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Vorwort.

Nach dem am 10. Februar 1891 erfolgten Tode der berühmten Sonja Kowalewska, Professor der Analysis an der Universität zu Stockholm, fand man in ihrem literarischen Nachlaß zwei verschiedenartige Manuskripte des vorliegenden Romanes: »Die Nihilistin«. (»Wjera Baranzow«.) Bei M. Elpidine in Carouge-Genf. Mehrere Capitel waren in schwedischer Sprache abgefaßt. Im Hinblick auf die Strenge der russischen Censur beabsichtigte Sonja Kowalewska, die »Nihilistin« in einer fremden Sprache zu veröffentlichen. Aber dieses Vorhaben wurde, wie so mancher weittragende Plan, vom Tode vereitelt, der diesem rastlos thätigen jungen Leben so jäh ein Ende machte.

Dank der Vermittlung ihrer Freundin, der schwedischen Schriftstellerin Anna Charlotte Edgren Leffler, Herzogin von Cajanello, der Sonja in der Vorahnung ihres frühen Todes wiederholt eingeschärft hatte: »Du sollst meine Lebensgeschichte schreiben, wenn ich todt bin,« gelang es, aus den zwei nachgelassenen Manuskripten einen einheitlichen Text festzustellen.

Wie in den anderen literarischen Werken Sonja Kowalewska's, »Die Schwestern Rajewski«, in welchem sie ihre Jugend schildert, und » Vae victis«, tritt auch in der »Nihilistin« ihre starke Persönlichkeit hervor. Mit der ganzen Intensität ihrer großen Augen, die wie »grüne Stachelbeeren im Syrup« glänzten und auf ihre Umgebung so fascinirend wirkten, dringt sie in die Tiefe der Menschenseele und begreift mit dem ahnenden Sinn der genialen Individualität alle Conflicte des Lebens.

Obgleich sie keiner bestimmten politischen Partei angehörte, fühlte sie warm und tief für alle jene Landsleute, die so opferwillig das Martyrium auf sich nahmen und ihr junges Leben mit allem Anspruch auf persönliches Glück für den goldenen Traum, ihr Vaterland von dem mittelalterlichen Druck zu befreien, hingaben. Einfach, ohne falsche Sentimentalität gibt die Verfasserin in der »Nihilistin« ein anschauliches Bild von der revolutionären Bewegung der Siebziger-Jahre in Rußland.

Der enge Rahmen einer »kurzen Vorrede« macht es unmöglich, ein treffendes Charakterbild dieser genialen Frau mit der großen, traurigen Seele zu entwerfen.

»Sie ist eines jener Räthsel,« sagt Laura Marholm »die von Zeit zu Zeit in die Welt kommen, in denen die Natur ihre Grenzen gesprengt zu haben scheint, die geschaffen sind, einsam zu bleiben, zu leiden und davon zu gehen, ohne in den Besitz ihrer selbst getreten zu sein.«

Sonja Kowalewska wurde am 15. Januar 1850 in Moskau geboren und entstammte der reichbegüterten russischen Adelsfamilie Corwin-Krukowsky. Im Alter von kaum 17 Jahren ging sie nach langem Widerstand ihres Vaters eine Scheinehe mit dem jungen Woldemar Kowalewsky, dem nachmaligen Professor der Paläontologie, ein. Fictive Ehen wurden damals häufig geschlossen, es fanden sich hochsinnige junge Männer, welche die Scheinehe bereitwillig eingingen, um die auch Bildung und Wissen strebenden Mädchen aus der Abhängigkeit von den Eltern zu befreien und ihnen das Studium an einer ausländischen Universität zu ermöglichen – die »höheren Frauencurse« in Petersburg wurden erst einige Jahre später ins Leben gerufen.

Im Jahre 1870 kam die jugendliche Sonja mit ihrem Scheingatten nach Heidelberg und frequentirte die Vorlesungen von Helmholtz und anderen Gelehrten; in Berlin studirte sie bei Weierstraß privatissime und 1874 wurde sie in Göttingen auf Grund dreier Abhandlungen über »partielle Differentialgleichungen« zum Doctor promovirt.

Geistig und physisch völlig erschöpft, kommt sie »mit dem Doctordiplom in der Tasche« nach Petersburg und stürzt sich, gleichsam um die langen, einsamen Jahre versäumter Lebensfreude nachzuholen, in das bewegte, geräuschvolle Treiben der russischen Hauptstadt. Sie wird überall gefeiert und erhält Einladungen, an verschiedenen Zeitschriften mitzuarbeiten. Mit großer Freude geht sie an die literarische Arbeit und verfaßt anonyme Aufsätze, Theaterkritiken u. A.

Diese Epoche ihres Lebens schildert sie selbst zu Beginn des I. Capitels der »Nihilistin«, wo sie mit einer leisen Selbstironie sagt: »Der Ruf einer gelehrten Frau umgab mich wie mit einer Art Aureole; die Bekannten erwarteten irgend etwas von mir, man hatte bereits in zwei, drei Zeitschriften allerhand über mich ausposaunt, und diese mir noch völlig neue Rolle einer berühmten Frau hat mich, wiewohl sie mich etwas verwirrte, im Anfang dennoch belustigt. Kurz, ich befand mich in der seligsten Stimmung, ich durchlebte in dieser Epoche meines Lebens sozusagen la lune de miel meiner Berühmtheit.«

Nach dem Tode ihres Vaters fühlt sich Sonja vereinsamt und in ihrer Verlassenheit schließt sie sich jetzt, nach einer fast siebenjährigen Scheinehe, enger Woldemar Kowalewsky an.

Von da an beginnt die Tragik ihres Seelenlebens. Das Herz erwacht und fordert sein Recht auf Liebe und Glück. Sonja, die bisher nur ihrem abstracten Studium gelebt hat, sehnt sich nun mit der ganzen Leidenschaftlichkeit ihrer phantasiereichen Natur nach Liebe, nach einer unbegrenzten Liebe, die der Gatte ihr nicht bieten kann. Eine nicht zu befriedigende Sehnsucht nach einem großen, unendlichen Liebesglück verläßt sie nicht mehr bis zu ihrem Tode; 1878 wird ihr ein Töchterchen geboren, aber ihre Seele bleibt traurig und einsam. Sie glaubt sich von ihrem Gatten vernachlässigt, verläßt ihn und begibt sich abermals ins Ausland.

Professor Mittag-Leffler, ein Bruder A. Charlotte Leffler's, der Kämpfer für Frauenrecht in Stockholm, setzt nach heftigem Widerspruch der Conservativen ihre Berufung als Professor der Mathematik an die Stockholmer Universität durch.

Die Nachricht vom Selbstmord ihres Gatten, den mißglückte Bau- und Zeitungsunternehmungen zu diesem Schritt veranlassen, erschüttern Sonja aufs Tiefste; qualvolle Reue, ihn verlassen zu haben, bemächtigt sich ihrer und sie verfällt in ein Nervenfieber, von dem sie sich nur schwer und langsam erholen kann. Nach der Genesung wendet sie sich wieder ihren wissenschaftlichen Studien zu und unternimmt häufig Reisen nach Berlin und Paris, kehrt aber immer schwereren Herzens nach Stockholm zurück, wo ihr die Verhältnisse klein und eng erscheinen.

Im Jahre 1888 erlebt sie einen großen Triumph – in Anwesenheit vieler Gelehrten der Akademie der Wissenschaften in Paris wird ihr der Prix Bordin zuerkannt.

Aber auch dieser Erfolg vermag sie nicht ganz auszufüllen; sie steht unter dem schweren Eindruck einer bitteren Enttäuschung – ihre Liebe zu M., »der genialsten Persönlichkeit, die ihr begegnet war«, wird nicht in dem Maße erwidert, wie sie es erwartet und gefordert hat. Und die preisgekrönte Sonja Kowalewska beneidet ihre Freundin J., die, von Liebe und Bewunderern umgeben, in Paris ein glänzendes Heim bewohnt!

Ohne einen Schimmer von Hoffnung und freudlos, geht sie wieder – gealtert und abgehärmt – nach Stockholm, wohin sie die Pflicht ruft, und erfüllt hier mit übermäßigem Eifer ihre Aufgabe. Sie vernachlässigt ihre Kleidung, ihre Gesundheit ,… das Leben ist ihr eine Last und sie sehnt sich oft nach dem Tode.

»Warum, warum kann mich Niemand lieben?« fragt sie bitter. »Ich könnte ja einem Anderen mehr als fast jedes andere Weib sein!« Anne Charlotte Leffler: »Sonja Kowalewska, was ich mit ihr zusammen erlebt habe und was sie mir über sich selbst mitgetheilt hat.«

Gleich ihrer congenialen Landsmännin Marie Baschkirzew bleibt die gefeierte, preisgekrönte, beneidete, bewunderte, an wissenschaftlichen Ehren und literarischen Erfolgen reiche Sonja Kowalewska einsam.

Mit dem glühenden Durst nach Liebe auf den Lippen sterben diese zwei herrlichen Frauen, die vielleicht unbewußt die Liebe als das Symbol des Unbegrenzten, Räthselhaften und Wunderbaren ihrer Seelen so vergebens auf der Erde gesucht haben ,…

Louise Flachs-Fokschaneanu.
Wien, im März 1896.

Buchschmuck


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