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V.

Am nächsten Tage machte Wasilzew den ersten Besuch beim Grafen Baranzow. Die Bekanntschaft war bald geschlossen und als nach einiger Zeit Wasilzew Wjera Unterricht zu geben wünschte, wurde der Antrag dankbar angenommen, umsomehr, als der Graf trotz seiner Sorglosigkeit zeitweilig Gewissensbisse bei dem Gedanken empfand, daß die jüngste Tochter aus dem Geschlechte der Baranzow so wenig von Bildung belastet, wie irgend ein Dorfmädel heranwächst. Die Schwestern Wjeras zweifeln seit dieser Zeit nicht mehr daran, daß sie den Nachbar an sich gefesselt hat. Sie gratulirten ihr scherzweise zu der Eroberung. Das Aufziehen mit ihrem »Verehrer« wurde ihnen bald zur Gewohnheit.

Dieses Gerede und die Neckereien erzürnten und verwirrten Wjera im Anfang. Nach und nach fing sie jedoch an, ein gewisses Vergnügen daran zu finden. Je nun, es ist ja stets schmeichelhaft, wenn gesagt wird, daß Jemand in uns verliebt ist. Wjera wuchs sogar in ihren eigenen Augen und wurde bedeutender, seitdem sich ein Verehrer für sie gefunden hatte.

»Nun, wie war er heute zu Dir? Hat er sich noch nicht erklärt? Verheimliche nichts, ich bitte Dich! Erzähle Alles!« drängten die Schwestern nach jeder Lection mit Wasilzew in sie.

Und Wjera begann fast gegen ihren Willen zu erzählen und auch gegen ihren Willen Einiges dazuzufügen. Gott weiß übrigens, wie das kam! Die Schwestern verstanden es so gut, jedes von Wasilzew gesprochene Wort zu erklären und zu deuten, daß es wahrhaftig auch ganz anders klang, als in jenem Augenblicke, da es ausgesprochen wurde.

Wjera selbst bemerkte es nicht, wie der Nachbar sich allmälig ihrer Gedanken bemächtigte und sein Bild ihr verändert erschien.

»Ein langer, unansehnlicher, nicht junger Mann mit einem sandfarbenen Gesicht und so kurzsichtigen Augen, daß sie wahrscheinlich auch mit der Brille nichts sehen!« so beschrieb sie den Nachbar gleich nach ihrer Bekanntschaft im Sumpf. Jetzt, da er ihr anerkannter Verehrer wurde, wollte sie ihn so sehr zum Helden erheben, daß sie an ihm täglich ein neues Verdienst entdeckte. Heute fand sie, daß er ein angenehmes Lächeln habe, morgen bemerkte sie, daß sich beim Lachen ihm rund um die Augen so komische, liebe Falten bilden, und diese Falten erschienen ihr mit einem Male außerordentlich angenehm.

Sie lebte jetzt in fortwährendem Zustand unbewußter Erwartung. Für jede Lection bereitete sie sich mit Herzklopfen vor und während derselben war sie nervös, aufgeregt und zitterte beständig: Wird es nicht heute?

Wjera und Wasilzew sind allein im Zimmer. Die Lection war zu Ende, aber der Lehrer schickte sich noch nicht zum Fortgehen an. Er legte die Bücher zur Seite, ließ sich in den Stuhl nieder, stützte den Kopf auf die Hand und dachte nach. Dies geschah bei ihm nicht selten.

Wjera sitzt unbeweglich neben ihm. Es wird ihr mit einem Male so unbehaglich, so schwer, sich zu regen. Sie heftet die Augen auf die nicht große, braune, magere Hand Wasilzew's und betrachtet mechanisch die eine dicke, blaue Ader, die an der Handwurzel beginnend, zwischen ein paar dunklen Härchen bald wieder schmäler wird und sich bis zum Mittelfinger windet.

Es dämmert schon. Alles wird dunkel und die Umrisse verschwinden. Während die Hand Wasilzew's sich wie mit einem Flor überzieht, strengt Wjera unbewußt ihren Blick an. Es kommt über sie wie eine seltsame Erstarrung; mit jedem Augenblick wird es ihr schwerer sich zu bewegen; das Herz pocht mit starken, vollen Schlägen, in den Ohren rauscht es, als ob irgendwo in der Ferne Wasser fließen würde.

Wasilzew fährt auf einmal aus seiner Versunkenheit auf.

»Wjerotschka (Wjerchen), liebes ,…« begann er weich, wie einen früheren Gedanken fortsetzend, und legte seine Hand zärtlich auf sie.

»Da ist sie!« zuckte es wie ein Blitz durch Wjeras Kopf. »Gleich kommt die Erklärung!« Aber ihre Nerven sind zu gespannt. In der Brust krampft sich etwas zusammen und steigt in den Hals – noch ein Wort und sie erstickt.

»Bitte! Bitte! Sprechen Sie nicht! Ich weiß es ja ohnedies,« entrang es sich ihr mit gepreßtem Laut. Sie erhob sich und lief in die entgegengesetzte Ecke des Zimmers. Der bestürzte Wasilzew sah sie einige Minuten sprachlos, ganz verloren an.

»Wjerotschka, was hast Du?« fragte er endlich still und ängstlich.

Der Ton seiner Stimme brachte Wjera zu sich und es wurde ihr mit einmal klar, daß sie eine große entsetzliche Dummheit begangen. Was soll sie jetzt anfangen? Wie ihm erklären?

»Ich glaubte ,… mir schien es ,…« stammelte sie unzusammenhängend und seufzte.

Wasilzew wandte den Blick von ihr nicht ab und der Ausdruck der ängstlichen Bestürzung veränderte sich allmälig auf seinem Gesicht in den Ausdruck eines unangenehmen, ärgerlichen Verdachtes.

»Wjera, ich wünsche, ich fordere, daß Sie mir sagen, was Ihnen schien!«

Er steht vor ihr und hält ihre Hand fest. Seine Stimme klingt rauh und metallisch. Die blauen, kurzsichtigen Augen bohren sich wie zwei Schrauben in ihr Gesicht. Unter dem Eindruck seiner eindringenden, forschenden Blicke fühlt Wjera, daß sie den Willen und ihre ganze Selbstbeherrschung verliert. Sie weiß, daß das Bekenntniß schrecklich sein wird, aber wenn es auf Leben und Tod ginge, könnte sie ihm auch nicht die Wahrheit verschweigen oder eine Lüge sagen.

»Ich dachte ,… daß Sie in mich verliebt sind!« flüstert sie endlich abgerissen und kaum vernehmbar. Wasilzew ließ ihre Hände, wie von einer Biene, gestochen, los.

»Ach, Wjera, auch Sie sind nicht besser als die Anderen, auch Sie sind eine Zierpuppe!« sagte er vorwurfsvoll und verließ das Zimmer.

Wjera blieb allein, unglücklich, vernichtet.

»Gott! Welche Schande! Wie kann man nach solch einer Schmach leben!« Das ist der erste Gedanke, der ihr am darauffolgenden Morgen nach einigen Stunden fieberhaften Vergessens zum Bewußtsein kommt. Es ist noch früh ,… sie hört von den Betten der Schwestern ruhiges, gleichmäßiges Athmen. »Beide haben gestern nichts bemerkt, nichts geahnt; was werden sie aber sagen, wenn sie erfahren! Während eines ganzen Monates eine interessante Heldin eines spannenden Romanes sein und mit einem Male sich einfach als ein dummes, hochmüthiges Mädel erweisen! O, welche Schande! Welche Schande!«

Wjera verbirgt den Kopf unter der Decke und weint bitterlich, konvulsivisch, mit den Zähnen das Kissen beißend, um das Schluchzen zu ersticken. Lena dreht sich in ihrem Bette um. Die Schwestern erwachen. »Wenn sie nur nichts bemerkten!« Dieser Gedanke macht Wjeras Thränen plötzlich versiegen. Als ob nichts geschehen wäre, kleidet sie sich an und den ganzen Tag geht, spricht, lacht sie sogar, als ob sich nichts ereignet hätte. Manchmal gelingt es ihr auch wirklich für einen Augenblick zu vergessen, was geschehen, aber im Herzen ist noch immer derselbe dumpfe, aufdringliche Schmerz, so ganz frisch. Der Tag, der für die Lection bestimmt war, ist da. »Was wird jetzt geschehen!« denkt Wjera und erschauert bei dem Gedanken alt das Wiedersehen mit Wasilzew.

Gegen drei Uhr kommt vom Nachbargut ein Junge mit einem Brief vom Herrn gelaufen: er ist unwohl, er bittet um Entschuldigung, er kann nicht zur Lection kommen.

»Gott sei Dank!« denkt Wjera und athmet erleichtert auf. Es beginnt für sie wieder ihr früheres, langweiliges, mäßiges Leben, wie es bis zur Bekanntschaft mit Wasilzew gewesen. Sie läuft wieder in allen Winkeln umher, weiß nicht, was mit sich anfangen, woran sich klammern. Wie sie es auch zu verheimlichen sucht, die Schwestern argwöhnen doch etwas und verfolgen sie mit verletzenden, zudringlichen Fragen. Wjera flieht jetzt oft ihre Gesellschaft.

So verstrich die eine Woche und eine neue begann. Wasilzew ist noch immer nicht erschienen. »Er kommt nie wieder!« dachte Wjera verbittert und sehnsüchtig. Sie saß einmal im leeren Classenzimmer allein und blätterte zerstreut und gleichgiltig in einem bereits zehnmal gelesenen Buche, als sie plötzlich im Corridor die bekannten Schritte hörte. Das Blut strömte ihr rasch zum Herzen; einen Augenblick schien es ihr, daß es zu schlagen aufgehört habe. Ihr erster Gedanke war, aufzuspringen und davon zu laufen, aber ehe sie noch ihre Absicht ausführen konnte, war Wasilzew scholl im Zimmer. Sein Aussehen war ruhig und gutmüthig, ganz wie sonst, als ob sich nichts Besonderes zugetragen hätte und diese zehn qualvollen Tage gar nicht gewesen wären.

Und Wjera? Sie hatte ihn in der vergangenen Woche gehaßt; jetzt aber erfaßte sie eine athembeklemmende, unsinnige Freude. Sie empfand natürlich quälende Scham, aber die Freude war doch das überwiegende Gefühl.

»Wjera, meine kleine Freundin, so kann es nicht fortgehen!« sagte er wie zu einem Kind mit ruhiger, zärtlicher Stimme. »Zwischen uns hat sich ein kleines Mißverständniß eingeschlichen – ein sehr unangenehmes, ärgerliches Mißverständniß – aber jetzt werden wir uns ein- für allemal aussprechen, dann dasselbe ganz vergessen und wie früher Freunde sein. Ich bin doch dreiundvierzig Jahre alt, Wjerotschka, ich bin ja ein alter Mann, beinahe dreimal so alt wie Sie; Sie könnten meine Tochter, aber nicht meine Frau sein. Mich in Sie zu verlieben, wäre von mir nicht nur eine Dummheit, sondern auch eine Niederträchtigkeit. Ich habe auch, Gott sei Dank, nie daran gedacht, mich in Sie zu verlieben. Deswegen habe ich Sie innig und aufrichtig liebgewonnen und möchte sehr gerne, daß aus Ihnen ein guter Mensch werde. Die Zierpuppen bilden sich ja doch nur ein, Wjerotschka, daß ein Mann keine halbe Stunde in ihrer Gesellschaft weilen könne, ohne ihnen den Hof zu machen, und Sie sind doch keine Zierpuppe, nicht wahr?«

Wjera steht stumm, mit gesenktem Kopfe da; große Thränen zittern auf ihren langen Wimpern, und sie denkt nicht im Entferntesten daran, Wasilzew in diesem Augenblicke zu hassen.

»Hören Sie, meine Freundin, geben Sie mir Ihre Hand,« fuhr Stepan Michailowitsch fort. »Um Ihnen zu beweisen, wie sehr ich Ihre Freundschaft schätze, werde ich Ihnen sagen, was ich seit vielen, vielen Jahren Niemandem gesagt habe. Einmal im Leben habe ich wirklich ein Mädchen geliebt. Einer Besseren, Lieberen bin ich unter den Frauen nicht begegnet. Aber ihr Schicksal war schrecklich. Es war gleich nach dem Karakosow-Attentat. Damals nahm man ja Viele fest; es genügte ein einziges, unbedachtes Wort, um in die Festung zu kommen. Und auch sie wurde verhaftet. Die Gefängnisse waren überfüllt und sie mußte sechs Monate in einem feuchten, finsteren Erdgeschoß verweilen, das von Wasser überschwemmt war. Und sie war so zart und schwächlich. Als endlich die Untersuchung ihrer Angelegenheit an die Reihe kam, zeigte es sich, daß gar keine Beweise gegen sie Vorlagen. Man mußte sie freilassen. Aber in jenem schrecklichen Erdgeschoß zog sie sich eine so entsetzliche Krankheit zu, wie es auf Erden keine schlimmere gibt: sie bekam den Beinfraß im Gesicht – Gefängnißbeinfraß, so heißt er auch. Im Laufe der folgenden drei Jahre, Wjerotschka, starb sie eines langsamen Todes. Ich wich selbstverständlich während der ganzen Zeit nicht einen Schritt von ihr; täglich mußte ich mitansehen, wie die furchtbare, unerbittliche Krankheit sie entstellte und bei lebendigem Leibe verzehrte. Ihre Schmerzen waren so groß, daß selbst ich, der sie mehr als Alles in der Welt liebte, den Tod als Erlöser herbeisehnen mußte. Jetzt begreifen sie, Wjerotschka, daß ein Mensch, der so etwas im Leben ertragen hat, die Liebe nicht als einen Scherz ansehen kann. Ja, aufrichtig gesagt, in einem Lande, wo derartige Dinge möglich sind, hat man auch kein Recht an persönliche Liebe oder persönliches Glück zu denken.«

Wasilzew's Stimme versagte vor Erregung. Wjera weinte leise und bitterlich.

Nicht lange nachher zeigte Wasilzew ihr das Bild seiner gewesenen Braut, wie sie vor ihrer Krankheit aussah: ein schönes, intelligentes, braunes Gesicht mit schwarzen, träumerischen Augen. Wjera glaubte, noch nie im Leben ein schöneres Gesicht als dieses gesehen zu haben; mit Andacht drückte sie die Lippen auf das Bild, wie auf das Antlitz einer Märtyrerin, und mit Thränen in den Augen wiederholte sie das Gelübde, das sie einmal gethan: Sich die Märtyrerkrone zu erkämpfen. Sie wird sich nur deshalb nicht nach China begeben, jetzt weiß sie, daß dies das Schicksal Vieler in Rußland ist.

Seit jenem Tage gab es kein Mißverständniß mehr zwischen Wjera und Wasilzew, und ihre Freundschaft war dauernd, für immer befestigt.


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