten Messers holte er dann geschickt die Kugel heraus, die am Schulterbein abgeglitten war.

Angefeuert durch Jed half Chick jetzt willig mit. Er eilte zum Bach und näßte ein Tuch, mit dem Jed Lew sorgfältig verband. Nur einmal stöhnte Lew kurz auf.

Jetzt neigte sich Chick zu ihm und reichte ihm aus seiner Flasche Kognak, den er stets bei sich trug.

Jed erhob sich.

»Das ist noch einmal gut gegangen!« sagte er aufatmend.

»Chick, Ihr seid ein unglaublicher Kerl!«

Chick grinste. Behutsam nahm er Lew auf seinen starken Arm.

»Ich kann allein nach Hause reiten!« stöhnte Lew auf

»Ist gut!«

Chick hob ihn in den Sattel und gab ihm die Zügel in die Hand. Dann schwangen sich auch Jed und Chick auf ihre Pferde und ritten, um Lew zu schonen, langsam an.

»Chick Langwool, Ihr reitet jetzt nach Hause!« wandte sich Jed an ihn. »Redet Ihr ein Sterbenswörtlein hiervon, dann holt Euch der Teufel in Gestalt von Sheriff Landert.«

Chick nickte Jed stumm zu und trabte gehorsam nach Hause.

Auf der Jolivet-Ranch blieb ihre Ankunft nicht unbemerkt. Draußen standen noch einige Cowboys mit Harry Elster aus dem Ort und rauchten ihre Zigaretten. Damit hatte Jed nicht gerechnet.

Lew äußerte sich leise zu Jed, daß er sich kräftig genug fühle, allein in sein Zimmer zu kommen.

Vor dem Hause verließen ihn aber zum zweiten Male die Kräfte. Er sank vom Pferde. Da er zuerst nicht auf seine Wunde geachtet, hatte ihn der starke Blutverlust zu sehr geschwächt.

Ehe noch Jed hinzuspringen konnte, waren schon die Boys bei Lew und richteten ihn auf. Mit aufgerissenen Augen sahen sie das blutdurchtränkte Hemd.

Sie stützten ihn und führten ihn ins Haus. Jed blieb zurück, jetzt war doch alles gleich, das Geheimnis war nicht mehr zu hüten. Darum sandte er auch sofort einen der Jungen zum Arzt.

Als er in den Flur des Hauses trat, sah er Ruth in der Wohnzimmertür stehen, und mit schreckensbleichem Gesicht sah sie, wie Lew, schwer auf einen der Männer sich stützend, die Treppe hinaufschritt.

Sie fuhr bei Jed Corners Anblick zusammen.

»Was soll das bedeuten?« fragte sie atemlos und in ihrer Erregung vielleicht in einem schärferen Ton, als sie es selber ahnte.

»Ach nichts, eine kleine Auseinandersetzung,« antwortete ihr Jed gleichgültig und kalt.

Als er in ihre weitgeöffneten Augen sah, erriet er ihre Gedanken.

Kurz drehte er sich um und verließ das Haus.



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