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II.

Die Familie der Grafen Baranzow ist eine vornehme, obgleich man nicht sagen kann, daß sie sehr alten Geschlechtes wäre. Ihr officieller Stammbaum kann allerdings bis Rurik verfolgt werden, aber es ist an der völligen Glaubwürdigkeit dieser Urkunden zu zweifeln erlaubt. Ganz festgestellt ist nur, daß ein gewisser Iwaschka Baranzow als Gemeiner in der Garde Ihrer Majestät der Kaiserin Katharina II. stand; im Gesicht war er Milch und Blut und von Gestalt eine gute Klafter hoch, und er verstand es so gut, der Landesmutter zu dienen, daß er wegen seiner treuen Dienste sofort zum Corporal ernannt und mit einem Grundbesitz von 500 Bauernseelen und 1000 Rubeln belohnt wurde – Seelen waren dazumal billig und das Geld theuer. Seit jener Zeit datirt die Blüthe des Baranzow-Geschlechtes. Mit dem Grafentitel wurde es von Alexander I. ausgezeichnet, an dessen Hof die schöne Gräfin Baranzow einige Zeit eine sehr angesehene Rolle gespielt hatte. Uebrigens sind in den Familienchroniken dieses Geschlechtes in den letzten hundert Jahren nicht bloß Erfolge zu verzeichnen, dasselbe hat auch manches Mißgeschick erfahren. Alle Baranzow's zeichnen sich durch Heftigkeit und Zügellosigkeit im Wünschen aus, und diese Eigenschaft hat sie oft genug in Gefahr gebracht. Mehr als ein bedeutendes Gut, mehr als ein einträgliches Gebiet wurden zu dieser Zeit im Kartenspiel, für Pferde und schöne Frauen vergeudet. Das Glück der Baranzow-Familie begann sich zeitweilig zu trüben, aber durch die Gnade Gottes hellte sich die leichte Wolke in der Sonne der kaiserlichen Huld bald auf. Irgend einer von den Baranzow's hat es immer so einzurichten gewußt, daß er zur rechten Zeit seinem Kaiser und Vaterlande einen Dienst erwies und dann traten an die Stelle der verschwendeten und verlorenen Güter neue große, so daß im großen Ganzen die Familie eigentlich fortfuhr, zu wachsen und zu gedeihen. Wenn aber auch die Güter schnell verschwendet und wieder erworben wurden, ging dagegen unveränderlich ein kostbares Erbe: die ungewöhnliche, sozusagen, die Familienschönheit von Geschlecht zu Geschlecht, vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter über. Es hat unter ihnen nicht einen einzigen Abstoßenden, Mißgestalteten oder überhaupt einen gegeben, der unschön gewesen wäre. Als ob sie einen natürlichen Hang zum Schönen gehabt oder Darwin's Theorie vorausgeahnt hätten, heirateten alle Grafen Baranzow's Schönheiten, fanden alle ihre Töchter schöne Männer. Demzufolge hat sich der Familientypus erhalten und ist in der russischen Aristokratie so bekannt, daß, wenn man von Jemandem sagen wird: »er oder sie hat ein Baranzow-Gesicht« und in der Vorstellung nicht gleich ein bestimmtes Bild erscheint – eine große, stattliche Gestalt, mattweißes, ovales Gesicht mit durchsichtigen, rosigen Farben auf den Wangen, eine niedere, breite Stirne, mit fein gezeichneten, blauen Adern an den Schläfen, wie Rabenflügel schwarzes Haar und blaue, schwarz bewimperte Augen – so bedeutet das, daß man nicht zu den Aristokraten gehört und in den Dingen of the upper ten thousands in Rußland gar nichts versteht.

Dieser Baranzow-Typus war stark und zäh; man konnte in der guten, alten Zeit der Leibeigenschaft an ihm auch die Fähigkeit bemerken, auf die Bauern und das Gesinde der gräflich Baranzow'schen Güter überzugehen. Es war doch merkwürdig! Der Herr oder die jungen Herren brauchten nur auf einem der Güter zu Gast zu sein, so kam nachher gewiß in der einen oder der anderen Bauernhütte – und zwar in derjenigen, wo es junge und hübsche Weiber gab – ein Kind zur Welt mit dem Gesicht eines kleinen Baranzow, mit denselben edlen Zügen der Kinder im Herrschaftshause.

Graf Michail Iwanowitsch Baranzow war ein verdienstvoller Sprosse seiner Familie. Außer seiner Schönheit hatte er das Glück, zu Beginn der Regierung Nikolai's geboren zu werden, in der Periode der vollen Blüthe der Petersburger Garde. Nachdem er einige Jahre in einem Kürassierregiment gedient, viele Frauenherzen gebrochen hatte, erwarb er sich unter seinen Kameraden redlich den schmeichelhaften Spitznamen: »Schrecken der Ehemänner.«

Noch in jungen Jahren verliebte er sich leidenschaftlich in eine entfernte Verwandte Marie Dimitriewna Kudrawzewa, die aus ihrem schönen, wie von einem großen Künstler gemeißelten Gesicht den deutlichen Stempel des Baranzow'schen Geschlechtes trug. Da er Gegenliebe fand, heiratete er und setzte seinen Dienst fort. Er hätte vielleicht auch einen hohen Rang erlangt, aber zu Beginn der Regierung Alexander II. widerfuhr ihm eine kleine Unannehmlichkeit, deren Ursache auch in dem stürmischen Blut der Baranzow und in der verhängnißvollen Baranzow'schen Schönheit lag. Er war auf seine schöne Frau eifersüchtig, forderte einen Gardeofficier zum Duell und tödtete ihn.

Die Affaire wurde schlecht und recht vertuscht, aber dem jungen Grafen ward es nach diesem Vorfall ungemüthlich, in seinem Regiment zu verbleiben; er war genöthigt, um seine Entlassung zu bitten, und reiste auf sein Gut, das er vom Vater, der gerade gestorben war, geerbt hatte. Das war im Jahre 1857. In Petersburg gingen schon vage Gerüchte von der Bauernbefreiung umher, aber bis nach Borki, so hieß das Gut des Grafen Baranzow, waren diese Gerüchte nicht gedrungen. Dort ging Alles noch nach der guten, alten Ordnung. Wie groß zu jener Zeit das Vermögen des Grafen Michail Iwanowitsch war, wußte Niemand genau, am wenigsten er selbst. Das Gut war groß, wenn auch nicht mehr von der früheren Ausdehnung. Der Papa seligen Angedenkens liebte es gleichfalls, recht vergnügt zu leben, und unter ihm noch wurde ein großer Theil des Waldes ausgeholzt und nicht wenige Deßjatin Grund Wiesen verkauft. Michail Iwanowitsch verließ nach ungefähr fünfzehnjährigem Dienst bei den Kürassieren Petersburg, selbstverständlich nicht ohne Schulden. Seine Verwaltung begann er damit, daß er zur Deckung alter Sünden noch ein gut Stück Grund verkaufte und auf den Rest des Gutes eine Anleihe machte. Bis nun ließ sich Alles gut einrichten und der Graf wurde nicht beunruhigt. Der Dorfälteste war tüchtig, er verstand es, Alles ohne Lärm zu arrangiren, ohne überflüssige Gespräche: wenn der Herr Geld nöthig hatte, war es immer zur Hand.

Zur Zeit ihrer Uebersiedlung aufs Land hielten sich der Graf Michail Iwanowitsch und die Gräfin Maria Dimitriewna, trotz ihrer drei erwachsenen Töchter, für sehr jung. Sie nahmen weder Sorgen noch Pflichten auf sich und Niemand bestritt ihnen das Recht, ganz nach Belieben zu leben. Alles nahm hier seinen früheren Lauf, frei und fröhlich. Noch zu Lebzeiten des seligen Herrn war das ganze Haus auf großem, herrschaftlichen Fuß geführt worden: dreißig Pferde zum Ausfahren im Stall, ein englischer Garten, Orangerien und Treibhäuser, eine Menge müssigen und faulen Gesindes.

Die einzige Veränderung, welche die jungen Herrschaften mit sich brachten, bestand darin, daß sie zu den Einfällen des alten Sybaritenthums viele verschiedene hauptstädtische, verfeinerte Liebhabereien hinzufügten, von denen man sich früher auf dem Lande nichts träumen ließ. In den Paradezimmern waren alle Möbel mit Seidenstoff überzogen, die Fenster und Dielen waren früher unbedeckt, jetzt wurden überall Teppiche aufgelegt und Portièren angebracht. Die Diener trugen früher fettglänzende, von den Herrschaften abgelegte Röcke, jetzt nähte man ihnen Livréen. Die Küche übergab man der Verwaltung eines Kochs, der im englischen Club gelernt hatte, und in der Gesindestube fügte man noch zu der Menge der Stubenmädchen, die im Hause aufgewachsen waren und sich mit Nähen, Sticken, Spitzenklöppelei beschäftigten, eine elegante, bezahlte Kammerzofe.

Die junge Herrschaft übte auch mit ihrem Beispiel einen wohlthätigen Einfluß auf die Nachbarschaft aus. Der Gouverneur hat nicht ohne Grund in der Rede, die bei dem Diner zu Ehren der Neuangekommenen gehalten wurde, gesagt, daß sie ein neues Leben ins Gouvernement gebracht haben. In der That begann mit ihrer Ankunft die Aera der Festlichkeiten, Schmausereien und Vergnügungen. Niemand wollte sich vor den Gästen aus der Hauptstadt blamiren.

Die Gutsbesitzer und Gutsbesitzerinnen schüttelten ihre ländliche Faulheit ab. Die früheren harmlosen Zeitvertreibe, die schwerfälligen Geburtstagstafeln, Kartenspiel und Tanz veränderten sich jetzt zu feineren, sozusagen intellectuellen Genüssen. Nach Ankunft des Grafen Baranzow auf seinem Landsitz entstanden im ersten Jahr in ihrer Gouvernementstadt ein Dilettantentheater, Concerte mit lebenden Bildern und Costümabende auf Subscription.

Und Michail Iwanowitsch und Maria Dimitriewna waren entzückt von dem Eindruck, den sie im Gouvernement machten, und Beide waren von der Bedeutung ihrer sogenannten Civilisationsmission ganz durchdrungen. Der Graf hielt sogar bei einem officiellen Diner einen Speech über die Bedeutung der englischen Gentry und drückte den Wunsch aus, daß die russischen Gutsbesitzer zu englischen Landlords werden sollten.

Die Gräfin bemühte sich auch nicht wenig um die Veredlung der Provinzsitten. Sie fühlte sich verpflichtet, kostbare Toiletten aus Petersburg zu bestellen. Das Haus der Baranzow war für Gäste immer offen. Das Diner wurde nach städtischer Art spät genommen und alle Hausgenossen mußten sich vor Tische, wie es bei den Engländern geschieht, umkleiden. Zum Dejeuner reichte man nicht einfachen Schnaps, sondern Englisch-Bitter.

Das Haus der Baranzow war ein schwerfälliges altes Gebäude mit Steinmauern von zwei Arschin Dicke; äußerlich erinnerte es an einen großen, viereckigen Kasten, bei dem man, Gott weiß, weshalb, an verschiedenen Seiten phantastische Laternen und kleine Balkons angebracht hatte. Im Allgemeinen war es von jenem ausgesprochenen, obgleich noch in keinem Lehrbuch der Architektur vorkommenden Styl, den man den Styl der Leibeigenschaft hätte nennen sollen. Ueberall war viel Material verbraucht, aber Alles war plump. Aus Allem ging hervor, daß das Haus zu der Zeit gebaut wurde, als die Arbeit umsonst war und da man Alles mit häuslichen Mitteln bestritt. Die Ziegel brannte man in der eigenen Ziegelei, die Parqueten verfertigten Leibeigene aus dem eigenen Holz; selbst der Baumeister, der den Plan entworfen, war ein Leibeigener. Im Innern unterschied sich die Lage der Zimmer im Hause der Baranzow wesentlich nicht von der Mehrzahl der Gutsbesitzerhäuser jener Zeit: Oben wohnten die Herrschaften, unten befanden sich die Kinderzimmer; das Souterrain war für die Küche und die Dienerschaft bestimmt. Ins Souterrain kam die Gräfin nur zum Auferstehungsfest, um mit dem Gesinde die Osterküsse zu tauschen; ins Kinderzimmer aber blickte sie manchmal auch an gewöhnlichen Tagen, wenn die Zeit es ihr erlaubte, d. h. wenn keine Gäste da waren oder wenn sie keine Besuche machte; das kam übrigens nicht sehr oft vor.

In der Kinderstube des Baranzow'schen Hauses wuchsen heran und entwickelten sich drei Fräulein, die unter der Obhut von zwei Gouvernanten standen, von denen die eine, Mlle. Julie, groß, sehr lebhaft und eine gesprächige Brünette unbestimmten Alters, die andere, Mme. Night, eine stattliche Wittib mit einem strengen, monumentalen, von dicken grauen Locken umrahmten Gesicht, war.

Außer diesen zwei Erzieherinnen umgab überdies nicht wenig anderes Volk die Kinder: die alte Njanja (Kinderfrau), das Stubenmädchen Anisja und ein Laufmädchen.

Kurz, Alles war so bestellt, wie es in einem Herrschaftshaus sein soll. Die drei Fräulein waren für ihr Alter groß, hatten herrliches, dichtes Haar, das man des Morgens zu einem Zopf flocht und zum Diner frei wallen ließ, und alle drei versprachen, mit der Zeit Schönheiten zu werden.

Die zwei älteren, Lena und Lisa, standen schon, sozusagen, auf der Schwelle, um bald aus der Kinderstube in den Salon zu eilen. Die eine von ihnen war vierzehn, die andere dreizehn Jahre alt. Beide lauschten mit leidenschaftlichem Interesse jedem Ton, der von den oberen Stockwerken zu ihnen drang, und Beide murrten gewaltig, daß man sie noch kurze Kleider tragen ließ.

Das dritte Fräulein, Wjera, noch ganz klein, ein Mädchen von acht Jahren, mit rundem, rosigem Gesicht und mit jenem seltsamen, beschaulichen Blick, der fast immer in den Augen der Kinder vorkommt, die ihr eigenes kindliches Leben haben, murrte bis nun noch gegen nichts. Wie bei allen Kindern, deren Leben regelmäßig verläuft, waren bei ihr die conservativen Instincte stark entwickelt; sie war Allem, was sie umgab, unbewußt mit der thierischen Anhänglichkeit eures gepflegten Hausthierchens ergeben, und ihr kam es nie in den Sinn, an dem Verdienst eines ihrer Nächsten zu zweifeln. Ihre Mutter war die beste der Mütter, ihre Kinderstube die beste der Kinderstuben.

Ja, im Hause ging es überhaupt herrlich zu. Ein Jeder kannte seinen Platz und Alle lebten friedlich und ruhig, wie immer in einer Gesellschaft, wo es zuverlässige Stützen gibt und nicht jede einzelne Persönlichkeit genöthigt ist, mit dem Kopf die Mauer einzurennen, um gegebenenfalls für sich einen Ausweg zu suchen.

Im Allgemeinen dachte und flüsterte und träumte man nicht wenig von Liebe – sowohl in den oberen, wie in den unteren Stockwerken des Baranzow'schen Hauses. Und wahrhaftig, außer den Freuden und Leiden der Liebe konnte, wie es schien, nichts den geraden Weg durchkreuzen, der sich vor den drei Fräulein Baranzow eben und glatt wie Leinenfäden ausbreitete.

Nach jeder Richtung war ihr Leben vorherbestimmt und vorhergesehen. Papa und Mama waren fest entschlossen, Lena Mistino, Lisa Stepino und der jüngsten, Wjera, Borki als Mitgift zu geben. Der Graf und die Gräfin wußten auch, daß nach drei, vier Jährchen zur rechten Zeit zweifellos irgend ein Husar oder Dragoner erscheinen und Lena holen wird, und übers Jahr wird ein anderer Husar kommen und entführt Lisa. Und dann ist die Reihe an Wjera. Die Kinder werden nicht in Borki wohnen, sondern anderwärts, in einem anderen Hause, nicht Anisja wird sie bedienen, sondern irgend ein anderes Stubenmädchen; von diesen kleinen Veränderungen abgesehen, wird jede den gleichen Lebenslauf wiederholen, wie die Mutter den Lebenslauf der Großmutter wiederholt hat. Das Alles war sehr einfach und sehr wahr und verstand sich von selbst, ohne darüber nachzudenken, etwa wie man weiß, was man morgen und übermorgen zu Mittag essen wird.

Aber alle diese richtigen und sicheren Pläne wurden durch ein unerwartetes Ereigniß vereitelt, das heißt, thatsächlich kam dieses Ereigniß gar nicht so unerwartet, da man schon zwanzig Jahre vorher davon gesprochen, ganz Rußland darauf vorbereitet hatte; aber wie alle großen Ereignisse hatte es die Eigenthümlichkeit, daß es, als es sich endlich verwirklichte, Allen als etwas plötzlich Dahergeflogenes erschien und Alle unvorbereitet fand.

Den ersten Schatten dieses herannahenden Ereignisses sah Wjera an Folgendem: Zu Ende des Jahres 1860 fand bei den Baranzow ein Familiendiner statt, an dem außer den üblichen Tanten, Großmüttern und nächsten Nachbarn noch ein seltener, würdiger Gast theilnahm – der Onkel aus Petersburg, ein hoher Beamter irgend eines Ministeriums. Er war heute Morgens angelangt und sprach bei Tische selbstverständlich ganz allein, erzählte allerhand Geschichten aus den höheren Regierungskreisen, wovon man aus den Zeitungen gar nichts zu erfahren pflegt. Während des Speisens unterbrach ihn die Gräfin einigemale, gerade wenn die Erzählung am lebhaftesten war. »Stepan! prenez garde!« sagte sie, geheimnißvoll mit dem Kopfe auf die servirenden Diener deutend, obgleich diese ihre gewöhnliche, gänzlich theilnahmslose Miene bewahrten.

Nach dem Dessert begab man sich in den Salon. Der Graf selbst überzeugte sich davon, ob die in alle anstoßenden Zimmer führenden Thüren geschlossen sind. » Vous pouvez parler, Stepan!« sagte er feierlich. Wjera saß auf den Knien des neuen Onkelchen, mit dem sie bereits befreundet war. Man schenkte ihr gar keine Aufmerksamkeit, in der Meinung, sie verstehe noch nichts.

» C'est fait! L'empereur a souscrit le projet, qui lui a été présenté par la commission,« berichtete feierlich das Onkelchen.

Der Mutter, die gerade in diesem Augenblicke Kaffee einschänkte, fielen die Hände schlaff herab; der Löffel erklang auf der Untertasse und einige Kaffeetropfen kamen auf das theure Tischtuch.

» Mon Dieu! Mon Dieu!« sprach sie, in den Stuhl zurücksinkend und das Gesicht mit beiden Händen bedeckend.

Alle Anwesenden, waren von den Worten des Onkels wie versteinert.

»Ist es denn wirklich definitiv entschieden?« fragte der Papa mit stillem, gezwungen ruhigem Ton.

»Definitiv und unwiderruflich! Anfangs Februar werden an alle Pfarrkirchen Manifeste versendet, damit man es am 19. dem Volke bekannt mache,« erwiderte der Onkel, seinen Kaffee mit dem Löffel mischend.

»Das heißt also, jetzt bleibt nichts Anderes übrig, als auf Gottes Gnade vertrauen,« sagte seufzend der Papa.

Einige Augenblicke herrschte allgemeines, schweres Schweigen.

»Mein Gott! Was ist denn das? Nach meiner Ansicht ist das einfach ein Raub,« ließ sich plötzlich die Stimme des alten Simion Iwanowitsch – es war der Onkel des Vaters – vernehmen. In seiner Aufregung sprang er von seinem Sitze auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die weißen Haare fielen ihm in das erhitzte, zornige Gesicht.

»Schreien Sie nicht, Onkel, um Gotteswillen! Les domestiques peuvent entendre« flehte erschrocken die Mama.

»Ja, also erklären Sie mir endlich, was wird es werden? Das heißt, man wird jetzt aufhören, uns zu gehorchen ,… So etwas, nicht wahr?« mengte sich die alte Tante Arina Iwanowna laut und gekränkt ins Gespräch.

»Komm' nicht mit Dummheiten, Schwester,« sagte ungeduldig der Papa und drängte sie sachte mit der Hand weg. »Laß mich Stepan nach Allem gründlich ausfragen, wie es sich gehört.«

Die Herren gruppirten sich um Stepan Michailowitsch, der irgend etwas sehr erregt zu besprechen anfing. Die Frauen fuhren fort, entrüstet zu sein.

» Comment, est ec que l'empereur, qui a l'air si bon, peut nous faire tant de peine?« wunderte sich eine von ihnen.

Der Diener trat ein, um den Kaffee wegzutragen. Sofort schwiegen Alle.

»Fräulein, Sie blieben heute nach dem Diner im Salon. Hörten Sie nicht, wovon die Herrschaften sprachen?« fragte spät Abends Anisja, als sie das kleine Fräulein zu Bett brachte.

Von all dem, was im Salon gesprochen wurde, begriff Wjera bloß, daß ihrer ganzen Familie irgend eine Gefahr drohe. Niemand hatte zwar daran gedacht, ihr Schweigen aufzutragen, aber das Kastengefühl ist in diesem Racenthierchen schon so stark, daß es mit Würde antwortet: »Ich habe nichts gehört, Anisja!«

Obgleich jetzt Allen bekannt war, daß das Manifest nicht nur vom Kaiser unterschrieben worden ist, sondern auch von allen Pfarrkirchen verkündigt werden wird, fuhren die Herrschaften bis zum letzten Tage, bis zur letzten Minute fort, zu besorgen, die Dienerschaft könnte es vorzeitig erfahren.

Die Dienerschaft ihrerseits gab durch nichts zu erkennen, daß sie etwas wußte, und alle Gespräche im Vorzimmer und im Buffet verstummten ebenso rasch, wenn Jemand von den Herrschaften hereintrat, wie die Gespräche im Salon bei dem Erscheinen eines Dieners.

Endlich ist er da, dieser grausame, der längst erwartete, der folgenschwere 19. Februar! Die ganze Familie Baranzow rüstet sich zum Kirchgang. Nach dem Hochamte wird der Priester das Manifest verlesen.

Schon um 9 Uhr Morgens sind Alle angekleidet und bereit. Alles wird heute fieberhaft und zugleich feierlich verrichtet, wie es beispielsweise geschieht, wenn man zu einem Begräbniß fährt. Alle fürchten ein überflüssiges Wort auszusprechen. Selbst die Kinder fühlen instinctiv die Bedeutung und Feierlichkeit des heutigen Tages, verhalten sich still und artig und wagen nicht, irgend eine Frage zu stellen.

Vor der Einfahrt stehen zwei Wagen. Die Equipagen sind blank geputzt, die Pferde tragen das beste Geschirr, die Kutscher haben neue Kaftane.

Der Vater ist auch ganz in Parade, in Uniform mit Orden. Die Mutter in einem theueren Sammtüberwurf; die Kinder sind wie die Puppen geschmückt.

In den ersten Wagen setzen sich die Herrschaften: Der Graf und die Gräfin im Fond, die drei Töchter gegenüber. Im anderen Wagen nehmen die Gouvernanten, die Wirthschafterin und der Verwalter Platz. Das übrige Gesinde geht zu Fuß in die Kirche. Außer den kleinen Kindern und dem verblödeten alten Mathei bleibt keiner zu Hause.

Bis zur Kirche sind es drei Werst. Während der Fahrt führt die Mutter oft das parfumirte Taschentuch an die Augen. Der Vater schweigt finster.

Der ganze Platz vor der Kirche ist schwarz von Menschen. Zwei-, dreitausend Bauern und Bäuerinnen haben sich aus den Nachbardörfern versammelt. Von der Ferne scheint es eine compacte Masse grauer Bauernröcke, unter welchen bald da, bald dort grell das Kopftuch einer Bäuerin hervorsticht.

» Ce spectacle me fait mal! Je pense involontairement à 89!« murmelt hysterisch die Gräfin.

» De grace, taisez-vous, ma chère!« erwidert mit erregtem Flüstern der Graf.

Und heute, wie immer an Festtagen, wartet der Pförtner auf dem Glockenthurme das Erscheinen des Herrschaftswagens ab und wie dieser nur bei der Biegung der Straße sich zeigt, fangen auch schon die Glocken zu läuten an.

Die Kirche ist gesteckt voll; ein Apfel hätte keinen Raum, zu Boden zu fallen; aber nach altem, eingewurzeltem Gebrauch tritt diese ganze, dichte Menge ehrerbietig vor den Herrschaften zurück und läßt sie vor, zu ihrem gewohnten Platze auf dem rechten Chor.

»Beten wir Alle zum Herrn! Beten wir,« verkündete der Priester, in vollem Ornate aus der Sakristei heraustretend.

»Und zu Deinem Geiste,« erwidert der Sängerchor.

Wie ein Mensch, betet heute verzückt die ganze, dichte, graue, dunkle Masse. Die Bauern und die Bäuerinnen bekreuzen sich oft und werfen sich zu Boden. Die gebräunten, düstern, von tiefen Falten durchfurchten Gesichter sind von der Anstrengung beim Beten und vor Spannung wie krankhaft verzerrt.

»Tempel des Seufzens, Tempel der Trauer,
Armer Tempel meiner Erde,
Schwere Seufzer hörten weder
Der römische Peter, noch das Colosseum.«

Aber heute hört man in diesem Tempel weder Seufzer noch Stöhnen. Heute werden in diesem Tempel und nicht nur in diesem allein, sondern in jeder der vielen hunderttausend Kirchen der russischen Erde so heiße, von so unendlichem Glauben und von so inbrünstigen Hoffnungen erfüllte Gebete zum Himmel gesandt, wie sie vielleicht noch kein einziges Mal, seitdem die Erde besteht, gleichzeitig von einem ganzen Hundertmillionen-Volk hinaufgeschickt wurden.

»Herr, unser Heiland! Wirst Du Dich unser erbarmen? Unser Schmerz ist groß und dauert schon so lange! Wird es jetzt besser sein?«

Was wird das kaiserliche Manifest sagen? Bis nun ist sein Inhalt selbst den Herrschaften nur vom Hörensagen bekannt. Thatsächlich weiß noch Niemand etwas, weil die an die Priester geschickten Manifeste mit dem Staatssiegel geschlossen sind, welches erst nach Beendigung des Hochamtes erbrochen wird.

Von der ungewöhnlichen Ansammlung niederen Volkes und den vielen brennenden Kerzen in der kleinen, niederen Kirche wurde es trotz der geöffneten Thüren und Fenster unerträglich schwül. Der schwere Geruch der schweißigen Kleider und der schmutzigen Stiefel mengt sich mit dem Brandgeruch der Wachskerzen und dem Wohlgeruche des Weihrauches.

Aus dem Rauchfasse steigen blaue Rauchwolken auf. Der Athem versagt, die Brust hebt sich schwer und krankhaft und das physische Leiden infolge des erschwerten Athmens, mit der Gespanntheit der Erwartung vereint, wird zu einer unerträglichen Qual und ruft das Gefühl einer unbegreiflichen Angst hervor.

»Wird's bald, bald?« flüsterte die Gräfin hysterisch, die Hände ihres Gatten krampfhaft drückend.

Der Priester holt das Kreuz hervor. Es vergeht eine gute halbe Stunde, ehe alle Anwesenden sich ihm nähern können. Jetzt ist das Kreuzküssen zu Ende.

Der Priester verschwindet für einige Augenblicke hinter dem Altar und erscheint dann wieder auf der Kanzel, in den Händen eine gestempelte Papierrolle haltend, von welcher ein großes Staatssiegel herabhängt.

Ein tiefer, langer Seufzer geht durch die Kirche, als ob die ganze Menge auf einmal aus einer Brust aufgeathmet hätte. Es entsteht plötzlich eine allgemeine Verwirrung, ein großer Theil der Volksmenge, der vorher nicht in die Kirche zu treten vermocht und sich im Vorhof während des Hochamtes ruhig verhalten hat, verliert jetzt die Geduld. Durch die weitgeöffnete Kirchenpforte dringt plötzlich und zu gleicher Zeit die Menge vor. Die vielen Menschen, die vorne stehen, fallen zu Hauf auf die Altarstufen; man schreit, flucht, stöhnt und die Kinder weinen.

»Mon Dieu! Mon Dieu! prenez pitié de nous!« weint beinahe die Gräfin, obwohl ihr gar keine Gefahr droht, da sie vom Chor geschützt ist. Die Kinder sind auch außer sich vor Angst. Nach wenigen Minuten ist die Ordnung in der Kirche hergestellt; es herrscht wieder lautlose, weihevolle Stille. Alle horchen mit angehaltenem Athem ,… von Zeit zu Zeit hört man bloß einen dumpfen, gepreßten, pfeifenden Ton aus der Brust eines asthmatischen Greises oder einen Säugling aufweinen, den die erschrockene Mutter so eifrig in ihren Armen wiegt, daß er sofort verstummt.

Der Priester liest langsam, singend, und die Worte dehnend, so wie er das Evangelium liest.

Das Manifest ist im Amts- und Bücherstyl abgefaßt. Die Bauern hören athemlos zu, aber wie sehr sie sich auch anstrengen wögen, diese Urkunde, die für sie die Frage »Sein oder Nichtsein« entscheidet, zu verstehen, können sie doch nur einzelne Worte erfassen. Der wesentliche Inhalt bleibt ihnen dunkel. Während die Vorlesung sich dem Ende nähert, schwindet nach und nach die erregte Spannung von ihren Gesichtern und verwandelt sich in den Ausdruck einer stumpfen, äugst liehen Verwirrung.

Der Priester ist zu Ende.

Die Bauern wissen noch immer nicht recht, ob sie frei sind oder nicht, und wissen nicht die Hauptsache – die für sie brennende Lebensfrage: wem gehört jetzt Grund und Boden? Schweigend und kopfschüttelnd zerstreut sich die Menge.

Der Herrschaftswagen bewegt sich im Schritt durch die Haufen Volkes. Die Bauern gehen weiter und nehmen die Mützen ab, verneigen sich aber nicht so tief, wie sie es ehedem zu thun pflegten, und bewahren ein seltsames, unheilverkündendes Schweigen.

»Ihre gräfliche Durchlaucht! Wir sind die Ihrigen, Sie sind die Unsrigen!« ruft plötzlich mitten in der allgemeinen Stille die freche Stimme eines betrunkenen, unansehnlichen Bäuerleins in zerlumptem Pelz und ohne Hut, welches, während das Hochamt abgehalten wurde, es schon fertiggebracht hatte, sich zu betrinken; der Betrunkene stürzt auf den Wagen los und bemüht sich im Laufen, mit den Lippen die herrschaftlichen Hände zu berühren.

»Sei nicht zudringlich!« beseitigt ihn zornig ein großer Bursche mit dickem, finsterem Gesicht.

Am Abend desselben Tages versammelte sich die ganze Familie Baranzow im kleineren Salon der Gräfin. Außer den Hausgenossen waren hier auch Mlle. Julie, Tantchen Arina Iwanowna und Onkel Simion Iwanowitsch. Sonst hielten sich Alle am Abend in verschiedenen Zimmern auf, heute aber führt ein gemeinsames Gefühl des Unglücks sie Alle zusammen. Die Mutter liegt mit Migräne auf der Chaiselongue. Mlle. Julie legt ihr kalte Umschläge auf die Schläfen. Der Vater geht mit den Händen auf dem Rücken düster und nachdenklich im Zimmer auf und ab. Der Onkel, in einem Winkel verloren, schnauft tiefsinnig. Die Tante legt Grande-Patience und seufzt dabei von Zeit zu Zeit laut.

Draußen hat sich gegen Abend ein furchtbares Schneegestöber erhoben, im Ofen ist es geradeso, als ob Jemand sich herumschlagen und sehnsüchtig und bange ächzen würde. Auf einmal erhebt sich ein Sturmwind und die Fensterladen schlagen aneinander und die Eisenstäbe auf dem Dache klirren. Die Gräfin erzittert bei jedem Windstoß und springt von der Chaiselongue auf. Im Zimmer wird es dunkler und dunkler. Wie hoch man die Lampe auf dem Tisch auch schrauben mag, brennt sie doch trübe und raucht; aber Alle thun, als ob sie es nicht bemerken würden, man müßte offenbar Oel hinzufüllen. Die Dienerschaft ist heute auseinander gestoben und Niemand will sich erheben, um den Diener zu rufen.

»Die Bauern haben vor einigen Tagen beim Besitzer der Leskowka das Haus angezündet!« sagte plötzlich die Tante. »Und sie werden nicht bloß das eine anzünden!« hört man aus dem Winkel das unheilverkündende Gekrächze des alten Onkels. »Ja, sie haben sich's eingebrockt,« setzt er nach einigen Minuten mit klagend-prophezeiender Stimme fort. »Wir wollen 'mal sehen, wie es auszulöffeln sein wird. Mag diese da,« er zeigte mit der Hand auf Mlle. Julie, »uns erzählen, wie es bei ihnen im Jahre 89 war.«

» Mon Dieu! Mon Dieu! que l'avenir est terible« flüsterte nervös die Mutter.

»Redet doch keinen Unsinn! Der russische Bauer ist kein Jakobiner!« sprach der Vater ruhig und ermutigend, es war aber zu ersehen, daß der Ton erkünstelt, er selbst gar nicht ruhig war.

»Ach, nein, Michel, unser Bauer ist ein Thier, unser Bauer ist ärger als der französische!« Die Mutter erhebt sich in der Erregung und stützt sich auf den Ellbogen. »Du weißt doch, daß der Bauer uns nicht leiden kann!«

Im nächsten Zimmer knarrt die Thüre. Alle fahren zusammen und sehen erschrocken auf. Der Mutter entfährt ein geängstigtes »Ach!«

Stepan war es, der zu melden kam, daß der Thee servirt ist.

Für Wjera ist es Schlafenszeit. Im Kinderzimmer befindet sich Niemand.

Sie öffnet die Corridorthür. Von unten hört man aus der Gesindestube, wo die Dienerschaft ihr Abendbrot einnimmt, unklare Laute, Stimmen, Messer und Tellergeklirr und dröhnendes Gelächter.

Wjera ist es sonst streng verboten, in die Gesindestube zu gehen, aber heute hat man sie vergessen. Auch ihr ist es so schwer zu Muthe und sie will hineinsehen, was dort vorgeht. Sie steht einige Augenblicke unschlüssig – aber sie gehört nicht zu den Furchtsamen. Die Neugierde nimmt überhand, und pfeilschnell begibt sie sich ins untere Stockwerk.

Dort geht es flott zu. Des Morgens war die Stimmung der Dienerschaft zurückhaltend, sogar etwas gedrückt, man fürchtete noch daran zu glauben; aber gegen Abend wurde die Tonart höher. Von irgendwoher kam zum Abendbrot Schnaps, Alle waren angeheitert, von ihrer Zurückhaltung blieb keine Spur zurück. Die Gesichter glühen, die Augen sind feucht und die Haare zerrauft.

Der Geruch der Kohlsuppe und des Roggenbrodes, vermengt mit den schweren Branntweindünsten und den scharfen, die Augen brennenden Rauch des Maschorka-Tabaks, die verstimmten Töne der Harmonika, die einander überschreienden Stimmen – Alles das fiel Wjera beim Eintritt in die Gesindestube auf. Beim Erscheinen des Fräuleins wurden Alle plötzlich still, standen auf und nahmen sich zusammen – aber nur für einen Augenblick – es erhob sich bald der Lärm aufs Neue.

»Fräulein, Fräulein! komm' 'mal her! Nicht fürchten!« hörte man die Stimme des betrunkenen Kutschers.

»Nun, was, die Herrschaften oben weinen? Es thut ihnen leid, daß man es ihnen nicht mehr gestattet, uns zu tyrannisiren?«

»Es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! Niemand hat Euch tyrannisirt. Vater und Mutter sind gut!« ruft Wjera laut und stampft in ohnmächtigem Zorn mit dem Fuß auf den Boden. Das Baranzow'sche Blut ist erwacht. Sie hätte gerne diese unverschämten Knechte geschlagen. Beleidigung und Entrüstung haben in ihr die Furcht gänzlich erstickt.

»Nicht tyrannisirt! Wieso denn nicht? Und hat Ihr seliger Großvater zu seinen Lebzeiten wenige Menschen verstümmelt? Warum hat er den Andjruschka, den Tischler, der nicht an der Reihe war, ins Militär gesteckt? Warum hat er das Mädel Arina auf den Viehhof geschickt?« Von verschiedenen Seiten hört man das Durcheinander von Stimmen.

Die Harmonika ist verstummt. Das Gesinde hat sich zu einem Haufen versammelt und ergeht sich in Geschichtenerzählen aus der alten, guten Zeit – schauerliche, haarsträubende Geschichten, von denen Wjera nie geträumt hat.

»Das war aber der Großvater, und Vater und Mutter sind gut!« Wjera schreit jetzt nicht; sie spricht leise, verschämt, durch Thränen.

Einige Minuten Schweigen.

»Ja, die jungen Herrschaften gehen an, sind gut!« gaben ungern einige Leute zu.

»Das heißt, jetzt ist unser Herr ruhiger geworden, wie er aber noch ledig war, hat er uns Mädels auch genug zugesetzt,« bemerkte boshaft die alte, angeheiterte Beschließerin.

»Ihr Gottlosen! Sündenvolk! Thut Euch das kleine Kind nicht leid!« rief plötzlich die zornig entrüstete Stimme der Kinderfrau. Sie hat ihr Pflegekind schon längst vermißt und ist im ganzen Hause herumgelaufen, aber es kam ihr nicht in den Sinn, das Kind in der Gesindestube zu suchen.

*

Wjera konnte diese Nacht lange nicht einschlafen. Neue furchtbare, erniedrigende Gedanken schwirrten in ihrem Kopf. Sie hätte es selbst nicht genau erklären können, was ihr so leid thut, warum sie sich so bitter, so qualvoll schämt. Sie liegt in ihrem Bettchen und weint, weint. Und von unten, aus dem Souterrain dringen schwere Tritte, verstimmte Harmonikatöne und abgerissene Jauchzer eines Tanzliedes herauf.


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