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VI.

Es ist Ende April. Der Frühling kam in diesem Jahre plötzlich.

Nachdem die Flüsse eisfrei geworden und. der Schnee geschmolzen war, hielt die Kälte noch lange an; Alles entfaltete sich langsam, träge wie unwillig – einen Schritt nach vorwärts, zwei zurück. Es war, als hätte man jedes Gräschen, jedes Pflänzchen inständigst bitten und überreden müssen, es möge sich entschließen, den Winterschlaf abzuschütteln und aus der Erde die zarte Spitze des frierenden Blättchens hervorzustecken. Einen rechten Frühlingseifer konnte man nicht bemerken. Plötzlich kam über Nacht ein leiser, warmer Regen, und von da an waltete ein Zauber. Wie aus Eimern schütteten sich die kleinen, duftenden Tropfen eines Frühlingsregens auf die Erde. Alles erwachte im Wunsche zu leben. Ein Jedes beeilte sich, vorwärts zu dringen, einander stoßend und drückend, als fürchtete es, die Frist zu versäumen. Keines wollte nachgeben, Jedes sein Recht auf Existenz behaupten.

Am nächsten Morgen erwachten die Einwohner von Borki und staunten. Was ist da Alles in einer einzigen Nacht geschehen! Weder Garten noch Felder und Wälder sind zu erkennen. Gestern Abend war all das schwarz und kahl; jetzt hat es sich in das zarte Grün des kommenden Sommers verwandelt. Und die Luft ist anders als gestern, und es athmet sich so ganz anders. Jetzt ist gerade der Höhepunkt des eiligen, ruhelosen Frühlingsfiebers. Die Birken haben sich schon mit zarten Blättchen, durchsichtig wie Spitzen, bekleidet. Große, aufquellende Pappelknospen werfen ihre klebrigen, harzigen Hüllen zur Erde, die Luft mit einem würzigen, berauschenden Aroma erfüllend. Gelber, duftender Blüthenstaub der Erlen- und Haselnußkätzchen fliegt mit den weißen Blumenblättchen der Ahlkirschen und Weichseln überall herum. Auf den Tannen sprossen große, helle Schößlinge, die kerzengerade stehen und die unter den alten, vorjährigen Nadeln ein seltsames Aussehen haben. Die Eiche allein steht noch kahl und düster, als dächte sie noch gar nicht an den Frühling. Vom Süden fliegen jeden Tag neue Gäste zu. Schon vor einer Woche zeichnete sich am Himmel der erste, schwarze, dreieckige Kranichzug ab. Der Specht schlägt im hohlen Stamm der alten Buche. Die Schwalben flattern unter dem Balcondach umher, ihre alten Nester suchend, und führen einen heißen Kampf mit den Sperlingen, die von dem ehemaligen Eigenthum jener schon im Laufe des Winters Besitz ergriffen haben. Aus der Erde steigen warme Dünste auf. Man glaubt zu spüren, wie sich dort unten im Schoß der Erde eine seltsame, geheimnißvolle Arbeit vollzieht. Man kann keinen Schritt machen, ohne auf den Keim eines neuen, jungen Lebens zu treten – eines Pilzes, Grashälmchens oder Insectes. Im Bach gibt es lebhafte Liebesgeständnisse. Jeder Sumpf wimmelt von Milliarden der verschiedensten wunderlichen Daseinsformen; und alles das bewegt sich, alles das ist von dem Bewußtsein der Wichtigkeit seines eigenen Ich durchdrungen.

*

Im ehemaligen Klassenzimmer des Baranzow'schen Hauses sitzt über den Schreibtisch gebeugt, ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, schlank und groß, mit einem feinen, wie gemeißelten Profil und mit sinnenden, blauen Augen, die von schwarzen Wimpern eingerahmt sind. Vor ihr auf dem Tische liegt ein offenes Buch, ein Bändchen von Dobroljubow, aber man sieht, daß es ihr schwer wird, die Gedanken auf das, was sie liest, zu concentriren. Sie erhebt jeden Augenblick den Kopf, lehnt sich in den Stuhl zurück, ihre Hände spielen mit dem Papiermesser aus Bein und in den Augen zeigt sich der erwartungsvolle gespannte Ausdruck, als horchte sie, ob Jemand komme.

Es war schwer, in dieser jungen Schönheit die ehemalige, gebräunte, magere, halberwachsene Wjera wieder zu erkennen. Seit der ihr im Gedächtniß gebliebenen Auseinandersetzung mit Wasilzew waren drei Jahre vergangen. Aeußerlich verstrichen diese Jahre still, ohne Ereignisse und Erschütterungen, aber für Wjera waren sie reich an innerem Inhalt. Die Freundschaft zu Wasilzew wuchs und befestigte sich, dafür aber löste sich Wjera von ihren Hausgenossen beinahe gänzlich los. Den Schwestern wurde es langweilig, sie mit dem Nachbar zu necken, und sie machten das Kreuz über sie. Da Wjeras Annäherung an Wasilzew schon begann, als sie noch ein kleines Mädchen war, hielten es die Eltern in gewohnter Sorglosigkeit für unnöthig, das jetzt zu hindern, da sie ein erwachsenes Fräulein war.

In der letzten Zeit aber fielen die »Actien« Wasilzew's in den Augen der benachbarten Gutsbesitzer tief. Man sagte ihm einige sehr gewichtige Vergehen nach. Erstens gab er seinen Bauern allen Grund, den sie vorher zinspflichtig besaßen, ohne Lösegeld frei, und dadurch brachte er nicht nur seiner eigenen Tasche einen empfindlichen Schaden, sondern gab auch allen anderen Bezirken ein böses Beispiel; zweitens argwöhnte man, daß er sich in fremde Angelegenheiten einmenge, fremden Bauern ungebotene Rathschläge gebe und manche listig ersonnene Combination zerstört habe, welche bald von diesem, bald von jenem Gutsbesitzer bei der Theilung mit den ehemaligen Leibeigenen ausgeklügelt wurde.

Wiewohl man Wasilzew nichts Gesetzwidriges bestimmt nachweisen konnte, waren doch Alle im Allgemeinen darin derselben Meinung, daß er sich gar nicht so betrage, wie es sich in seiner Lage geziemen würde, und allem Anscheine nach völlig vergesse, daß die aus politischen Motiven erfolgte Verbannung auf das eigene Gut den Menschen zur besonderen Vorsicht verpflichte.

Einer der Bekannten hat es schon versucht, ihm den Wink zu geben, daß auch bereits der Gouverneur seine Zähne nach ihm zu fletschen beginne, allein er beachtete das gar nicht.

Wählend die Gutsbesitzer mit Wasilzew schmollten, liebten ihn die Bauern grenzenlos und konnten nicht aufhören, sich seiner Anwesenheit zu freuen. Die erste Zeit verhielten sie sich in Wahrheit scheu und selbst gegenüber der Rückerstattung der Grundstücke ohne Lösegeld ungläubig. Sodann wurden sie der Meinung, daß er einfältig sein müsse. Sie überzeugten sich jedoch allmälig, daß man sein Vorgehen nicht mit Dummheit erklären könne. Sie sahen, daß man von ihm jedesmal, wenn man sich an ihn mit einem Anliegen wandte, entweder Hilfe oder einen vernünftigen Rath erhielt. Seither konnte er die Bauern nicht los werden. Gab es irgend eine verwickelte Familienfrage zu lösen oder eine gerichtliche Petition zu schreiben, so zogen sie schaarenweise zu ihm.

In der freien Zeit beschäftigten sich Wjera und Wasilzew mit Lectüre und führten miteinander Gespräche; ihre Unterredungen waren endlos, zumeist betrafen sie abstracte Fragen ohne persönliche Interessen.

Wie vor drei Jahren sprachen sie auch jetzt von den zeitgenössischen Märtyrern; Wjera ist wie früher, nein, hundertmal stärker als früher von dem Entschlüsse erfüllt, in deren Fußstapfen zu treten.

Aber die Märtyrerkrone – das irgend einmal später, in der fernen Zukunft; jetzt ist ihr Leben vorläufig herrlich, schön und wird mit jedem Tage inhaltsreicher und schöner.

Bloß die letzten Tage waren ein wenig langweilig, trübe. Wasilzew mußte in Angelegenheiten der Bauern verreisen; er war zwei Wochen abwesend. Es ist entsetzlich, wie die Zeit schleicht, wenn keine Hoffnung vorhanden ist, am Abend sich mit dem Freund auszusprechen. Man hat zu nichts Lust, nichts geht einem vonstatten! Aber, Gott sei Dank, diese Tage gehen zu Ende! Heute Nachmittag kam der Junge vom Nachtbargut gelaufen und meldete, daß der Herr zurückgekehrt sei und bei ihnen den Thee nehmen werde. »Er wird bald hier sein!«

Ein so mächtiger Ausbruch unbändiger Freude erfaßte Wjera, daß sie nicht auf einer Stelle sitzen bleiben konnte; sie warf das Buch weg und ging ans Fenster. Schräge Strahlen der untergehenden Sonne übergossen sie mit einer flammenden Röthe und zwangen sie, die Augen rasch zu schließen.

»Wie schön es draußen ist! Noch niemals, scheint es mir, war der Frühling so entzückend, so wundervoll! Und wie Alles wächst! Es ist eine Pracht! Heute Morgens war der Hügel noch völlig kahl, und jetzt könnte man ganze Hände voll Primeln und Schneeglöckchen pflücken. Als ob sie so, schon blühend, aus der Erde hervorgekommen wären! In den Märchen erzählt man von einem wackeren Jungen, der ein so scharfes Auge hatte, daß er sah, wie das Gras wächst. Ja, im Frühling ist das kein Wunder! Wenn ich nur ein schärferes Auge hätte, könnte ich es auch ,… Was ist das? Im Walde hat der Kukuk gerufen, der erste in diesem Jahr ,… O, Gott! welche Herrlichkeit! Es ist so schön, daß Einem beinahe das Herz weh thut und man weinen möchte!«

Als Wasilzew endlich eintrat, stürzte Wjera ihm so stürmisch entgegen, daß er seine gewohnte Selbstbeherrschung verlor.

Er faßt sie an beiden Händen und blickt sie zärtlich und entzückt an. »Was ist mit Ihnen vorgegangen, Wjera? Ich habe Sie auf den ersten Blick gar nicht erkannt! Zwei Wochen vorher ließ ich Sie noch als kleines Mädchen und ich finde ,…« Er sprach nicht zu Ende, aber sein Blick sagte das Unausgesprochene. Wjeras Wangen bedeckten sich mit einem hellen Roth und unwillkürlich schlug sie die Augen nieder. Ihr ist in seiner Nähe so wohl, so freudig zu Muthe. Diese zwei Wochen haben wirklich eine Veränderung hervorgebracht. In seiner Gegenwart waren ihre Hände früher nie so kalt, ihre Wangen nie so glühend.

Sie begann mechanisch die Bücher auf dem Tisch zu ordnen, um ihre Aufregung zu verbergen.

»Nein, Wjera, heute werden wir nicht lesen.« Er ließ sich auf den Stuhl neben dem geöffneten Fenster nieder und brannte eine Cigarette an. Wjera setzte sich daneben; ihr Herz schlug schnell, schnell wie ein flatterndes Vögelchen.

Draußen dunkelte es schon. Der hohe Himmel oben war dunkelblau, gegen Westen hin erhellte er sich allmälig und der Horizont war dort von lichten, bernsteinfarbenen Streifen umrandet. Die Frösche im Bache stimmten einen munteren Chor an. In den Zimmerecken und an der Decke vernahm man das leise Schwirren der ersten Mücken, das sich in einen langen, verklingenden Ton verlor. Ein Maikäfer flog schwerfällig beim Fenster vorbei, die Luft mit seinem Baßgesurr erfüllend.

Im Gebüsch, das die Küche vom Garten trennte, schimmerte etwas helles. Eine Frauengestalt mit einem Tuch auf dem Kopf blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und sah sich nach allen Seiten um, ob ihr nicht Jemand folgte; dann ging sie schnell auf das Wäldchen zu. Nach einer kurzen Zeit hörte man von dorther das zärtliche Geflüster eures Mannes und leises, glückliches Lachen. Aus dem fernen Meierhof erklangen die klagenden Töne des Hirten, des ländlichen Virtuosen auf dem Rohrpfeifchen.

»Erzählen Sie mir von der Bauernangelegenheit. Ich habe heute so viel davon gehört,« sagt Wjera plötzlich, aber sie zwingt sich offenbar zu sprechen; die Stimme klingt unnatürlich.

Wasilzew fährt wie aus dem Schlafe auf.

»Ja, ich begreife, daß man mich beschuldigt,« sagt er, die Hand über die Stirn führend. »Aber ich zweifle nicht daran, daß ich die gesellschaftliche Meinung zu Gunsten dieser unglücklichen Bauern umstimmen werde. Das Alles will ich Ihnen ausführlich erzählen, Wjera, aber später. Jetzt kann ich nicht! …«

Wieder einige Minuten Schweigen, nur die Mücken schwirren und der Hirte klagt wehmüthig auf der Pfeife.

»Wjera, erinnern Sie sich unseres Gesprächs ,… vor drei Jahren? Ich war damals so sicher, daß dies niemals geschehen wird ,… und nun ,… Wjera, sagen Sie, komme ich Ihnen sehr alt vor?«

Diese letzten Worte flüstert er mit kaum vernehmbarer, zitternder Stimme. Wjera will etwas erwidern, aber die Stimme versagt ihr.

Gott weiß, wie es kam, daß ihre Hand sich in der Wasilzew's befindet. Bei dieser Berührung stockt Beiden der Athem. Die Worte bleiben ihnen auf den Lippen, sie stehen regungslos.

»Stepan Michailowitsch! Wjera!« vernimmt man Lisas Stimme im Corridor.

Wasilzew springt schnell auf. »Auf Morgen, Wjera!« sagt er, steigt durch das niedere Fenster in den Garten und verschwindet in der Dunkelheit.

Eine aufregende, duftende Frühlingsnacht, voll geheimen Zaubers und bangen Dämmerns schwebt am Himmel. Die Lichter im Dorfe sind erloschen. Allmälig wird es still und stiller. Die Hirtenpfeife ist längst verstummt. Die Frösche haben sich beruhigt, auch die Mücken sind ruhig geworden. Von Zeit zu Zeit vernimmt man ein seltsames Rauschen in den Gebüschen, plätschert etwas im Bach oder bringt ein Windstoß vom entlegenen Dorf das klagende Geheul eines Kettenhundes, den die Einsamkeit dieser herrlichen, aufregenden Nacht beengt.

Wjera kann nicht schlafen. Ihr ist es heute schwül n dem großen, kühlen Schlafzimmer, welches sie, von den Schwestern getrennt, jetzt allein bewohnt. Sie verläßt das Bett, öffnet das Fenster und legt die glühenden Wangen an die kalten Scheiben. Aber das erfrischt sie nicht; das Gesicht brennt ihr wie früher und eine süße, ermattende Beklemmung im Herzen, eure unbestimmte, überaus glückselige Erregung bemächtigt sich ihres ganzen Wesens.

Wie still es ringsumher ist! Das Wäldchen scheint jetzt groß und tief; die Bäume stehen so groß und dunkel, gerade, als ob sie zusammengerückt wären, über etwas zu berathen, ein seltsames, wichtiges Geheimniß verbergen würden. Mitten in der nächtlichen Stille vernimmt man plötzlich ein leise rasselndes Geräusch; das ist die Post-Troika, die sich auf der breiten Landstraße fortbewegt. Die Luft ist so rein, so durchsichtig, daß man das Glockengeklingel schon von Weitem – ungefähr fünf Werst – hört; für einige Minuten verstummt es, offenbar ist die Troika jetzt hinter dem kleinen Berg; bald aber vernimmt man sie deutlich, immer näher und näher; sie scheint schnell zu fahren, in vollem Galopp; jetzt hört man auch das Knallen der Peitsche, die Stimme des Kutschers und das Getrappel der Pferde.

Aber nun entfernt sich wieder das Geräusch. Seltsam! als hätte man es erstickt; wahrscheinlich ist die Troika irgendwo in der Nähe stehen geblieben.

Wahrhaftig, merkwürdig, wie die Postglocken in der Nacht aufregen! Man weiß ja doch, daß man nichts Interessantes erwartet. Das Wahrscheinlichste ist: der Friedensrichter ist angekommen oder der Kreisrichter überrumpelt das Dorf, um einen Feldschaden zu untersuchen.

Und doch, so wie man diesen zarten Silberklang auf der breiten Landstraße vernimmt, pocht auch schon das Herz stärker, und es sehnt sich irgendwohin, in die Ferne, nach unbekannten Ländern

»Gott, wie schön das Leben ist!«

Wjera faltet unbewußt, mit mechanischer Bewegung die Hände wie zum Gebet. Wasilzew nennt sich einen Materialisten und Wjera ist auch mit allen neuen Theorien vertraut und meint im Ernst, daß sie nun gar nicht mehr an Gott glaubt. Aber nichtsdestoweniger ist ihre Seele in diesem Augenblick von einer leidenschaftlichen, grenzenlosen Dankbarkeit für Jemanden voll, der ihr das Glück geschenkt, und nach der alten, kindlichen unvertilgbaren Gewohnheit wendet sie sich mit einem heißen Gebet an Gott, dessen Existenz sie nicht anerkennt.

»O Gott! Ich weiß, daß es auf der Welt viel Leid gibt, viel Ungerechtigkeit, viel Noth! Ich will den Menschen dienen, ich bin bereit, das Leben für sie hinzugeben! Aber später, später! O Gott! Jetzt sehne ich mich ,… ich sehne mich so qualvoll nach Glück!«

Für eine kurze Zeit findet Wjera in einem unruhigen Schlummer Vergessen.

»Bis morgen! ,…« dieser Gedanke streift plötzlich wie ein heller Strahl ihr Bewußtsein und wieder beginnt für sie der matte, süße Schauer, das heiße, glückselige Fieber.

Die Morgenröthe stand schon am Himmel. Die Hähne hatten schon oft gekräht, die Sperlinge zwitscherten lärmend und geschäftig unter dem Fenster. Wjera wirft sich noch immer mit glühendem Gesicht und kalten Händen im Bett herum. Erst nach Sonnenaufgang verfällt sie in einen festen, bleiernen Schlaf. Sie schlief aber auch lange.

Es war spät, bald Mittag, als sich ihrer von Neuem das unklare Bewußtsein von etwas seltsam Glücklichem, das sich gestern zugetragen hat, bemächtigte. Wie schön ist es, nach einer großen, unverhofften Freude am nächsten Tag zu erwachen!

Wjera liegt im Bett und reckt und streckt sich.

»Aber was thue ich eigentlich!« fuhr es ihr durch den Kopf. Sie sprang auf und begann sich rasch anzukleiden, sah auf die Uhr, fand, daß es schon zu spät war und dachte, die Lection sei ohnehin verloren, es sei nicht der Mühe werth, sich zu beeilen. Dies bedenkend, legte sie sich wieder ins Bett und schloß die Augen, ihrem künftigen, nahen Glück still zulächelnd.

Das Stubenmädchen kam leise auftretend ins Zimmer und sah behutsam nach, ob das Fräulein noch schlafe.

»Anisja, Mütterchen, warum hast Du mich nicht früher geweckt?« begrüßte Wjera sie fröhlich.

»Ich war bereits fünfmal hier, Fräulein; ja, Sie schliefen so süß; es that mir leid, Sie zu stören!«

»Was für ein sonderbares Gesicht sie heute hat!« dachte Wjera.

»Und, Fräulein, ein Unglück ist hier geschehen!« sagte plötzlich Anisja mit jener eigenartigen, aufgeregten Stimme, mit der Dienstboten stets wichtige Nachrichten, welcher Art immer sie sein mögen, mittheilen.

»Was gibt's?« schrie Wjera, im Bett aufspringend; sie weiß noch nicht, um was es sich handelt, aber ihr Herz ahnt schon Unheil.

»Den Nachbar hat heute Nacht die Polizei überfallen!« meldete Anisja.


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