Julius Köstlin
Luthers Leben
Julius Köstlin

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Sechstes Kapitel.

Luther und die Fortschritte und innern Schäden des Protestantismus 1541–44.

Die Reformation, gegen welche Kaiser Karl so fortwährend das Einschreiten sich versagen und mit welcher er vielmehr friedlichen Ausgleich suchen mußte, fuhr zugleich 555 fort, in verschiedenen Gebieten noch weiter um sich zu greifen.

Abb. 51: Jonas nach einem Gemälde Cranachs (in seinem sogen. Stammbuch in Berlin) v. J. 1543.

Besonders freudig durfte Luther den Sieg derselben in der Stadt Halle begrüßen, die vordem ein Lieblingssitz Cardinal Albrechts und Hauptstätte seines üppigen Treibens gewesen war und in welche jetzt einer seiner nächsten und geistig bedeutendsten Wittenberger Freunde, Justus Jonas, als Reformator und erster evangelischer Pastor einzog. Den letzten Ausschlag dazu gaben bei der Bevölkerung, deren große Mehrheit längst Luthern zugethan war, die Geldangelegenheiten, die in Albrechts Leben eine so wichtige und traurige Rolle spielten. Als die Stadt im Frühjahr 1541 22 000 Gulden zur Tilgung seiner Schulden beisteuern sollte, machte dies die Bürgerschaft davon abhängig, daß ihr Rath einen evangelischen Prediger anstelle. Jonas wurde eingeladen, in die Stadt zu kommen, und erhielt, als 556 er hier erschien, sogleich die ordentliche Berufung durch den Magistrat und Gemeindeausschuß. In der Karwoche, in der jene schwere Krankheit Luthers nachließ und Albrecht am Regensburger Reichstag theilzunehmen hatte, betrat er zum ersten Mal die Kanzel der erst unter Albrecht neu aufgebauten städtischen Hauptkirche, die kurz zuvor erst auf Veranlassung des Erzbischofs schön und stattlich neu aufgebaut worden war. Bald nachher gelang es, auch die zwei andern städtischen Kirchen mit evangelischen Predigern zu besetzen. Das neue Kirchenwesen der Stadt überhaupt wurde von Jonas geordnet und blieb unter seiner Leitung. Luther aber unterstützte den Freund mit seinem Rath und blieb bis an sein Ende in trautem Verkehr mit ihm. Er verhehlte nicht seine Freude darüber, daß der »böse alte Schalk« Albrecht das noch habe erleben müssen, und lobte Gott, der sein Gericht auf Erden halte. Die zahlreichen wunderbaren Reliquien, mit welchen jener 20 Jahre früher den für Luther so anstößigen Ablaßhandel zu treiben versucht hatte, (oben S. 280), wollte derselbe jetzt ähnlich in seiner Residenzstadt Mainz ausstellen. Da ließ Luther 1542 anonym, jedoch so, daß er selbst als Verfasser kenntlich sein wollte, eine »Neue Zeitung vom Rhein« ausgehen, welche der deutschen Christenheit noch über eine Reihe neuer, bisher unerhörter, von Sr. Kurfürstl. Gnaden verschaffter Stücke Kunde gab, wie von einem Stück des linken Hornes Moses, von drei Flammen seines brennenden Dornbusches u. s. w., endlich von einem ganzen Quentchen des eigenen treuen Herzens und einem ganzen Loth der eigenen wahrhaftigen Zunge, welche Sr. Gnaden zu jenen Heiligthümern testamentlich hinzu verehrt habe; der Papst habe jedem, der die Heiligthümer mit einem Gulden ehre, Vergebung aller beliebigen Sünden schon auf zehn Jahre im Voraus verheißen. Nur solchen Hohn fand Luther jetzt jener Ausstellung gegenüber noch am Platze. Albrecht schwieg dazu.

Zu derselben Zeit unternahm Kurfürst Johann Friedrich 557 einen neuen, bedeutungsvollen, aber auch gefährlichen und für Luther selbst bedenklichen Schritt mit Bezug auf ein Bisthum. Der Bischof von Naumburg war gestorben. Das Domkapitel, welchem die Bischofswahl zustand, pflegte bei ihr herkömmlich nach den Wünschen des Kurfürsten als Landesherrn sich zu richten. Jetzt wählte es, ohne erst auf den vom Katholizismus abgefallenen Johann Friedrich zu hören, den hochgeachteten Julius von Pflug. Jener dagegen wollte, da hiedurch sein Recht verletzt sei, jetzt vielmehr einen Bischof nach eigener Wahl und zwar einen Bekenner der Augsburger Confession ernennen. Sein Kanzler Brück sprach hiegegen ernste Warnungen aus, denen Luther nicht umhin konnte beizutreten: wenn der päpstliche Haufe bisher dem zugesehen habe, was man mit gemeinen Pfaffen und Mönchen vorgenommen, so werden sie und der Kaiser doch nicht ähnliches dem Episkopat gegenüber sich gefallen lassen. Der Kurfürst fand das kleinmüthig, er wollte auch kühner und muthiger als Luther sein. Nur schade, daß seinem frommen Eifer der umsichtigere Blick jener Männer fehlte und mit ihm wohl auch das Interesse eigener Macht sich verband. Er nahm auch den Rath der Wittenberger Theologen nicht an, das Bisthum dann wenigstens an den angesehenen Reichsfürsten Georg von Anhalt gelangen zu lassen, sondern erkor sich den Nikolaus von Amsdorf, der ihm wohl nicht blos seines theologischen Standpunktes wegen, sondern wohl auch, weil er bei ihm größere Abhängigkeit vom Landesherrn erwarten durfte, mehr zusagte, den Gegnern aber nur etwa als unverheiratheter Mann und als Adeliger weniger anstößig, als etwa andere protestantische Theologen sein mochte. In großem, feierlichem Aufzug brachte er diesen am 18. Januar 1542 nach Naumburg vor die dort versammelten Stände des Domstiftes.

Luther freute sich jetzt doch auch des evangelischen Bischofs. Er sorgte dafür, ihn in evangelischer Weise einzuführen. Nach der katholischen Lehre pflanzt sich bekanntlich 558 der Episkopat von den Aposteln her durch die Weihe mit Handauflegung und Salbung fort, die nur ein Bischof wieder anderen ertheilen kann, und nur ein Bischof kann dann auch Priester oder Geistliche weihen. Unsere Reformatoren hätten diese sogenannte apostolische Succession leicht durch jene preußischen Bischöfe, die zu ihnen übertraten weiter fortleiten können. Wie sie aber dafür kein Bedürfniß mit Bezug auf die Geistlichen überhaupt anerkannten, so jetzt auch nicht mit Bezug auf den neuen Bischof. Luther selbst weihte ihn am 20. Januar gemeinsam mit zwei evangelischen Superintendenten der Nachbarschaft und dem Hauptpastor und Superintendenten, den die evangelische Gemeinde Naumburgs schon damals hatte, mit Gebet und der Handauflegung vor den Ständen und einer Masse Volks aus der Stadt und Umgegend im Dome ein. Zuvor wurde der Gemeinde angekündigt, daß hier für sie ein rechtschaffener Bischof durch den Fürsten und die Stände sammt der Geistlichkeit ernannt sei, und sie wurde aufgefordert, auch selbst ihren Beifall durch ein Amen auszusprechen, das dann laut erscholl. In dieser Weise wenigstens suchte man hier einer, besonders vom Kirchenvater Cyprian ausgesprochenen Ordnung nachzukommen, wonach ein Bischof in einer Zusammenkunft der Nachbarbischöfe und mit Zustimmung seiner eigenen Gemeinde erwählt werden sollte. Luther gab über den Act Rechenschaft in einer Schrift: »Exempel, einen rechten christlichen Bischof zu weihen«.

Brücks Befürchtungen waren indessen sehr begründet. Die Klagen über diese That fielen auch bei gemäßigteren Gegnern der Reformation und vor allem beim Kaiser schwer in's Gewicht. Zugleich zeigte sich hier besonders deutlich, daß, wie auch sonst bemerklich war, die gute kirchliche Gesinnung des Kurfürsten doch den Verhältnissen und verschiedenartigen andern Interessen gegenüber oft zu wenig Energie und Consequenz hatte. Denn die für das Bisthum erforderlichen neuen kirchlichen Anordnungen blieben 559 liegen, der neue Bischof wurde auch äußerlich schlecht ausgestattet; Luther klagte, daß der fürstliche Hof große Dinge vornehme und dann im Koth stecken lasse. Zudem zeigte sich bei manchen weltlichen Herren auch unter den Protestanten eine gehässige Eifersucht und Mißgunst gegen die ihren Theologen zufallenden Ehren und Vortheile. Luther selbst übte deshalb möglichste Vorsicht. Er wollte nicht einmal eine Gabe Wildprets von seinem Freund Amsdorf annehmen, um den »Centauren am Hof« nicht Anlaß zu Lästerreden zu geben, obgleich sie, wie er sagte, selbst alles verschlungen haben, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen: »Laß sie,« schrieb er an Amsdorf, »fressen in Gottes oder eines Andern Namen.«

Kaum hatte dann i. J. 1542 die Einsetzung des Bischofs durch den Kurfürsten ihre ersten erbitternden Eindrücke hervorgebracht, als zwischen diesem und seinem Glaubensgenossen und Vetter, dem Herzog Moritz von Sachsen, der seinem verstorbenen Vater Heinrich in der Regierung gefolgt war, ein Kampf aufzuflammen drohte, der mehr als alles andere die Stellung der Protestanten im Reich gefährden mußte und durch welchen Luther in tiefster Seele erregt und bewegt wurde.

Zwischen der Herzoglichen oder Albertinischen und der Kurfürstlichen oder Ernestinischen Linie des sächsischen Fürstenhauses war neben anderen Rechten namentlich auch die Oberhoheit über das zum Bisthum Meißen gehörige Amt und Städtchen Wurzen streitig. Als nun der Meißener Bischof sich weigerte, die Türkensteuer in Wurzen dem Kurfürsten zukommen zu lassen, warf dieser im März 1542 rasch Truppen dorthin. Sogleich bot Moritz ihnen gegenüber die seinigen auf. Beide rüsteten weiter und waren zum Losschlagen bereit. Da richtete Luther in einem Schreiben vom 7. April, das er zur Veröffentlichung bestimmt hatte, mit herzlicher christlicher Wärme und frisch und frei von der Leber weg sein Wort an die Beiden und 560 ihre Landstände. Er erinnerte sie an die Mahnungen der heiligen Schrift zum Frieden, an die Verwandtschaft der zwei Fürsten, die unter zweier Schwestern Herzen gelegen, ihres beiderseitigen Adels, der unter einander gevettert, geschwistert und geschwägert, und auch ihres Bürger- und Bauernstandes, der so eng durch Ehen verbunden sei, so daß der Krieg kein Krieg, sondern gar ein Hausaufruhr sein werde, ferner an den geringen Gegenstand, um deß willen sie so gegen einander zürnen, wie wenn zwei volle Bauern im Wirthshaus sich um ein Glas, oder zwei Narren um ein Stück Brod schlügen, an die Schmach und Schande fürs Evangelium, an die Freude für ihre Feinde und den Teufel, der gern aus diesem Funken ein groß Feuer aufbliese. Demjenigen der beiden Fürsten, welcher, statt Gewaltthat zu üben, sich zufrieden und recht erbiete, obs nun sein Landesherr oder der Herzog wäre, wollte er selbst mit seinem Gebete beitreten; und der sollte dann auch getrost gegen die Gewaltthat sich wehren und Spieße und Büchsen in die Kinder des Unfriedens gehen lassen. Den Andern verkündigte er, daß sie sich selbst in Bann und Gottes Rache hingegeben haben, ja er rieth denen, welche unter solchem unfriedlichen Fürsten kriegen sollten, aus dem Feld zu laufen, was sie laufen könnten.

Landgraf Philipp, der bis dahin selbst noch wegen seines Ehehandels in einer gewissen Spannung mit Johann Friedrich sich befand, brachte in diesem Augenblick noch einen friedlichen Vergleich zwischen ihm und Moritz zu Stande. In diesem jungen Fürsten aber gährte ein Ehrgeiz, der gern auch auf Kosten seines Vetters und anderer protestantischen Fürsten sich befriedigte, und dazu eine Kraft, in der er Jenem weit überlegen war. Luther ahnte Schlimmeres für die Zukunft.

Der Reformation fiel hierauf noch das Gebiet jenes Herzogs Heinrich von Braunschweig zu. Gegen ihn zogen nämlich jetzt Landgraf Philipp und Johann Friedrich 561 vereinigt zu Felde, weil er die evangelische Stadt Goslar bedrängte und an ihr trotzig eine Acht vollziehen wollte, welche zuvor das Reichsgericht wegen kirchlicher Angelegenheiten über sie verhängt, der Kaiser aber suspendirt hatte. Diesen Krieg gegen »Heinz Mordbrenner« erachtete auch Luther für recht und nothwendig, weil es sich um Schutz für Unterdrückte handle. Wolfenbüttel, auf dessen unüberwindliche Befestigungen der Herzog pochte, erlag am 13. August 1542 schnell dem Kriegsgeschick und der Kühnheit Philipps: Luther triumphirte, daß die Feste, von der es geheißen, sie halte eine sechsjährige Belagerung aus, mit Gottes Hilfe in drei Tagen gefallen sei. Er wünschte den Siegern nur Demuth und daß sie Gott die Ehre geben. Sie besetzten das Land, dessen Fürst hinwegfloh, und richteten darin das evangelische Kirchenwesen auf, übereinstimmend mit den Wünschen der Bevölkerung.

Moritz von Sachsen, der doch am evangelischen Bekenntniß und an seinen Befugnissen als Schirmherr der Kirche kräftig festhielt, führte nicht blos die von seinem Vater verordnete Reformation im Herzogthum weiter durch, sondern es gelang ihm dann auch, dieselbe in friedlicher Weise auf das Bisthum Merseburg auszudehnen. Das dortige Domkapitel ließ sich nämlich 1544 durch ihn bestimmen, für dasselbe seinen jugendlichen Bruder August zu erwählen, und dieser übertrug, da er selbst kein Geistlicher war, die eigentlich bischöflichen Funktionen sogleich an Georg von Anhalt, den frommen Freund Luthers, der im Sommer des folgenden Jahres auch die Weihe, ähnlich wie Amsdorf sie empfangen hatte, durch Luther in Gemeinschaft mit mehreren Superintendenten und mit Bugenhagen, Cruciger und Jonas sich in seiner Domkirche ertheilen ließ.

Noch weit Größeres und Wichtigeres bereitete sich im Erzbisthum Cöln vor. Hier beschloß einmal ein Erzbischof und Kurfürst selbst, der greise, würdige Hermann v. Wied, aus freier Ueberzeugung die Reform auf Grund des neu 562 erkannten Evangeliums vorzunehmen. Im Jahr 1543 berief er hiezu aus Wittenberg den Melanchthon. Dieser hatte dort mit Butzer zusammen zu arbeiten, der immer dafür galt, daß er durch seinen Eifer für allgemeine kirchliche Einigung leicht zu weit sich führen und zugleich in der Abendmahlslehre auch nach der Annahme der Wittenberger Concordie (oben S. 509) seinerseits doch lieber bei einer unbestimmteren Fassung es bewenden lasse. Luther aber verfolgte mit Dank gegen Gott das Unternehmen, beförderte selbst den Abgang Melanchthons dorthin, begleitete diesen mit seinem vollen Vertrauen und ließ sich mit Freuden von ihm über die Aufrichtigkeit, Einsicht und Standhaftigkeit des Erzbischofs berichten. – Aehnlich begann auch schon der Bischof von Münster nach dem Wunsch seiner Stände mit Reformversuchen.

Der Kaiser endlich, der seit 1542 auch wieder mit Frankreich im Krieg lag und dazu eine kräftige Hilfe von Seiten der deutschen Reichsstände bedurfte, bezeigte sich auf einem neuen Reichstag in Speier 1544 den Protestanten so gnädig wie nie zuvor. Im Reichstagsabschied versprach er nicht nur auf ein allgemeines Conzil hinzuwirken, das im heiligen Reich deutscher Nation gehalten werden solle, sondern sagte auch, da es mit dem Conzil noch ungewiß sei, einen andern Reichstag zu, der selbst über die streitige Religion handeln sollte. Mittlerweile sollten sowohl er als die verschiedenen Reichsstände Bedenken und Entwürfe für eine christliche Vereinigung und gemeinsame christliche Reformation vorbereiten. Vor dem Zugeständniß eines auf deutschem Boden zu haltenden Conzils hatte Erzbischof Albrecht, der jetzt ganz gegen die Reformation verbittert war, schon nach dem Reichstag von 1541 dringend verwarnt, weil hier das protestantische Gift zu mächtig wirken werde; in einem nationaldeutschen Conzil sah er die drohende Gefahr eines Schisma. Ueber die Beschlüsse von Speier erhielt der Kaiser schwere Vorwürfe vom Papst: namentlich verstoße 563 es gegen die christliche Frömmigkeit, daß Laien, ja Laien, welche den verdammten Ketzereien anhängen, über die kirchlichen und geistlichen Dinge urtheilen sollten.

Die Ausbreitung und Kraft des Protestantismus hatte im deutschen Reich einen Höhepunkt erreicht, auf dem es möglich scheinen konnte, daß er doch noch zum Bekenntniß der großen Mehrheit der Nation werden, ja daß diese in ihm noch sich einigen werde. Karl V. jedoch hielt an seinem ursprünglichen Ziel unwandelbar fest, ja mochte sich ihm bald näher denn je zuvor fühlen. Durch jene Nachgiebigkeit gewann er eine Heeresmacht, vermöge deren er schon im September desselben Jahres einen anständigen Frieden mit König Franz machen konnte, und bei diesem wurde auch sogleich wieder ein gemeinsames Wirken für die Herstellung der katholisch-kirchlichen Einheit insgeheim zwischen den beiden Fürsten verabredet. Das Nächste war, den Papst endlich zur wirklichen Einberufung eines Conzils, das diesem Zweck nach dem Sinne des Kaisers dienen sollte, zu bewegen, dann die endliche Unterwerfung der Protestanten unter dieses zu erzwingen.

Auf jene Möglichkeit hätte man wohl noch hoffen dürfen, wenn dasjenige Wehen des Geistes, das einst von unserem Reformator angeregt und auch ihm selbst schon entgegengekommen war, voll und kräftig im deutschen Volk sich erhalten und wenn der neue Geist die Massen oder auch nur wenigstens die einflußreichsten Classen und Persönlichkeiten, die dem neuen Bekenntniß zufielen, alle wahrhaft innerlich durchdrungen, geläutert und zum Kämpfen, Arbeiten und Dulden gekräftigt hätte. Aber von Anfang an und je länger je mehr gingen ja die Klagen des Reformators darüber, wie sehr es hieran fehle, seiner Verkündigung des Evangeliums und seinem Angriff auf das römische Antichristenthum zur Seite. So jammerte er wieder, als er von jenen Erfolgen in Cöln, Münster und Braunschweig hörte, darüber, daß doch »bei uns Viele bös und 564 Wenige gut werden«; er wandte auf die eigene Kirchengemeinschaft das Sprichwort an »je näher Rom, je ärgere Christen«, und die Aussprüche des Propheten, wonach Jerusalem, die heilige Stadt, immer das Aergste thun müsse. In seinem Eifer warf er hier den evangelischen Gemeinden noch mehr vor, als die altkirchlichen und papistischen Gegner ihnen hätten vorwerfen dürfen, sofern bei diesen die sittlichen Zustände doch mindestens keine besseren waren; bei jenen aber hatte er den besonderen Undank zu beklagen der besonderen Wohlthat gegenüber, die ihnen Gott habe zu Theil werden lassen. So stieß er beim Bauernstand vorzugsweise immer wieder auf die alte eigensinnige Gleichgiltigkeit und Stumpfheit, bei den Bürgern auf Ueppigkeit und Mammonsdienst, bei seinen Deutschen überhaupt auf Völlerei und anderes grobes Fleischeswesen. Am schmerzlichsten trat ihm solches bei seinen nächsten Mitbürgern und Zuhörern, seinen Wittenbergern, entgegen, und am schärfsten äußerte er sich darüber gegen die Studentenschaft, die er zur Unzucht und zum Dienst viehischen Lasters, wie er sagt, verführt sah. Die Obrigkeit war ihm dem allen gegenüber viel zu wenig der hohen göttlichen Bestimmung eingedenk, deren er sie hatte versichern dürfen. Als über Einführung und Verschärfung von Kirchenzucht verhandelt wurde, sah er voraus, daß sie nur zu den Bauern reichen und an die höheren Classen sich nicht wagen werde. Unter den hohen Herren am Hofe, zumeist am Dresdener, aber auch am Kurfürstlichen sah er gewaltthätige Centauren und gierige Harpyien, welche die Reformation ausbeuten und schänden und in deren Mitte auch einem tüchtig gesinnten Regenten ein echt christliches Regiment schwer und unmöglich werde. Dazu gerieth er schon früher und namentlich noch in jenen späteren Jahren mit Juristen und zwar auch mit anerkannt gewissenhaften Männern, wie mit seinem Collegen und Freund Schurf, wegen mancher Fragen in Conflict, worin sie von Auffassungen des kanonischen oder 565 auch römischen Rechts, die er unchristlich und unsittlich fand, nicht weichen zu können meinten. Namentlich schalt er es auch eine Verletzung der göttlichen Ordnung, daß sie auf der Giltigkeit von Verlöbnissen bestanden, welche von jungen Leuten insgeheim und gegen den Willen der Eltern geschlossen waren. Nicht jenem Siege des evangelischen Bekenntnisses sah er bei diesen Zuständen des deutschen und deutsch-protestantischen Volkes entgegen, sondern er kündigte seinem Deutschland mit Bangigkeit schwere, verheerende Heimsuchungen an, sprach auch davon, daß Gott die Bekenner des Evangeliums wohl noch sehr durch Drangsale zusammenschmelzen lassen und sichten werde.

Gerade in jenem Zeitpunkt nun, wo eine Entscheidung für den großen kirchlichen Kampf in Deutschland sich vorbereitete, glaubte Luther auch das Band des Friedens und der gegenseitigen Duldung wieder zerreißen zu müssen, das mühsam zwischen ihm und den evangelischen Schweizern zu Stande gekommen war. Er hatte darin keinen Grund gesehen, sein altes Urtheil über Zwingli zu ändern oder fernerhin zurückzuhalten. Jene dagegen nahmen, durch solche Aeußerungen verletzt, ihren verehrten Lehrer und Reformator auf eine Weise in Schutz, aus welcher Luther schloß, daß sie ganz noch an seinen Irrthümern hingen. Auch war ein kränkendes Mißtrauen gegen ihn unter ihnen selbst nie erloschen. Dazu hörte Luther von verderblichen Einflüssen, welche die Sacramentirerei auch auswärts noch übe: so in einem Briefe von Glaubensgenossen aus Venedig, deren Klagen über böse Folgen des Abendmahlstreites für ihre Gemeinden ihn auf fortgesetzte Zwingli'sche Einwirkungen hinwiesen. Schon im August 1543 schrieb er dem Züricher Buchdrucker Froschauer, der ihm eine von den dortigen Predigern verfaßte Bibelübersetzung verehrte, kurz und offen: er könne mit diesen keine Gemeinschaft haben, wolle ihrer lästerlichen Lehre sich nicht theilhaftig machen; es sei ihm leid, »daß sie so fast sollen umsonst 566 arbeiten und doch dazu verloren sein.« Nun fand er gar in einem Reformationsentwurf, welchen Butzer mit Melanchthon für Cöln abgefaßt hatte, verdächtige Sätze über das Sacrament, auf welche eine Kritik Amsdorfs ihn aufmerksam machte; sie ließen allerdings die bestimmte lutherische Aussage über die Substanz des Leibes Christi im Abendmahl vermissen oder »mummelten«, nach Luthers Ausdruck, nur davon. Ja er hörte sagen, daß sogar für Wittenberg und für ihn selbst seine Lehre hierüber nicht mehr feststehen sollte: Anlaß hiezu gab nämlich der Umstand, daß man die Elevation, d. h. den alten Gebrauch, die geweihte Hostie feierlich emporzuheben, der mit der katholischen Opferidee zusammenhing, jedoch bisher noch beibehalten und in anderem Sinn gedeutet worden war, neuerdings endlich dort abgethan hatte. Nach tiefem, heftigem Grollen brach Luther im September 1544 mit der Schrift los: »Kurz Bekenntniß vom heiligen Sacrament«. Nicht um eine neue Widerlegung der Irrlehrer war es ihm zu thun – er erklärte, sie seien von ihm schon vielfältig als offenbare Lästerer überwunden – sondern nur darum, gegen die »Schwärmer und Sacramentsfeinde Carlstadt, Zwingel, Oekolampad, Stenkefeld (Schwenkfeld) und ihre Jünger« noch einmal Zeugniß abzulegen und sich von ihnen, den verlorenen Menschen, völlig und für immer loszusagen.

Es gingen bange Gerüchte über Schläge, welche Luther auch auf Butzer und Melanchthon zu führen im Begriff sei. Melanchthon selbst bebte; er fürchtete ernstlich, ins Exil ziehen zu müssen. Aber nicht einmal gegen Butzer, den er bei dieser Gelegenheit ein Klappermaul nannte, ließ Luther sich weiter aus. Gegen Melanchthon finden wir nirgends, auch nicht in Briefen an vertraute Freunde, eine verletzende oder gar drohende Aeußerung aus seinem Munde. Er bewahrte ihm sein Vertrauen auch für spätere kirchliche Verhandlungen. Als man ihn drängte, eine Sammlung seiner lateinischen Schriften herauszugeben, widerstrebte er, wie er 567 in der Vorrede vom Jahr 1545 sagt, lange, weil man ja schon so tüchtige christliche Lehrschriften habe, wie namentlich jene Loci Melanchthons, die derselbe kurz vorher neu in seiner Weise bearbeitet hatte (vgl. oben S. 536). Wir möchten bedauern, daß Melanchthon in solchen für ihn peinlichen Momenten dem Freunde, dessen Herz für ihn doch immer groß und warm blieb, nicht auch freier und muthiger das eigene erschloß.

Ueber die nächsten Erfolge seines Handelns und Wirkens, zu welchem er sich von Gott berufen und getrieben fühlte, bei welchem aber freilich auch seine natürliche Individualität mächtig erregt war, hat Luther bis an sein Ende nie viel gerechnet und gesorgt. Indem er die Dinge vielmehr allein Gott anheim stellte, hatte er namentlich stets schon jenes letzte Ziel, auf welches Gott sie sicher hinlenke, vor Augen, ja sah dieses schon in der nächsten Nähe vor sich. Die Zuversicht auf die Nähe jenes großen Tages, wo der Herr diese ganze Weltentwicklung abschneiden und mit der vollendeten Herrlichkeit und Seligkeit seines Reiches sich offenbaren werde, stand, wie er sie schon im Beginn seiner Kämpfe aussprach, so bis zum Schlusse seines Wirkens bei ihm fest. Wir erkennen darin die Innigkeit seines eigenen Sehnens, Ringens und Drängens nach diesem Ziel, wie das tiefe Bewußtsein davon, wie wenig die Gegenwart mit allen ihren Leistungen der göttlichen Bestimmung entsprechen könne. Hinaus strebte er über diese Welt, während gerade er die Christen wieder lehrte, wie sie die in ihr gestellten sittlichen Aufgaben würdigen und auch ihre Güter mit Dank gegen Gott genießen sollten. Daran, daß man Tag und Stunde nicht wissen könne, hat er stets erinnert und vor Berechnungsversuchen gewarnt. Aber seine Hoffnung auf jene Nähe suchte doch auch er zu begründen. Mit besonderer Bestimmtheit that er dies noch in einer kleinen lateinischen Schrift jener letzten Jahre, worin er die biblische Chronologie und weiter auch die Hauptjahre der 568 Weltgeschichte überhaupt behandelte. Anschließend nämlich an die weit verbreitete, schon aus dem Judenthum stammende Annahme einer großen Weltwoche von sechs Jahrtausenden, auf welche der ewige Ruhetag folge, suchte er mit künstlicher Begründung zu zeigen, daß vom sechsten Jahrtausend wohl nur die Hälfte wirklich ablaufen solle, und indem nun nach seiner Chronologie das Jahr 1540 das 5500ste Jahr der Welt war, hätte schon mit dem Erscheinen seines Büchleins 1541 das Ende hereinbrechen müssen. Nie indessen hat er, wie so manche Andere, sich durch solche Hoffnungen und Wünsche in praktisch gefährliche Phantastereien hineinziehen lassen.

Zu größeren schriftstellerischen Arbeiten kam er in diesem Jahre nicht mehr.

Neben der fortgesetzten Polemik gegen Papstthum und Irrlehre haben wir hier noch eigenthümliche Streitschriften zu erwähnen, welche sein Zorn über die Angriffe dreister Juden aufs Christenthum, ja über die Verführung mancher Christen durch sie bei ihm hervorrief. Schon i. J. 1538 veranlaßte ihn die seltsame Kunde, daß in dem an Sectirerei reichen Mähren »jüdisches Geschmeiß« Christen zur Annahme des mosaischen Gesetzes verleite, zu einem öffentlichen »Brief wider die Sabbather«. Heftiger zog er gegen sie 1543 in ein paar Schriften los, vornehmlich wegen der schmutzigen Schmähungen und wilden Flüche, die das freche Judenthum gegen Christus und die Christen sich erlaube und dazu wegen des Wuchers, in dessen Schlingen sie diese fangen. Ja er meinte, man solle ihnen die Synagogen, wo sie so lästern und fluchen, verbrennen und sie zu ehrlichem Handwerk antreiben, oder aus dem Lande jagen.

An seiner großen, schönen Lebensarbeit, der deutschen Bibelübersetzung, war er noch bis an sein Ende thätig. Nachdem die zweite Hauptausgabe derselben (vgl. ob. S. 526) 1541 erschienen war, suchte er auch noch bei den folgenden Auflagen i. J. 1543 und 1545 wenigstens Einzelnes zu 569 verbessern. Auch das wichtigste Predigtwerk, das Luther der Nachwelt hinterlassen hat, war er noch weiter umzugestalten und zu bessern bedacht. Nachdem er schon 1540 Aenderungen an einer Reihe von Predigten vorgenommen hatte, ließ er drei Jahre nachher die Sommerpostille, die einst Roth herausgegeben hatte, in einer neuen Bearbeitung durch die Hand seines Collegen Cruciger erscheinen; hier ist diese auch erst durch die Predigten über die Episteln vervollständigt worden.

Wie sehr Luther, auch ehe jenes große Ende da wäre, aus den Kämpfen und Arbeiten heraus unter der Last leiblicher Beschwerden nach der ewigen Ruhe sich sehnte, haben wir längst vernommen. Er sprach davon ruhig mit tiefem Ernst und wohl auch mit einem für die Hörer oder Leser schmerzlichen Humor. So antwortete er seiner gnädigsten Kurfürstin Sibylle, als sie im März 1544 »sorgfältig und fleißig« nach seiner Gesundheit und dem Befinden von Weib und Kindern fragte: »Es gehet uns, Gott Lob, wohl und besser, denn wir's verdienen vor Gott. Daß ich aber am Haupt zuweilen untüchtig bin, ist nicht Wunder. Das Alter ist da, welches an ihm selbst alt und kalt und ungestalt, krank und schwach ist. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er einmal zerbricht. Ich habe lange genug gelebt, Gott bescheere mir ein selig Stündlein, darin der faule unnütze Madensack unter die Erde komme zu seinem Volk und den Würmern zu Theil werde. Acht auch wohl, ich habe das Beste gesehen, das ich hab auf Erden sollen sehen. Denn es läßt sich an, als wollte es böse werden. Gott helfe den Seinen, Amen.« 570


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