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Viertes Kapitel.

Es war gegen sieben Uhr des nächsten Morgens, als zwei Menschenkinder zu gleicher Zeit erwachten.

Das eine war Chick Langwool. Er lag minutenlang im Bett, ohne sich zu rühren. Im Augenblick wußte er nicht, wo er sich befand. Eine Wendung seines Kopfes ließ ihn leise aufstöhnen. Er fuhr sich mit seinen Händen an die Stirn.

Herrgott, hatte er einen Brummschädel! – Der verdammte Winter mit seinem Whisky; der hatte es ihm angetan!

Jetzt kam ihm langsam die Erinnerung und alles fiel ihm nach und nach auch wieder ein.

Erst hatte er furchtbar mit Winter zusammen getrunken. Später waren andere dazu gekommen, und es wurde ein Spielchen arrangiert.

Die Brüder hatten ihn ausnehmen wollen, weil sie bemerkt hatten, daß er einen ganzen Haufen Geld bei sich trug, und ihn so betrunken glaubten, daß er nichts merken würde.

Chick grinste, er hatte ihnen aber fein säuberlich heimgeleuchtet.

Ja, und was war dann gewesen? Chick grübelte nach. – Plötzlich sah er eine sehr elegante junge Dame mit goldblondem, kurzgeschnittenem Haar und blauen Augen vor sich. Chick schüttelte den Kopf; das konnte doch nicht stimmen. Jetzt sah er auch die andere Gesellschaft vor sich, die zu ihr gehörte; die hatte doch plötzlich im Tanzsaal dort gesessen. Woher sie wohl gekommen waren? grübelte Chick, und welcher Unstern sie in das Tanzvergnügen von Wilhelmstone geführt haben mochte?

Richtig, dann hatte er Krach bekommen; man hatte ihn ›betrunken‹ geschimpft. Plötzlich rötete sich Chicks Gesicht; unwillkürlich richtete er sich auf. Hatte er doch den Schimpf ungerächt gelassen? – Wie war denn das gekommen? Er sah ein paar braune Augen mit flehendem Ausdruck auf sich ruhen. Helen Meßter –! durchfuhr es ihn. Sie hatte ihn an Majorie erinnert.

Mit einem Sprung stand Chick plötzlich mitten im Zimmer. Die halbe Waschschüssel goß er sich über seinen roten Schopf. In kürzester Zeit war er fertig angezogen; zwei Sprünge, und er eilte die Treppe hinunter. Die Wohnräume unten waren leer; dafür hörte er auf der Veranda sprechen.

Jetzt verhielt er seinen Schritt. Seine Haltung verließ die freudig gespannte Erwartung und wich der altbekannten, lässigen und gleichmütigen, herausfordernden Art. So sahen ihn nun die vier Menschen auf der Veranda zu ihnen heraustreten.

Im Munde schon eine seiner geliebten Zigaretten, ohne die man sich Chick nicht denken konnte, winkte er nachlässig Majorie einen guten Tag zu. Er gab sich, als ob er Majorie gestern abend noch freundlich gute Nacht gesagt hätte, und nicht als ob es ein Wiedersehen nach vier Jahren wäre.

Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß Chicks Herz ebenso ungestüm klopfte wie Majories, die bei seinem Anblick erblaßt war.

Er reichte Will Meßter seine Hand hin und nickte Helen zur Begrüßung zu. Dann wandte er sich an den vierten, der auf der Veranda saß und ihn seit seinem Eintritt nicht aus den Augen gelassen hatte.

»Halloh, was für ein hoher Besuch!« sagte er. »Habt Ihr den jetzt öfters bei Euch Will Meßter?« wandte er sich an Helens Vater, der Chick freundlich und aufmerksam betrachtete.

»Nein, Verehrtester, der gilt Euch ganz allein!« antwortete statt Meßter der Besuch.

»Guten Tag, Sheriff!« bequemte sich Chick jetzt zu sagen.

»Guten Tag, Chick Langwool!« entgegnete Sheriff Landert.

Einen Augenblick maßen sie sich mit den Blicken, dann sprach Chick: »Ihr seid heute ja verteufelt früh auf den Beinen, Sheriff!«

»Gewiß, Chick,« erwiderte Sheriff Landert. »Ich wollte mir doch einmal den seltenen Vogel ansehen, der gestern bei Winter seinen Revolver wieder nicht im Halfter stecken lassen konnte.«

Sheriff Landert hatte bisher spöttisch gesprochen, nun nahm seine Stimme einen ernsthaften Tonfall an. »Langwool, ich warne Euch! Wenn hier etwas passiert, werde ich kurzen Prozeß mit Euch machen. – Hier,« er zeigte auf ein paar Handschellen, »die trage ich extra für Euch bei mir. – Also bringt Euch nicht in Ungelegenheiten, Langwool! Für Eure Schwester sollte es mir leid tun.«

»Eure Sorge rührt mich, Sheriff!« höhnte Chick, »aber erst müßtet Ihr einen haben, bevor Ihr ihn hängt.«

Besorgt sah Sheriff Landert in Chicks hübsches aber herausforderndes Gesicht.

»Sagt einmal,« redete er ihn wieder an, »seit wann zieht Ihr eigentlich zwei Revolver zu gleicher Zeit, Chick Langwool?«

»Seitdem ich einen zweiten geschenkt erhalten habe.«

»Geschenkt …?«

Chick achtete nicht auf die Unterbrechung, er sprach weiter. »Ihr könnt Euch beruhigen, Sheriff, das ist nur Spielerei. So ein Kunstschütze bin ich nun wieder nicht; mir genügt einer.«

Bei diesen Worten zog er blitzschnell seinen Revolver aus dem Halfter, dessen Lauf er direkt auf Landerts Brust richtete. Im ersten Augenblick zuckte dieser nervös zusammen, um dann Chick ruhig ins Auge zu sehen. Der lachte auf, und ebenso schnell verschwand sein Revolver wieder in seinem Gürtel.

»Nette Kunststücke könnt Ihr immer noch!« nickte ihm Sheriff Landert zu. Dann erhob er sich, reichte allen die Hand, wandte sich an Chick und sagte jedes Wort betonend: »Auf Wiedersehen, Langwool!«

Eine ironische Verbeugung von Chick war dessen Antwort.

Will Meßter begleitete seinen Gast hinaus. Chick ließ sich an dem Tisch nieder. Auch Helen verließ jetzt die Veranda; die beiden Geschwister blieben allein.

Majorie sah nicht den scheuen Blick, der sie streifte. Im Augenblick war sämtliche Frechheit von Chick gewichen, nur Besorgnis und Liebe sprach aus seinen Augen, mit denen er Majorie betrachtete.

»Du bist verteufelt hübsch geworden, Majorie!« stieß er aus. Er wollte wohl ein Gespräch eröffnen, aber es klang reichlich ungeschickt, wie er das Kompliment sagte.

Majorie lächelte, plötzlich stand sie neben ihm und strich ihm mit mütterlicher Geste über sein Haar.

»Chick?« sagte sie leise.

Er konnte wohl aus diesem einen Wort ihre Liebe zu ihm heraushören, denn für einen Augenblick schloß er die Augen, und Ruhe legte sich über seine ausgespannten Züge. Aber schnell schüttelte er diese Regung wieder ab, als schäme er sich ihrer.

»Majorie,« rief er lustig tuend, »nun freust Du Dich wohl Deinen alten Bruder wieder bei Dir zu haben?«

»Gewiß, Chick!«

Sie ließ sich wieder neben ihm nieder.

»Was wirst Du hier beginnen?« fragte sie ihn.

Es dauerte eine Zeitlang, bis er antwortete: »Vielleicht ansässig werden und heiraten, Majorie,« sagte er höhnisch, dabei sah sein Blick verloren in die Weite.

Beinahe wäre Helen, die eben eintrat und Chicks letzte Worte hörte, das Tablett, auf dem sein Frühstück stand, aus den Händen entglitten. Stumm stellte sie es vor ihm hin, der sich mit einem Bärenhunger darüber hermachte.


Das andere Menschenkind, das um dieselbe Zeit erwachte, war Ruth Harries.

Auch sie blieb noch ruhig liegen. Trotzdem sie nur wenig geschlafen hatte, fühlte sie sich restlos ausgeruht.

Noch lange, bevor sie gestern nacht eingeschlafen war, hatte sie mit offenen Augen im Bett gelegen. Drüben bei Corinne und Eveline war schon längst Ruhe gewesen. Sie aber hatte immer noch an das Erlebnis in dem Tanzsaal zurückdenken müssen.

Immer wieder sah sie den rothaarigen Mann vor sich und seine blitzenden grünen Augen, mit denen er sie zuletzt so seltsam durchdringend angesehen hatte.

Ein Schauer durchrann Ruth. Auch jetzt noch, heute morgen, mußte sie wieder daran denken. Sie meinte, daß noch nie ein Mann sie so interessiert hatte wie dieser.

Chick hieß der Mann, so hatte Ruth es verstanden.

»Chick«, sinnend sprach sie den Namen aus. Sie fand, daß es ein sehr hübscher Name war. Noch niemals hatte sie ihn vernommen.

Wer war nur das schwarzhaarige Mädchen gewesen, das mit ihm so kameradschaftlich umging. Und vor allem, wer war diese Majorie, die auf ihn wartete?

Fast ergriff Ruth ein Gefühl, das stark nach Eifersucht aussah.

Vorübergehend dachte sie auch an Percy. Eigentlich hatte er sich tapfer benommen, oder war es Unkenntnis der Lage gewesen?

Ruth warf entschlossen alle Gedanken fort. Sie schlüpfte aus dem Bett und ging auf das geöffnete Fenster zu. In eine von der Sonne beschienene Landschaft sah sie. Ein gut gepflegter Garten breitete sich hinter dem Hause aus. Ruth wußte nicht, wie schwer es gewesen war, diesen anzulegen und ihn durch richtige Bewässerung zu erhalten. In der Ferne sah sie die Zacken des Gebirges und die Spitze des Longbergs, der alle überragte. Dann wandte sie sich ins Zimmer zurück und begann, sich anzuziehen; sie wählte ein leichtes, duftiges Sommerkleid. Sie war noch nicht fertig, als sie von Corinne angerufen wurde.

»Ruth, bist Du auf?«

»Ja, mein Liebling!«

»Steht man immer so früh auf dem Lande auf?« klang es mit kläglicher Stimme zurück.

Ein Lachen von Ruth antwortete ihr.

»Schlaf ruhig weiter, Corinne!« rief sie zurück.

Ein unverständliches Brummen antwortete, dann hörte Ruth ein Rascheln, das ihr anzeigte, daß sich Corinne wohl doch entschlossen hatte, aufzustehen.

Ruth war nun fertig. Etwas umständlich war das Anziehen doch gewesen, denn sie war seit frühester Kindheit gewohnt, Hilfe zu haben. Aber hierher hatte sie niemanden mit haben wollen.

Sie trat aus ihrem Zimmer und lief die Treppe hinunter. Unten angekommen begab sie sich auf Entdeckungsreisen und sah in dasselbe Zimmer, worin sie sich in der Nacht aufgehalten hatten, bis sie nach oben gegangen waren. Diesem Zimmer gegenüber befand sich eine Tür; Ruth öffnete sie und sah in ein Bibliothekzimmer mit einem alten, großen Diplomatenschreibtisch vor dem Fenster. Dort setzte sie sich an den Schreibtisch nieder und sah sich um. Sie fühlte sich gleich wohl und geborgen in diesem Raum. In den großen Bücherschränken standen schöne, alte Geschichtswerke. Ruth beschloß, gelegentlich darin zu stöbern. Dann verließ sie die Bibliothek und trat nun in ein Zimmer, das wohl als Eßzimmer benutzt wurde. Schöne, alte Möbel enthielten alle Räume, heute morgen erschienen ihr die Zimmer nicht so fremd wie in der Nacht, hell und freundlich sah alles aus.

Anschließend an das Eßzimmer lag eine große, halboffene Veranda, einige Stufen führten von ihr in den Garten.

Ruth trat auf sie hinaus. Fein säuberlich war hier ein Frühstückstisch gedeckt. Jetzt verspürte Ruth auch wieder Hunger. Sie ging an die Balustrade der Veranda und sah in den Garten. Unten an den Stufen der Veranda lehnte am Geländer ein Mann, der ihr den Rücken zudrehte. Sie sah, daß er die allgemein hier übliche Tracht trug: Ein loses, weites Hemd mit einem bunten Tuch um den Hals, ein paar kräftige Lederhosen und um die Hüften einen schweren Ledergürtel, darin auch der unvermeidliche Revolver nicht fehlte. Ein breiter Hut verdeckte ihr sein Gesicht.

»Halloh!« rief sie ihn an.

Der Mann fuhr herum. Beinahe hätte Ruth vor Staunen leise aufgeschrien. Es war Lew Forest, der jetzt die Treppen zu ihr heraufkam.

Betreten schaute sie ihm entgegen. Was sollte diese Maskerade? Was ihr für die Männer hier eine Selbstverständlichkeit erschien, mutete sie bei Lew komisch an. Im Augenblick dachte Ruth: wenn nun Percy und Desmond auch so umherlaufen würden?

Sie mußte bei dem Gedanken lachen, und lachend sah sie Lew Forest entgegen.

»Mr. Forest, wo haben Sie denn nur diesen Anzug aufgetrieben? Wollen Sie nun immer so umherlaufen?« spöttelte sie leicht.

Er gab ihr keine Antwort, sondern trat auf sie zu und wünschte ihr mit ernstem Gesicht einen guten Morgen. Betroffen sah sie ihn an. Beinahe meinte sie, ihn zum erstenmal zu sehen. Seine ganze Erscheinung wirkte befremdend aus sie. Ihr fiel sein trotz seiner Jugend so ernsthaftes, in seiner Regelmäßigkeit fast strenges Gesicht auf. Zum ersten Male meinte sie seine Kühlen, dunklen Augen, das energische Kinn richtig zu sehen und sie bemerkte, wie sich schon eine harte Falte um seinen Mund gegraben hatte.

Schweigend reichte sie ihm die Hand, ohne noch eine Bemerkung über sein Aussehen zu machen.

»Verspüren Sie auch Hunger, Mr. Forest?« warf sie in leichtem Ton hin und setzte sich an den Tisch.

»Großen sogar!« erwiderte Lew. Seine Stimme klang heute merkwürdig frisch und energisch.

»Miß Harries, Sie brauchen nur mit der Klingel, die dort neben Ihnen liegt, zu schellen, und sicher wird hier jemand auftauchen, der uns den Kaffee bringt.«

Sie tat, wie Lew es ihr geheißen hatte; dabei staunte sie über seine freiwillige Redseligkeit.

Gleich darauf erschien ein Cowboy auf der Veranda, der vor Ruth eine ungeschickte Verbeugung machte und nach ihren Wünschen fragte.

»Bringen Sie bitte das Frühstück, und nachher möchte ich –« Ruth suchte nach dem Namen, den sie aber schon wieder vergessen hatte, »den Verwalter sprechen,« setzte sie dann hinzu.

Der Cowboy lachte sie freundlich an.

»Der Verwalter?« sagte er gedehnt, »Tja, das wird wohl Mittag werden, ehe der von draußen wiederkommt.«

»Hat der Verwalter denn gar nichts hinterlassen oder gewartet, bis ich auf bin?«

»Nein!« Haller schüttelte den Kopf.

Sie bezwang sich.

»Es ist gut, bringen sie dann das Frühstück!«

Der Cowboy ging. Lew Forest hatte, ohne mit einer Wimper zu blinzeln, die Szene beobachtet. Ruth wandle sich jetzt an ihn, ihre Stimme zitterte vor Empörung.

»Ich finde das Benehmen des Verwalters unerhört! – Gestern keine Entschuldigung, daß er mein Telegramm, nicht erhalten habe, scheint er heute mein Hiersein vollkommen ignorieren zu wollen. Ich kann mir ja denken, daß meine Ankunft ihm nicht paßt. Sicher hat er sich bis jetzt hier ohne Aufsicht als Herr gefühlt. Na, heute kommt ja Dr. Britton, und dann werde ich hier aufräumen. Wissen Sie, Mr. Forest, in Florida habe ich ja auch eine Farm von meinem verstorbenen Vater. Aber da geht alles am Schnürchen und fliegt alles, wenn ich komme.«

»Florida, Miß Harries? – Florida und hier – das ist auch ein Unterschied!«

Zu einer Antwort Ruths kam es nicht, denn jetzt betraten die übrigen Gäste die Veranda. Lebhaft begrüßte sie Ruth.

Die beiden jungen Damen waren wie Ruth in Sommerkleider gehüllt, die trotz ihrer Einfachheit kostbar waren, daß sie wohl in dieser Gegend auffallen konnten.

Die Herren trugen weiße Sportanzüge. Alle sahen mit Befremden auf Lew Forest; aber eine Äußerung fiel nicht darüber. Nur Desmond konnte es nicht unterlassen, Corinne eine spöttische Bemerkung über den Revolver zuzuflüstern, den Lew im Gürtel trug. Corinne mußte darüber lachen, doch Lew merkte nichts davon.

Zu gleicher Zeit wie Chick Langwool auf der Meßter-Ranch aßen sie mit Heißhunger ihr Frühstück. Dann wurde die Ranch besichtigt; sie schlenderten durch die Gebäude. Dabei war, ohne daß sie es recht merkten, Lew Forest ihr Führer, und es war erstaunlich, wie gut er sich schon hier auskannte.

Am meisten Freude bereiteten ihnen die eingezäunten Weiden mit den Pferden. Lew warnte, die Einzäunung zu betreten, da ihnen bei diesen nur halb gezähmten Tieren leicht ein Unglück zustoßen könnte. So begnügten sie sich damit, von weitem für jeden ein Pferd auszusuchen. Wenn heute ihr Gepäck ankam, beschlossen sie, gleich morgen einen Ritt durch die Ranch zu machen.

Es war fast schon Mittag, und sie saßen alle wieder auf der Veranda, um der draußen herrschenden Hitze zu entgehen, als der Verwalter zu ihnen trat.

Ruth sah ihn zuerst, heute am Tage konnte sie ihn besser erkennen als gestern in dem unsicheren Lampenlicht, wo sie noch dazu so ermüdet gewesen war.

Braungebrannt war sein Gesicht, daraus die großen, grauen Augen sahen. Es kam ihr vor, als ob aus ihnen eine große Melancholie sprach. Ruch heute wirkte er schmal auf sie trotz seiner breiten Schultern. Aber es kam wohl daher, weil er fast überschlank in den Hüften war und seine Gelenke für einen Mann zu zart erschienen, der körperlich hart arbeitete. Außerdem bewegte er sich leicht; sein Gang war federnd und elegant.

Ruth sah ihm mit finster zusammengezogenen Brauen entgegen. Jetzt nahm er seinen Hut ab und trat auf die Veranda.

Er wandte sich an sie, und sie fühlte seine großen Augen auf sich ruhen. Irgendwie wollten diese Augen Macht über sie gewinnen.

Ruth warf aber mit Gewalt dieses Gefühl ab; vielleicht klang dadurch ihre Stimme nur noch gereizter, als sie ihn spöttisch anredete: »Ach, der Herr Verwalter? Lassen Sie sich überhaupt noch sehen?«

Ein erstaunter Ausdruck trat in seine Augen. Sie ließ ihn vor sich stehen, ohne ihm einen Platz anzubieten. Ruth war bewußt ungezogen, aber sie wollte ihm ihre Ungnade zeigen.

»Und wo bleibt Ihre Entschuldigung für den gestrigen Empfang?«

»Ich verstehe Sie nicht, Miß Harries,« klang eine weiche, ruhige Stimme zu ihr hinüber. Seine Ruhe reizte sie noch mehr.

»Sie verstehen mich nicht? – Sie wollen mich wohl nicht verstehen? – Sie müssen doch ein Telegramm erhalten haben, das Ihnen meine Ankunft anzeigte. Aber es paßte Ihnen wohl besser, die Nachricht nicht erhalten zu haben?«

Jed Corner war bei ihren Worten erblaßt. Er fühlte alle Blicke auf sich ruhen.

»Miß Harries, wollen Sie damit sagen, daß ich Ihr Telegramm erhalten habe und es –« das Wort unterschlagen wollte nicht über seine Lippen.

Ruth zuckte die Achseln. In diesem Augenblick drehte sich Jed Corner um und verließ die Veranda.

Eveline war die erste, die sprach.

»Ruth,« sagte sie, »nimm es mir nicht übel, aber bist Du nicht ein wenig zu weit gegangen?«

»Nein, Eveline! Wenn es dem Herrn Verwalter nicht paßt, kann er ja gehen. Im übrigen ist es doch meistens so, daß ein neuer Herr mit Mißtrauen und Unwillen aufgenommen wird. Und ich habe den Willen, mich gleich durchzusetzen.«

Ruths Freunde schwiegen; keiner wußte darauf eine Antwort.

Das Mittagessen kam. Die einfache, aber wohl zubereitete Kost schmeckte ihnen. Dann hielten sie Mittagsruhe, bei der der wenige Schlaf von der Nacht nachgeholt wurde.

Als sie sich wieder erhoben, wurde Ruth von dem bedienenden Cowboy Dr. Britton gemeldet, der angekommen war und in der Bibliothek auf sie wartete. Sie ging zu ihm. Gestern in Denver hatte sie ihn kennen gelernt. Bei ihrem Eintreffen erhob sie sich.

»Guten Tag, Miß Harries!« begrüßte er sie. »Sind Sie gut angekommen gestern Nacht?«

»Ja, Herr Doktor; wenn es auch für mich und meine Freunde eine Strapaze war.«

»Ich riet Ihnen gleich davon ab, Miß Harries. Außerdem ist unsere Gegend nicht so sicher, daß man viel Nachtfahrten macht. Aber Sie waren ja nicht zu halten, und da wollte ich Sie nicht noch ängstlich machen.«

Rechtsanwalt Dr. Britton war ein Mann in der Mitte der Jahre. Er war stets sorgfältigst gekleidet und war sich seiner Wichtigkeit als einziger Anwalt in Denver wohl bewußt.

Er kramte in seinen Papieren.

»Die üblichen Formalitäten sind ja schon in New York erledigt,« sagte er zu Ruth, die sich an dem Schreibtisch niedergelassen hatte. »So ist Ihnen auch bekannt, daß der Antritt der Erbschaft mit einigen Bedingungen verbunden ist. Darf ich noch einmal wiederholen?« Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Sie müssen ein halbes Jahr hier leben, und wenn die Zeit um ist, ist ein zweites Testament da, das wir dann öffnen sollen. Es kann ein Ausnahmefall eintreten, Miß Harries, über den nur ich unterrichtet bin, aber über den ich nicht befugt bin, vorher zu sprechen; dann wird das zweite Testament gleich eröffnet. Bis dahin sind Sie uneingeschränkte Herrin des Ganzen.«

»Ja, das ist mir bekannt, Dr. Britton. Ob ich nun das halbe Jahr hier wirklich aushalte, weiß ich selber noch nicht. Meinen Freunden habe ich darüber noch nichts gesagt und bitte auch Sie, keine dahingehende Andeutung ihnen gegenüber zu machen.«

»Wie Sie wünschen, Miß Harries!«

»Mein Onkel Jolivet war wohl ein Sonderling, Mr. Britton?«

Dr. Britton wiegte den Kopf hin und her: »Wie man das nimmt, Miß Harries. Jedenfalls war er überall sehr geachtet und beliebt.«

»Es tut mir leid, daß ich mich seiner nicht mehr erinnern kann. Ich war sehr erstaunt, als ich von der unerwarteten Erbschaft hörte.«

»So viel mir bekannt ist, Miß Harries, waren Sie seine einzige noch lebende Verwandte. Er sprach einmal kurz mit mir darüber. Er hoffte, so sagte er damals, daß Sie ihrer Mutter, seiner Kousine gleichen möchten.«

Ruth ging auf ein anderer Thema über.

»Ich glaube, Dr. Britton, daß mir hier doch noch alles sehr fremd ist. Ich komme mir so verpflanzt vor. Alles ist mir fremd – die Menschen – das Land. Noch finde ich mich hier gar nicht zurecht.«

»Ich muß Ihnen auch gestehen, Herr Doktor, daß ich mir alles anders vorgestellt habe. Ich habe wohl an unsere Farm in Florida gedacht. Die Menschen in New York – und hier, der Unterschied ist mir schon aufgegangen. Das hatte ich mir alles nicht überlegt. Ich glaube, ich könnte mich vor den Menschen hier fürchten.«

Ruth schwieg. Dr. Britton hatte sie, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen, ausreden lassen.

»Miß Harries, Sie haben mit Ihren Eindrücken nicht unrecht. Wir leben hier unter anderen Verhältnissen als in den großen Städten. Das bedingen schon die großen, weiten, unbewohnten Strecken des Landes, wo sich noch jeder selbst helfen muß. Aber – Miß Harries, es ist kein schlechter Schlag, der hier lebt; meistens Menschen, die aus alten Ansiedlerfamilien stammen und das Verbundensein mit der Scholle fühlen und sich noch selbst ihr eigenes Gesetz sind, prächtige Gestalten gibt es darunter, Miß Harries; wenn man sie kennt und erfaßt hat, muß man sie lieben. So ging es auch dem alten Jolivet« setzte er sinnend hinzu; dann erhob er sich.

»Um Ihretwillen wünsche ich Ihnen, Miß Harries, daß Sie sich einleben werden,« sagte er herzlich. »Vielleicht gewinnt dann Ihr Leben einen neuen Inhalt. Auf jeden Fall: sollten Sie mich brauchen, bin ich stets Ihr Freund und will Ihnen gern mit Rat und Tat zur Seite stehen.«

»Ich danke Ihnen, Dr. Britton.«

Freundschaftlich drückten sie sich die Hände.

»Darf ich gleich um einen Rat bitten, Herr Doktor?«

Fragend sah sie Dr. Britton an.

»Der Verwalter gefällt mir nicht. Ich finde ihn anmaßend und arrogant.« Mit Willen wählte Ruth so scharfe Worte. »Ich möchte ihn entlassen.«

Staunen malte sich auf Dr. Brittons Züge.

»Meinen Sie Jed Corner, Miß Harries?«

Ruth nickte: »Ja, ich glaube, so heißt er.«

»Jed Corner anmaßend und arrogant?«

»Ja, Mr. Britton; außerdem glaube ich auch, daß er mit Absicht das Telegramm, welches ich hierher sandte, unbeachtet ließ. Das nenne ich stillschweigende Resistenz, Herr Doktor; und das lasse ich mir nicht gefallen.«

»Miß Harries, eine Frage: Haben Sie Jed Corner eine dahingehende Andeutung gemacht, daß sie glauben, er hätte Ihre Nachricht von Ihrer Ankunft erhalten und nicht beachtet?«

»Ja, natürlich; gesagt habe ich es ihm sogar!«

Ruth sah, wie Dr. Britton auf einmal ein nachdenkliches Gesicht machte.

»Miß Harries,« sagte er nach einer Weile, und seine Stimme klang zögernd und besorgt, »setzen Sie sich nicht Unannehmlichkeiten aus. Jed Corner ist, so weit ich ihn kenne, verteufelt empfindlich. Einen Verwalter, wie ihn, der besser hier Bescheid weiß und auf alles aufpaßt, finden Sie nicht. Auf jeden Fall würde ich es für klüger halten, sich mit ihm gut zu stellen.«

Mit einem ungeduldigen Achselzucken wandte sich Ruth ab. Das war kein Rat, den sie hören wollte. Das wäre ja noch schöner, wenn sie sich nach ihren Leuten richten müßte, empörte sich Ruth innerlich.

»Kommen Sie, Herr Doktor; wir wollen Kaffee trinken!« Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer, das Thema Jed Corner verlassend. Dr. Britton folgte Ruth zu ihren Freunden.



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