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Der Pavillon

Ein junger Philosoph hoffte wie alle anderen seiner Zunft, die Natur aller Dinge zu erkennen. Da aber das Studium der Philosophie langes nächtliches Nachdenken und viel Lesen und Studieren in Büchern mit wunderbaren Sätzen und Zeichen erfordert, so verloren seine Augen an Kraft und Schärfe und er erkannte allmählich immer weniger von der Natur aller Dinge. Aber durch recht eifriges Studium erlangte er, was er erstrebt und ersehnt – den Eintritt in die philosophische Brillensammlung. Diese Brillensammlung, die an der Universität des Landes von der philosophischen Fakultät verwaltet wurde, und die man als einen unantastbaren und durch keine Güter der Welt zu ersetzenden Schatz aufbewahrte, enthielt die Brillen aller Philosophen von Anbeginn der Welt bis auf unsere Zeit, das heißt: eigentlich nur bis auf ein Menschenalter vor unserer Zeit, aber das genügte ja. Alle diese Brillen probierte unser junger Freund und siehe, er fand eine, deren Gestell vortrefflich auf seine Nase paßte und deren Bügel sich wie angegossen um seine Ohren legten. Dann fand er in einer anderen ein Glas, das für sein linkes Auge paßte, und schließlich in einer dritten eins, durch das sein rechtes Auge vortrefflich sehen konnte. Diese Gläser drückte er in jenes Gestell, setzte die fertige Brille auf die Nase und ging hinaus. Da erkannte er mit einem Male die Natur aller Dinge. Erfreut ging er hin und schrieb ein großes, gelehrtes Buch darüber, daß man mit seiner Brille unfehlbar die Natur aller Dinge erkennen könne. Und alle Leute in seinem Lande ließen sich solche Brillen machen, wie die seine war, und gleichviel, ob sie für ihr Auge paßten, sie erkannten von nun an allesamt die Natur aller Dinge. –

Da es die philosophische Gründlichkeit erfordert, wollte er auch beweisen, daß es wirklich kein Ding gäbe, das man mit seiner Brille nicht erkennen könne – er ging im Lande umher und betrachtete alles und fand tatsächlich kein Ding, dessen Natur er nicht erkannt hätte.

Nun war aber in jenem Lande der höchste Berg der Welt, und alle Philosophen waren in ihrem Leben einmal da hinaufgestiegen, um sagen zu können, daß sie auch ihn – nicht – ununtersucht – gelassen hätten. (Solches Deutsch sprachen nämlich die Philosophen. Bei den Worten »nicht – ununtersucht« legt ein Philosoph die Arme unter der Brust zusammen, greift mit der einen Hand an das Kinn – oder, wenn er einen hat, in den Philosophenbart und legt die Stirne dermaßen nachdenklich in Falten, als hätte er den »Gegenstand« in der Tat »untersucht«.) –

Die große Mehrzahl aller früheren Philosophen war nach langer auf dem Berge erduldeter Beschwerde wieder heruntergekommen und hatte berichtet, auf dem obersten Gipfel des Berges sei nichts – gar nichts. Einige wenige auch waren von jenem Berge nicht wieder heruntergekommen. Aber das waren immer solche gewesen, die nicht so recht eigentlich als »Philosophen« angesehen wurden – mehr so die Autodidakten und Dilettanten. Na! – Nachdem nun unser Philosoph alle Dinge erforscht hatte und in alle Tiefen hinabgestiegen war, entschloß er sich, auch den Berg zu besteigen. Er stieg hinauf, immer höher und höher und erkannte alle Dinge. Oben auf den steiler werdenden Wänden empfingen ihn Gletscher – er stieg hinauf und erkannte alle Dinge. Weiter hinauf war es immer eisiger und die Kälte immer starrer, und als er eine schroffe Eiswand erklommen, über der nach seinen bisherigen Beobachtungen der Gipfel liegen sollte, da war es so schneidend kalt, daß ihn das frostige Metall seiner Brille fast an Nase und Ohren verbrannte. Er mußte die Brille abnehmen und sah – nichts mehr. Er blickte um sich her und sah nichts mehr. Zufrieden klomm er wieder hinunter, setzte in milderen Regionen seine Brille wieder auf, stieg hinab zu den anderen Menschen, die ihn erwartet hatten, und sagte: »Da oben auf und über dem Berge ist nichts.« Und die Leute, die alle Dinge erkannten, seit sie seine Brille trugen, gingen wieder an ihre Geschäfte und sagten: »Da oben ist nichts.«


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