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I.

Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, als ich mich in Petersburg niederließ. Drei Monate vorher hatte ich eine der ausländischen Universitäten absolvirt und war mit dem Doctordiplom in der Tasche nach Rußland, zurückgekehrt. Nach einem fünfjährigen, zurückgezogenen, beinahe völlig einsiedlerischen Leben in einem kleinen Universitätsstädtchen erfaßte mich auf einmal das Petersburger Leben wie ein Rausch. Für eine Zeitlang vergaß ich die Begriffe von analytischen Functionen, Raum, vier Dimensionen, die noch vor Kurzem meine ganze innere Welt erfüllten, und gab mich mit der ganzen Seele den neuen Interessen hin; ich machte links und rechts Bekanntschaften, bemühte mich in die verschiedensten Kreise einzudringen und verfolgte mit brennender Neugier die Erscheinungen dieses verwickelten, im Grunde so leeren, aber auf den ersten Blick so verlockend aussehenden Chaos, das man Leben heißt. Alles interessirte und freute mich jetzt. Es zerstreuten mich die Theater und die Wohlthätigkeits-Soiréen und die literarischen Kreise mit ihren endlosen, zu nichts führenden Disputen über alle möglichen abstrakten Themata. Die gewöhnlichen Besucher dieser Kreise waren der Dispute schon überdrüssig, für mich hatten sie noch den ganzen Reiz der Neuheit. Ich gab mich ihnen mit dem Enthusiasmus hin, dessen nur der von Natur gesprächige Russe fähig ist, welcher noch dazu fünf Jahre hindurch ausschließlich in Gesellschaft zweier, dreier Specialisten lebte, die von ihrer engen, sie gänzlich ausfüllenden Beschäftigung in Anspruch genommen sind und nicht begreifen können, wie man seine kostbare Zeit mit müßigem Tratsch vergeudet. Das Vergnügen, welches ich an dem Verkehr empfand, theilte sich auch der Umgebung mit. Indem ich mich selbst hinreißen ließ, brachte ich neue Bewegung und neues Leben in jenen Kreis, den ich frequentirte. Der Ruf einer gelehrten Frau umgab mich wie mit einer Art Aureole; die Bekannten erwarteten irgend etwas von mir, man hatte bereits in zwei, drei Zeitschriften allerhand über mich ausposaunt, und diese mir noch völlig neue Rolle einer berühmten Frau hat mich, wiewohl sie mich etwas verwirrte, im Anfang dennoch belustigt. Kurz, ich befand mich in der seligsten Stimmung, ich durchlebte in dieser Epoche meines Lebens sozusagen la lune de miel meiner Berühmtheit; ich wäre bereit gewesen, auszurufen: »Alles ist auf das Beste bestellt in dieser besten der Welten.« Heute war ich besonders guter Laune. Gestern hatte ich eine Abendunterhaltung in der Redaction einer neuen, eben erschienenen Zeitschrift mitgemacht; auch ich wurde zum Mitarbeiten aufgefordert. Dieses neue Unternehmen beschäftigte alle Mitarbeiter außerordentlich, und die Redactions-Samstage zeichneten sich durch ungewöhnliche Lebhaftigkeit aus. Gegen drei Uhr Morgens kam ich nach Hause; ich stand daher heute spät auf, verbrachte lange beim Morgenthee und durchflog mit Interesse einige Zeitungen. Ich las die Anzeige von dem Gelegenheitsverkauf eines geschnitzten Bücherschrankes und fuhr hin, um ihn zu besichtigen. Auf dem Wege dahin traf ich in der Pferdebahn eine bekannte Dame, die wie ich Comitémitglied der gerade vor Kurzem eröffneten »höheren Frauencurse« war, ich sprach mit ihr von »Geschäften«, besuchte noch zwei, drei Bekannte und kehrte gegen vier Uhr nach Hause zurück; ich saß jetzt ruhig im Stuhl vor dem geheizten Kamin und betrachtete mit Vergnügen mein hübsch eingerichtetes Arbeitszimmer. Nach fünfjährigem Herumwandern in verschiedenen möblirten Zimmern bei deutschen Wirthinnen war ich jetzt wirklich froh über das mir neue Vergnügen an meinem eigenen, gemüthlichen Winkelchen.

Es klingelte im Vorzimmer. »Wer mag das sein?« dachte ich, im Geiste alle Namen meiner verschiedenen Bekannten aufzählend, und mit einer gewissen Unruhe warf ich einen Blick in den Spiegel, um mich zu vergewissern, daß meine Toilette in Ordnung ist. Eine hohe junge Frau in einem einfachen Tuchpelz trat ins Zimmer ein. Infolge meiner Kurzsichtigkeit konnte ich nicht gleich unterscheiden, ob ich diese Person kenne – und ich konnte dies umsoweniger, als ein schwarzes Kopftuch beinahe völlig ihr Gesicht verhüllte und nur ein kleines, regelmäßiges, vom Frost leicht geröthetes Näschen frei ließ. Ich erhob mich, um freundlich, aber mit einem gewissen Erstaunen im Blick dem Gast entgegenzugehen.

»Entschuldigen Sie, daß ich mich entschlossen habe, Sie zu belästigen, obgleich ich Sie nicht persönlich kenne,« sagte die Eintretende. »Ich bin Wjera Baranzow. Sie werden sich meines Namens kaum erinnern, obschon unsere Eltern Gutsnachbarn waren. Ich habe von Ihnen in den Zeitungen unlängst gelesen. Ich weiß, daß Sie lange im Auslande studirt haben, und überall erzählt man sich, daß Sie ein guter, ernster Mensch seien. Da fiel es mir ein, daß Sie mir mit einem Rath beistehen könnten.«

Das Alles sprach sie in einem Athem und hastig, mit voller, überaus angenehmer Bruststimme. Ich war verwirrt und geschmeichelt von diesem Beweis meiner Berühmtheit. Zum ersten Mal hat sich an mich ein Unbekannter um Rath gewendet.

»Ah, ich freue mich sehr! Bitte, setzen Sie sich. Legen Sie doch Ihren Pelz ab,« stammelte ich freundlich und sehr verwirrt.

Wjera warf das schwarze Tuch vom Kopf ab. Ich war erstaunt, eine solche Schönheit zu sehen.

»Ich bin allein auf der Welt und hänge von Niemandem ab. Mein persönliches Leben ist abgeschlossen. Für mich erwarte und will ich nichts mehr. Aber mein leidenschaftlicher, flammender Wunsch ist, der »Sache« nützlich zu sein. Sagen Sie, lehren Sie mich, was zu thun,« sagte Wjera plötzlich, ohne Einleitung, sogleich auf den Zweck ihres Besuches übergehend. Von jeder Anderen hätte dieser sonderbare, unerwartete Anfang unangenehm, wie eine Effecthascherei berühren können, aber Wjera sprach so einfach, in der Stimme hörte man einen so aufrichtigen, flehenden Ton, daß ich gar nicht daran dachte, mich zu wundern. Dieses hohe, schlanke Mädchen mit dem blassen Gesichte und den sinnenden blauen Augen war mir mit einem Male außerordentlich nah und sympathisch. Ich befürchtete nur Eines: daß ich ihr Zutrauen nicht rechtfertigen, auf ihr Ansuchen in nicht entsprechender Weise antworten und ihr keinen nützlichen Rath werde geben können. Und mein eigenes Leben der letzten drei, vier Monate erschien mir mit einem Male so leer und unbedeutend; alle Interessen, die mich erfüllten, verloren an Sinn und Bedeutung. Plötzlich schnitten mir Gewissensbisse ins Herz. »Was werde ich ihr sagen? Womit ihr helfen?«

Da ich nicht wußte, womit beginnen, bat ich Wjera, Platz zu nehmen, und ließ Thee bringen. In Rußland kann kein herzliches Gespräch ohne den Samowar geführt werden. Was mich bei Wjera gleich überraschte, war ihre völlige Gleichgiltigkeit gegenüber allem Aeußerlichen. Sie glich denjenigen Hellseherinnen, deren Blick von einem einzelnen Gegenstände so sehr absorbirt ist, daß sie unfähig sind, andere Eindrücke aufzunehmen.

Ich fragte sie, ob sie schon lange in Petersburg weile, ob sie in ihrem Hotel gut untergebracht sei? Aber auf alle diese Fragen antwortete Wjera zerstreut, mit einer gewissen Unzufriedenheit. Die Kleinlichkeiten des Lebens haben sie augenscheinlich gar nicht interessirt. Wiewohl sie noch nie in Petersburg gewesen war, überraschte und interessirte sie das hauptstädtische Getriebe nicht. Sie war bloß von Einem Gedanken ganz eingenommen: einen Inhalt und Zweck des Lebens zu finden. Es zog mich mächtig zu diesem jungen Mädchen, das so wenig den anderen glich, die ich vorher kennen gelernt hatte. Ich bemühte mich darum, ihr Vertrauen zu gewinnen, in ihre geheimsten Gedanken einzudringen. Auf ihre Frage erwiderte ich, daß ich ihr keinen Rath geben könne, ehe ich sie nicht näher kennen lerne. Ich bat Wjera, mich, wenn möglich, oft zu besuchen und mir ihre ganze Vergangenheit zu erzählen. Wjera selbst hatte daran gedacht, sich ganz mitzutheilen und antwortete auf alle meine Fragen mit ungezwungener Offenherzigkeit. Nach wenigen Wochen drang ich in ihr Herz ein und las darin so klar, wie eine Frau nur in dem Herzen einer anderen lesen kann.


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