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Die Mondscheinbleiche

Frau Martha war eine sehr einsame Frau. Ihr einziges Kind war ihr gestorben. Auch der Mann war ein einsamer, schweigender Mann. Tagsüber war er an seiner Arbeit, abends kam er müde nach Hause, aß und legte sich zur Ruhe. Er hatte nicht viel zu reden – es war auch nicht seine Art.

So war Frau Martha den ganzen Tag allein und trauerte um ihr totes Töchterchen. Das war ein herzliebes, kleines Kind gewesen mit ganz dunklen Augen und schwarzbraunem lockigen Haar. Es war gestorben, wie so Kinder sterben. Mit drei Jahren. Gesund, zwei Tage ein hitziges Fieber und tot. Und dann hinaus auf den Gottesacker. Ja, auf »Gottes Acker!« Das wäre ein schöner Gott, wenn es einen gäbe, der die kleinen gesunden Kinder von den Müttern wegsterben läßt, die weiter nichts haben – daß sie dann ganz allein sind. So dachte Frau Martha.

Und sie trauerte um die kleine, tote Maria. Nicht wie jemand trauert, der sich denkt: Das arme kleine Ding war so jung und fröhlich und hat so klein sterben müssen. So gar nichts haben können vom Leben. – Nein, sie dachte, ich hab sie so geliebt, sie war mir alles, nun hab ich gar nichts mehr, kein Kind, keine Freude, keine Hoffnung. Mir hat der liebe Gott mein einziges Glück genommen. So trauerte sie.

Da ging sie den ganzen Tag in dem leeren Hause herum und weinte und schrie nach dem Kinde. Nahm des Kindchens kleine Wäsche aus dem Kasten, weinte darüber, breitete sie auf den Tisch und schlug sie wieder zusammen. Dann legte sie alles wieder in den Kasten und am Nachmittag holte sie es wieder heraus und weinte wieder darauf.

Am Abend, wenn ihr Mann zu Hause war – er hatte sie einmal hart angelassen wegen all des Weinens und Weinens –, dann saß sie am Fenster und starrte brennenden Auges hinaus in die Nacht, mit glühenden Wangen und Lippen, hochklopfenden Herzens, in den kleinen Grasgarten.

Oft wurde die kleine Wäsche schmutzig von all dem Herausnehmen und Darüberweinen und Hineinpacken, und dann wusch sie Stück für Stück wieder rein und bleichte es in der Nacht draußen im Grasgarten, daß es schlohweiß würde. Und gerade vor dem Fenster lag immer das kleine Hemdchen, das die tote Maria in den letzten Tagen vor ihrer Krankheit angehabt hatte. In das ihr kleiner, runder, rosiger Leib zappelnd hineingeschlüpft war und das sich so lustig bauschte, wenn ihr runder schwarzer Kopf oben zwischen den hochgestreckten Ärmchen herauswuschelte. Und wenn es dann so matt und schlaff draußen im Grasgarten im Mondschein lag, dann starrte sie den ganzen Abend unverwandt und trockenen Auges darauf, bis es spät war und sie zu Bette ging. Schlaf fand sie kaum erst, wenn schon der Morgen dämmerte.

Eines Abends, als wieder die Wäsche auf der Bleiche lag, kam ihr Mann feucht und dampfend heim von der Arbeit – die Nebel waren im Tale emporgestiegen, dicht und weiß, wie sie immer sind, wenn sie unten am Boden hinkriechen. Als sie heimlich gleich darauf aus dem Fenster sah, konnte sie kaum die Wäsche draußen im Grasgarten sehen, so dick und zäh saß der Nebel vor Fenster, Wand und Tür.

Der Mann aß und legte sich zum Schlafen.

Sie setzte sich wieder ans Fenster und sah mit gierigen Augen hinaus in den weißen Dunst.

Sie saß lange und wußte nicht, woran sie dachte.

Es war aber nur an die tote Maria und an sich und an ihr übergroßes Weh und Leid.

Da wurde es auf einmal draußen hell. Der Vollmond kam über den Berg. Hell, weißblau mit schimmerndem Licht schob er sich in die Nebel und sie wankten und wichen und zerteilten sich und sanken zurück ins Tal.

Da saß auf dem kleinen Hemdchen, nackt, weiß und bleich, die kleine Maria und sah sie an mit ihren großen schwarzen Augen. Frau Martha drückte die Hand an das Herz und stand auf und sah durch die Scheibe. Ihre Finger stützten sich gegen das harte kalte Glas.

Das Kind saß da draußen auf dem Hemdchen und schaute sie an und um seine weiße Stirn fielen die dunklen ringelnden Locken.

Da rannte sie hinaus, hob das Kind auf und trug es herein. Es war ganz feucht und kalt. Da rieb sie es mit Tüchern, riß den Kasten auf, kleidete es, so gut sie konnte, und dann trug sie es in ihr Bett und hieß es schlafen, mit leisem, heimlichen Flüstern. Und das Kind tat die großen schwarzen Augen zu, atmete ruhig und schlief. Sie aber saß neben dem Bette, jagenden Herzens, hielt die Decke und stierte mit lechzenden Lippen und brennenden Wangen auf ihr Kind.

Als am Morgen der Mann erwachte, tat er einen Schrei, befühlte das Kind – es war warm, weich und lebendig – horchte auf seinen Atemzug – – – es war kein Zweifel; es war die tote Maria. Dann stand er auf und ging zum Herrn Pastor. Der kam, und die Leute aus dem Dorfe kamen und flüsterten – sie hatten alle das Kind gekannt – es war kein Zweifel; es war die tote Maria. Sie gingen auf den Friedhof zu dem kleinen Grabe; es lag da, still und schön wie alle andern in der Reihe. Aber das Kind war da – keiner wußte etwas zu sagen – es war ein Wunder geschehen.

Und das Wunder blieb. –

Frau Martha weinte nicht mehr. Ein merkwürdiges Lächeln kam um ihren Mund. Ein Lächeln von Stolz und Seltsamkeit, das doch den Zug des Schmerzes nicht von ihren Lippen löschte. Und sie bekam eine aufrechte, gerade Haltung und einen seltsam schwebenden Gang. Sie blieb so allein mit ihrem Kinde wie vorher, denn sie wollte nicht hören und wissen, was die Leute dachten und sagten.

Der Mann blieb, wie er war. Wenn er das Kind sah, überkam ihn ein Grausen. Seine Frau rührte er nicht an. Wenn er abends zur Ruhe ging, saß sie noch lange im Zimmer und nähte und stichelte, um ihr Kind zu kleiden und zu putzen.

Und Maria wuchs und wurde von Woche zu Woche schöner. Ihr Haar wurde noch um etwas dunkler, so daß es fast so schwarz schien wie die Augen. Ihre Haut blieb weiß und rein und totenbleich, wie ein Leinen, darauf der volle Mond scheint.

Als sie zur Schule kam, blieb sie ein stilles, scheues Kind. Mit keines Nachbars Kind scherzte und spielte sie. Die gingen ihr auch scheu aus dem Wege. Da bekam sie den Stolz und das seltsam gramvolle Lächeln der Mutter. Niemand wagte sie anzurühren oder nur anzurufen. Als sie zur Einsegnung kam, war sie ein schlankes, stolzes Mädchen, blank und weiß und aufrecht wie eine Kerze. Ihre Augen standen schwarz und glühend und mit einem seltsamen Blick ins Weite unter ihren schwarzen Locken, die kein Band zähmen und kein Zopf zwingen konnte; sie mußten ihr frei um Kopf und Schultern liegen. So war sie sehr schön. Was der Lehrer und der Herr Pastor zu fragen hatten, das wußte sie alles – und noch mehr. Denn sie hatte in dem stillen Hause bei ihrer Mutter viel gelesen und viel gefragt, und die Mutter hatte ihr alles gesagt, was sie wußte.

Dann kamen wieder drei Jahre in ruhigem stillen Leben mit der Mutter, mit Arbeit im Hause und vielem Lesen in den Büchern. Niemand sah die Maria. Nur Sonntags ging sie zur Kirche und am Abend stand sie wohl eine Stunde lang vor dem Hause, an den Türpfosten gelehnt, und sah auf der Straße die Burschen und Mädchen ihres Alters vorüberziehen und hörte sie singen: »Still ruht der See« oder »Schatz, mein Schatz, reise nicht so weit von mir«. Aber keine hätte gewagt, ihr zu sagen: »Komm mit!« Und sie selbst dachte nicht einmal daran, mitzusingen. Auf ihren Lippen war das stolze bittere Lächeln und auf ihrem weißen Antlitz regte sich kein frohes Verlangen – nur aus ihren dunklen Augen brannte ein glühendes Feuer hinaus in den dämmernden Abend.

Da kam eines Tages im Sommer ein junger Herr ins Dorf und zur Mutter. Er wollte ein Zimmer haben für ein paar Wochen. Nicht im Gasthof – da war ihm zu viel Lärm. Der Pastor hatte ihn zur Frau Martha geschickt.

Er war ein Maler – nicht so ein armer, der im Sommer draußen die Bäume, Berge und Täler malt, um sie im Winter in der Stadt zu verkaufen. Er war ein feiner, vornehmer, junger Mann mit feiner Wäsche und gutem Zeug. Alle Wochen kam sein Diener und brachte Briefe von zu Hause und Wäsche und Bücher und nahm mit, was der junge Herr inzwischen gemalt. Er brachte es, so erzählte er einmal der Frau Martha, aufs Schloß zur Frau Mutter des jungen Grafen.

Wenn am Abend die schöne Maria an ihrem Türpfosten lehnte, dann saß er auf der andern Seite der Tür auf dem Bänkchen und erzählte ihr von der Welt da draußen, von seinen Reisen, von großen und schönen Dingen, die sonst nur in den Büchern standen. Die schöne Maria aber sah ihn nicht an, wenn er zu ihr sprach; sie sah auch nicht vor sich hin noch auf die Straße zu den Mädchen und Burschen, die dort lachten und sangen; ihre brennenden Augen starrten hinaus über das Dorf und den Hügel, dorthin, wo die Welt war, von der der Mann neben ihr sprach.

Dann kam der Tag der Abreise des jungen Grafen.

Mit seiner feinen leichten Verbeugung, die er für jedermann hatte, nahm er Abschied von Frau Martha und gab ihr die Hand. Aufrecht und stolz wie immer standen Mutter und Tochter in ihrer Stube. Nur – als er Maria die Hand gab, drückte sie ein wenig die seine und senkte nur einen Augenblick die weißen Lider über die schwarzen glänzenden Augen, als sie zum Abschied in die seinen sah.

Am andern Tag war sie verschwunden. – –

Frau Martha weinte nicht. Nur Abend für Abend saß sie wieder im finsteren Zimmer am Fenster und starrte hinaus in die schwarze, schwarze Nacht.

Keine im Dorfe wagte zu ihr zu sprechen, auch der Mann nicht. Sie blieb unverändert. Nur ihre aufrechte Haltung wich und ihr schwebender Gang. Ihre Schultern neigten sich und auf ihren Lippen saß der Gram, das bittere Weh, das unaustilgbare Leid. Ihre Augen brannten und schmerzten, ihre Wangen fielen ein und in ein paar Wochen war sie welk und matt, eine alte Frau. Eine totsieche, alte Frau.

So kam der Herbst, und Nacht für Nacht starrte sie hinaus in den Nebel. Der Winter kam und sie stierte auf den glitzernden Schnee.

Frühling ward's und in laulicher Mondnacht sah sie nicht die goldenen Märzblumen, die draußen im Grasgarten zwischen den weichen grünen Blatthalmen emporstiegen. Der Sommer ging zur Reife – sie starrte zu ihrem Fenster hinaus und sah nur schwarze, schwarze Nacht.

Auch der Mann war alt geworden, matt und schwach, und es war ein Schmerz ihn anzusehen. Er sprach fast nie mehr.

Und wieder kam der Herbst und die Nebel stiegen wieder aus dem Tale und legten sich wie klebriger Saft vor die Fenster und vor die Tür.

Wieder saß sie in einer solchen Nacht und stierte hinaus. Da hörte sie draußen Schritte, schnell und ungestüm.

Da riß es die Tür auf.

Maria stand da mit wirrem Haar in schmutzigen, zerrissenen Kleidern aus buntem Seidentaft und weißen Spitzen. Ein Bündel hatte sie im Arm. Um ihre Lippen war der Ekel und auf ihren Wangen blühten häßliche, eitrige Flecken. Das Bündel warf sie auf den Tisch. Ein Kind war darin. »Es ist tot«, schrie sie. »Gib mir zu essen.«

Da drückte Frau Martha die Hand auf das Herz, sank auf den Stuhl und schlug mit der Stirn auf das Fensterbrett, daß die Scheiben klirrten.

*

Als sie erwachte, stieg draußen blutrote Dämmerung über dem Nebel empor, und ihr müdes gebrochenes Auge sank auf das weiße kleine Kinderhemdchen, das da im Grasgarten lag, weiß und blank, gebleicht vom schimmernden Mondenschein.

Mit lassen Schritten ging sie zur Tür hinaus, hob es auf, schüttelte die Tautropfen heraus und hing es auf, daß die Morgensonne es trockne.

Dann ging sie hinein in die Stube und hinauf in die Kammer, kniete am Bette nieder und weinte und lag lange in stillem Schmerz. Als der Mann erwachte, nahm sie seine Hand und sagte: »Liebster Mann, wir wollen uns lieb haben und Gott vertrauen, er weiß, was er tut.«

Und der Mann drückte ihre Hand, strich ihr das wirre Haar aus der bleichen Stirn, sagte kein Wort und küßte sie.


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