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Der Silvestermajor

Herr Major von Garstorff war tot.

Niemand zweifelte daran.

Er selbst am wenigsten. Und am allerwenigsten dann, wenn er in der Silvesternacht in seinem Sarge aufwachte, den Deckel hob, herausstieg, die kurze Steintreppe hinaufging, sich durch die Luke der Steindecke zwängte – denn er war sehr groß, stark und breitschultrig – und mit einem besonders geschickten Fingerdruck die Gittertür der kleinen Begräbniskapelle öffnete. Er zweifelte auch nicht an seinem Tode, wenn er durch den wirbelnden Schnee oder durch die glasblaugefrorene Mondnacht ging – durch den Park – am Herrenhause von Kleingarshausen vorbei, durch den Wald über die Felder und nach dem Rhein – über den Rhein hinüber nach den Schlachtfeldern von Bazeilles. Dort trieb er sich die ganze Nacht herum und suchte nach den Stätten der Schlacht. Von Jahr zu Jahr wurden sie anders unter dem wuchernden, wechselnden Leben. Am hellen Neujahrsmorgen ging er wieder in sein einsames Grab in der Kapelle am Waldrande von Kleingarshausen – schloß hinter sich das Gartenpförtchen, stapfte allen Schnee, der an seinen Sohlen hing, trampelnd auf die Steinfließen, kroch in die Luke, legte sich wieder in seinen Sarg und zog den Deckel über sich – wie eine Bettdecke.

Herr Major von Garstorff durfte solche Ausflüge machen – alle Jahre einen – in der Silvesternacht, weil er Glock zwölf in der Nacht auf Neujahr gestorben war. An einer Wunde, die ihn auf den Feldern von Sedan hingestreckt hatte. Ein Jahr noch hatte er im Herrenhause gelegen und mit dem Meister Hans von Sensenburg und Klapperhausen gerungen. Endlich hatte er ihn lang gelegt. Glock 12 in der Nacht von Silvester 71 auf Neujahr 72.

Alle Jahre war er an dem Herrenhause still vorübergegangen. Was sollte er da? Die Lebenden leben ohne die Toten und wollen ohne sie leben. Und Erinnerungen? Wer weiß, ob sie ihn noch so im Gedächtnis hatten, wie er wirklich war. Und wenn sie noch an ihn dachten, wer weiß, ob er nicht schon als ein ganz anderer unter ihnen dastand. Seinen eigenen Erinnerungen galt diese Nacht. Dort auf den Schlachtfeldern war sein Leben in Wahrheit erfüllt und vollendet. Dort wollte er hin. Nur dorthin.

Und doch galt ein langer Blick seinem Hause, ein langer Blick voll Wesen und Anteil, wenn er daran vorbeischritt.

Die ersten zehnmal sah er das Haus von oben bis unten erleuchtet. Solange war sein Neffe Heinz Herr im Hause und hatte Silvester gefeiert mit Gästen über Gästen. Die Fenster hatten geglüht und wohl drin auch die Köpfe. Nur einen hatte der Herr Major ein paarmal still durch den Garten gehen sehen, den jungen Herrn. Das war ein feiner schlanker Mann, trug Zivil und sah ein wenig bleich aus.

Dann starb Herr Heinz von Garstorff. Er ward begraben unten im großen Familienbegräbnis auf dem Ortsfriedhofe. Nicht oben in der Kapelle am Waldrand. Dort lag nur einer. Der alte Major hatte auf seinem langen Krankenlager so oft darum gebeten, man möge ihm da oben am Walde seine Gruft bereiten.

Dann wurde der feine, bleiche Otto von Garstorff Herr auf Kleingarshausen. Er war Amtshauptmann in einer kleinen Amtshauptmannschaft im Gebirge. Nur zu den Festzeiten kam er aufs Herrenhaus. Der Herr Major ärgerte sich darüber. Was sollte aus der guten Landwirtschaft auf Kleingarshausen werden, wenn sie nur vom Rendanten und vom Verwalter versehen wurde. Und doch gefiel es ihm, wenn in der Silvesternacht ein paar Zimmer im Erdgeschoß des linken Flügels mäßig erleuchtet waren. Eine herzliche, wohltuende Wärme ging von diesem Licht hinaus in die Nacht. Und ein paarmal, wenn der unstäte Major an den Fenstern vorbeistrich, sah er den Herrn Amtshauptmann stehen, den Blick zu den funkelnden Sternen erhoben, an seine Schulter gelehnt ein schönes blondes, junges Weib, und zu beiden Seiten des Paares zwei prächtige lockige Jungenköpfe. Freilich der Herr Amtshauptmann hatte noch blasser ausgesehen als sonst, wenn er ihn im Garten traf.

Dann war auch Herr Otto von Garstorff gestorben – jung und von seiner noch jungen Familie weg – auch er ward unten im Dorfe begraben.

Traurige Zeiten kamen für das Herrenhaus. Frau Clara, Witwe des Amtshauptmanns – wohnte nun dauernd im Herrenhaus. Aber sie war in tiefer Verzweiflung. Keines Menschen Zuspruch konnte ihr des Gatten feine, zarte Art ersetzen. Keines Menschen Wort erfreute sie. Ihrer Knaben stürmische Zärtlichkeit tat ihr weh. Sie gab sie in die Stadt. Um niemand kümmerte sich ihr schmerzerfülltes Herz – und niemand kümmerte sich um sie. Bitter weh tat es dem Herrn Major, wenn er in stiller Silvesternacht am Herrenhause vorbeischritt und nur ein Licht sah, in einem einzigen Fenster des Erdgeschosses. Wenn er sich reckte und hineinblickte, dann sah er das eine Mal die schöne blonde Frau über die Bücher gebeugt, rechnend und arbeitend; das andere Mal sah er sie sitzen; aufrecht, starr die Augen ins Leere gesenkt, das Taschentuch vor den Mund gepreßt – und dann schlug sie plötzlich in schwerem Schluchzen auf die Platte des Schreibtisches hin und rang die Hände um das Bild des geliebten Mannes.

So blieb es manche Jahre. Kein Gast, keiner der Söhne, nur die arbeitende, weinende, einsame, blonde Frau.

Und eines Nachts, als der Major wieder aus seinem Sarge emporstieg und aus dem kalten Steinbau der kleinen Kapelle am Waldrand hinausschritt, da fiel ein dichter Schnee. Große Flocken und feine Körnchen, so eng aneinander, daß man kaum seine eigenen Hände hätte sehen können, wenn nicht schon ohnedies eine stockschwarze Finsternis gewesen wäre. Der Schnee lag ein paar Fuß hoch und der Herr Major mußte ganz gewaltig steigen, um nur vorwärts zu kommen. Aber als er am Herrenhause vorbeikam, da war Licht – mehr Licht als sonst. Licht in den beiden größten Zimmern im ersten Stock. Gerade im rechten Flügel, wo immer das junge Volk untergebracht wurde. Helle! Ein Fenster stand offen, jemand spielte auf dem Klavier und dann sang eine junge, fröhliche Stimme: »Herr Vater, Frau Mutter, die ziehn vors Hauptmanns Haus – – –«. Halloh – dachte der tote Major; die jungen Herren sind nach Hause gekommen und Freude und Lust sind wieder eingezogen auf Kleingarshausen.

Aber als er weiterschritt am linken Flügel hin – da sah er wie alle Jahre das einsame Fenster der Witwe, und als er herzuschlich und hineinsah – da legte sie gerade mit einem ernsten Blick den Deckel eines großen Buches herum, sah zu dem Verwalter auf, der neben dem Schreibtisch stand, neigte ein wenig den Kopf und sah mit bitterem Gesicht wieder auf das geschlossene Buch. Der Verwalter verbeugte sich und ging hinaus. Und als er hinaus war, da riß und zuckte es um ihren Mund und dann weinte sie bitterer denn je.

Da wendete der tote Herr Major seinen Weg, vergaß die schneefernen Felder von Sedan und ging auf die Tür des Herrenhauses zu.

Er läutete.

Ein Diener kam mit Licht.

»Major von Garstorff – melden Sie mich der gnädigen Frau.«

Verwundert sah ihn der Diener an, doch ohne Entsetzen. Das war ihm niemals begegnet bei seinen Wanderungen um die Zeit des Jahreswechsels, daß jemand vor ihm mit Grausen davongelaufen wäre.

Der Diener geleitete ihn in den großen Vorraum, nahm ihm den Mantel ab und ging ihn melden.

»Was ist das für ein Herr Major von Garsdorff – mitten in der Neujahrsnacht?« hörte er die Stimme der Witwe den alten Diener fragen.

»Ich weiß von keinem«, sagte der, »aber er sieht aus wie ein richtiger Garstorff.« Das klang vertraulich – wie der Ton der alten Diener aus Kleingarshausen immer gewesen war.

»Führen Sie den Herrn Major herein – aber bleiben Sie in der Nähe – man kann doch nicht wissen ...«

Clara wartete einen Augenblick voll Verwunderung über den unangemeldeten Silvestergast. Aber als er hereintrat, sah sie, das war ohne Zweifel ein Garstorff. Das breite gemütliche Gesicht mit den klugen Augen, das sie alle gehabt hatten, außer ihrem schmalen kränklichen Otto. Es war kein Zweifel, irgendeinem der alten Bilder hier im Hause sah der Major geradezu ähnlich.

»Ist es erlaubt, gnädige Frau Base, sich so unangemeldet als Silvestergast einzuladen?« – Das klang sicher und weltmännisch und gewann sie.

»Darf ich mich nach Ihrem persönlichen Befinden erkundigen, gnädige Frau?«

Sie hatte schon vorher gewußt ihre Tränen zu verbergen: »Ich danke, es geht mir gut.«

»Warum sind Sie nicht oben bei Ihren Söhnen?«

»Ich hatte bis eben zu arbeiten.«

»Zu arbeiten in der Silvesternacht? – Ihre Söhne sind seit Jahren zum ersten Male zu Hause.«

Das war ein Vorwurf – aber es klang nicht so. Es klang fast wie ein mitleidvolles, wehmütiges Streicheln, so zart und freundlich fuhr der alte Haudegen sein grobes Geschütz auf.

Ein seltsamer Zwang kam über sie. Sie wollte sich gegen ihn wehren, dachte einen Augenblick daran, den Diener zu rufen und den Schwindler da vor sich hinauswerfen zu lassen – sie dachte einen Augenblick daran. Aber sie konnte es nicht – sie mußte ihm antworten.

»Ich habe die Jungen nicht gerufen«, sagte sie hart und kalt.

Der Major erhob sich: »Das sind keine Worte für eine Mutter.«

Wieder wollte sie sich wehren. Aber sie konnte es nicht. Stumm sah sie vor sich hin – einen Augenblick schluchzte sie schwer auf, so daß ihr ein schmerzlicher Laut entfuhr. Sie fuhr mit dem Taschentuch über die Augen – dann saß sie wieder stumm und sah geradeaus.

Stramm aufgerichtet stand vor ihr der Major – den Säbel mitten vor die Füße gestellt und beide Hände auf dem Griff. Er sah sie an mit einem ernsten Blick, der streng und gütig zugleich war.

»Und was haben Ihnen Ihre Söhne getan?«

Da fühlte sie plötzlich eine heiße weiche Glut in ihrem Herzen, in ihrem Halse, im Kopfe, in den Augen. Hellaufweinend schlug sie die Hände vor das Gesicht und legte den Kopf nach vorn, fast bis auf die Knie.

Sie weinte und schluchzte lange so. – Dann aber kam der Stolz in ihr auf. Es schien ihr kein Zwang und Bann mehr von dem seltsamen Manne auszugehen, der da vor ihr stand. Sie gewann sich wieder und hob den Kopf mit frauenhafter Würde. Nun wollte sie ihn hinausweisen.

Aber als sie aufsah, blickte sie in sein breites gemütliches Gesicht mit den klugen Augen, das sie so gut von all den Bildern im Hause kannte, und diese Augen sahen sie mit einem Ernst und einer Milde zugleich an, die sie niemals mehr gesehen, seit ihr Gatte gestorben war. Diesen Blick voll Ernst und Milde hatte auch er gehabt – er, der in seiner schmalen Zartheit den Garstorffs sonst unähnlich gewesen war.

Da hielt sie's nicht länger – da kamen ihr die vielen Tränen, die sanft fließen, ohne Krampf und Wehe. Tränen, die große Tropfen geben, und die wie großtropfender Regen, von selbst aufhören, bald aufhören, und die man doch nicht mit dem Tuch in die Augen zurückdrücken muß und die einem nicht im Halse würgen und einen klein machen, kraftlos und engbrüstig. Nein, es waren andere – gute Tränen.

Sie stand auf, wies mit der Hand und ging ihm voran in ihr kleines Arbeitszimmer, dort wo die Bücher des Verwalters lagen und wo das Bild des Gatten stand.

»Lassen Sie mich erzählen, Herr Vetter«, bat sie. Er wollte die Hand erheben und sagen, daß er alles wisse und verstehe, – aber er sah auf sie nieder, jetzt mußte sie sprechen. Er ließ sie erzählen von ihrer Liebe zu Otto, von seinem stillen, feinen, gütigen Wesen – dann von ihrer Einsamkeit als Mädchen – von ihrem Glück mit dem geliebten Manne – von seiner Krankheit – von seinem Tode. Und dann von dem großen Schmerz. Niemand nahm daran teil. Von ihren Verwandten lebte kaum jemand mehr, von den Verwandten ihres Mannes hatte sie nur wenig gehört. Kein Mensch ist ja so verlassen wie eine Witwe. Dann kam die Sorge um die Wirtschaft. Tag und Nacht arbeitete sie mit dem Verwalter. Aber wenn sie allein war, dann kam der Schmerz, der schneidende, herzzerdrückende Schmerz, in dem sie nicht glauben konnte, daß ihr Gatte tot sei, wirklich tot, dann war es ihr oft gewesen, als hingen ihr seine Söhne wie ein Gewicht an, daß sie ihm nicht nachgehen konnte – an seiner Seite zu liegen in der Familiengruft von Kleingarshausen. Und dann fing sie an, ihre Söhne zu hassen. Sie tat sie in gute Hände in die Stadt und wollte sie nie sehen – niemals – niemals. Tief hatte sie sich in ihrem Schmerz verbissen, Jahr um Jahr.

»Und diesmal kamen meine Söhne zu Weihnachten. Sie schrieben, sie wollten kommen auf jeden Fall – ob ich sie möchte oder nicht. Und sie sind gekommen und quälen mich mit ihrer Liebe und mit Zärtlichkeit. Aber ich kann nicht – wenn ich sie sehe, dann steigt mir der Schmerz in die Kehle – dann würgt es mich – ich kann nicht – ich kann nicht.«

Der tote Major hatte still vor dem Schreibtisch gestanden, vor dem sie schluchzte und weinte. Er hatte ihr zwei-, dreimal über das blonde Haar gestrichen – sie hatte es geschehen lassen und hatte fortgeweint.

Und als sie sagte: »Ich kann nicht, ich kann nicht« – da stieg plötzlich eine heiße Angst in ihr auf, der fremde seltsame Mann neben ihr könnte ihr zürnen, daß sie ihre Kinder nicht lieb habe. Es kam ihr zum ersten Male das Bewußtsein, das könnte ein Unrecht sein. Und mit einem großen angstvollen Blick sah sie den Mann an.

Der aber war ruhig und ernst wie vorher und sagte milde: »Frau Base, wir wollen zu Ihren Kindern gehen.«

Nur noch ein einziges tiefes Zusammenzucken gab da Kunde von ihrem Leid.

Dann ging sie an seiner Seite den Korridor entlang die große Treppe hinauf zum rechten Flügel. Seltsam, wie genau der Major überall Bescheid wußte. Eine Tür drückte er auf. Sie führte ihn in ein Zimmer neben den beiden, die er von unten erleuchtet gesehen. Sie traten in ein kleines Schlafzimmer – breit fiel das Licht aus dem anderen Zimmer. Musik klang herüber – einer der Söhne sang und spielte.

Vorsichtig trat der Major mit Frau Clara an die offene Tür. Hans, der große, saß am Klavier.

»Ei, ein Fähnrich!« flüsterte der Major. »Das laß ich mir gefallen.«

Otto, der jüngere, lag auf dem Sofa und las in einem alten Buche. Eine bunte Mütze hatte er auf dem Kopfe, aber kein Band um die Brust.

»Noch Pennäler«, flüsterte der Major, »kann so Unterprima sein«.

Frau Clara lächelte ein wenig und sagte: »Ja«.

Auf einmal richtete sich Otto auf: »Du, hör mal, was die aber zu Großvaters Zeiten für eine Chemie gehabt haben – da ist ein alter Schmöker aus Großvaters landwirtschaftlicher Bibliothek. Da weiß doch unsereiner mehr. Na, wenn ich mal hier mitzureden habe, wollen wir aber mal eine andere Chemie in die Landwirtschaft bringen.«

»Ja, glaubst du denn, daß das Mutter nicht kann?« sagte Hans.

»Aber wo denkst du denn hin. Ich hab mich mit dem Verwalter unterhalten, ein braver, alter Mann – aber keine Ahnung von einer modernen Wirtschaft. Da gehört Studium hinein – wirkliche landwirtschaftliche Bildung. – Na, laß nur gut sein. Wir werden's schon machen!«

Damit wendete er sich wieder zu seinem Buche.

Der Herr Major legte seine Hand auf den Arm der Mutter und sah sie an.

»Das ist aber kein Junge mehr – das ist ein ganzer Kerl!« Und aus seinen Augen leuchtete so etwas wie Stolz auf sein Geschlecht, das rüstige, tüchtige Geschlecht der Garstorff. Und Frau Clara sah ihn wieder an mit einem zitternden Blick voll Unsicherheit und Schwanken.

Noch spielte und sang der große Hans am Klavier ein Weihnachtslied. Aber er kam nicht zu Ende damit.

Auf einmal drehte er sich zum Bruder: »Du Otto, so schön war Weihnachten noch nie, wie heuer hier zu Hause! – Wenn wir nur die Mutter noch hier oben hätten.«

Otto legte das Buch auf die Beine und sagte: »Ach Gott, die Mutter – die arme Mutter! – Sie sitzt nun wieder unten und weint, und wenn wir hinunterkommen, wischt sie sich schnell die Tränen und sagt: »Bitte laßt mich, ich habe zu arbeiten.«

Frau Clara waren wieder die Tränen nahe, aber anders als sonst – ganz anders. Sie lehnte sich an den Vetter, den Herrn Major, und schluchzte leise, das Taschentuch mit den zitternden Zähnen fassend.

Da sprang Hans am Klavier auf: »Du, Otto, ich hol die Mutter! Sie muß herauf zu uns. Sie muß einmal heraus da unten. Und wenn sie nicht will, – sie muß! Ich will doch mal sehen, ob ich ein Mann bin. Donnerwetter!« Zornig stampfte der schlanke Fähnrich auf den Boden.

»Ach, wenn wir ihr doch helfen könnten!« sagte Otto. »Aber weißt du – ich denke, wir wollen noch warten. Diesmal ist's, glaub ich, noch nichts. Diesmal hat sie uns wohl nur geduldet. Aber, wenn wir erst mal was Ordentliches geworden sind: Du, Offizier – und ich, wenn ich studiert habe und hier in die Landwirtschaft komme. Dann kann sie sich doch nicht wehren.«

»Nein, Bruder – heute müssen wir sie zwingen – sie weint sich ja doch krank und tot.« –

Er zog seinen Bruder vom Sofa und wollte mit ihm hinunter.

Doch da stand Frau Clara vor ihnen – die hellen, klaren Tränen liefen ihr übers Gesicht – aber sie achtete ihrer nicht – ihre Augen lachten und leuchteten vor Liebe und Glück – und ihre Hände streckten sich vor, den beiden Jungen entgegen.

*

Am andern Morgen stand Frau Clara im späten Neujahrsmorgendämmer im Frühstückszimmer und wartete auf den seltsamen Vetter, der solche Gewalt über sie hatte.

Da kam der Diener mit dem Tee.

»Der Herr Major lassen sich empfehlen!«

Ein leichter Schmerz ging nach ihrem Herzen und sie trat ans Fenster, um dem Diener ihre Erregung zu verbergen. Draußen war es klar und hell. Weiß und rein lag die wollige Schneedecke meilenweit. Nur dicht am rechten Flügel des Herrenhauses hin sah sie eine Spur von schweren, tiefen Fußtapfen hinauf zum Walde. Bis zur kleinen Kapelle konnte sie die Spur erkennen – dann entzog sie sich ihrem Blicke.


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