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X.

Es verstrichen einige Wochen. Wjera zeigte sich nicht und ließ nichts von sich hören. Ich nahm mir vor, sie zu besuchen, aber ich kam nicht mehr dazu.

Es war gegen Ende Mai, ich hatte zu Mittag Gäste, und wir erhoben uns eben von der Tafel, als plötzlich die Salonthür aufging und Wjera eintrat. Aber, mein Gott, wie sie sich verändert hat! So schrie ich auf. Den ganzen Winter hatte sie ein schwarzes unförmiges Sommerkleid getragen – eine Nonnenkutte, wie ich ihr Costüm scherzweise benannte – und heute erscheint sie plötzlich in einem lichtblauen, modernen Sommerkleid, um die Taille einen silbernen kaukasischen Gürtel. Die Toilette kleidete sie wunderschön und Wjera schien um sechs Jahre jünger. Aber nicht am Kleide lag es: Wjeras Aussehen war strahlend, triumphirend, auf den Wangen spielte ein Roth, die dunkelblauen Augen leuchteten wie wenn sie Funken sprühten. Ich wußte ja, daß Wjera hübsch ist; daß sie aber solch eine Schönheit sei, hatte ich bis nun nicht geahnt.

Die meisten meiner Gäste sahen sie zum ersten Male. Wjeras Eintritt in den Salon rief thatsächlich Sensation hervor. Nicht die Herren allein, auch die Damen waren von ihrer Schönheit verblüfft und kaum hatte sie Platz genommen, wurde sie auch schon umringt.

Wenn es früher geschah, daß Wjera mich unerwartet besuchte und bei mir einen Fremden antraf, zog sie sich sofort in einen Winkel zurück und man konnte kein Wort aus ihr herausbringen. Von Natur aus scheu, ging sie instinctiv jedem neuen Menschen aus dem Wege, insbesondere wenn sie muthmaßte, daß sie bei ihm nicht Sympathien für ihre Ideen begegnen werde. Heute aber war es ganz anders. Wjera befand sich in leutseliger, verliebter Stimmung, sie war gegen Jedermann entgegenkommend und liebenswürdig. Eine große Freude schien in ihr zu sprudeln und sie so zu erfüllen, daß sie sich von selbst auf die ganze Umgebung ergoß.

Früher war Wjera nichts unangenehmer als Complimente, heute aber hörte sie sie ruhig mit einer gewissen hochmüthigen Grazie an und erwiderte so treffend, daß ich sie verwundert ansah. Woher kommt das Alles zu ihr! Weltlich sein und Scharfsinn und Koketterie! Man glaubt an eine Nihilistin durch und durch, und da ist sie eine Dame von Welt!

Dieses ungewöhnliche Schauspiel währte jedoch nicht lange. Die lebhafte Wjera hörte sozusagen plötzlich auf. Ähre Gesprächigkeit verschwand, in ihren Augen zeigte sich ein Ausdruck von Langeweile und Verachtung.

»Werden Deine Gäste bald fortgehen? Ich muß mit Dir über etwas Ernstes sprechen!« flüsterte sie mir ins Ohr.

Glücklicherweise begannen die Gäste sich zu entfernen.

»Was hast Du, Wjera? Ich erkenne Dich nicht!« fragte ich sie, so wie wir allein blieben.

Statt jeder Antwort zeigte mir Wjera den vierten Finger ihrer linken Hand, auf dem ich erst jetzt zu meinem größten Erstaunen einen glatten Goldreif bemerkte.

»Wjera, Du heiratest?« rief ich verwundert.

»Schon geheiratet! Heute um ein Uhr Mittags war meine Trauung.«

»Wjera, aber wie denn das? Wo ist denn Dein Mann?« fragte ich verwirrt.

Wjeras Gesicht leuchtete auf. Ein seliges, entzücktes Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Mein Mann ist in der Festung. Ich habe Pawlenkow geheiratet!«

»Was – Du? Du hast ihn doch vorher gar nicht gekannt! Wo konntet Ihr Euch denn kennen lernen?«

»Wir haben uns auch gar nicht kennen gelernt. Ich habe ihn von Weitem während des Processes gesehen und heute eine Viertelstunde vor der Hochzeit haben wir zum ersten Male einige Worte gewechselt.«

»Ja, aber wie, Wjera? Was heißt denn das?« fragte ich, nicht begreifend. »Hast Du Dich auf den ersten Blick in ihn verliebt, wie Julie in ›Romeo‹? Doch nicht damals als der Staatsanwalt ihn beschimpfte?«

»Sprich keinen Unsinn!« unterbrach mich Wjera streng. »Von Verlieben ist hier weder auf der einen noch auf der anderen Seite die Rede. Ich habe ihn einfach geheiratet, weil ich ihn heiraten mußte, weil es das einzige Mittel war, ihn zu retten!«

Ich schwieg und blickte Wjera fragend an.

Sie setzte sich in die Divanecke und begann zu erzählen ,… ohne sich zu beeilen und aufzuregen, als ob von ganz einfachen und alltäglichen Dingen die Rede wäre.

»Siehst Du, nach dem Proceß hatte ich lange Unterredungen mit den Advocaten. Sie waren alle der Meinung, daß die Sache der übrigen Angeklagten, Pawlenkow ausgenommen, gar nicht schlecht stünden. Der Schullehrer stirbt selbstverständlich nach zwei oder drei Monaten, aber er hätte in jedem Falle nicht lange gelebt, da er eine böse Schwindsucht hat. Alle Anderen werden allerdings nach Sibirien geschickt. Man darf hoffen, daß Jeder nach Ablauf der Verbannungszeit nach Rußland zurückkehren und ›die Sache‹ wieder aufnehmen werde. Nicht das hatte Pawlenkow zu erwarten.

»Ihm wäre es wirklich schlecht ergangen, so schlecht, daß es beinahe besser gewesen wäre, wenn man ihn zum Erschießen oder Erhängen verurtheilt hätte. Wenigstens hat dann Alles auf einmal ein Ende. So aber quäle sich Einer ganze zwanzig Jahre in der Zwangsarbeit!«

»Ach, Wjera, wie viele sind schon zur Zwangsarbeit verurtheilt worden!« bemerkte ich zaghaft.

»Ja, siehst Du, es gibt verschiedenartige Zwangsarbeit. Wäre er ein einfacher und nicht ein politischer Verbrecher, so hätte sich der Staatsanwalt nicht bemüht, ihn so herrlich zu schildern – so aber ist es etwas Anderes! Man hätte ihn nach Sibirien verschickt, und das wäre nur die Hälfte des Unglückes gewesen. In Sibirien leben ja auch Menschen! Ja, und ›Politische‹ gibt es jetzt dort so viele, daß sie gewissermaßen eine Macht sind; die Behörde muß oft mit ihr rechnen. Wenn man jetzt Jemand nach Sibirien schickt, so kränkt ihn das beinahe nicht; obgleich das Leben dort schwer ist, weiß er doch zum Mindesten, daß er dann und wann mit seinen Brüdern, Gesinnungsgenossen zusammentreffen wird. Man ist doch nicht völlig losgerissen; die Hoffnung verläßt Einen nicht. Ist Einem in Sibirien sehr traurig zu Muthe, so kann er, wenn er Glück hat, sich auch flüchten; es haben sich ja nicht Wenige aus Sibirien geflüchtet. Die Regierung besitzt Schreckmittel, die schlimmer sind als die Verbannung. Für politische Verbrecher höchster Kategorie, für die gefährlichsten, existirt das Aleksiewski-Ravelin in der Peter-Paul-Festung. Denjenigen, mit dem die Regierung kurzen Proceß machen will, schickt sie zur Erfüllung der Zwangsarbeit nicht nach Sibirien, sondern in jene teuflische Höhle. Sie befindet sich in Petersburg selbst, sozusagen unter den Augen der obersten Behörde. Von Milde und Nachsicht ist da nicht die Rede: das Zellensystem in seiner ganzen Strenge. Wer einmal da hinein geräth, ist ganz wie lebendig begraben; weder trifft er mit den anderen Gefangenen zusammen, noch erhält er Briefe von den Kameraden, noch ist es ihm gestattet, über sich selbst Nachricht zu geben. Der Mensch ist aus der Liste der Lebenden gestrichen – und das ist Alles. Unsere Regierung macht natürlich nicht viel Umstände, aber es ist ihr doch peinlich, oft Todesurtheile auszufertigen, und sie schämt sich – ›was wird man im Ausland sagen?‹ So hat man dieses Aleksiewski-Ravelin ausgedacht. Es klingt besser als ›Strang‹, das Resultat ist dasselbe.

»So viele politische Verbrecher man bereits dorthin gebracht, hat man doch noch nicht gehört, daß wenigstens Einer herausgekommen wäre. Gewöhnlich vergehen einige Monate, höchstens ein, zwei Jahre, und die Verwandten werden davon benachrichtigt, daß Dieser oder Jener ›glücklich‹ gestorben ist oder den Verstand verloren oder seinem Leben selbst ein Ende gemacht hat. Man sagt, daß es noch Keiner länger als drei Jahre im Aleksiewski-Ravelin ausgehalten habe. Und Pawlenkow sollte in diese verfluchte Höhle gerathen!«

Wjera wurde vor Aufregung ganz blaß. Ihre Stimme zitterte und an den langen Wimpern hingen Thränen.

»Aber wie vermochtest Du nur ihn zu retten?« fragte ich ungeduldig.

»Warte, Du wirst es gleich erfahren,« erwiderte Wjera, ruhiger werdend. »Als ich vernahm, welches Schicksal Pawlenkow bevorstehe, that es mir um ihn so leid, daß ich es gar nicht sagen kann; ob Tag, ob Nacht, er ging mir nicht aus dem Sinn. Ich gehe zu seinem Advocaten, frage ihn: ›Ist es denn wirklich unmöglich, etwas zu ersinnen?‹ – ›Nichts‹, sagte der Advocat. ›Wäre er verheiratet, dann wäre es etwas Anderes, dann gäbe es noch eine Hoffnung! Nach unserem Gesetz steht der Frau, wenn sie will, das Recht zu, ihrem Mann in die Zwangsarbeit zu folgen. Hätte also Pawlenkow eine Frau, so könnte sie ein Gesuch an den Kaiser richten, worin sie den Wunsch ausspricht, Pawlenkow nach Sibirien zu folgen, und der Kaiser würde sich vielleicht erbarmen, und ihr nicht das Recht verweigern; allein zum Unglück ist Pawlenkow Junggeselle ,…‹

»Du begreifst,« fuhr Wjera, wieder in den ruhigen Gesprächston verfallend, fort, »als ich diese Worte hörte, wurde es mir augenblicklich klar, was nun zu geschehen hat. Ich muß den Kaiser um Erlaubnis; bitten, daß ich Pawlenkow heirate.«

»Aber Wjera,« rief ich, »dachtest Du wirklich nicht daran, was ein solcher Schritt für Dich selbst bedeutet? Du weißt doch nicht, was für ein Mensch Pawlenkow ist und ob er eines solchen Opfers würdig ist ,…«

Wjera sah mich mit einem strengen, verwunderten Blick an.

»Sagst Du das im Ernst?« fragte sie. »Kannst Du wahrhaftig nicht selber begreifen, daß auch ich, hätte ich nicht Alles, buchstäblich Alles gethan, was in meiner Macht stand, zur Mitschuldigen an seinem Verderben geworden wäre. Sag' mir auf Gewissen – wäre es denkbar, daß Du nicht auch dasselbe gethan hättest, wenn Du nicht verheiratet wärest?«

»Nein, Wjera, wahrhaftig, ich glaube nicht, daß ich mich dazu entschlossen hätte!« erwiderte ich offenherzig.

Wjera sah mich scharf an.

»Dann bedauere ich Dich!« gab sie mir zur Antwort und fuhr fort:

»Mir war es in jedem Fall klar, daß es meine Pflicht sei, ihn zu heiraten. Aber wie die Bewilligung hiezu erlangen? Das war die Frage. Als ich dem Advocaten meinen Entschluß mittheilte, rief er im ersten Augenblick aus, daß daran nicht zu denken sei, man werde das nie gestatten. Und ich selbst wußte nicht, wie die Sache anzufassen, aber plötzlich fiel es mir ein, daß es einen Menschen gibt, der mir helfen kann. Hast Du vom Grafen Ralow gehört?«

»Wer hätte von dem gewesenen Minister nicht gehört? Man sagt, er sei auch jetzt, obgleich er den Staatsgeschäften ferne steht, noch immer eine dem Kaiser nahestehende Persönlichkeit. Aber welcher Zusammenhang kann zwischen Dir und ihm bestehen?«

»Er ist, siehst Du, mit uns entfernt verwandt, aber das ist wenig. Die Hauptsache: Er war einmal in meine Mutter verliebt, ja, ich glaube sogar, nicht im Scherz ,… und er hat mich als Kind oft auf den Armen gehalten und mir Bonbons gebracht. Es versteht sich, daß es mir nicht einfiel, ihn an meine Existenz zu erinnern. Was habe ich bei solchen Leuten, wie er ist, zu suchen! Und jetzt fiel mir ein, daß er mir nützlich sein könnte. Ich schrieb ihm auch einen Brief und bat um eine Audienz. Er erwiderte unverzüglich und bestimmte mir die Stunde, wann ich erscheinen kann.«

»Nun, Wjera, erzähle rascher, wie ist die Sache bei Euch weiter gegangen?« fragte ich neugierig. »Je nun, ich kann mir vorstellen, Du hast den Alten verblüfft; er war sehr erfreut von seinem früheren Liebling!« Ich erinnerte mich an Alles, was ich über den alten Grafen gehört hatte, daß er jetzt sehr fromm geworden ist und die Tage mit Fasten und Beten verbringt. »Wunderlich mußte sein Zusammentreffen mit Wjera gewesen sein!« Und bei diesem Gedanken lachte ich unwillkürlich auf.

»Da gibt es nichts zu lachen, es ist nichts Lächerliches dabei,« sagte Wjera in beleidigtem Ton. »Hör' doch nur, welch kluger Kopf ich mitunter bin, welche glänzende Gedanken mir in den Sinn kamen,« fuhr sie heiter fort. »Du stellst Dir vielleicht vor, ich bitte, daß ich bei ihm als Nihilistin vorsprach! Keine Idee! Ich weiß doch, daß alle diese alten Sünder, obgleich sie an der Neige ihres Lebens fasten, hübsche Gesichtchen zum Sterben lieben. Wie sie ein hübsches Lärvchen erblicken, schauen sie gleich auf, werden gerührt und können ihm gar nichts verweigern. Und da habe ich mich schön geputzt und bin zu ihm hingegangen. Für diese besondere Gelegenheit habe ich ja dieses Kleid bestellt, – Wjera zeigte mit Befriedigung auf ihr Kleid – und was für ein bescheidenes Wesen ich annahm: man hätte denken mögen, ich könne kein Wässerchen trüben. Der Graf hatte mir das Erscheinen auf neun Uhr Morgens festgesetzt. Ich kam dahin. Na, ich sage Dir, wie diese Vornehmen aber wohnen! Asketen, Büßer, welche sich von ihren Sünden freimachen wollen, sollten nicht in solchen Palästen wohnen! Beim Eingang kam mir ein Schweizer mit einem Befehlshaberstab entgegen, so schrecklich anzusehen, selber einem großen Herrn ähnlich. Anfangs wollte er mich nicht einlassen; ich zeigte ihm den Brief des Grafen; da schlug er auf die Kupferplatte an der Wand; in demselben Augenblick kam wie unter der Erde hervor ein Haiduk, hoch gewachsen, ganz mit Tressen bedeckt, und geleitete mich über die mit Gewächsen geschmückte Marmorstiege hinan; oben begegnete uns ein anderer Haiduk, gleichfalls groß gewachsen, führte mich durch einige Salons und übergab mich der Hand des neuen Lakaien in Livree. Man führte mich und führte mich, von einem Saal in den anderen. Ueber glänzende, aus verschiedenartigen Holzarten zusammengesetzte Parquetten, wie Glas blinkend und so glatt, daß man der Länge nach hinfällt, ehe man sich dessen versieht. Bemalte Plafonds, an den Wänden Spiegel in vergoldeten Rahmen, vergoldete, mit Stoff überzogene Möbel – und überall leer, keine Seele. Und der Lakai ist so gravitätisch, geht schweigend, läßt kein Wort fallen … Endlich führt er mich in das Arbeitszimmer des Grafen selbst; dort empfing uns der gräfliche Kammerdiener. Alle die anderen Lakaien, die mich früher geleitet hatten, waren schlanken Wuchses und trugen goldgestickte Livréen. Dieser kleine Alte war dem Aussehen nach arm, trug einen einfachen Rock, der abgetragen schien; aber das Gesicht war klug, listig – ganz Diplomat. Er musterte mich aufmerksam vom Kopf bis zum Fuß, als ob er bis in die Seele eindringen wollte; dann sprach er gemächlich: Sie werden hier warten, Gnädige. Seine Erlaucht sind soeben aufgestanden und geruhen zu beten.

»Man ließ mich allein im Arbeitszimmer. Ein ungeheuer großer Raum; man kann nicht gut von dem einen Ende erschauen, was in dem anderen vorgeht. Hier sieht man weder Spiegel noch Vergoldungen; einfache Eisenmöbel, überall dunkle Portièren und Gardinen, selbst die Fenster sind zur Hälfte verhängt, so daß im Zimmer ein Halbdunkel herrscht. Ein Winkel wird ganz von einem großen Heiligenschrank eingenommen, vor welchem einige Lämpchen schimmern.

»Hier sitze und sitze ich. Die Zeit schleicht entsetzlich langsam und der Graf ist noch immer nicht da! Die Ungeduld erfaßte mich. Ich begann zu horchen. Hinter einer Portière hörte ich etwas wie unzusammenhängendes Gemurmel. Da hob ich vorsichtig das Ende der Portiere – ich sehe wieder ein Zimmer, ganz mit schwarzem Tuch ausgeschlagen, einer katholischen Betnische ähnlich; überall Heiligenbilder, Crucifixe und Lämpchen; dort im Winkel steht ein schwächliches, altes Männchen, wie eine Mumie, murmelt etwas, bekreuzt sich jeden Augenblick und schlägt mit der Stirn auf den Boden; und zwei große Lakaien unterstützen ihn zu beiden Seiten, lassen ihn wie eine Drahtpuppe bald auf die Knie nieder, stellen ihn bald wieder auf die Füße ,… und einer von ihnen zählt dabei laut, um nicht zu übersehen, wie viele Verbeugungen bis zur Erde seine Erlaucht heute zu machen geruhten.

»Mir erschien der Anblick so lächerlich, daß mir die Schüchternheit verging. Sowie der Lakai bis vierzig gezählt hatte, hieß es ›für heute genug‹ und der Graf wurde vom Heiligenschrein weggeführt. Ich fand kaum Zeit, die Portière herabzulassen und eine bescheidene Miene anzunehmen, als seine Erlaucht schon vor mir stand.

»Seine Erlaucht sah mich an und rief sofort: ›Mein Gott, das ist ja Alina (meine Mutter hieß so), ganz der Alina aus dem Gesicht geschnitten.‹ Und die Erlaucht vergoß sogar einige Thränen. Er begann mich zu segnen, über mich das Kreuz zu machen und ich küßte ihm die Hände und bemühte mich ebenfalls, meinen Augen ein Thränchen abzupressen. Nun erinnerte sich mein Alter des Vergangenen, wurde weich, und ich bin ja keine Närrin und machte Alles in seiner Tonart; über die Angelegenheit – kein Wort. Und ich erzählte ihm fortwährend allerlei Märchen, wie sich meine Mutter stets seiner erinnere, wie sie bete und ihn in vielen Träumen sehe. Wo ich das Alles in jenen Momenten hernahm, begreife ich jetzt wirklich selbst nicht!

»Seine Erlaucht wurde ganz gerührt wie ein alter Kater, dem man hinter den Ohren kraut. Er begann mir allerlei Gutes zu versprechen, allerhand Pläne für mich zu entwerfen. Er hatte beinahe schon die Absicht, mich bei Hofe vorzustellen. Weißt Du, es gab Augenblicke, da er bereit war, mich als eigene Tochter zu adoptiren – er hat keine Familie, die Frau und Kinder sind längst todt ,… Ich merke, der günstige Augenblick ist da. Ich bin plötzlich in Thränen gebadet und sage dem Grafen: ›Ich liebe einen Mann, und wenn ich ihn nicht heiraten kann, dann brauche ich nichts mehr in der Welt.‹«

»Nun, wie hat der Graf dieses Bekenntniß aufgenommen?« fragte ich lachend.

»Zuerst verhielt er sich teilnahmsvoll; dann begann er mich zu trösten, daß ich nicht weine, versprach, sich für mich zu bemühen.

»Als er aber erfuhr, wen ich zu heiraten beabsichtige, ging die Geschichte anders; der Alte wurde wüthend und wollte von nichts wissen. Er veränderte den Ton, ging von ›Du‹ plötzlich auf ›Sie‹ über. Er nannte mich nicht mehr Kindchen, noch Engelchen, sondern beehrte mich mit ›Gnädige‹. ›Wenn es sich trifft, Gnädige,‹ sagte er, ›daß ein anständiges Mädchen einen Unwürdigen liebt, so bleibt ihren Verwandten nur Eines übrig: Zu Gott beten, er möge ihren Verstand erleuchten ,…‹

»Na, da sehe ich, die Sache steht schlecht, ich war schon ganz verzweifelt.«

Wjera brach im Erzählen plötzlich ab und stockte.

»Nun, was denn Wjera, was ist geschehen? Erzähle doch zu Ende, bitte!« drängte ich. Wjera erröthete.

»Siehst Du, ich selbst kann mich jetzt nicht erinnern, wie Alles war und was ich ihm eigentlich sagte ,… bloß ,… bloß ,… er begriff plötzlich, daß ich Pawlenkow unbedingt heiraten müßte, damit die Sünde bedeckt und meine Ehre gerettet werde.«

»Ach, Wjera, Du hast Dich nicht geschämt, den Alten so zu hintergehen!« rief ich vorwurfsvoll.

Wjera sah mich erstaunt an.

»Den armen Alten hintergehen!« äffte sie mir im Scherz nach. »Hat man denn wessen sich zu schämen? Laß gut sein, er schämt sich auch nicht! In seiner Stellung und bei seinem Einfluß auf den Kaiser ,… wie viel Gutes, wie viel Nutzen könnte er bringen! Und er ,…? Liegt mit der Stirn auf dem Boden ,… vielleicht wird man ihm auch im Himmel ein so warmes Plätzchen verschaffen, wie hier auf Erden.

»Und um Andere kümmert er sich wenig. Zu mir verhält er sich freundlich. Warum das? Weil mein Lärvchen nach seinem Geschmack ist; es hat ihn an seine alten Sünden erinnert, sein altes Blut in Bewegung gebracht ,… der Mühe Werth, ihm dafür zu danken?! Verhält er sich zu den jungen Leuten, die man vernichtet, die in Sibirien verfaulen, etwa gut? Keine Spur! Laß nur gut sein – wie viele Urtheile hat er selbst in seinem Alter unterschrieben! ,…

»Wäre es mir eingefallen, ihn zu betrügen, wenn es möglich wäre, mit ihm menschlich zu sprechen? Aber das kann man ja nicht! Wenn ich es versucht und ihm einfach gesagt hätte: Retten Sie Pawlenkow, würde er mir geantwortet haben: ›Mengen Sie sich nicht in seine Angelegenheit, Gnädige!‹ Und dann wär's aus. Wie soll man da nicht betrügen ,…!«

Wjera ging auf und ab und wurde vor Eifer ganz roth.

»Nun, fahre fort, bitte!« drängte ich sie. »Wie war es weiter?«

»Ja, so. Anfangs wurde er schrecklich böse; schritt im Zimmer umher und begann nach Art aller alten Leute, wenn sie aufgeregt sind, für sich durch die Nase zu murmeln, aber so laut, daß ich es hören konnte: ›Unglückliches Mädel! Sich bis zu diesem Grade zu vergessen! Aus einer so ausgezeichneten Familie! Das Mädel ist es nicht werth, daß man sich für sie bemüht, aber der Mutter wegen wird man diesen Taugenichts retten müssen. Man wird die Sünde irgendwie verdecken müssen, um nicht die ganze Familie zu beflecken …‹ So geht er, immer murmelnd im Zimmer herum. Und ich höre das, und mir kommt das Lachen und dabei muß man ein so zerknirschtes Gesicht machen. Ich sitze mit herabhängenden Armen, wage die Augen nicht zu erheben – mit einem Wort ›Gretchen‹ ,… nicht anders.

»Endlich bleibt er vor mir stehen und sagt in strengem und eindringlichem Ton: ›Setze Dich, Wjera, und schreibe sofort an den Kaiser, daß Du ihm zu Füßen fällst und ihn bittest, er möge Dir gestatten, Deinen nichtswürdigen Verführer zu heiraten. Ich übernehme es. Dein Gesuch zu überreichen und Alles so einzurichten, daß kein Gerede entsteht.‹ Ich wollte mich bei dem Alten bedanken, aber er wehrte ab: ,… ›Ich thue das nicht für Dich, sondern für Deine Mutter!‹

»Ich setze mich hin und schreibe nach seinem Dictat, da sehe ich aber wieder ein Hinderniß entstehen. Er dictirt und erwähnt dabei mit keinem Wort Sibirien. ›Und was ist's mit Sibirien?‹ frage ich. ›Ich gehe mit meinem Mann nach Sibirien!‹ Mein Alter lachte auf. ›Nun, das wird man von Dir nicht fordern,‹ sagte er; ›die Sünde wird verdeckt sein – dann lebe, wo Du willst, gleichsam als ehrbares Witfrauchen.‹

»Na, bin ich aber erschrocken, als ich diese Worte hörte! Was ist zu thun? denke ich. Ich habe Angst, auf Sibirien zu bestehen, am Ende erscheint ihm das verdächtig und er beginnt zu ahnen, um was es sich handelt. Ich weiß nicht, wie mich zu Verhalten. Aber plötzlich kommt es wie eilte Erleuchtung. Ich sage ihm, daß ich, um Buße zu thun, meinem Mann nach Sibirien folgen und mich dadurch von der Sünde reinigen will.

»Mein Alter verstand mich nun, das war nach seinem Sinn. Er wurde sehr gerührt und sagte: er werde mich daran nicht hindern, ›das ist Gottes Sache‹. Er segnete mich, nahm ein Heiligenbildchen von der Wand und hängte es mir um den Hals.«

»Nun und weiter, was geschah weiter?« fragte ich.

»Weiter hat sich Alles sozusagen schon von selbst ergeben. Ich gehe nach Hause und sage Niemandem darüber ein Wort, wo ich war. Aber es vergeht keine Woche, so kommt meine Quartierfrau ganz roth und athemlos zu mir gelaufen, überreicht mir eine Visitkarte und kann vor Aufregung kaum sprechen: ›Ein General ist vorgefahren, so ein nobler; er schickte einen livrirten Diener herauf, damit er frage, ob das Fräulein zu Hause sei; er muß Sie dringend sprechen. Er selbst sitzt im Wagen und wartet.‹ Ich sehe auf die Karte und da steht: Son Excellence le Prince Gelogitzky und darunter mit Bleistift hinzugeschrieben: de la part du comte Ralow. Nun, ich errieth sofort, in welcher Angelegenheit er kam.

»Ich lasse bitten!« sage ich. Meine Hausfrau verlor ganz den Kopf: ›Ach, mein heiliger Vater, was soll man da thun! Der General ist so heikel und bei uns ist nicht Ordnung gemacht. Und wie zum Unglück kochen wir für heute Mittag Krautsuppe; im ganzen Hause ist ein Krautgeruch, daß Gott erbarme.‹ – »Nun, thut nichts!« sage ich, der General wird eben wissen, daß wir Krautsuppe essen. Bitte ihn nur herein ,… ganz einerlei.

»Da höre ich schon den General die Treppe heraufkommen und sie ist bei uns so dunkel und schmal, und auch so altersschwach, daß sie unter ihm ächzt; der Säbel bleibt an dem Geländer hängen. Einige Kinderchen aus dem Hause springen herbei, trauen sich aber nicht näher zu treten, sie bleiben stehen, das eine den Finger in den Mund, das andere in die Nase steckend, und starren ihn wie ein wildes Thier an.

»Der General tritt ein; er war noch nicht alt, so in den mittleren Jahren, stutzerhaft. Der lange, ein wenig graue Schnurrbart steht wagrecht – offenbar ist er gewichst – und verbreitet Parfüm. In seinem ganzen Leben, glaube ich, ist es dem General nicht vorgekommen, ein solches Hauswesen zu betreten, aber als Mann von Welt läßt er nicht merken, daß er dergleichen nicht gewohnt ist. Die Hauswirthin stellt ihm geschäftig einen Holzfauteuil mit gepolsterter Armlehne hin. Er thut, als falle ihm dieser nicht auf, läßt sich ungezwungen wie in einem beliebigen Salon der feinen Welt nieder, legt den Helm auf die Knie, streckt einen Fuß vor, wendet sich mit freundlichem Lächeln an mich und sagt: ›C'est bien à la princesse Vera Barantzow que j'ai l'honneur de parler?‹ – ›Ja,‹ sagte ich, ›sie selbst ist es.‹ Er winkt der Hausfrau, uns allein zu lassen, neigt sich zu mir, nimmt eine vertrauliche Miene an und sagt: der Kaiser selbst habe ihn zu mir geschickt, um zu erfahren, ob es wahr sei, daß ich den politischen Verbrecher Pawlenkow heiraten und ihm nach Sibirien folgen wolle? – ›Es ist wahr!‹ antworte ich. Da beginnt er mich zur Vernunft bringen zu wollen. Wie kann sich denn nur ein so junges, prächtiges Mädchen, eine solche Schönheit zugrunde richten! Ob ich auch bedacht habe, was ich thue! Ich, eine russische Adelige, heirate einen getauften Juden, einen Staatsverbrecher! Meine Kinder werden keinen Namen und keinen Rang haben! Diese selbst werden, wenn sie heranwachsen, mir Vorwürfe machen!

»›An das Alles habe ich schon gedacht und auch Alles bedacht,‹ erwidere ich, ›und ändere meinen Entschluß doch nicht.‹

»Der General sieht, daß ich noch immer auf meinem Entschluß beharre. Er faltet sein gutes väterliches Gesicht, kneift sogar ein Auge zusammen; indem er mich anblickt, faßt er wich an den Händen und sagt flüsternd: ›Ich bin kein junger Mann und habe selbst Kinder. Ich will zu Ihnen wie zu einer eigenen Tochter sprechen. Je nun, was Alles jungen Mädchen passiren kann! Sie sind nicht die Erste und Sie sind auch nicht die Letzte! Es verlohnt nicht, wegen eines unüberlegten Schrittes sein Leben zu zerstören. Der Kaiser ist gnädig und der Graf ist Ihnen geneigt: er ist bereit, für Sie Alles zu thun. Und wenn es auch eine Sünde war, so kann man sie ja in anderer Weise verdecken, wir werden Ihnen auch einen anderen Bräutigam finden!‹

»Ich thue so, als verstände ich von all dem nichts und wiederhole nur das Eine: ›Ich will den Pawlenkow heiraten, ich will ihm nach Sibirien folgen.‹

»Der General sieht, daß er nichts ausrichten kann. Er erhebt sich, grüßt und geht; und ich – zum Advocaten Pawlenkow's, erzähle ihm die ganze Geschichte und sage: Begeben Sie sich rasch zu Ihrem Clienten und theilen Sie ihm mit, welchen Plan wir zu seiner Rettung ersonnen haben.

»Nach einigen Tagen traf das Schriftstück ein, welches mir, der Gräfin Baranzow, gestattet, die gesetzliche Ehe mit dem Staatsverbrecher, dem Juden Pawlenkow, einzugehen, nachdem er das Judenthum abgeschworen haben und zur rechtgläubigen Kirche übergegangen sein wird; wir sollen in der Gefängnißkapelle getraut werden.«

Wjera schwieg und wurde nachdenklich. Einige Minuten saßen wir da, ohne ein Wort zu sprechen. »Wjera!« rief ich endlich traurig. »Die Sache ist einmal geschehen und es ist zu spät, darüber zu klagen. Du hast Dich kopfüber in den Abgrund gestürzt. Sag Du mir gefälligst, warum bist Du denn vor der Hochzeit nicht ein einziges Mal zu mir gekommen? Mir nicht ein Wort von dem zu sagen, was Du im Schilde führst! Wir betrachten uns doch als Freundinnen.«

Wjera umarmte mich und lachte auf.

»Was man Alles verlangt!« rief sie heiter. »Ja, hat man den überhaupt je gehört, daß die Menschen sich anders als kopfüber in den Abgrund stürzen? Was glaubst Du? Wenn ein Mensch daran denkt, sich zu erhängen, so muß er, bevor er den Kopf in die Schlinge steckt, von einem Freund zum andern gehen und von ihnen den Segen erbitten?«

»So! Das heißt, Du gibst zu, daß Du Dich in den Abgrund gestürzt hast?« fragte ich leise.

»Siehst Du,« sagte Wjera, nachdem sie ein wenig nachgedacht hatte. »Ich werde vor Dir nicht posiren, nicht Komödie spielen. Ich sage Dir offen: In dem Augenblicke, als das Papier kam und ich erfuhr, daß jedes Hinderniß beseitigt ist, ich also das Meinige durchgesetzt habe, hätte ich mich doch freuen sollen, nicht wahr? Allein ›die Katzen begannen in meinem Herzen zu kratzen.‹ Eine von Russen oft gebrauchte Redewendung für Mißmuth. D. Ü. Und dieses Gefühl blieb noch eine ganze Woche – bis zur Hochzeit! Ich hatte mir bereits irgend eine Arbeit, eine Beschäftigung ausgedacht, bloß, um immer in Bewegung zu sein und nicht daran zu denken. Nun, tagsüber, so lange ich unter Menschen weilte, ging's noch an und ich hielt mich tapfer, allein wie die Nacht kam und ich allein blieb, hatte ich eine wahre Noth. Es begann am Herzen zu nagen und ich wurde feige, fürchtete mich. Nun und da ging ich denn heute zum Gefängniß. Man ließ mich ein. Eine schwere eisenbeschlagene Thür schlug hinter mir lärmend zu. Aus der Straße war es warm, die Sonne schien. Hier aber umfing mich plötzlich Dunkelheit, man spürte den Geruch von Feuchtigkeit. Das Herz war mir beklommen. Ich dachte bei mir: Glück und Freiheit und Jugend – Alles ließ ich hinter dieser Thür zurück. Es rauschte mir in den Ohren und es kam mir auf einmal vor, daß man mich in einen schwarzen Sack gesteckt hätte. Ich mußte Jemandem mein Document vorzeigen. Man führte mich durch lange, unendliche Gänge. Zwei Gendarmen begleiteten mich, der eine vor der andere hinter mir. Aus jeder Seitenthür blickten Gestalten in Uniform hervor und musterten mich mit frecher Neugierde vom Kopf bis zum Fuß. Wahrscheinlich erfuhr das ganze Gefängnißpersonal von der bevorstehenden Trauung, und Jeder wollte die Braut ansehen. Sie genirten sich nicht und machten laute Bemerkungen auf meine Rechnung. Ich hörte wie ein Officier dem andern laut sagte: Ces sacrès nihilistes ne sont pas dégoutés, ma foi! C'est vraiment dommage d'accoupler un beau brin de filette comme ça à un brigandt de forçat. Passe encore, si l'on avait le droit du seigneur!

»Der Kamerad erwiderte etwas, was ich nicht verstand, wahrscheinlich etwas Unanständiges, weil sie Beide plötzlich laut auflachten. An mir vorbeigehend, klirrten sie mit den Sporen, bückten sich und sahen mir frech ins Gesicht, ja so nahe, daß sie mich beinahe mit dem Schnurrbart berührten. Bei jedem Schritt wurde es mir immer enger ums Herz. Ich gestehe es Dir offen – wenn in diesem Moment Jemand gekommen wäre und mir vorgeschlagen hätte, ich solle von der Eheschließung abstehen, ich wäre gerne davongelaufen, ohne mich umzublicken. Endlich brachte man mich wieder in ein Zimmer – leer, mit kahlen, getünchten Wänden, mit zwei Holzstühlen statt aller Möbel. Hier ließ man mich allein, nachdem man mir gesagt hatte, ich solle warten. Ob ich da lange allein saß, weiß ich nicht. Mir schien die Zeit unendlich. In meinem Geiste erhoben sich Zweifel: Thue ich Recht? Begehe ich nicht eine entsetzliche, unverzeihliche Dummheit? Und der Gedanke an das bevorstehende Zusammentreffen mit Pawlenkow erschien mir immer schrecklicher. Ich fürchtete, ich würde ihn am Ende nicht erkennen. Was wird er mir sagen? Hat er mich verstanden? ,…

»Ich bemühte mich, mir sein Bild in Erinnerung zurückzurufen, wie es mir in den vergangenen Tagen erschien; aber was ich auch dazu that – es war Alles vergeblich.

»Endlich vernahm ich Schritte, die Thür ging auf und zwei Gendarmen brachten Pawlenkow ,… Wie er aussah, was für ein Gesicht er hatte – das kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich bloß, daß er einen grauen Sträflingsmantel trug und daß sein Haar bis zur Haut geschoren war.

»Einige Minuten ließ man uns allein, die Gendarmen traten zur Seite und thaten, als beachteten sie uns nicht.

»Was sich zwischen uns abspielte, dessen entsinne ich mich nur wie im Traum. Es kommt mir vor, daß Pawlenkow mich an beiden Händen faßte und flüsterte: ›Dank, Wjera, Dank!‹ Seine Stimme versagte; ich konnte auch nichts erwidern. Aber wirst Du es glauben? In demselben Augenblick, als er ins Zimmer trat, waren alle meine Qualen plötzlich verschwunden. In meiner Seele wurde es so hell, so klar – die Zweifel ,… als ob sie nie bestanden hätten! Ich wußte jetzt, daß ich recht gehandelt hatte, daß man nicht anders handeln durfte. Man brachte uns in die Kirche, stellte uns nebeneinander auf, der Priester ergriff uns an den Händen und führte uns um das Lesepult herum ,… An all das erinnere ich mich wie im Nebel. Eine Minute lang, während sich ein starker Weihrauchduft verbreitete und der Gesang ›Jesaias frohlocke!‹ ertönte, kam wie ein Vergessen über mich, ich dachte, daß nicht Pawlenkow sich neben mir befinde, sondern Wasilzew – und ich hörte seine liebe Stimme so klar und deutlich! Ich weiß, ich weiß es bestimmt, daß er es billigen würde, daß er sich gefreut hätte, auf mich zu blicken. Und mit einem Male wurde mir Alles klar. Mein ganzes künftiges Leben breitete sich vor nur aus, wie auf einer Landkarte: Ich gehe nach Sibirien, ich werde dort den Verschickten zur Seite stehen, ich werde sie trösten, ich werde ihnen dienen, ihre Briefe nach der Heimat befördern ,…«

Die Stimme Wjeras versagte, sie schluchzte ,… »Und wenn man bedenkt, bedenkt, daß ich den ganzen Winter mit der Suche nach Arbeit vergeudet habe!« sagte sie dann mit voller, muthiger und freudiger Stimme. »Und die Arbeit liegt da ,… auf der Hand ,… und welche Arbeit! Eine bessere hätte ich mir gar nicht ersinnen können. Ich sage es Dir offen, zu einer andern Arbeit, auch zur revolutionären Propaganda, zur Verschwörung würde ich übrigens vielleicht gar nicht taugen. Dazu gehören große Klugheit, Beredsamkeit, die Kunst, auf die Menge zu wirken, sie zu beherrschen, und das Alles besitze ich nicht. Und außerdem hätte mich immer die Angst erfüllt, daß ich Andere in Gefahr bringen könnte. So gehe ich denn nach Sibirien – das ist ganz für mich die richtige Thätigkeit. Und wie sich Alles einfach, unerwartet, wie von selbst gestaltet hat. Gott, wie glücklich bin ich!« Sie warf sich mir an den Hals und nur küßten uns und weinten.

Sechs Wochen darauf kam ich auf den Bahnhof der Nikolaiewski-Eisenbahn, um mich von Wjera vor ihrer weiten Reise zu verabschieden. Gleich nach der Trauung hatte man Pawlenkow mit einer Schaar anderer Sträflinge nach Sibirien transportirt. Sie hatten einen großen Theil des Weges zu Fuß zurückzulegen. Nun war auch für Wjera die Zeit gekommen, sich aus den Weg zu machen, und mit ihrem Mann an Ort und Stelle zusammenzutreffen. Sie reiste nicht allein; mit ihr fuhren noch zwei Frauen – die Tochter der einen und der Mann der anderen waren unter den Verschickten. Natürlich benutzten sie die dritte Classe, aber das war noch eine sehr luxuriöse und bequeme Reise im Vergleich zu dem, was sie später erwartete. Damals ging die Eisenbahn nur bis zur Grenze des europäischen Rußland; dann mußten sie mit Telegas oder im Schlitten fahren. Im günstigsten Fall, das heißt, wenn sich gar kein Hindernis; auf der Reise einstellt, mußte die Reise zwei, drei Monate dauern.

Und was erwartet sie bei der Ankunft ,…?

Aber alle Drei schienen daran nicht zu denken; alle Drei waren sorglos, und auf ihren Gesichtern lag eine feierliche Freude.

Die ungewöhnliche Erregtheit, in der sich Wjera die erste Zeit nach ihrem kühnen Schritt befand, hatte sich gelegt, sie ging wieder in sich und wurde vor; Neuem jenes stille, verschlossene Mädchen, das ich früher kannte. Sie war bloß ein wenig schmächtiger geworden und schien älter; aber die blauen Augen blickten noch immer muthig und kühn nach vorwärts und es war außerordentlich rührend anzusehen, mit welcher zärtlichen Fürsorge sie ihre beiden Reisegenossinnen, insbesondere die ältere, umgab. Diese Drei verband offenbar eine enge Freundschaft; jene Freundschaft, welche bloß gemeinsames Unglück zu gründen vermag.

Aus dem Bahnhof versammelte sich eine große Menge; Viele kamen aus bloßer Neugierde, Viele aus Theilnahme; und wer Verwandte oder Freunde in Sibirien besaß, wollte ihnen durch die Abreisenden einen Gruß oder eine Nachricht senden. Die Polizei war selbstverständlich stark vertreten.

Mir gelang es kaum, mit Wjera einige Worte zu wechseln, da sich um sie Alles schaarte. Aber als das letzte Glockenzeichen ertönte und sich der Zug in Bewegung setzen sollte, streckte sie mir aus dem Fenster die Hand zum Abschied heraus.

In diesem Augenblick stellte ich mir das Schicksal, das dieses herrliche, junge Geschöpf erwartet, vor, mir wurde so schwer in der Seele und Thränen strömten aus meinen Augen.

»Weinst Du um mich?« fragte Wjera mit einem hellen Lächeln. »Ach, wenn Du wüßtest, wie ich, im Gegentheile, Euch Alle bedauere, die Ihr zurückbleibet!«

Das waren ihre letzten Worte.

 


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