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Neuntes Kapitel.

Rosa-Maria in Paris

Alle Reisenden waren aus den Wägen, Diligencen und Waggons ausgestiegen, außer dem alten Herrn mit den runden Lederkissen, welcher sich nicht leicht von einem Orte zum andern bewegen konnte, und überdies auf seinen Bedienten wartete, der in einem Waggon gesessen hatte, um sich an dem Arme desselben fortzuhelfen.

Rosa-Maria befand sich in dem ungeheuer großen Bahnhofe, wo sowohl die Ankunft als die Abfahrt eines Zuges stets eine Bewegung und Aufregung verursacht, wodurch Personen, welche nicht gewohnt sind, mit der Eisenbahn zu reisen, in Staunen und Verwunderung gesetzt werden.

Ueberall sieht man Reisende mit einander sprechen, still stehen und Commissionären rufen; dort treffen sich alte Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten, obgleich sie Beide in Paris, aber in verschiedenen Quartieren wohnen. Sie finden sich im Bahnhofe, weil sich dort alle Quartiere vereinigen; dort verschmelzen sich alle Stände, alle Parteien; der Marais, die Vorstadt St. Germain und die Chaussée d'Antin, der Aristokrat und der Republikaner nehmen friedlich neben einander Platz. Alles strömt dort zusammen, und man begegnet oft Personen, die man vergeblich Jahre lang auf den Straßen und den Spaziergängen der Stadt gesucht hätte.

Rosa Maria erkundigte sich zuerst nach ihrem Koffer. Man sagte ihr, er stehe zu ihrer Verfügung; aber das junge Mädchen dachte, es sei nicht sehr bequem, mit einem Koffer und einem Commissionär in Paris herumzulaufen, um die Wohnung ihrer Oheime zu suchen; dann schien es ihr auch, daß wenn sie sich so ohne Weiteres mit ihrem Gepäck bei Verwandten, die sie nicht kannte, einfinden würde, dieses so viel hieße als: »Ich komme zu euch und ihr müßt mich behalten, ihr mögt wollen oder nicht.«

Rosa-Maria, welche die Meinung ihres Vaters nicht ganz theilte und auch nicht in der Hoffnung mit ihm übereinstimmte, daß sie von ihren Onkeln besonders gut aufgenommen werden würde, hatte einen zu stolzen Charakter, um sich bei Leuten einzuquartiren, die sie nicht mit Freuden behalten würden. Das junge Mädchen hatte sich bereits vorgenommen, lieber in einem Laden zu arbeiten und aus ihrer Geschicklichkeit im Nähen und Sticken Vortheil zu ziehen, als bei Verwandten zu leben, denen sie zur Last fiele. Das Ergebniß dieser Betrachtungen war, nachzufragen, ob sie ihren Koffer nicht auf dem Eisenbahnbureau zurücklassen könnte. Nachdem man ihr eine bejahende Antwort ertheilt hatte, gab sie ihren Namen an, damit der Koffer nur abgegeben werde, wenn Jemand in ihrem Auftrage komme, dann machte sie sich auf den Weg, um die Wohnung ihres Oheims Nicolaus Gogo aufzusuchen, wobei sie zu sich sagte:

»Wenn ich zufällig Herrn Leopold begegnete, würde er sich sehr wundern, mich in Paris zu sehen; es wäre ihm ohne Zweifel höchst gleichgültig ... ich würde auch nicht mit ihm sprechen, sondern ihn nur bitten, mir zu sagen, was er mit meinem Bildniß angefangen hat ... denn wenn man nicht mehr an die Leute denkt, ist es auch wahrscheinlich, daß man ihr Bild nicht mehr aufbewahrt!«

Während die schöne Reisende im Bahnhof hin und herging, nie den rechten Weg fand, und sich in den Sälen und weiten Gängen verirrte, ließ sie ein Mann nicht aus den Augen, sondern folgte ihr unbemerkt und beobachtete alle ihre Bewegungen.

Ihr wißt bereits, daß dies der junge sehr häßliche Mann mit Namen Richard war. Obgleich dieser Herr nie auf den ersten Anblick verführte und auf den zweiten oft mißfiel, maßte er sich doch an, über die Frauenzimmer, welche er hübsch fand, zu triumphiren. Wenn er geistreich und liebenswürdig gewesen wäre, hätte man es noch begreifen können, aber Herr Richard hatte, ohne gerade dumm zu sein, doch keinen Geist, denn damit konnte man doch seine Gewohnheit, zu spotten und Alles, was Andere thaten, ins Lächerliche zu ziehen, nicht bezeichnen; sein einziger Vorzug war ein gutes Gedächtniß, und da er viel gelesen hatte, so kam ihm dieses in der Unterhaltung, wo er sich das Ansehen eines äußerst wissenschaftlichen Mannes zu geben suchte, sehr zu Statten; er war aber nicht liebenswürdig, weil er neidisch war, und der Aerger über seine Häßlichkeit und Mittellosigkeit aus allen seinen Worten hervordrang. Welches waren nun seine Verführungsmittel? Hartnäckigkeit, Ausdauer und Verleumdung. Er belagerte und ermüdete ein Frauenzimmer mit seinen Huldigungen und Erklärungen; er war ihr beständig auf den Fersen und that sein Möglichstes, ihren guten Ruf zu untergraben; es gelang ihm bisweilen und er ließ sich nicht eher bestimmen, von seinen Verfolgungen abzulassen, als bis seine Glut gestillt war.

Und es gibt manche Frauen, die schwach genug sind, solchen Männern nachzugeben! Aber fügen wir schnell hinzu, daß es noch eine weit größere Anzahl gibt, die dieselben für ihre Unverschämtheit strafen, und daß Verführer von Herrn Richards Sorte oft Zurechtweisungen erhalten, deren zu rühmen, sie sich wohl hüten.

Rosa-Maria blieb in dem großen Hofe stehen, der an das Ufer des Flusses stieß; sie zog das Papier aus der Tasche, auf welches sie die Adressen der beiden Brüder ihres Vaters geschrieben hatte. Nicolaus Gogo wohnte in der St. Lazarusstraße. Dort sollte sie also zuerst hingehen; sie trat auf einen Fiaker zu und fragte ihn, welchen Weg sie einschlagen müsse, um in die St. Lazarusstraße zu gelangen.

»Gehen Sie über die Brücke von Austerlitz, die Sie da unten sehen, dann gerade fort auf den Boulevards, am St. Martins- und St. Denisthor vorbei bis zur Montblancstraße, diese durchgehen Sie ganz und am Ende derselben gelangen Sie in die St. Lazarusstraße; es ist aber sehr weit, Mamselle, und Sie würden besser daran thun, sich in einem Wagen hinführen zu lassen, besonders wenn Sie in Paris nicht bekannt sind.«

Aber das junge Mädchen war nicht müde und wollte den Weg lieber zu Fuß zurücklegen. Es war noch nicht spät, denn sie war um vier Uhr in Paris angekommen. Das Wetter war herrlich und es war ihr nicht unangenehm, die Stadt ein wenig kennen zu lernen, von der man so viel spricht und die, wie man sagt, ihres Gleichen nicht in der Welt hat.

Vielleicht herrschte noch ein anderer Grund vor, der Rosa-Maria bewegte, zu Fuße zu gehen. Brauche ich ihn euch zu sagen? Nein, ihr errathet, was in dem Herzen der Jungfrau vorgeht, die noch nicht weiß, daß Paris eine ungeheure, äußerst bevölkerte Stadt ist, wo die Menge unaufhörlich hin und herrennt, sich drängt, bewegt, stoßt und drückt, und in der man oft lange gehen kann, ehe man einem Bekannten begegnet.

Herr Richard hat das junge Mädchen ein Papier aus der Tasche ziehen, etwas lesen und dann einen Kutscher fragen sehen; er hat gleich errathen, daß sie sich nach einer Adresse erkundige; wenn er näher bei ihr gewesen wäre, hätte er eilig seine Dienste angeboten; aber es war zu spät. Nachdem die junge Reisende sich bei dem Kutscher bedankt hatte, trat sie ihren Weg an. Herr Richard folgte ihr mit dem Gedanken: »Ich will warten, bis sich eine Gelegenheit darbietet, sie anzureden; diese kann nicht lange ausbleiben.«

Rosa-Maria ging über die Brücke von Austerlitz, dann über die Boulevards längs des Kanals hin; von Zeit zu Zeit sah sie sich neugierig um, hatte aber noch nichts bemerkt, was ihre Aufmerksamkeit gefesselt hätte. Der Boulevard Bourbon ist wenig besucht: auf der einen Seite sind die Kornmagazine, das alte Quartier des Arsenals, die alte Bibliothek, und auf der andern Seite ein großer Wassergraben; das ist Alles, was diese Promenade den Blicken der Spaziergänger gewährt, die man deßhalb auch nicht in großer Anzahl dort sieht. Und das schöne Mädchen von Avon, welches Paris nach dem beurtheilte, was sie von demselben gewahrte, sprach unterwegs vor sich hin: »Das ist aber nicht sehr schön ... ich begegne wenig Leuten ... es gibt, wie es scheint, fast keine Läden da herum, und man hat mir gesagt, Paris sei so heiter, so geräuschvoll, so bevölkert! ... ich finde das nicht ... und ich meine, man könne sich auf den Straßen sehr gut treffen und sehen ... Wenn Herr Leopold hier vorbeiginge, so würde ich ihn ganz gewiß augenblicklich sehen.«

Aber den Herrn sah Rosa-Maria nicht, der nur einige Schritte hinter ihr ging und seinen Gang ganz nach dem ihrigen richtete; Herr Richard blieb allerdings noch in gehöriger Entfernung, oft sogar weit hinter ihr zurück, denn dann konnte er die Taille, den Fuß, das Bein und die Gestalt des jungen Mädchens ungestörter betrachten. Diese Beobachtungen fielen ganz zu Gunsten der reizenden Rosa aus und trugen nur dazu bei, den häßlichen jungen Mann in seinen Absichten zu bestärken.

Auf dem Bastilleplatz angelangt, fand Hieronymus' Tochter Paris schon heiterer. Jetzt erst trat ihr die große Stadt mit ihren Bewohnern, ihren Kaufleuten, ihren Spaziergängern, ihren Wägen, ihren Buden, ihrem Geräusch, ihrer Bewegung, kurz, ihrer Lebendigkeit vor Augen. Jetzt blieb sie unentschlossen stehen, sah rings herum, bewunderte die schöne Säule und die lange Allee vor sich; aber bald erinnerte sie sich, was man ihr von dieser schönen Promenade in Paris, die Boulevards genannt, erzählt hatte, und sie dachte: »O, das sind sie! ... das ist recht ... so hat man mir sie geschildert ... der Kutscher sagte mir, das sei mein Weg ... vorwärts ... Ach, wie viele Leute! ... wenn er jetzt vorbeiginge, würde er mich vielleicht nicht bemerken.«

Rosa-Maria ging über den Platz und schritt auf das Boulevard Beaumarchais zu, aber nun ging sie nicht mehr mit der früheren Sicherheit. Die vielen Vorübergehenden machten sie ängstlich, das Wagengerassel betäubte sie, das Geschrei der herumwandelnden Krämer setzte sie in Erstaunen, und die Blicke, die man auf sie warf, trieben ihr oft das Blut in das Gesicht. Denn es gibt in Paris Männer, welche ein hübsches Mädchen gar sonderbar betrachten, und um ihr zu verstehen zu geben, daß sie sie nach ihrem Geschmack finden, nichts besseres wissen, als sehr unschickliche Geberden an sie hin zu machen oder unzüchtige Worte an sie zu richten.

Rosa-Maria waren auf diese Weise bereits mehrere plumpe Complimente von Vorübergehenden zu Theil geworden. Weit entfernt, davon geschmeichelt zu sein, gerieth sie in Verlegenheit und bedauerte, daß sie ihr Hut den Blicken nicht besser entzog. Sie wäre gern schneller gegangen, aber einer Person, die nicht an den Aufenthalt in Paris gewöhnt ist, wird es oft schwer, sich durch diese hin und her wogende Menschenmenge hindurchzuarbeiten. Je weiter die Jungfrau kam, desto mehr Menschen begegneten ihr; auf dem Boulevard des Tempels, wo die Bewegung immer größer wurde, blieb Rosa-Maria endlich erschrocken stehen und sagte zu sich: »Mein Gott! wenn das so fortgeht, so kann ich mich bald nicht mehr hindurchwinden ... und ich war der Meinung, es werde mir ein Leichtes sein, ihm zu begegnen! ... Ach, wie sehr habe ich mich getäuscht! ... Es ist etwas Entsetzliches um eine solche Menschenmasse!«

Allein trotz ihres Schreckens blieb die reizende Rosa vor einem kleinen, noch nicht fünfjährigen Mädchen stehen, welches ihr ein mit einem Bande um ihren Körper herum befestigtes Körbchen präsentirte und zu ihr sagte: »Kaufen Sie mir chemische Zündhölzer ab, Mamselle ... thun Sie es meiner Mutter zu liebe ... wir sind sechs Kinder ... die Mutter ist krank ... sie hat schon so lange keine Arbeit mehr und es ist kein Brod im Hause.« – Armes Kind!« rief Rosa aus, indem sie schnell nach ihrer Börse griff; »noch so jung und schon mit dem Unglück ... mit dem Elend bekannt! O! wie froh bin ich, daß mir mein Vater Geld mitgegeben hat!«

Und alsbald zog die Jungfrau zwei Fünffrankenstücke aus ihrer Börse und drückte sie der kleinen Zündhölzerhändlerin in die Hand, mit den Worten:

»Hier nimm, arme Kleine, bring' das Deiner Mutter, dann werdet ihr doch wenigstens ein paar Tage außer Sorge sein.«

Das Kind betrachtete ganz überrascht die beiden Hundertsousstücke in seiner Hand; dann eilte es hastig, ohne sich nur bei der Geberin zu bedanken, mit einem Freudengeschrei davon und ließ in der Eile einen Theil seiner Zündhölzer auf den Boden fallen.

Aber Rosa freute sich über das Glück der Kleinen: sie glaubte, diese sei bloß so schnell weggeeilt, um das Geld ihrer Mutter um so geschwinder zu bringen, und Hieronymus' Tochter bedauerte, ihr nicht noch mehr gegeben zu haben. Sie hatte zwar nur noch zwölf Franken in ihrer Börse, aber sie hoffte in Paris kein Geld nöthig zu haben.

Rosa wollte wissen, ob sie bald in der Nähe von ihres Onkels Wohnung sei, denn sie meinte schon eine große Strecke zurückgelegt zu haben. Sie blieb stehen und blickte rings herum, in der Absicht, noch einmal nach dem Wege zu fragen. In diesem Augenblick trat Richard, welcher die Gelegenheit für günstig hielt, auf die Jungfrau zu und begann: »Sie scheinen den Weg zu suchen, Fräulein; vielleicht sind Sie in Paris nicht bekannt, wenn ich nicht irre, sind wir zusammen auf der Eisenbahn hergereist; sind Sie nicht in Corbeil eingestiegen?«

Rosa-Maria sah den Herrn an, der mit ihr sprach, und erkannte ihn, denn Herrn Richards Gesicht war sehr kenntlich; sie erwiderte ihm mit einem Kopfnicken: »Es ist so, mein Herr! ich bin mit der Eisenbahn angekommen; ich komme von Fontainebleau ... weiter her sogar, denn ich bin aus dem Dorfe Avon und besuche Oheime, die ich in Paris habe. Ich habe zwar ihre Adressen, aber ich kann die Straßen nicht recht finden ... Ich gehe zuerst in die St. Lazarusstraße ... ist es noch weit?« – Ja, Fräulein; aber ich gehe gerade auch nach derselben Richtung hin, und wenn Sie es erlauben, mache ich mir ein Vergnügen daraus, Ihnen als Führer zu dienen.«

Rosa-Maria fühlte kein großes Vertrauen zu dem Herrn, der ihr dieses Anerbieten machte, nicht sowohl wegen seiner Häßlichkeit, als wegen seines frechen Blickes. Aber bei hellem Tage inmitten so vieler Menschen, befürchtete sie keine Gefahr; daher erwiderte sie mit zu Boden gesenkten Augen: »Sie sind sehr gütig, mein Herr.«

Herr Richard, den diese Erlaubniß außerordentlich erfreute, ging neben der jungen Reisenden her und dachte bei sich: »Gehen wir sachte zu Werke, machen wir sie nicht scheu; denn bedenken wir wohl, es ist keine Pariser Grisette ... Ich werde ihr nachher den Arm anbieten und sie wird sehr geschmeichelt dadurch sein.«

Dann nahm Herr Richard das Gespräch wieder auf, in welchem er sich vornahm, die Provinzbewohnerin durch seine Kenntnisse und seine geistreichen Einfälle zu verblüffen.

»Waren Sie schon in Paris, Fräulein?« – Nein, mein Herr, nie! – »Um so mehr bin ich entzückt, Ihr Cicerone zu sein ... Wir befinden uns auf den Boulevards; das ist ein Spaziergang in Paris, wie keine andere Stadt in Europa einen ähnlichen aufzuweisen hat. Er fängt bei der Säule an, die Sie vorhin gesehen haben, und erstreckt sich bis zu dem Magdalenenplatz, auf welchen wir später kommen werden. Diese lange Reihe Boulevards, die einen Theil von Paris durchschneidet, ist der Gegenstand der Bewunderung der Fremden und der Erholungsort der Bewohner dieser Stadt. Es gibt außer diesen auch neue Boulevards, die sich außen um die Stadt herumziehen, aber sie sind noch öde, und wenn man von dem Spaziergang der Boulevards in Paris spricht, so meint man jene nicht damit. Dieser ganze, heutzutage so bevölkerte, so glänzende, so vom Handel belebte Raum bestand ursprünglich aus Gräben, angeblich zur Vertheidigung der Stadt Paris gegen die Angriffe der Engländer. Im Jahre 1536 machte man Laufgräben, und höhlte den Boden vom St. Honoré- bis zum St. Antoinethore aus. Zum Glück waren diese Befestigungswerke überflüssig; nach und nach wurden die Gräben wieder zugefüllt, und im Jahre 1671 legte man diesen Spaziergang an, indem man Bäume darauf pflanzte. Gegenwärtig erinnert Einen beim Anblick der Pariser Boulevards nichts mehr an die Gräben, nicht wahr, Fräulein?«

Rosa-Maria schenkte Herrn Richard kein Gehör; sie hatte einen jungen Mann von Leopolds Gestalt vorbeigehen sehen, ihr Herz hatte gewaltig gepocht, und obgleich sie sich genau überzeugt, daß es nicht Der war, an den sie dachte, war sie ihm doch lange mit den Blicken nachgefolgt.

Da Herr Richard keine Antwort auf seine Frage erhielt, dachte er: »Ich spreche zu gelehrt für das junge Mädchen ... ich spreche von Dingen, die sie nicht versteht. Ich muß meinen Ton herunterstimmen.«

Der junge häßliche Mann hustete, beugte den Kopf vor, um Rosa-Maria in's Gesicht zusehen, und fuhr fort: »Ich will Ihnen nichts von dem Boulevard Bourdon erzählen, über das Sie kamen, nachdem Sie die Brücke von Austerlitz verlassen hatten; es ist so traurig, so verlassen, daß ich es gar nicht mitzähle. Das Boulevard Beaumarchais, über das Sie nach jenem kamen, ist auch noch nicht recht lebendig: auf der einen Seite von einer häßlichen Straße mit Zimmerplätzen begrenzt, hat es auf der andern noch sehr wenig Läden. Sein einziger Vorzug besteht für den Augenblick in den alten dichten Bäumen, welche die Steinbänke in den Nebenalleen beschatten. Dorthin begeben sich Abends die Einsamkeit suchenden Pärchen, und es ist nicht zu bestreiten, daß, wenn man mit einem schönen Frauenzimmer spazieren geht, die Einsamkeit ihren Werth hat ... ha! ha! ha!«

Herr Richard lachte ganz allein, denn Rosa-Marie wendete den Kopf ab, um einen Orgelspieler und eine Frau zu betrachten, die sang und sich mit der Violine dazu accompagnirte.

Als der Herr bemerkte, daß sein Einfall keine Wirkung hervorbrachte, und sein Lachen nicht ansteckend war, entschloß er sich, in seiner Schilderung fortzufahren: »Dann haben Sie das Boulevard der Filles du Calvaire im Marais Quartier gesehen, einem sehr ruhigen Quartier, wo man ohne Ansprüche und ohne Toilette zu machen spazieren geht. Der Bewohner des Marais geht aus, um frische Luft zu schöpfen; der alte Rentier stützt sich auf den Arm seiner Haushälterin; die ehrbare Bürgerin der Pas-de-la-Mulestraße kommt auf das Boulevard, um ihre Kinder dort spielen zu lassen ... O, es ist ganz rococo! ... begegnete man nicht dort zuweilen hübschen Grisetten, so möchte man gar nicht darüber gehen! ... Uebrigens glaube ich nicht, daß man daselbst ein schöneres Gesichtchen sehen kann als das Ihrige! ... O, wenn es eines gäbe, so wüßte ich es ... denn ich darf mir schmeicheln ... ich kenne alle schönen Mädchen in Paris!«

Rosa-Maria, ohne diese seine Schmeichelei zu beachten, blieb vor einem kleinen Knaben stehen, der kaum bekleidet war und ihr eine Schachtel mit Zahnstochern hinhielt, indem er leise sagte: »Kaufen Sie mir Zahnstocher ob, Fräulein, ich habe schon zwei Tage nichts gegessen. Mein Vater liegt im Spital; er ist von einem Bau heruntergefallen und hat sich beschädigt ... ich muß ganz allein für den Unterhalt meiner kleinen Schwester sorgen.«

Die Jungfrau reichte dem Jungen ein Hundertsousstück und dachte: »Ach! ich habe wohl daran gethan, dem kleinen Mädchen nicht Alles zu geben, jetzt kann ich auch diesen unterstützen.«

Der kleine Zahnstocherhändler dankte Rosa, entfernte sich, und Herr Richard näherte sich ihr mit den Worten: »Fräulein, ich bemerke, daß Sie sehr mitleidig sind und lobe Sie darum; aber glauben Sie mir, mißtrauen Sie diesen kleinen Schelmen, die unter dem Vorwande, unbedeutende Gegenstände an Sie zu verkaufen, Ihr Herz durch die Schilderung erdichteter Leiden und erlogenen Unglücks zu rühren suchen. Sehen Sie, der kleine Schurke zum Beispiel, dem Sie eben fünf Franken gegeben haben, ist augenblicklich zu dem nächsten Zuckerbäcker gegangen; dort wird er sich den Wanst mit Kuchen und Confect vollstopfen, und dann um den Rest des Geldes mit andern Gassenjungen seines Schlages spielen, das haben Sie dann mit Ihrer Barmherzigkeit erreicht.«

Rosa warf ungläubige Blicke auf Herrn Richard und murmelte: »Ach! mein Herr, welcher Gedanke! Man müßte also alle Unglücklichen zurückstoßen ... sich weder von ihrem Flehen, noch ihren Thränen zum Mitleid bewegen lassen ...« – Das wäre das beste Mittel, nicht betrogen zu werden. – »Ich will lieber zuweilen betrogen werden, als gegen das Flehen eines wirklich Leidenden gefühllos sein.« – Das bleibt Ihnen überlassen, Fräulein ... Auch wäre es mit Augen, wie die Ihrigen, sehr unrecht, gefühllos zu sein und ... – »Und wie heißt das Boulevard, auf dem wir uns jetzt befinden, mein Herr?« – Boulevard des Tempels, Fräulein; o! dieses verdient Ihre Aufmerksamkeit, besonders wenn Sie Gefallen an Volksbelustigungen und Schauspielen unter freiem Himmel finden. Dieses Boulevard hält einen beständigen Markt, keines der übrigen ist mit ihm zu vergleichen. Es hat seine eigene Passage, seinen öffentlichen Garten ... ach! den einzigen, der von dieser Art noch in Paris ist, wo die Gärten immer mehr verschwinden, um Steinhaufen Platz zu machen ... Wollen Sie einen Augenblick halten, Fräulein, und hier gegenüber auf die Sonnenseite sehen, ich versichere Sie, es ist der Mühe werth ... Betrachten Sie zuerst jenes ungeheure Kaffeehaus mit Billards in allen Stockwerken; man wird bald welche auf den Dächern anbringen, so daß eine zu stark angespielte Kugel in eine Kaminröhre hinein und von dieser zurück auf ein Billard in der ersten Etage herunterfahren und dort eine Carambolage herbeiführen kann. Neben dem Kaffeehaus steht ein Gasthaus, wo eine Masse Hochzeiten vollzogen werden; Sie können keinen Samstag Abend an diesem Traiteur vorbeigehen, ohne die Säle beleuchtet und durch die Fensterscheiben hindurch beim Klang der Musik eine mehr oder minder elegante Gesellschaft hüpfen, springen, hin- und herlaufen, und sich allen Annehmlichkeiten des Contre- und Polka-Tanzes hingeben zu sehen! das nennt man eine Hochzeitsfeier; es gibt Sonnabende, wo vier auf einmal in diesen Sälen gehalten werden, und es kommt dann nicht selten vor, daß die zum Balle eingeladenen Gäste sich in der Hochzeit irren; man glaubt sich gegenüber von der Person zu befinden, mit welcher sich ein Advokat, ein Bekannter von uns so eben verbunden hat, und begrüßt die Neuvermählte eines Spezereihändlers mit den Worten: »›Madame, ich bezweifle nicht, daß Ihr Herr Gemahl von nun an alle seine Angelegenheiten gewinnen wird.‹« Und die Braut erwidert Einem mit einer Verbeugung: »›Mein Herr, wir werden uns bemühen, alle unsere Kunden zufrieden zu stellen!‹« Man findet die Antwort hübsch und entfernt sich mit der Ueberzeugung, die Dame sei sehr geistreich, bis Einen der Anblick des jungen Gemahls aus dem Irrthum reißt. Nach diesem Gasthaus kommt wieder ein anderes, hauptsächlich von geringeren Leuten besuchtes Kaffeehaus: dann wieder eines für den Bürgerstand; dann ein Schauplatz von Merkwürdigkeiten, wo ein Zwerg, oder ein Riese, oder ein wie ein Bär behaartes Frauenzimmer, oder sonst abscheuliche Thiere, kurz, merkwürdige Dinge zu sehen sind. Dann am Thore die Possenreißer, die köstlichen Hanswurste, welche das Glück unserer Väter ausgemacht haben, das unsere und das unserer Kinder ausmachen werden. Der berühmte Bobèche und der drollige Galimafré leben zwar nicht mehr, aber andere Künstler sind an ihre Stelle getreten; in Paris fehlt es nie an Gauklern, und das Possenspiel wird nie aufhören! Nächst diesem Schauplatz unter freiem Himmel kommt noch ein Kaffeehaus, dann ein Theater, der olympische Circus; dann ein weiteres Kaffeehaus mit einem weiteren Theater, dem der Folies-Dramatiques; dann zur Abwechslung abermals ein Kaffeehaus mit noch einem, dem Gaité-Theater; dann wieder ein Seiltänzer-Theater, dann wieder das Theater der Délassements; hernach ein kleines Theater, das Lazary, und das Alles nach allen Richtungen umgeben mit weiteren Kaffeehäusern, weiteren Kuriositätencabinetten und einer Masse Kuchenbäcker ... Sie sehen daher, Fräulein, daß meine Behauptung, dieses Boulevard habe seines Gleichen nicht, richtig war.«

Rosa-Maria, die einige Augenblicke stehen geblieben war, um das zu betrachten, was ihr der Herr zeigte, setzte ihren Weg wieder fort und fragte: »Wie kommt es aber, mein Herr, daß, je weiter ich aus den Boulevards vorwärts gehe, mir immer mehr Leute begegnen?« – Ah! weil Sie sich immer mehr dem Mittelpunkt der Hauptstadt, dem handeltreibenden, eleganten Quartier nähern, Fräulein. Jetzt sind wir auf dem Boulevard St. Martin ... Dort ist das Wasserschloß, wo sich beinahe immer Rekruten, Kindsmägde, Straßenjungen und Leute aufhalten, die allein spazieren gehen, indem sie auf Jemand warten. Hier sind die Dandys und Stutzer noch etwas Seltenes; hier begegnen Sie wenig lakirten Stiefeln und gelben Handschuhen, dagegen aber um so mehr Schauspielerinnen der Boulevards-Theater; auch sehen Sie noch keine Equipagen und Cavaliere auf stolzen Rossen, aber desto mehr Einspänner und Citadinen mit verhängten Fenstern ... ha! ha! – »Sind wir noch weit von der St. Lazarusstraße entfernt, mein Herr?« – O! gewiß, Fräulein! Sie können, ehe Sie dorthin gelangen, beinahe alle Boulevards sehen. Aber wenn Sie ermüdet sind, biete ich Ihnen einen Wagen an ... ist es Ihnen recht? – »Ich danke Ihnen, mein Herr, ich will zu Fuß gehen.«

Damit verdoppelte die Jungfrau ihre Schritte, denn das Gespräch des Herrn Richard interessirte sie nicht; sie wünschte Paris nicht durch diesen Unbekannten kennen zu lernen; sie hegte in ihrem Innern die Hoffnung, daß sich der junge Maler ein Vergnügen daraus machen werde, ihr die Merkwürdigkeiten der Hauptstadt zu zeigen. Je mehr sie aber in der ungeheuern Stadt vordrang, je mehr fühlte sie diese Hoffnung schwinden.

Herr Richard sah sich beinahe genöthigt zu rennen, um dem jungen Mädchen nachzukommen; endlich hatte er sie wieder eingeholt und sagte zu ihr:

»Dieses ist das St. Martins- und weiter unten ist das St. Denisthor ... ein sehr bevölkertes Quartier, wo eine Masse Kaufleute wohnen ... Sie gehen aber fürchterlich schnell, Fräulein!« – Ach! weil ich an Ort und Stelle sein möchte, mein Herr! – »Das ist das Boulevard Bonne-Nouvelle. Hier beginnen die Kindsmägde, die Arbeiter und die schlecht gekleideten Leute seltener zu werden. Elegante Damen erscheinen; bald werden sie in der Mehrzahl sein, wir nähern uns dem schönen Quartier. Auf dem Boulevard Poissonnière, wohin wir jetzt kommen werden, ist es schon ganz vornehm. Die Leinwandhändlerinnen haben prächtige Läden; die Hemden-, die Mode-, Putz, und Chokolatemagazine sind im neuesten Geschmack ... Ei, dürfte ich es vielleicht wagen, Ihnen ein Stückchen Kuchen oder sonst Etwas anzubieten?« – Ich danke Ihnen, mein Herr, es hungert mich nicht ... ich nehme nichts an. – »Sie nimmt nichts an!« dachte Richard. »Ich hatte wohl recht, daß es keine Pariser Grisette ist; es ist aber jedenfalls eine sehr angenehme Bekanntschaft!«

Rosa-Maria lief immer sehr schnell. Herr Richard war ganz außer Athem, wagte jedoch nicht, es merken zu lassen. Sie waren auf dem Boulevard Montmartre angekommen, und er rief aus: »Halten Sie, Fräulein! jetzt befinden Sie sich im Centrum ... in dem schönen Quartier! Betrachten Sie diese breite, gerade, weite Straße, wo ein Theil der Häuser vergoldete Gitter hat, das ist die Neue-Viviennenstraße ... Sehen Sie, bewundern Sie diese Tilbury's, diese Landaus, diese raschen Pferde ... und diese Kaffeehäuser! welcher Reichthum! welche Pracht! ... Ach! jetzt haben wir den Marais weit hinter uns! ... Betrachten Sie alle diese Frauen ... welch' kokette Haltung! ... welche Toiletten! ... Sie staunen gewiß vor Verwunderung über Alles, was Sie sehen?« –Aber wo bleibt die St. Lazarusstraße, ist denn diese am andern Ende von Paris, mein Herr? – »Wir nähern uns derselben ... haben Sie nur noch ein wenig Geduld. Jetzt sind wir auf dem Boulevard der Italiener. Das ist die Chaussee d'Antin, die Heimath der Wechsel-Agenten, der Opernsängerinnen, der jungen reichen Verschwender, der excentrischen Künstler, der Loretten, der Bankiers, der Wagenfabrikanten und der Serailpastillenhändler ... Ach! athmen Sie ein wenig auf, Fräulein, finden Sie nicht, daß die Luft von Wohlgerüchen geschwängert ist? ... denn alle vorübergehenden Damen sind von Kopf bis zu Fuß parfümirt ... Ja! wir befinden uns im Schooße des Reichthums und der Ueppigkeit.«

Statt zu antworten, blieb Rosa-Maria vor einem blinden Greise stehen, der am Fuße eines Baumes saß und einen Hund bei sich hatte, der ein Körbchen in der Schnauze hielt. Der Blinde spielte auf einer Art Vogelorgel, um die Blicke der Vorübergehenden auf sich zu ziehen.

Die Jungfrau näherte sich dem Greise; seine weißen Haare, seine von Runzeln durchfurchte Stirne, seine Gebrechlichkeit und die Lumpen, die ihn bedeckten, preßten der schönen Rosa einen Seufzer aus, und schnell in ihre Tasche greifend, langte sie den letzten Fünffrankenthaler, der ihr geblieben war, heraus, und legte ihn in das Körbchen, indem sie ausrief:

»Armer Mann! in Eurem Alter blind ... und vielleicht ohne Brod!«

Dann eilte Rosa-Maria wieder weiter, ohne auf die Segnungen des Greises zu hören, und sagte zu dem sie begleitenden Herrn: »So viel es scheint, mein Herr, sind in dem Quartier des Reichthums und der Größe auch Unglückliche zu finden!« – Ah! Sie meinen diesen Blinden!« erwiderte Richard höhnisch; »Sie wissen aber nicht, daß dieser Mann Tage hat, wo er seine hundert Sous bis sechs Franken und bisweilen auch noch mehr zusammenbettelt!«

Hieronymus' Tochter empfand ein Gefühl des Widerwillens gegen diesen Menschen, der keine Almosen geben wollte und aus Furcht, betrogen zu werden, es für einfacher hielt, das Unglück ganz zu läugnen.

»Aber, mein Herr,« entgegnete Rosa, »dieser Mann ist sehr alt und des Augenlichts beraubt; ich meine, daß in diesem Falle an seinem Unglück nicht zu zweifeln ist!« – Er ist alt ... ja ... ein Beweis, daß er bis jetzt zu leben hatte; blind, das ist möglich ... aber noch nicht erwiesen! ... es gibt sehr viele Scheinblinde in Paris, die wie die Fledermäuse nur bei Tage nicht sehen, aber Abends bei Licht den Bestand ihrer Betteleinnahme mit Falkenaugen mustern, so wie es auch viele Scheinlahme gibt, die Nachts in ihren Herbergen ihre Krücken wegwerfen, und trotz dem besten Ballettänzer herumspringen und über das geprellte Mitleid spotten! ... Hier sind die chinesischen Bäder, Fräulein! Wir lenken jetzt in die d'Antinstraße ein, die uns in die St. Lazarusstraße führen wird. Mit Ausnahme des Boulevards der heiligen Magdalena haben Sie nun diese ganze Promenade gesehen und Paris unter verschiedenen Gestalten, elegant, handeltreibend und bevölkert, kennen gelernt. Seit man die Boulevards gepflastert und mit Erdharz bestrichen hat, und besonders seit sie durch die Candelaber, die Sie in sehr geringer Entfernung von einander auf beiden Seiten der Chaussée bemerken, prachtvoll mit Gas beleuchtet sind, ist dieser Spaziergang bei Nacht ebenso angenehm und sicher wie bei Tag. Es gibt übrigens Leute, denen die Dunkelheit und der Schmutz lieber wären ... Ei! wo ist denn die Kleine hingekommen? ...«

Herr Richard blieb stehen und kehrte sich um ... Er sah, wie das junge Mädchen den Rest ihrer Börse in die Hand einer armen Frau leerte, welche ein Kind säugte, noch ein anderes auf dem Arme hatte und ein drittes an der Hand führte. Das Weib hatte nicht gebettelt, aber sie sah so blaß, so armselig aus und warf so traurige Blicke auf ihre Kleinen, daß man sich bei ihrem Anblick kaum der Rührung erwehren konnte.

Rosa-Maria kam auch mit thränenfeuchten Augen zu Herrn Richard zurück und setzte ihren Weg wieder fort, indem sie vor sich hinsprach: »Ach! und sollte mich der Schein auch immer trügen, ich wäre nie im Stande, ein so trauriges, rührendes Gemälde zu sehen, ohne davon ergriffen zu werden.«

»Das junge Mädchen,« dachte Herr Richard in seinem Sinne, »behält nichts für sich; sie ist bis zum Uebermaß empfindsam! Ihre Eroberung wird leicht zu machen sein,«


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