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IV.

Das Haus der Baranzow stand auf einer Anhöhe; gegen Norden senkte sich der Hügel zu einem großen Teich herab, der selbstverständlich von den Händen der Leibeigenen gegraben war. Hier war ein Garten angelegt, im Style von Versailles mit geraden, kiesbedeckten, kleinen Wegen, mit Blumenbosquets in Form von Vasen oder Herzen und mit einer Anzahl von Jasmin-, Flieder- und Birkenlauben. Einst hätte diese Seite des Hauses den Blick eines jeden Liebhabers der zugestutzten Natur fesseln können, jetzt aber, da statt des ehemaligen Gartenkünstlers mit einem ganzen Stab Gehilfen der Garten nur von einem Bauern, einem Autodidakten, und zwei Burschen in Stand gehalten wurde, bot er einen traurigen, verkommenen Anblick. Der Teich war schlammig und diente unzähligen Geschlechtern von Mücken als Niederlassung; die Lauben drohten einzustürzen; auf den Pfaden sproß das Gras hervor. Es gibt nichts Traurigeres, als den ungepflegten Ziergarten eines Gutsbesitzers. Dafür war es aber auf der anderen Seite, – nicht die Facadenseite – um welche man sich weniger bemühte und wo die Natur sich selbst überlassen war, noch jetzt sehr schön. Unmittelbar an das Haus schloß sich ein Eichenwäldchen, hinter welchem der Berg steil zum Bache abfiel. Dieser rauschte und schäumte bei hohem Wasserstand, zur Zeit der Trockenheit wurde er zu einem sandigen Graben, in dessen Mitte ein dünnes, schmales Wasseräderchen sickerte. Der ganze Abhang, war mit dichtem Gestrüpp bewachsen; im Frühling war er von den weißen, duftigen Blüthen der Ahlkirschbäume wie mit Milch übergossen und ringsum erklangen die Lieder der Goldamsel, Grasmücken, Laubzeisige und verschiedener anderer kleiner Vögel. Manchmal flogen auch Nachtigallen herbei. Im Herbst gab es eine Menge Haselnüsse und wilde Himbeeren. Im Winter häufte sich dort so viel Schnee auf, daß der Abhang eine abschüssige, feste Masse bildete, aus der hier und dort schwarze Weidenzweige hervorragten.

Mit dem Abhang schloß auf dieser Seite der Besitz der Baranzow ab. Auf dem gegenüberliegenden Ufer des Baches lag schon das Gebiet eines anderen Gutsherrn, Stepan Michailowitsch Wasilzew. Dieser hatte die Grafen wenig behelligt, da er niemals auf seinem Landsitz lebte. Sein einstöckiges Holzhaus stand immer mit geschlossenen Thüren und Läden da, und der verwahrloste Garten verwandelte sich in eine grüne, schattige Einöde, auf der unter dem Schatten alter Linden in ungeheurer Menge Kletten wuchsen und die flaumigen Köpfchen der Butterblumen überall zwischen den kleinen Blüthen verwilderter Glockenblumen und Nelken weiß hervorschimmerten.

Von Wasilzew erzählte man sich, daß er ein sehr gelehrter Mann sei. Im Winter lebte er in Petersburg, wo er Professor am technologischen Institute war; während des Sommers, zur Ferienzeit, verreiste er gewöhnlich ins Ausland und vergaß, wie es schien, gänzlich sein nicht allzu großes, vom Vater ererbtes Gut. Aber in diesem denkwürdigen Winter blieb vor dem Thor des Wasilzew'schen Hauses einmal ein Postschlitten mit kleinen Schellen stehen; im Schlitten saßen zwei Gendarmen und zwischen ihnen der Besitzer des Landgutes selbst.

Die Sache war sehr einfach. Wasilzew galt schon lange als liberal und stand bei vielen einflußreichen Persönlichkeiten schlecht genug angeschrieben. Während dieses Winters veranstalteten die Professoren und Studenten des technologischen Instituts anläßlich einer Jahresfeier ein Bankett, dem auch der Großfürst, der hohe Protector der Anstalt, beiwohnen sollte. Seine Hoheit ließ merken, daß es ihm nicht erwünscht sei, mit Wasilzew zusammenzutreffen; man verständigte diesen davon, er aber antwortete: wenn es sich so verhält, möge man ihm ein officielles Verbot, an dem Bankett theilzunehmen, zuschicken; er betrachte sich gerade so wie jeder andere Professor als Gastgeber. Ein officielles Verbot erfolgte natürlich nicht, und an dem fest gesetzten Tag nahm er neben den anderen Professoren ruhig seinen Platz an der Tafel im Festsaal des Institutes ein. Zwei Tage nach diesem Vorfall erschien bei ihm der Chef der geheimen Polizei und schlug ihm freundlich vor, seine Demission einzureichen und auf seinem Familienlandsitz Aufenthalt zu nehmen, ohne das Recht, denselben zu verlassen. Zur größeren Sicherheit theilte man ihm für die Fahrt zwei Schutzengel in Gendarmenuniform zu.

Unter solchen Umständen vollzog sich die Niederlassung Stepan Michailowitsch Wasilzew's auf dem väterlichen Landgut.

Man kann sich leicht denken, welche Sensation dieses Ereigniß in der ganzen Umgebung erregte. Ueber den Neuangekommenen und über die Ursachen seines unerwarteten Erscheinens cursirten sofort die unsinnigsten und übertriebensten Gerüchte; Viele argwohnten in ihm einen gefährlichen Verschwörer. Dieser Argwohn umgab ihn mit einem geheimnißvollen, gleichzeitig erschreckenden und anziehenden Nimbus; in Rußland empfinden nämlich auch die Menschen conservativer Richtung, wofern sie nur nicht unmittelbar zur geheimen Polizei gehören, doch immer eine unfreiwillige, instinctive Verehrung für jeden politischen Verbrecher.

Die Baranzow waren Wasilzew's nächste Nachbarn. Es ist also nicht zu verwundern, daß sich bei den zwei älteren Fräulein, Lena und Lisa, das Gefühl eines gewissen natürlichen Eigenthumsrechtes auf den interessanten Nachbar, der ihnen vom Himmel selbst geschickt wurde, geltend machte. Er war Junggeselle und obwohl er, die Wahrheit zu sagen, nicht für einen jungen Mann gehalten werden konnte, da er über die Vierzig hinaus war und schon deshalb kaum den Ruf eines Adonis haben konnte, durfte er doch bei dem gegenwärtigen Mangel an Bräutigamen eine gute Partie genannt werden. Wasilzew würde sich wahrscheinlich nicht wenig gewundert haben, wenn man ihm gesagt hätte, welche Rolle er in den Gesprächen und in den Plänen der zwei Mädchen spielte. Durch einen seltsamen Zufall konnte er im Laufe des Sommers kein einziges Mal ausgehen, ohne Lena oder Lisa zu begegnen, und was noch seltsamer war, ohne sie stets in wunderlichen Costümen und ungewöhnlich malerischer Situation anzutreffen. Da stieß er plötzlich auf die muthwillige Lena, die wie ein Eichhörnchen auf einen Baum geklettert war und schelmisch durch das dichte Laub auf ihn hinabsieht; hier wieder erblickt er die schmachtende Ophelia, Lisa, träumerisch sich zum Bach neigend, einen Vergißmeinnichtkranz in den Händen. Und man hätte nur anhören müssen, wie graziös erschrocken die Fräulein aufschrien, wenn man sie so unvermuthet antraf. Aber alle diese Begegnungen führten zu nichts. Wasilzew grüßte steif und kalt und machte sich aus dem Staub. Zu einem Gespräch kam es nicht. Es ist also nicht zu verwundern, daß die Fräulein endlich zu dem Schluß gelangten, daß es solch einen ungeschlachten Bären wie ihren Nachbarn auf Erden nicht mehr gibt.

Wenn aber die Bekanntschaft zwischen Wasilzew und diesen beiden Schwestern nicht zustande kam, so entspann sie sich dagegen zwischen ihm und Wjera auf eine sehr einfache, gar nicht poetische Weise.

Der Sommer näherte sich dem Ende, der schmutzige, regnerische Herbst mit den zeitig dunklen Abenden begann. Die ungewohnte Langeweile des einförmigen Landlebens jagte Wasilzew doch zum Thor seines Hauses hinaus und zwang ihn, weiten Spaziergängen Zerstreuung zu suchen. Aber wie alle Menschen, die noch nicht in einem russischen Dorf gelebt haben, stieß er auf seinen Wegen oft auf Schwierigkeiten und gerieth in, wie es ihm schien, große Gefahren.

In den Professorenkreisen, in welchen Wasilzew bis jetzt verkehrt hatte, würde es den Wenigsten eingefallen sein, ihn der Feigheit zu zeihen; im Gegentheil, die Collegen befürchteten immer, daß man sie wegen seiner übelangebrachten Widerspenstigkeit zur Verantwortung ziehen könnte. Als seiner Professors-Carrière ein unerwartetes Ende bereitet wurde, äußerten sich selbst die Tapfersten seiner Freunde mit Bedauern und einstimmig: »Das war unvermeidlich! Kann man denn mit so einem ungestümen Kopf, wie der des Wasilzew, in Rußland leben!«

Stepan Michailowitsch hielt sich im Innern für einen sehr verwegenen Menschen. Er liebte es, sich in seinen geheimsten Träumen – in denjenigen Träumen, die man selbst seinem intimsten Freund nicht anvertraut – in verschiedene, ungewöhnliche Lagen zu versetzen, und nicht selten nahm er – in seinem Arbeitszimmer – an der Verteidigung von Barricaden theil. Obwohl Wasilzew von seiner Tapferkeit ganz durchdrungen war, hegte er, was eingestanden werden muß, einen großen Respect vor den Dorfhunden, von denen es hieß, daß sie vergangenen Frühling eine vorübergehende Bettlerin zerrissen hätten, und vor dem Stier, der schon zweimal mit den Hörnern den Hirten in die Luft geworfen hatte, und Wasilzew ging jeder näheren Bekanntschaft mit ihnen aus dem Wege.

Einmal traf es sich, daß er sich ziemlich weit vom Hanse entfernte. Die Landstraße blieb seitwärts liegen.

Er ging wie gewöhnlich mit den Händen auf dem Rücken, mit gesenktem Kopf in Gedanken vertieft, ohne des Weges zu achten.

Als er aufblickte, sah er sich in einer ziemlich schwierigen Situation: eine sumpfige Wiese, in welche der Fuß, den schmalen Pfad verlassend, bis zum Knöchel in lockeren Schlamm geräth; vor sich ein ziemlich breiter Bach und hinter sich die stampfende und brüllende Viehheerde des Dorfes.

»He, Hirte, halt' Dein Vieh an!« rief Wasilzew.

Der Hirte aber, ein Junge von fünfzehn Jahren, schwächlich und blöde – den man zum Hirten gemacht hatte, weil er sich für nichts Anderes eignete – murmelte als Antwort etwas ohne jeden Zusammenhang und lachte dumm wie ein Idiot.

Wasilzew stand unschlüssig da.

»Springen Sie über den Bach! ,… Er ist nicht tief!« erschallte plötzlich eine junge, beinahe kindliche, das Lachen unterdrückende Stimme.

Wasilzew sah nach der Seite, woher ihm der Rath gekommen war, und erblickte auf dem kleinen Hügel des gegenüberliegenden Ufers, etwa zwanzig Schritte weit, ein Mädchen von fünfzehn Jahren, welches einen mit einem verblaßten Bändchen aufgeputzten Hut und ein Kattunkleidchen trug, das über der Brust zu eng, an den Aermeln und unten zu kurz war.

Wjera, die auch von der Langweile hieher getrieben wurde, beobachtete schon längst diesen hageren, drolligen Menschen, der sich solcher Kleinigkeiten wegen so sehr ängstigte.

»Springen Sie nur muthig!« rief sie noch einmal, aber Wasilzew konnte sich noch immer nicht entschließen.

Da lief Wjera vom Hügel herab, stieg unerschrocken mit den alten Stiefelchen in den Sumpf, brachte ein Brett und warf es rasch quer über den Bach, wobei sie ihre weißen Strümpfe und die grauen Hosen ihres Nachbarn arg mit Schmutz bespritzte.

Als sich Wasilzew außer Gefahr befand, schämte er sich natürlich sofort seiner Feigheit. Er dankte seiner Retterin hastig und verwirrt, vor der er verlegen und gezwungen lächelnd stand. Er wollte nicht sogleich fortgehen und einen so ungünstigen Eindruck zurücklassen, wußte aber tatsächlich nicht, wie ein Gespräch mit diesem kleinen Wildfang anzuknüpfen, der ihn mit der unverhohlenen Neugierde eines halb erwachsenen Kindes anblickte.

Er fand endlich die Worte:

»Was für ein Buch haben Sie da? Darf man es sehen?«

Wjera hielt unter dem Arm ihr theueres »Leben der Heiligen«. Wasilzew schlug das Buch aufs Gerathewohl auf und las Folgendes:

»Der Imperator Diocletian, gegen den heiligen Märtyrer Isidor aufgebracht, befahl der Wache, ihn auf das Capitol zu führen …«

»Was für ein Unsinn ist das!« entfuhr es unwillkürlich Wasilzew.

Die blauen Baranzow'schen Augen blitzten zornig. Wjera griff rasch nach dem Buch, wandte sich ab und schlug, ohne sich umzusehen, den Weg nach Hause ein.

Im Laufe des Abends dachte Wasilzew unwillkürlich mehr als einmal an die komische Episode von heute Morgens und die Erinnerung an sie rief jedesmal in ihm ein Lächeln und einen leichten Aerger hervor.

Am folgenden Tage ging er fast unbewußt an den Ort seiner gestrigen Schmach. Zu seiner Verwunderung fand er auch Wjera dort; sie stand mit sinnendem Gesicht am Bach, als ob sie Wasilzew erwartet hätte.

»Guten Tag,« sagte er und streckte ihr freundschaftlich die Hand entgegen.

»Ist das Alles wirklich nicht wahr?« fragte sie statt zu antworten, indem sie ihre großen Augen, deren Blick jetzt erregt, fast flehend war, zu ihm erhob. Als sie gestern einen so ungünstigen Ausspruch über ihr geliebtes Buch hörte, wurde sie vorerst böse; bald darauf verwandelte sich der Zorn in ein anderes, ein drückendes Gefühl: »Alle sagen, der Nachbar sei klug und gelehrt. Er muß es doch wissen. Nun, wenn all das von den Märtyrern wirklich ein Märchen wäre?«

Dieser Zweifel war sehr quälend, mußte verscheucht werden, was immer daraus entstehen mochte.

»Sie meinen das Buch, was?« lachte Wasilzew auf. »Nun, urtheilen Sie selbst, Fräulein; der Imperator Diocletian regierte in Byzanz und das Capitol befand sich in Rom. Wie konnte er also der Wache befehlen, den heiligen Märtyrer Isidor dorthin abzuführen?«

»Ach, davon sprechen Sie! Also bloß das ist nicht wahr?«

»Wie bloß? Das genügt doch!«

»Nun, und ist das wahr, daß es Märtyrer gab?«

»Gewiß gab es solche.«

»Und hat man sie zerfleischt, verbrannt und von den Thieren zerreißen lassen?«

»Alles das ist geschehen.«

»Gott sei Dank!« rief Wjera, erleichternd aufathmend, aus.

»Wie? ,… Gott sei Dank, daß man sie gemartert hat?«

Das originelle Mädchen begann Wasilzew entschieden zu belustigen.

»Ach, nicht das, natürlich nicht das!« beeilte sich Wjera ein wenig verlegen zu entgegnen. »Ich will nur sagen: Gott sei Dank, daß es wenigstens dazumal gute Menschen, heilige Märtyrer gegeben hat.«

»Märtyrer gibt es noch jetzt,« sagte Wasilzew ernst.

Wjera sah ihn mit einem langen, verwunderten Blick an.

»Ja, in China!« meinte sie endlich.

Wasilzew lachte abermals:

»Warum in der Ferne suchen ,… es gibt deren auch näher!«

Wjera sah ihn noch immer an und auf ihrem Gesichte prägte sich immer größeres Staunen aus.

»Haben Sie denn niemals davon gehört, daß man bei uns in Rußland Menschen in die Festung bringt, nach Sibirien schickt, und daß sie oft auch gehenkt werden? Wie fragen Sie also, ob es Märtyrer gibt!«

»Ja, aber bei uns werden doch nur Uebelthäter, Verbrecher verschickt!«

Diese Worte entschlüpften Wjera, und kaum hatte sie dieselben ausgesprochen, als eine helle Röthe bei dem Gedanken: der Nachbar ist doch auch ein Verschickter! ihr Gesicht färbte.

»Es kommt vor, daß man auch anderer Dinge wegen verschickt wird,« sagte Wasilzew halblaut.

Geraume Zeit gingen sie schweigend nebeneinander – Wjera mit gesenktem Kopf und mit den Fingern nervös an den Enden ihres Halstuches zerrend. Ein Schwarm von seltsamen, verworrenen Gedanken schwirrte ihr im Kopf. Sie fürchtete sehr, etwas Dummes zu sagen; sie könnte am Ende den Nachbar beleidigen; aber eine Frage war für sie so wichtig, so bedeutungsvoll, daß sie von derselben aus Schicklichkeitsrücksichten unmöglich abstehen konnte.

»Warum hat man Sie verschickt?« sprach sie plötzlich sehr hastig, ohne Wasilzew anzublicken.

Dieser lächelte.

»Sie möchten das sehr gerne wissen?« fragte er, sie gleichsam neckend.

Wjera senkte als Antwort bloß den Kopf, aber ihr Gesicht sprach für sie.

»Und von den zeitgenössischen Märtyrern wollen Sie auch etwas wissen?«

Wjeras Augen glühten noch stärker.

»Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen ,… allein ich sage es Ihnen im Vorhinein: ich werde noch von vielem Anderen sprechen müssen.«

Wjeras Gesicht strahlte.

»Auch von Diocletian und vom Capitol werde ich vielleicht sprechen müssen. Werden Sie zuhören?«

»Ich werde, ja, ich werde!«


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